Verlorene Spur

Thriller

Heidrun Bücker


ISBN: 978-3-96152-081-7
1. Auflage 2017, Oldenburg (Deutschland)
© 2017 Schardt Verlag, Oldenburg, www.schardtverlag.de.

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Titelbild: froodmat / photocase.de
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

1995, Ägypten – Luxor – West Bank

 

Brütende Hitze lag über dem Fluss. Lästige Insekten surrten um ihren Kopf, schwirrten und krabbelten auf den wenigen Stellen ihrer Arme und Beine herum, die nicht mit Stoff bedeckt waren. Der Müll am Flussufer stank bis hierher. Zerrissene Plastiktüten flogen durch die Luft. Irgendwelche toten Tiere trieben nahe dem Ufer entlang oder hatten sich dort im Schlamm festgesetzt.

Bewegungslos harrte sie im Schilf aus und beobachtete die Sumpflandschaft. Ab und zu schweiften ihre Blicke über das Maisfeld hinüber zum Haus.

Es war schwül, obwohl es erst Anfang März war. Sie fluchte, eine neue Angewohnheit von ihr, verdammte die Menschen, die dafür verantwortlich waren, dass sie in diesem Land war. Wie sollte es erst im Sommer werden, wenn man es im Frühjahr kaum aushielt? Die Hoffnung, dann zurück in Deutschland zu sein, schminkte sie sich ab. Was gäbe sie für eine Scheibe Graubrot und frisch aufgebrühten, richtigen Kaffee. Dieses lösliche Zeug. Sie schüttelte sich, sie verabscheute all das, obwohl sie noch nicht lange hier lebte.

Leben? Nein. Dahinvegetieren konnte sie es nur nennen. Sie schwelgte in Erinnerungen, dachte an Deutschland, erinnerte sich an das kühle Regenwetter, an Schnee und nahm sich vor, sollte sie zurück sein, würde sie nie wieder über das deutsche Wetter meckern ...

Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie eindöste.

Das sich nähernde Motorengeräusch überhörte sie – zunächst.

 

*

 

„Willkommen in der Hölle, neu hier?“

Leonard Benders nickte und grunzte mürrisch, als er von der Rückbank des verbeulten Jeeps seine Reisetasche nahm. Seine miese Laune besserte sich nicht, als er sich den Ort anschaute, zu dem er von seinem neuen Arbeitgeber, Foxfire, geschickt worden war.

Seit er für die Organisation arbeitete, lernte er die Welt kennen. Seine Aufenthalte in den jeweiligen Krisengebieten dauerten allerdings nicht lange an. Als gelernter Wirtschaftsprüfer hatte er täglich mit Zahlen zu tun. Das wurde ihm langsam, aber sicher langweilig. So entschloss er sich, bei seinem ehemaligen Freund und Kollegen einzusteigen, der für das Außenministerium eine Sondereinheit aufbaute. Kennengelernt hatten sie sich bei der Bundeswehr.

Nachdem Leonard seinen Dienst beendet hatte, arbeitete er zwar wieder als Wirtschaftsprüfer, aber sein Freund benötigte gerade Leute mit einer abgeschlossenen Ausbildung, vorzugsweise in seinem Bereich. Einen Anwalt konnte er auch schon für sich gewinnen. So nahm er den Job an, der wesentlich interessanter war, als täglich mit Zahlen zu jonglieren.

„Was hast du ausgefressen?“ Benders hob missbilligend seine rechte Augenbraue. „Kevin. Kevin Mondal.“ Er lachte auf. „Wer hier landet, wurde strafversetzt. Ulli und Michael ebenfalls“, er deutete auf zwei andere Männer, die etwas entfernt unter einem großen Baum im Schatten saßen und rauchten. „Du bist die Ablösung für Ulli, der darf nach Hause. Dafür bist du nun hier. Ein oder zwei Monate, solange musst du aushalten, dann wird es für dich auch zu Ende sein, und du darfst zurück in die Zivilisation.“

Kevin steckte sich eine Zigarette an und ließ seinen Blick schweifen. Endlich bequemte er sich zu antworten.

„Leonard Benders. Und wie lange musst du noch?“

„Ich hoffe, nur noch vier Wochen. Ich sehne mich nach kühler Luft, sauberen Straßen und netter Gesellschaft.“

„Was machen wir hier eigentlich?“ Leonard schaute sich um. Der große, dunkelhaarige Mann, mit den kurzgeschorenen Haaren schwitzte. Zwar trug er, wie auch Kevin, Ulli und Michael keine Uniform, da es sich um einen höchst geheimen Auftrag handelte, dennoch war er zu warm angezogen. Erst kurz vor seinem Abflug gab ihm sein neuer Chef und Freund, Karl Wallner, am Flughafen persönlich die Reiseunterlagen. Er hatte Order, nur ihm direkt Bericht zu erstatten und ansonsten zu schweigen. Nähere Angaben würde er in Luxor erhalten.

„Wir bewachen einen Wissenschaftler und seine Familie. Seine Frau ist gerade mit dem Kind zum Ufer des Nils gegangen, das macht sie häufig, da weht etwas Wind, meint sie. Der Kleine, ein Junge, ist zehn Monate alt. Der Professor ist im Haus und arbeitet.

„Warum sind sie hier? Es sind doch Deutsche. Konnte man sie nicht woanders unterbringen?“

„Sie sind nun schon fünf Monate auf der Flucht, Deutschland wurde zu unsicher, nach zwei Tagen wurden wir jedes Mal aufgespürt und mussten weiter. Wie oft wir flüchten mussten, kann ich gar nicht mehr sagen. Hier sind wir schon zwei Monate, und man hat uns noch nicht gefunden.“

„Verstehe, deshalb hat man mir nicht gesagt, wohin es geht. Mittlerweile habe ich einen umständlichen Weg hinter mir. Frankfurt – London – Dubai – Kairo und nun Luxor.“

Kevin nickte. „Er ist Wissenschaftler, hat irgendetwas entdeckt, glaube ich. Irgendwer ist hinter ihm her, mehr wissen wir auch nicht. Habe gehört, er würde auch für unseren Verein arbeiten, in einer Forschungsabteilung. Zwei Mordversