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2. Auflage 2012
© 1968 by Eileen Chang
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011
Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien auf Chinesisch bei Crown Publishing, Taiwan
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Titelabbildung: © Crown Publishing Ltd.
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-8437-1579-9
Das goldene Joch
Rote Rose, weiße Rose
Axiaos trauriger Herbst
Der Weihrauchkessel
Gischtblüten
Nachwort
Shanghai vor dreißig Jahren in einer Mondnacht …
Vielleicht haben wir den Mond von vor dreißig Jahren gar nicht recht bemerkt. In den Augen der jungen Leute ist er wohl nur ein feuchter, rötlich gelb schimmernder Klecks von der Größe einer Kupfermünze, eine Träne auf einem altmodischen Briefbogen, alt und verwaschen. In der Erinnerung der alten Leute dagegen nimmt sich der Mond von vor dreißig Jahren heiter aus, und er ist größer, runder und weißer als der von heute. Und doch umgibt auch den schönsten Mond nach so vielen Jahren der Mühsal ein Anflug von Trauer.
Das Mondlicht fiel auf den Rand von Fengxiaos Kissen. Sie war ein Sklavenmädchen der Dritten Herrin, die erst kürzlich an den Dritten Sohn der Familie Jiang verheiratet worden war; als ein Teil der Mitgift war sie in den Haushalt der Jiangs übergesiedelt. Sobald sie die Augen aufschlug, fiel ihr Blick auf ihre bläulich weiße Hand auf der abgenutzten koreanischen Steppdecke. »Ist das der Mond?«, wunderte sie sich.
Sie schlief auf einer Matte am Fenster. Die letzten Jahre hatten im Zeichen des Machtwechsels gestanden, und die Jiangs waren vor den Kriegswirren nach Shanghai geflohen, wo sie nun unter äußerst beengten Verhältnissen lebten. Deshalb war die Gesindekammer mit Schläfern überfüllt.
Fengxiao glaubte ein Rascheln hinter dem großen Bett zu hören; vermutlich war jemand aufgestanden, um sich zu erleichtern. Sie drehte sich um – tatsächlich schob jemand den Vorhang beiseite, und ein schwarzer Schemen schlurfte in Pantoffeln heraus. In der Annahme, es sei Xiao Shuang, die Dienerin der Zweiten Herrin, rief sie leise: »Xiao Shuang!«
Die Angesprochene kam kichernd herüber und tippte mit dem Fuß gegen die Schlafmatte auf dem Boden. »Jetzt hab ich dich geweckt.«
Sie steckte ihre Hände unter die blassviolette alte Seidenjacke, die sie über einer Hose aus dunkelgrün schimmerndem Stoff trug. Fengxiao fühlte den Stoff der Hose mit den Fingern und schmunzelte. »Buntes ist jetzt aber ziemlich aus der Mode, hier im Süden trägt man eher schlichte Sachen.«
Xiao Shuang lächelte. »Weißt du, diese Familie tickt ein bisschen anders. Die alte Dame ist fürchterlich altmodisch, nicht mal ihre Schwiegertöchter können selbst entscheiden, was sie tragen wollen, von uns ganz zu schweigen … Wir ziehen an, was man uns gibt – deshalb sind wir rausgeputzt wie Bäuerinnen!« Sie hockte sich auf Fengxiaos Matte und nahm eine kleine Jacke, die am Fußende lag. »Ist das neu? Für die Hochzeit deiner Herrin?«
Fengxiao schüttelte den Kopf. »Nein, das ist von meinen Herbstsachen, nur die paar Kleider hier drüben sind neu. Den Rest hat meine Herrin aussortiert.«
»Was für ein Pech für sie, dass ausgerechnet, wenn sie heiratet, die Revolution ausbricht!«
Fengxiao seufzte. »Hör bloß auf. Sicher, im Moment müssen alle sparen, aber irgendwo ist auch Schluss, sonst wird es doch peinlich. Sie hat zwar nichts gesagt, aber es hat sie bestimmt ziemlich gewurmt.«
»Kein Wunder! Ihre Mitgift war ja nicht gerade klein, und dann fällt die Hochzeit hier so dürftig aus … Selbst in dem Jahr, als die Zweite Herrin ins Haus gekommen ist, hat man sich mehr ins Zeug gelegt.«
Fengxiao stutzte. »Was? Die Zweite Herrin …«
Xiao Shuang schlüpfte aus ihren Schuhen und stieg über Fengxiao hinweg ans Fenster. »Komm«, sagte sie lächelnd, »schau dir den Mond an!«
Flink richtete Fengxiao sich auf. »Ich wollte dich schon längst mal fragen«, flüsterte sie, »die Zweite Herrin …«
Xiao Shuang bückte sich nach Fengxiaos kurzer Jacke und zog sie ihr über. »Pass auf, dass du dir keinen Schnupfen holst.«
Fengxiao knöpfte ihre Jacke zu und schmunzelte. »Lenk nicht ab, komm schon, erzähl!«
»Das ist mir nur so rausgerutscht, war dumm von mir.«
»Wir sind doch jetzt wie Schwestern, wozu die Geheimniskrämerei?«
»Erzähl es aber nicht deiner Herrin! Die Familie der Zweiten Herrin hat einen Laden für Sesamöl!«
»Ach! Einen Laden für Sesamöl! Wer hätte das gedacht … Die Erste Herrin stammt doch aus einer adligen Familie, und meine eigene Herrin hat zwar keine so hohe Herkunft, aber aus gutem Hause ist sie auch.«
»Das hat natürlich seinen Grund. Du hast ja den Zweiten Herrn gesehen, er ist ein Krüppel. Welche Beamtenfamilie hätte dem schon ihre Tochter zur Frau gegeben? Was hätte die alte Dame denn machen sollen? Sie wollte für ihn eine Nebenfrau holen, und die Kupplerin hat dann Cao Qiqiao gefunden.«
»Eine Nebenfrau also …«
»Sie sollte zumindest eine werden. Und dann hat sich die alte Dame eben gedacht, wenn sich für den Zweiten Herrn sonst niemand findet, könnte die Neue ihn auch gleich richtig heiraten – dann würde sie ihm wenigstens den Haushalt führen und immer für ihn da sein.«
Auf das Fensterbrett gestützt, murmelte Fengxiao: »Jetzt wird mir einiges klar. Ich bin zwar noch nicht lange hier, aber ein paar Sachen sind mir doch schon aufgefallen.«
»Niemand kann seine Herkunft verleugnen, sagt man. Du hast sie noch nicht sprechen gehört! Selbst vor den jungen Fräuleins nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Zum Glück dringt nichts, was hier passiert, nach draußen und nichts von draußen herein. Die Mädchen hier verstehen eigentlich noch gar nichts, und trotzdem würden sie vor Scham oft am liebsten im Boden versinken.«
Fengxiao kicherte. »Wirklich? Wo hat sie denn diese Ausdrucksweise her? Nicht mal wir …«
Xiao Shuang verschränkte die Arme. »Sie war die Attraktion im Sesamölladen, stand hinter der Theke und hatte mit allen möglichen Leuten Umgang. Da können wir nicht mithalten!«
»Bist du mit ihr zusammen hergekommen?«
Xiao Shuang verzog verächtlich das Gesicht. »Von wegen. Eigentlich gehöre ich zur alten Dame, aber weil der Zweite Herr zu wenig Bedienstete hatte – er muss ja dauernd seine Medizin nehmen und braucht ständig jemanden um sich –, hat sie mich zu ihm geschickt. Was hast du? Ist dir kalt?«
Fengxiao schüttelte den Kopf.
»Wie du den Kopf einziehst. Du verträgst die kalte Luft wohl nicht.«
Im nächsten Moment nieste Fengxiao auch schon, so dass Xiao Shuang ihr einen Schubser gab und sagte: »Na komm, lass uns schlafen. Husch ins Bett!«
Fengxiao kniete sich hin und zog lächelnd ihr Jäckchen aus. »Es ist doch noch nicht Winter, so weit kommt’s noch, dass ich mich jetzt erkälte …«
»Das Fenster ist zwar zu, aber es zieht durch die Ritzen.«
Nachdem sie sich beide hingelegt hatten, fragte Fengxiao leise: »Vier oder fünf Jahre ist sie jetzt schon hier, oder?«
»Wer?«
»Na, wer wohl …«
»Ach die, ja, fünf Jahre.«
»Und Kinder hat sie auch. Gibt das nicht viel Gerede?«
»Aber sicher, jede Menge! Als die alte Dame vorletztes Jahr mit der ganzen Familie zum Putuoshan gepilgert ist, hatte die Zweite Herrin gerade entbunden und konnte nicht mit. Also hat sie hier auf das Haus aufgepasst. In dieser Zeit hat ihr Bruder ziemlich oft vorbeigeschaut, und hinterher fehlte ein Haufen Sachen.«
Fengxiao stutzte. »Und man ist der Sache nie auf den Grund gegangen?«
»Was hätte das genutzt? Man hätte sich bloß fürchterlich blamiert! Der Schmuck wäre sowieso später auf die Söhne übergegangen. Der Erste Herr und seine Frau haben aus Rücksicht auf den Zweiten Herrn nichts gesagt, und der Dritte Herr konnte schlecht was sagen, weil er selber das Geld zum Fenster rauswirft und bei der Familie tief in der Kreide steht.«
Während sie sich quer durch den Raum unterhielten, bemühten sie sich, möglichst leise zu sprechen. An ein, zwei Stellen waren ihre Stimmen aber doch lauter, und so wurde die alte Zhao wach, die auf dem großen Bett schlief. »Xiao Shuang!«
Die Angesprochene wagte nicht zu antworten.
»Xiao Shuang! Alle können dich hören. Wenn du weiter so einen Unsinn redest, kriegst du morgen richtig Ärger!«
Xiao Shuang schwieg.
»Glaub nur nicht, du könntest dich hier so gehenlassen wie früher, als wir noch in den großen Hallen und Höfen lebten. Hier sind wir so zusammengepfercht, dass du nichts verheimlichen kannst. Also hör besser auf zu schwatzen, es sei denn, du bist auf Prügel aus!«
Sofort war es still im Zimmer. Die alte Zhao litt an einer Augenentzündung, und deshalb hatte sie sich Chrysanthemenblüten ins Kissen gesteckt, denen man eine kühlende Wirkung nachsagte. Sie hob den Kopf, rückte die silberne Nadel zurecht, die ihren Haarknoten zusammenhielt, und dabei raschelten die Blütenblätter leise. Dann drehte sie sich auf die Seite, so dass all ihre Knochen knackten, und seufzte: »Was wisst ihr schon!«
Xiao Shuang und Fengxiao wagten nichts weiter zu sagen. Lange sprach niemand mehr, und schließlich schliefen sie ein.
Es dämmerte bereits. Der flache Mond, im letzten Viertel, versank langsam; langsam und groß wie ein Becken aus purem Gold. Noch war der Himmel in ein düsteres, kaltes Krabbenblau getaucht, die wenigen niedrigen Häuser lagen schwarz darunter, und der Blick reichte weit. Doch am Horizont zeichneten sich schon die Farben des Morgens ab, Grün, Gelb, Rot, übereinandergeschichtet wie bei einer aufgeschnittenen Wassermelone, die Sonne ging auf. Nach und nach füllten sich die Straßen mit ratternden Wagen und Handkarren, von den Pferdewagen ertönte Hufgeklapper. Der Tofupuddinghändler, der seine Körbe an einer langen Tragestange durch die Gassen schleppte, pries in einem gemächlichen Singsang seine Ware an, doch man hörte nur noch die letzte Silbe, bis mit wachsender Entfernung auch dieses »-ding« zu einem bloßen »i« verklungen war.
Auch im Haus waren die Sklavenmädchen und Dienerinnen aufgestanden und hasteten nun durcheinander, um Türen aufzuschließen, Wasser für die Morgentoilette zu holen, Betten zu machen, Bettvorhänge hochzubinden und Haar zu kämmen. Fengxiao half Lanxian, der Dritten Herrin, beim Anziehen. Diese musterte sich eingehend im Spiegel, zog unter ihrer Achsel ein hellgrünes geblümtes Seidentüchlein hervor und tupfte sich den Puder von der Nase. Ohne sich umzudrehen, sagte sie zu ihrem Mann, der noch im Bett lag: »Ich gehe schon mal und mache der Schwiegermutter meine Aufwartung. Wenn ich auf dich warte, komme ich noch zu spät.«
In diesem Augenblick erschien ihre älteste Schwägerin Daizhen in der Tür und blieb lächelnd auf der Schwelle stehen. »Dritte Schwester, lass uns zusammen hinaufgehen.«
Lanxian eilte zu ihr. »Ich dachte schon, ich käme zu spät. Du warst also noch nicht oben – und Qiqiao?«
Daizhen schmunzelte. »Die braucht noch ein Weilchen.«
»Wegen der Medizin für ihren Mann?«
Daizhen schaute sich um, ob sie auch niemand hören konnte. »Das weniger …«
Sie legte ihren Daumen an die Lippen, drückte die drei mittleren Finger aneinander, spreizte den kleinen Finger in die Höhe und gab ein paar leise Sauggeräusche von sich.
Lanxian fragte erstaunt: »Rauchen sie beide?«
Daizhen nickte. »Beim Zweiten Schwager ist es ja ein offenes Geheimnis, aber sie verbirgt ihre Sucht vor der alten Dame. Uns bringt sie damit in eine ziemlich unangenehme Lage, wir stehen zwischen den Fronten und müssen sie ständig decken – dabei weiß die alte Dame längst Bescheid! Sie tut nur so, als wüsste sie von nichts, kommandiert die Schwägerin herum und schikaniert sie mit lauter Kleinigkeiten, damit ihr zum Rauchen keine Zeit bleibt. Aber kannst du mir vielleicht sagen, was eine junge Frau für Sorgen haben könnte, dass sie Opium rauchen muss, um zu vergessen?«
Gefolgt von ihren beiden Sklavenmädchen gingen sie Hand in Hand nach oben in das kleine Empfangszimmer neben dem Schlafgemach der alten Dame. Deren Sklavenmädchen Liuxi empfing die beiden jungen Herrinnen und flüsterte: »Sie schläft noch.«
Daizhen blickte zur Wanduhr und schmunzelte. »Dann ist die alte Dame also auch mal spät dran.«
»Sie klagt in den letzten Tagen über den Straßenlärm«, sagte Liuxi, »deshalb hat sie schlecht geschlafen. Wahrscheinlich hat sie sich jetzt daran gewöhnt und holt den Schlaf nach.«
An einem antiken runden Tischchen aus Palisander mit einem roten Filzdeckchen darauf saß Yunze, die Tochter des Hauses Jiang, und knackte Walnüsse. Als sie ihre beiden Schwägerinnen eintreten sah, legte sie den Nussknacker hin und erhob sich zur Begrüßung. Daizhen legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter. »Yunze, wie aufmerksam von dir! Gestern war deiner Mutter nach kandierten Walnüssen zumute, und du hast es nicht vergessen.«
Lanxian und Daizhen setzten sich zu ihr und pulten für sie die Haut von den Nusskernen. Yunzes Hände schmerzten von der Arbeit, und Lanxian nahm ihr den Nussknacker ab.
»Pass auf deine Fingernägel auf«, sagte Daizhen zu Lanxian. »Nicht dass einer abbricht, sie sind so schön fein und lang.«
»Lass dir doch deine goldene Nagelkappe bringen«, schlug Yunze vor.
»Bloß keine Umstände«, sagte Lanxian, »sonst können wir die Nüsse auch gleich in der Küche knacken lassen.«
Während sie sich so mit gedämpften Stimmen unterhielten und kicherten, hob Liuxi den Türvorhang und verkündete: »Die Zweite Herrin ist da.«
Obwohl sich Lanxian und Yunze pflichtschuldig erhoben, um ihr einen Platz anzubieten, zog Cao Qiqiao es vor zu stehen, wobei sie eine Hand in die Hüfte stemmte und sich mit der anderen an den Türpfosten lehnte. Ein lavendelfarbenes Krepptaschentuch lugte aus einem der engen Ärmel hervor. Sie trug eine hellrote Bluse und darunter eine malvenfarbene Hose, abgesteppt mit blassblauer Borte und verziert mit leuchtend blauen Glückssymbolen. Ihr Gesicht war hager, und sie hatte Schlitzaugen. Nach einigem Umherblicken lächelte sie, und die scharlachroten Lippen entblößten ihre kleinen Zähne. »Ihr seid ja schon alle da, bin ich etwa wieder zu spät? Na, kein Wunder, wenn ich mich immer im Dunkeln zurechtmachen muss. Wer hatte eigentlich die Idee, mir das Zimmer zum Hinterhof zu geben? Nur ich habe ein solches Zimmer, natürlich, er ist ja sowieso bald unter der Erde, und mit einer Witwe und ihren Kindern kann man’s machen!«
Daizhen schwieg kühl, doch Lanxian schmunzelte. »Du bist die Häuser in Peking gewohnt, kein Wunder, dass es dir hier beengt vorkommt.«
»Mein Bruder hätte damals ein geräumigeres Anwesen finden sollen, aber in Shanghai gilt das hier wohl schon als hell und geräumig«, erklärte Yunze.
»Stimmt«, sagte Lanxian. »Es ist wirklich ein bisschen voll mit all den Leuten …«
Qiqiao schob ihren Ärmel hoch und steckte das Taschentuch unter ihren Jadearmreif. »Dir ist es hier also auch zu voll«, sagte sie mit einem Seitenblick auf Lanxian. »Freilich, wenn es für ein altes Ehepaar wie uns hier schon zu eng ist, um wie viel mehr dann erst für Frischverheiratete wie euch!«
Lanxian wusste nichts zu erwidern, aber Daizhen antwortete mit rotem Kopf: »Nichts gegen ein bisschen Spaß, aber man kann es auch übertreiben. Lanxian ist noch nicht lange bei uns, was für einen Eindruck muss sie denn bekommen!«
Qiqiao bedeckte ihren Mund mit einer Ecke ihres Taschentuchs. »Ich weiß, ihr seid beide Töchter aus gutem Hause, aber an meiner Stelle würdet ihr es nicht mal eine Nacht aushalten!«
Daizhen zischte verächtlich. »Schluss jetzt! Du wirst ja immer unverschämter!«
Qiqiao packte sie am Ärmel. »Ich schwöre es … Für die letzten fünf Jahre kann ich es schwören! Und du, was ist mir dir?«
Daizhen konnte ein Kichern nicht unterdrücken und murmelte: »Und wie kommst du dann zu deinen zwei Kindern?«
»Wirklich, das ist mir auch ein Rätsel. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich es begreifen!«
Daizhen hob gebieterisch die Hand. »Genug jetzt! Lanxian magst du ja noch als Familienmitglied betrachten, vor ihr brauchst du kein Blatt vor den Mund zu nehmen – aber vergiss nicht, Yunze ist auch hier. Wenn sie nachher der alten Dame alles erzählt, hast du ordentlich Ärger am Hals!«
Yunze hatte sich schon vor geraumer Zeit zurückgezogen. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand sie auf dem Balkon und pfiff dem Kanarienvogel etwas vor, um ihn zum Singen zu bringen. Das Haus der Jiangs war zwar ein modernes Anwesen nach westlichem Vorbild, und die hohen Torbögen wurden von großen blumenverzierten Säulen aus rotem Ziegelstein getragen, aber der Balkon im ersten Stock war aus Holz. Hinter dem Buchsbaumgeländer standen große Körbe mit getrockneten Bambussprossen in einer Reihe. Die matte Morgensonne erfüllte die Luft wie goldener Staub, der ein wenig stickig ist und den Blick trübt, wenn er einem in die Augen kommt. In der Ferne schwenkte ein Straßenhändler seine Rasseltrommel, deren stumpfsinnige Schläge die Erinnerungen unzähliger Kinder bargen, die längst alt geworden waren. Rikschas fuhren klingelnd vorbei, und ab und zu hupte ein Auto.
Da Qiqiao genau wusste, dass sie in diesem Haus von allen verachtet wurde, gab sie sich der neuen Bewohnerin gegenüber betont liebenswürdig. Auf die Lehne von Lanxians Stuhl gestützt, fragte sie dies und das, begutachtete die Hand ihrer Schwägerin eingehend und lobte deren Fingernägel in den höchsten Tönen. »Letztes Jahr habe ich mir den Nagel am kleinen Finger sogar noch einen halben Zoll länger wachsen lassen, als deiner jetzt ist, aber dann ist er mir beim Blumenpflücken abgebrochen.«
Lanxian hatte Qiqiao und deren Stellung in der Familie längst durchschaut. Sie lächelte zwar, antwortete aber kaum. Qiqiao wurde das bald langweilig, und so schlenderte sie auf den Balkon hinaus zu Yunze, spielte mit deren Zopf und suchte lächelnd ein Gespräch. »Du lieber Himmel, wieso ist denn dein Haar so dünn? Letztes Jahr hattest du noch volles, glänzend schwarzes Haar – hast viel verloren, oder?«
Yunze drehte sich weg, um ihren Zopf zu schützen. »Was gehen dich die paar Haare an!«
Qiqiao begutachtete sie weiter und rief: »Daizhen, komm mal her und schau dir das an. Yunze hat ziemlich stark abgenommen – ob sie wohl etwas auf dem Herzen hat?«
Yunze befreite sich mit einem Schlag von Qiqiaos Hand und zischte wütend: »Heute bist du wirklich übergeschnappt! Als ob du uns sonst nicht schon genug auf die Nerven gehst!«
Qiqiao steckte ihre Hände in die Ärmel und grinste. »Ganz schön hitzig, unser junges Fräulein.«
Daizhen streckte den Kopf heraus. »Yunze, die alte Dame ist aufgestanden.«
Hastig strichen alle ihre Blusen und Haare glatt, bevor sie ins Nebenzimmer gingen, der alten Dame ihre Aufwartung machten und sie beim Frühstück bedienten. Alte Frauen kamen mit vollen Tabletts durch das Empfangszimmer herein, und nachdem die Sklavenmädchen ihnen die Schalen und Teller abgenommen hatten, zogen sich die Frauen wieder nach draußen zurück, um zu warten. Im Schlafzimmer war es still, man hörte kaum ein Wort, nur das Rasseln des Silberkettchens, das oben an den silbernen Essstäbchen befestigt war. Die alte Dame war Buddhistin und pflegte nach dem Frühstück zwei Stunden lang Sutras zu rezitieren. Nachdem sie alle hinausgegangen waren, sagte Yunze leise zu Daizhen: »Qiqiao läuft ja gar nicht zu ihrer Pfeife, was will sie denn noch da drinnen?«
»Sie wird wohl etwas Vertrauliches zu besprechen haben.«
Yunze musste lachen. »Meine Mutter hört doch sowieso nicht auf sie.«
Daizhen grinste verächtlich. »Wer weiß, alte Leute sind wankelmütig. Wenn man den ganzen Tag auf sie einschwatzt, glauben sie am Ende noch, was man sagt.«
Weil Lanxian Walnüsse knackte, gingen Daizhen und Yunze auf den Balkon hinaus, wo sie unfreiwillige Zeugen des Gesprächs im Raum nebenan wurden. Da die alte Dame mit den Jahren ziemlich schwerhörig geworden war, sprach sie immer sehr laut. Und so hörten die beiden Frauen auf dem Balkon, ob nun gewollt oder nicht, große Teile des Gesprächs mit an. Yunze wurde weiß vor Wut; sie ballte die Fäuste, schleuderte dann die Arme von sich und stürzte auf das andere Ende des Balkons zu. Nach wenigen Schritten jedoch blieb sie stehen und brach, vorgekrümmt und das Gesicht in den Händen, in Schluchzen aus. Daizhen eilte zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. »Yunze, lass gut sein. Na komm. Die ist es gar nicht wert. Die nimmt doch sowieso niemand ernst.«
Yunze befreite sich aus Daizhens Umarmung und flüchtete in ihr Zimmer. Daizhen kehrte in das Empfangszimmer zurück und klatschte in die Hände. »Jetzt haben wir den Ärger!«
»Was ist denn los?«, fragte Lanxian besorgt.
»Qiqiao hat der alten Dame gesagt, eine junge Frau müsse unter die Haube, ehe sie ihre Tugend verliert, und dann hat sie auf sie eingeredet, an die Familie Peng zu schreiben, mit der Bitte, die Hochzeit zu beschleunigen. Das ist doch wohl das Letzte!«
Lanxian war wie vor den Kopf geschlagen. »Ist es nicht furchtbar peinlich, wenn die Familie einer jungen Frau selbst um so etwas bittet?«
»Der Familie kann es ja gleich sein, aber nicht Yunze. Wird die Familie ihres Zukünftigen sie dann noch respektieren? Sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich.«
»Die alte Dame ist nicht auf den Kopf gefallen, sie wird sich schon nicht beschwatzen lassen.«
»Natürlich wollte sie zuerst kein Wort glauben und sagte, in ihrer Familie würde eine Tochter niemals auf solche Ideen kommen. Aber Qiqiao meinte: ›Sie kennen die jungen Frauen von heute nicht, die sind ganz anders als früher. Die Zeiten haben sich geändert, sehen Sie sich das Durcheinander doch nur an.‹ Du weißt ja, alte Leute lieben solche Sätze, und am Ende war die alte Dame dann ziemlich verunsichert.«
Lanxian seufzte. »Wie kann sie so etwas bloß verbreiten? Darauf kommt doch kein normaler Mensch.«
Daizhen stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und strich sich mit dem kleinen Finger über die Augenbrauen. Sie murmelte etwas und lachte dann verächtlich auf. »Sie glaubt noch, sie hätte Yunze etwas Gutes getan. Auf diese Art Fürsorge könnte ich gern verzichten!«
Lanxian fasste sie am Arm. »Hör mal, ist das Yunze?«
Es klang, als würde jemand im hinteren Teil des Hauses hemmungslos weinen und gegen die bronzenen Bettpfosten treten; dazwischen waren noch andere Stimmen auszumachen, die vergeblich versuchten, die Schluchzende zu beschwichtigen. Daizhen erhob sich. »Ich sehe mal nach. Sie ist ein liebes Mädchen, aber anlegen sollte man sich mit ihr nicht.«
Daizhen war kaum gegangen, da kam Jize, der Dritte Sohn der Familie Jiang, gähnend herein. Er war ein stämmiger, beinahe korpulenter junger Mann. In seinem Nacken baumelte ein großer glänzender Zopf, lose zusammengeflochten aus drei Strähnen. Jize hatte eine hohe gewölbte Stirn und füllige rote Wangen, und die feucht schimmernden schwarzen Augen unter den glänzenden dunklen Brauen verrieten eine stete Ungeduld. Über einem hellgrünen langen Gewand mit engen Ärmeln trug er eine braunviolette, dunkel gepunktete Weste, die mit einer Reihe von Perlen zugeknöpft war.
»Wer schwatzt denn da noch so lange mit meiner Mutter?«, fragte er seine Frau.
»Qiqiao«, antwortete Lanxian.
Jize presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
Lanxian schmunzelte. »Hast du auch genug von ihr?«
Statt einer Antwort zog sich Jize einen Stuhl an die Tischkante, setzte sich, nachdem er sein Gewand angehoben hatte, rittlings darauf und schob sich, das Kinn auf die Rückenlehne gestützt, eine Walnuss nach der anderen in den Mund. Lanxian warf ihm einen scheelen Blick zu. »Glaubst du, wir haben die den ganzen Morgen nur für dich geknackt?«
In diesem Moment hob Qiqiao den Türvorhang und kam heraus. Als sie Jize bemerkte, ging sie unwillkürlich zum Tisch hinüber. Hinter Lanxian blieb sie stehen, legte die Hände um deren Hals und beugte sich mit einem Lächeln hinunter. »Was für eine entzückende Braut! Lieber Schwager, du hast dich noch gar nicht bei mir bedankt. Hätte ich die Familie nicht gedrängt, deine Heirat nicht weiter aufzuschieben, hättest du womöglich noch acht oder zehn Jahre warten müssen, bis der Krieg zu Ende ist. Du wärst gestorben vor Ungeduld!«
Nichts in ihrem Leben bedauerte Lanxian mehr als den Umstand, dass ihre Hochzeit in Zeiten nationaler Not stattgefunden hatte; entsprechend dürftig war die Zeremonie ausgefallen, es hatte an allen Ecken und Enden gefehlt. Als sie nun Qiqiaos Stichelei hörte, verfinsterte sich ihr schmales kleines Gesicht. Jize warf Qiqiao einen Blick zu und lächelte. »Schwägerin, du weißt ja: Undank ist der Welt Lohn. Hier steht niemand in deiner Schuld!«
»Das macht nichts, das bin ich gewohnt. Seit ich in eure Familie gekommen bin, kümmere ich mich Tag und Nacht um deinen Bruder, sollte ich nicht allein dafür nach all den Jahren ein wenig Anerkennung bekommen? Aber wer wäre mir je dankbar gewesen? Wer hätte mir je etwas Gutes getan?«
»Sobald du nur den Mund aufmachst, beklagst du dich«, sagte Jize.
Qiqiao stieß einen tiefen Seufzer aus und nestelte an der goldenen Schlüsselkette und der Goldbrosche, bestehend aus Zahnstocher, Pinzette und Ohrlöffel, die an Lanxians Jackenaufschlag geheftet waren. Nach einer Weile sagte sie unvermittelt: »Wenigstens treibst du dich seit gut einem Monat nicht mehr draußen herum. Dank deiner Frau wirst du noch richtig häuslich. Jeder andere könnte dich auf Knien anflehen, zu Hause zu bleiben – umsonst!«
»Ach ja? Du hast mich nie gebeten. Vielleicht hättest du ja Erfolg gehabt …« Er schmunzelte und zwinkerte Lanxian zu.
Qiqiao konnte sich kaum halten vor Lachen. »Lanxian, warum passt du nicht besser auf ihn auf? Der kleine Bengel – vor meinen Augen ist er groß geworden, und jetzt macht er Witze auf meine Kosten!«
Obwohl sie plauderte und lachte, war Qiqiao missmutig. Sie knetete und massierte Lanxians Nacken unaufhörlich und beklopfte ihn mit der Faust; am liebsten hätte sie ihn zu Brei geschlagen. Bei aller Selbstbeherrschung wurde Lanxian von wachsendem Ärger gepackt, sie machte eine unbeherrschte Bewegung mit dem Nussknacker und brach sich ihren langen Fingernagel direkt am Ansatz ab.
»Oh!«, rief Qiqiao aus. »Schnell, hol eine Schere und beschneid ihn! Ich glaube, hier im Zimmer ist irgendwo eine. Xiao Shuang! Liuxi! Schnell!«
Lanxian erhob sich. »Lass gut sein, ich gehe in mein Zimmer und schneide ihn dort.«
Kaum war Lanxian gegangen, setzte sich Qiqiao auf ihren Stuhl. Sie stützte den Kopf auf eine Hand, zog die Brauen in die Höhe und warf Jize einen Blick von der Seite zu. »Ist sie böse auf mich?«
Jize lächelte. »Warum sollte sie das sein?«
»Das frage ich dich! Ich habe doch nichts Falsches gesagt? Ist es denn nicht gut, wenn sie dich hier zu Hause hält? Wäre es ihr lieber, du würdest dich draußen herumtreiben?«
»Die ganze Familie hält mich doch nur deshalb an der kurzen Leine, damit ich auf ihre Kosten nicht noch mehr Schulden machen kann.«
»Beim Buddha, für die anderen kann ich nicht sprechen, aber ich denke nicht so! Selbst wenn du Schulden machst, Häuser verpfändest und Land verkaufst – sollte ich deswegen auch nur die Stirn runzeln, bin ich nicht mehr deine Schwägerin. Wir sind doch engste Verwandte! Ich möchte einfach, dass du auf deine Gesundheit achtgibst.«
Jize musste lachen. »Was sorgst du dich um meine Gesundheit?«
Ihre Stimme zitterte. »Das ist doch das Wichtigste. Schau dir meinen Mann an: Ist das noch ein Mensch? Kannst du ihn noch als einen Menschen ansehen?«
Sein Gesicht wurde ernst. »Mein Bruder ist nicht wie ich, er ist so auf die Welt gekommen und kann nichts dafür. Er ist ein bedauernswerter Mensch und ganz auf deine Pflege angewiesen.«
Qiqiao sprang auf, die Hände auf den Tisch gestützt, die Augen geschlossen. Ihr Unterkiefer zitterte, als hätte sie heißes Kerzenwachs im Mund. Mit schriller, dünner Stimme presste sie heraus: »Geh doch und setz dich zu deinem Bruder! Geh und setz dich zu ihm!«
Sie versuchte sich neben Jize zu setzen, erwischte nur eine Ecke seines Stuhls und legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Hast du ihn jemals angefasst? Sein Fleisch ist weich und schwer, so fühlen sich nur eingeschlafene Füße an …«
Auch Jize war bleich geworden. Dennoch beugte er sich mit einem frivolen Lachen hinunter und kniff sie in den Fuß.
»Na? Ist dein Fuß jetzt auch eingeschlafen?«
»Himmel! Du hast ihn nie angefasst, du weißt nicht, wie schön ein gesunder Körper ist … wie schön …«
Sie glitt vom Stuhl herab und kauerte auf dem Boden, vergrub das Gesicht in ihrem Ärmel und weinte lautlos; der Diamant an ihrer schwankenden Haarnadel blitzte. In den Haarknoten war ein rosafarbenes Seidenband eingeflochten, das sich im rötlichen Glanz des Diamanten spiegelte. Ihr Rücken zuckte, während sie immer weiter zusammensackte. Nun schien sie nicht mehr zu weinen, es war vielmehr, als würde sie sich mit der größten Gewalt erbrechen.
Jize war im ersten Moment sprachlos, dann erhob er sich.
»Ich gehe jetzt besser. Du magst keine Angst haben, dass jemand kommt – ich aber sehr wohl. Allein schon mit Rücksicht auf meinen Bruder!«
Qiqiao stützte sich auf den Stuhl, erhob sich und schluchzte: »Ich gehe.«
Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich das Gesicht ab. Plötzlich lächelte sie. »Du nimmst ihn ja ganz schön in Schutz.«
Jize lachte. »Wer sollte das sonst auch tun?«
Qiqiao ging zur Tür und schnaubte: »Sei bloß still! Spiel mir nicht den Tugendhaften vor! Was du allein schon hier im Haus … Von deinen Eskapaden draußen ganz zu schweigen. Mir machst du nichts vor. Du würdest wahrscheinlich nicht mal vor deiner Amme haltmachen, und vor deiner Schwägerin schon gar nicht!«
Jize schmunzelte. »Ich habe die Dinge immer leichtgenommen. Wie könnte ich dem, was du sagst, also etwas entgegensetzen?«
Statt hinauszugehen, lehnte sie sich in den Türrahmen und sagte leise: »Ich verstehe einfach nicht, was die anderen mir voraushaben sollen. Was an mir ist denn so schlecht?«
»Liebe Schwägerin, was an dir sollte denn schlecht sein?«
Sie lachte auf. »Rieche ich vielleicht auch schon wie ein Krüppel, weil ich die ganze Zeit mit einem zusammen bin? Das ist doch nicht ansteckend, oder?«
Sie blickte starr geradeaus, als hätten ihre kleinen Ohrringe aus massivem Gold sie wie zwei Messingnägel an den Türrahmen geschlagen – ein Schmetterling im Glaskasten, farbenprächtig und doch trostlos.
Jize blickte sie an, innerlich schwankend. Nein, es war unmöglich. Er amüsierte sich zwar gern, aber er hatte es sich schon vor geraumer Zeit zum Grundsatz gemacht, nicht mit Frauen aus der eigenen Familie anzubandeln. Wenn die Lust erloschen wäre, könnte man ihnen nicht aus dem Weg gehen oder sie kurzerhand hinauswerfen, sie würden einem ständig zur Last fallen. Und Qiqiao war auch noch so unverblümt und hitzig – wie hätte man da etwas verheimlichen können? Obendrein mochte niemand sie, und niemand, egal in welcher Stellung, nähme sie in Schutz. Vielleicht würde sie auch alles aufs Spiel setzen und sich gar nicht darum scheren, wenn es bekannt würde. Aber warum sollte ein junger Mann wie er ein solches Risiko eingehen? Er sagte ruhig: »Schwägerin, ich bin zwar noch jung, aber auf alles lasse ich mich nicht ein.«
Jize meinte Schritte zu hören. Er hob sein Gewand an und entschlüpfte in das Zimmer seiner Mutter, nicht ohne sich eine Handvoll Walnusskerne mitzunehmen. Qiqiao starrte noch immer geistesabwesend vor sich hin; erst als sie jemanden an der Tür hörte, schreckte sie auf und versteckte sich in aller Eile dahinter. Doch sobald sie Daizhen erkannte, kam sie aus ihrem Versteck heraus und gab ihr einen Klaps auf den Rücken.
Daizhen rang sich ein Lächeln ab. »Deine Laune wird ja immer besser.« Sie blickte auf den Tisch. »Oh, die Walnüsse sind fast alle. Das war bestimmt Jize, sonst war ja niemand hier.«
Qiqiao lehnte am Tisch, den Blick zum Balkon, und erwiderte nichts. Daizhen setzte sich und grummelte: »Den ganzen Morgen haben wir Nüsse geknackt, nur damit er sich bedient!«
Qiqiao kratzte mit einem scharfkantigen Stück Nussschale auf der roten Filztischdecke herum, kratzte heftig immer weiter, bis der Filz flauschig wurde und zu zerreißen drohte. »Mit dem Geld ist es doch genau das Gleiche«, sagte sie grimmig. »Immer sagt man uns, wir sollen sparen, und dann kommt jemand und wirft das Geld zum Fenster raus. Ich kann mich damit einfach nicht abfinden!«
Daizhen warf ihr einen Blick zu und sagte kühl: »Was soll man da machen? Bei vielen Leuten verschwindet das Geld, ob offen oder heimlich. Man kann ja nicht überall seine Augen haben.«
Qiqiao fiel die Spitze dieser Bemerkung sehr wohl auf, und gerade wollte sie den Spieß umdrehen, als Xiao Shuang hereingeschlichen kam und leise zu ihr sagte: »Ihr Bruder ist da.«
»Mein Bruder ist da, na und?«, schimpfte Qiqiao. »Das ist doch kein Grund zur Heimlichtuerei! Oder hast du ein Geschwür im Hals, dass du wie ein Moskito klingst?«
Xiao Shuang wich einen Schritt zurück und wagte nicht zu antworten.
»Dein Bruder ist also auch hier in Shanghai. Na, dann ist die Familie ja komplett«, sagte Daizhen.
Qiqiao war schon auf halbem Weg zur Tür. »Ist es vielleicht verboten, dass er nach Shanghai kommt? Im Landesinnern herrscht Krieg, und auch arme Leute legen Wert auf ihr Leben!«
Sie blieb auf der Türschwelle stehen und wandte sich zu Xiao Shuang um: »Hast du meiner Schwiegermutter schon Bescheid gesagt?«
»Noch nicht.«
Qiqiao überlegte eine Weile, fand aber nicht den Mut, die Schwiegermutter von der Ankunft ihres Bruders zu unterrichten, und ging leise nach unten.
»Ist er allein gekommen?«, wollte Daizhen wissen.
Xiao Shuang schüttelte den Kopf. »Mit seiner Frau, und sie haben Essen in vier mehrlagigen Tragekörben dabei.«
Daizhen lachte. »Da haben sie sich ja richtig in Unkosten gestürzt.«
»Nur keine Sorge: Wer viel mitbringt, nimmt auch viel wieder mit! Die nehmen sogar Stoffreste, um daraus Schuhe und Hosenbünde zu machen, von Gold- und Silber in welcher Form auch immer ganz zu schweigen.«
Daizhen schmunzelte. »Sei nicht so überheblich! Geh besser nach unten. Ihre Familie kommt selten genug. Wenn wir sie nicht zuvorkommend behandeln, gibt es hinterher wieder Ärger.«
Xiao Shuang eilte hinunter. Qiqiao war gerade am Fuß der Treppe angekommen und fragte Liuxi aus, um in Erfahrung zu bringen, ob die alte Dame Bescheid wüsste. Liuxi berichtete: »Die alte Dame war gerade dabei, Sutras zu rezitieren, als der Dritte Herr, der am Fenster lehnte und hinausschaute, ihr mitteilte, es seien Gäste am Haupttor. Als Ihre Schwiegermutter ihn fragte, wer es denn sei, sagte er nach genauerem Hinsehen, er sei sich nicht sicher, vielleicht der Sohn der Familie Cao. Dabei hat es Ihre Schwiegermutter dann belassen.«
Als Qiqiao das hörte, stampfte sie wütend mit dem Fuß auf und schimpfte vor sich hin. »Ach so – und du tust also ahnungslos! Selbst der Kaiser hat arme Verwandte! Jetzt bist du so eingebildet, und damals hast du mich mit drei Kupplerinnen und sechs Brautgeschenken in der Sänfte abgeholt? Verwandtschaftsbande kann man nicht trennen. Selbst wenn du dich nicht bloß tot stellen würdest, sondern wirklich tot wärst, müsste er deinem Geist mit einem dreifachen Kotau Ehre erweisen, und du wärest machtlos dagegen.«
Qiqiaos Zimmer wurde von einem Haufen goldlackierter Tragekörbe blockiert, dass man die Tür kaum aufbekam. Als Qiqiao den Türvorhang hob, sah sie ihre Schwägerin, die die obere Lage eines Korbs abnahm und nachsah, ob die im Fach darunter befindlichen Lebensmittel auch nicht verdorben waren. Cao Danian, Qiqiaos Bruder, beugte sich zu seiner Frau hinunter, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Qiqiao fühlte eine plötzliche Bitterkeit in sich aufsteigen. Sie lehnte sich an einen Korb, schmiegte ihr Gesicht an den blauen Baumwollüberzug und weinte leise. Ihre Schwägerin erhob sich hastig, eilte zu ihr herüber, nahm Qiqiaos Hand in die ihre und nannte sie immer wieder bei ihrem Namen. Ihr Bruder wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Mit ihrer freien Hand öffnete Qiqiao die Verschlüsse des Korbs, an dem sie lehnte, und schloss sie wieder; sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Schwägerin sah zu Danian. »Sag doch was! Den ganzen Tag redest du davon, dass du endlich deine Schwester wiedersiehst, und jetzt bekommst du die Zähne nicht auseinander.«
Qiqiaos Stimme zitterte, als sie sprach: »Kein Wunder, dass er nichts sagt. Wie kann er es wagen hierherzukommen!« Zu ihrem Bruder gewandt fuhr sie fort: »Du hättest dich hier nie wieder blicken lassen sollen, nach allem, was du angerichtet hast. Und dann bist du einfach abgehauen! Es war dir völlig egal, was aus mir wird!«
»Was sagst du da? Andere Leute mögen ja so reden, aber von dir hätte ich das nicht erwartet. Wenn du mir öffentlich widersprichst, fällt das bloß auf dich selbst zurück!«
»Ich sage ja gar nichts, aber ich kann nicht verhindern, dass die anderen reden. Der Ärger deinetwegen hat mich schon ganz krank gemacht. Und jetzt drohst du mir auch noch, dass ich nur ja den Mund halten soll!«
Hastig ging ihre Schwägerin dazwischen: »Aber nein, er droht dir doch nicht. Dir ist genug Unrecht widerfahren, nicht nur in dieser Sache. Aber hab Geduld, dein Tag wird schon noch kommen.«
Diese Worte trafen Qiqiao schwer, ganz besonders der Satz »Dir ist schon genug Unrecht widerfahren, nicht nur in dieser Sache«. Während sie laut zu schluchzen begann, rang ihre Schwägerin mit den Händen. »Bitte, wir wollen doch deinen Mann nicht aufwecken.«
Aber der leichte Vorhang über dem großen Bett aus violettem Zedernholz, welches auf der anderen Seite des Zimmers stand, rührte sich nicht.
»Schläft er?«, fragte die Schwägerin. »Er wird sicher böse, wenn wir ihn stören.«
»Na und?«, sagte Qiqiao laut. »Soll er doch böse werden. Das wäre wenigstens eine menschliche Regung!«
Die Schwägerin legte ihr die Hand auf den Mund. »Nicht doch, liebe Schwägerin! So etwas sollte ein Kranker nicht hören müssen.«
»Meinst du, es macht ihm etwas aus? Und mir etwa nicht?«
»Leidet er noch immer an Knochenerweichung?«
»Reicht dir das nicht? Was willst du denn noch? In dieser Familie wagt es keiner, das Wort ›Tuberkulose‹ auch nur auszusprechen – in Wirklichkeit hat er Knochentuberkulose!«
»Liegt er den ganzen Tag, oder kann er ab und zu aufrecht sitzen?«
Qiqiao brach in ein leises Lachen aus. »Wenn er sich aufrichtet, bleibt sein Rückgrat liegen. Im Sitzen ist er nicht mal so groß wie mein dreijähriger Sohn!«
Die Schwägerin wusste nichts Beschwichtigendes mehr zu sagen, und so schwiegen sie alle drei. Plötzlich stampfte Qiqiao mit dem Fuß auf. »Los, raus, verschwindet! Mit eurem Besuch geht der ganze Ärger nur wieder los, das halte ich nicht aus. Verschwindet, wird’s bald!«
Ihr Bruder entgegnete: »Qiqiao, hör mir zu. Ist es wirklich so schlimm für dich, dass deine eigene Familie dich besucht? Wenn du erst deine Unabhängigkeit wiedererlangt hast, wirst du unseren Rückhalt noch brauchen. Die Jiangs sind eine große Familie: Die Alten sind herrschsüchtig und schüchtern die Menschen mit wohlklingenden Worten ein, und die Jüngeren sind allesamt wie Raubtiere. Es werden noch Zeiten kommen, da du froh sein wirst, wenn du dich auf deinen Bruder und deine Neffen stützen kannst.«
Qiqiao spuckte aus. »Ich wäre schlecht beraten, mich auf dich zu verlassen! Ich habe dich längst durchschaut – du willst den Jiangs doch nur eins auswischen, und sobald dir das gelingt, kommst du wieder an und verlangst Geld von mir. Solltest du aber feststellen, dass du ihnen nicht gewachsen bist, schlägst du dich einfach auf ihre Seite. Du hast die Hosen doch schon voll, wenn du einen Mandarin nur von weitem siehst. Was aus mir wird, ist dir völlig egal!«
Danian wurde rot und lachte kalt. »Warte nur, bis du das Geld in Händen hältst. Du wirst schon zu verhindern wissen, dass ich etwas davon abbekomme.«
»Aber was willst du jetzt, da ich das Geld noch gar nicht habe?«, fragte Qiqiao.
»Es war ein Fehler, dass wir die weite Reise auf uns genommen haben, um dich zu besuchen. Gehen wir also! Aber offen gestanden ist es nur recht und billig, wenn ich ein wenig von deinem Geld verlange. Hätte ich es bloß auf das Geld abgesehen gehabt, hätte ich von den Jiangs damals einfach ein paar hundert Silbertael mehr verlangt und dich als Konkubine verkauft.«
»Eine Ehefrau unter den Jiangs ist dir doch von weitaus größerem Nutzen als eine Konkubine. Du willst hoch hinaus, da musst du langfristig denken.«
Danian wollte gerade etwas entgegnen, als seine Frau ihn anfuhr: »Halt dich zurück! Ihr werdet noch genügend Gelegenheit haben, euch wiederzusehen. Eines Tages wird Qiqiao schon merken, dass sie nur einen Bruder hat.«
Danian drängte seine Frau, die Körbe zusammenzupacken, und war bereit zu gehen.
»Was schert mich das?«, fragte Qiqiao. »Wenn ich das Geld erst habe, wirst du schon bei mir ankommen. Dann dürfte ich genug damit zu tun haben, dich wieder loszuwerden!« Doch mochte ihre Rede auch noch so bitter sein, sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, das immer heftiger wurde. Die Auseinandersetzung mit ihrem Bruder hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, der Ärger des ganzen Vormittags brach nun aus ihr heraus.
Als die Schwägerin sah, dass Qiqiao der Abschied nicht leichtfiel, gab sie sich betont heiter, besänftigte ihren Mann, umarmte Qiqiao und führte sie zu dem kleinen Birnenholzsofa, wo sie sie eine Weile im Arm hielt und ihr alles noch einmal auseinandersetzte, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Schließlich unterhielten sich die drei über Belanglosigkeiten. Im Norden des Landes war es noch friedlich, und im Sesamölladen der Caos lief alles wie immer. Danian und seine Frau waren wegen ihres künftigen Schwiegersohns nach Shanghai gekommen; der hatte sich gerade in Hubei aufgehalten, als dort die Revolution ausbrach, und war mit seinem Arbeitgeber nach Shanghai geflohen. Danian war also hierhergereist, um seine Tochter zu verheiraten, und hatte bei der Gelegenheit auch seine Schwester besuchen wollen. Er erkundigte sich nach allen Angehörigen des Hauses Jiang, doch als er die Absicht äußerte, die alte Dame zu begrüßen, lehnte Qiqiao ab. »Es passt jetzt nicht. Wir hatten vorhin eine Auseinandersetzung.«
Danian und seine Frau erschraken.
»Was soll ich denn tun?«, fragte Qiqiao. »In dieser Familie trampeln alle nur auf mir herum. Würde ich mich nicht wehren, hätten sie mich schon längst niedergetrampelt. Auch so macht mich der Ärger krank!«
»Meine Liebe, rauchst du eigentlich noch?«, fragte Qiqiaos Schwägerin. »Opium ist und bleibt doch die beste Medizin, es beruhigt die Nerven und kühlt das Gemüt. Liebe Schwägerin, du musst auf deine Gesundheit achten. Wenn wir nicht da sind, wer sieht dann schon nach dir?«
Qiqiao durchwühlte ihre Kisten und schenkte ihrer Schwägerin einige Bahnen modisch gemusterter Seide, ein Paar schwerer goldener Armreife, ein Paar Haarnadeln, die wie Lotosblüten gearbeitet waren, und einen seidenen Bettüberwurf. Für jede ihrer Nichten holte sie einen Satz goldener Ohrlöffel hervor, ihre beiden Neffen bedachte sie mit winzigen Goldbarren und Mützen aus Zobelfell, und ihrem Bruder schenkte sie eine goldene Uhr aus blauer Emaille in Form einer Zikade. Die Beschenkten suchten nach Worten des Dankes, doch Qiqiao wehrte ab: »Ihr kommt zur falschen Zeit. Als wir im Begriff waren, Peking zu verlassen, haben wir alles, was wir nicht tragen konnten, den Sklavenmädchen und den Aufwartefrauen überlassen. Kofferweise haben wir ihnen das Zeug geschenkt.«
Ihr Bruder und die Schwägerin sahen verlegen aus. Zum Abschied sagte die Schwägerin: »Wenn wir die Sache mit unserer Tochter erledigt haben, besuchen wir dich noch einmal.«
Qiqiao lachte. »Besser nicht. Allzu viele Zusammenkünfte dieser Art kann ich mir nicht leisten!«
Kaum hatten sie das Anwesen verlassen, sagte die Schwägerin zu Danian: »Wie kommt es, dass sich deine Schwester so verändert hat? Vor ihrer Heirat war sie ja auch schon stolz und geschwätzig, und aufbrausend genug bei unseren letzten Besuchen. Aber da wusste sie noch, was sich gehört! Jetzt klingt sie im einen Moment vernünftig, im nächsten dann ganz und gar nicht mehr, und sie ist furchtbar übellaunig.«
Qiqiao stand im Zimmer, verschränkte die Arme und sah zu, wie die Sklavenmädchen Xiao Shuang und Xiangyun die Kisten wegräumten und ordentlich aufeinanderstapelten. Sie dachte an früher: an das Sesamölgeschäft in der Kopfsteingasse, an die dunkle, schmierige Ladentheke, die aufrecht in den Eimern mit Sesampaste stehenden Holzlöffel, die vielen großen und kleinen Eisenkellen, die über den Ölfässern hingen. Daran, wie man mit einem Trichter das Öl in die Flaschen der Kunden füllte. Eine große Schöpfkelle und zwei kleine ergaben genau eine Flaschenfüllung, eineinhalb Pfund. Guten Kunden wurde nur etwas weniger berechnet. Manchmal war sie selbst einkaufen gegangen in ihrem Hemd und der Hose aus blauem Leinen mit den Bordüren aus schwarzer Seide. Hinter einer Reihe von Messinghaken, an denen Schweinefleisch hing, sah sie Zhao Lu, den Metzger, der sie immer »Fräulein Cao« und manchmal auch »verehrtes Fräulein Cao« nannte, woraufhin sie gegen die leeren Haken schlug, dass die nach vorne schwangen und ihm ins Gesicht stachen. Zhao Lu nahm dann einen Streifen Schweinespeck herunter und warf ihn auf den Hackklotz. Ein warmer Hauch wehte sie an, der Geruch von fettem, totem Fleisch … Sie verzog das Gesicht. Im Bett lag der leblose Körper ihres Ehemanns …
Durch das Fenster wehte ein kalter Wind herein, der den Spiegel in seinem verzierten Lackrahmen an der gegenüberliegenden Wand zum Wackeln brachte. Qiqiao hielt ihn mit beiden Händen fest. Unruhig flatternd spiegelten sich der blaugrüne Türvorhang aus Bambus und eine in Grün und Gold gezeichnete Landkarte in dem Glas – wenn man es nur lange genug betrachtete, fühlte man sich wie auf einem Schiff. Doch als Qiqiao erneut hinsah, waren die Farben des Türvorhangs verblasst, statt der goldgrünen Landkarte hing dort ein Porträt ihres verstorbenen Mannes, und die Frau im Spiegel war um zehn Jahre gealtert.
Im vergangenen Jahr hatte sie um ihren Mann getrauert, dieses Jahr war ihre Schwiegermutter gestorben, und nun hatte man den Neunten Großonkel als Familienältesten offiziell gebeten, das Erbe zu verteilen. Seit Qiqiao bei den Jiangs eingezogen war, richteten sich ihre Träume auf diesen Tag. All die Jahre über hatte sie das goldene Joch getragen, aber von dem ganzen Gold nicht einmal zu kosten bekommen; jetzt würde es endlich anders.
Sie trug eine weiße Bluse aus Kantonseide und einen schwarzen Rock und sah aus, als hätte sie Rouge aufgetragen, denn ihre Augen waren vom vielen Reiben gerötet, ihre Wangen fiebrig. Mit der Hand wischte sie sich über die Augen. Ihr Gesicht glühte, doch ihr Körper war so kalt, dass sie zitterte. Sie befahl Xiangyun – Xiao Shuang war mittlerweile längst verheiratet, und auch Xiangyun hatte sich mit einem Dienstboten verlobt –, ihr ein Glas Tee zu bringen. Die Wärme des Tees breitete sich im leeren Innern ihres Körpers aus, und ihr Herz begann laut zu klopfen. Sie setzte sich, den Rücken zum Spiegel, und fragte Xiangyun: »Sind der Neunte Großonkel und der Sekretär Ma etwa schon den ganzen Nachmittag dabei, die Vermögensbücher durchzusehen?«
Xiangyun bejahte.
»Und es ist niemand anders dort, nicht die alte Dame und der alte Herr, der Dritte Herr oder die Dritte Herrin?«
Xiangyun verneinte.
»Zu wem ist er sonst noch gegangen?«
»Er war bloß in den Studierzimmern«, antwortete Xiangyun.
»Nur gut, dass sich Changbais Sachen sehen lassen können … Der Tod seines Vaters und der Tod seiner Großmutter haben ihm doch ziemlich zugesetzt. Wem die Lust am Lernen darüber nicht vergeht, der ist zäh wie der Teufel.«
Sie trank ihren Tee aus und wies Xiangyun an nachzusehen, ob die beiden Schwäger schon eingetroffen wären. Qiqiao wollte durch ein zu frühes Erscheinen nicht ungeduldig wirken oder sich lächerlich machen. Auf ihrem Weg traf Xiangyun auf ein Sklavenmädchen, das der ältere Schwager mit dem gleichen Auftrag nach unten geschickt hatte.
Schließlich ging Qiqiao getragenen Schrittes hinunter. In der Halle stand ein großer blankpolierter Tisch aus Ebenholz, ein Möbelstück nach ausländischer Manier, an dessen Längsseite der Großonkel als Nachlassverwalter saß, vor sich die blau eingebundenen Rechnungsbücher mit den pflaumenfarbenen Schriftzeichen und eine Teetasse, die geriffelt war wie eine Melone. Neben dem Sekretär Ma unterstützten ihn einige eigens geladene entfernte Verwandte. Jeder Familienzweig schickte nur einen Vertreter zur Nachlassregelung, wie eine richterliche Instanz: Den Hauptzweig der Familie vertrat der alte Herr, Qiqiaos älterer Schwager; für die Familie des Zweiten Sohnes war Qiqiao zugegen, da ihr Mann bereits verstorben war; und Jize schließlich vertrat als Dritter Sohn seine Familie.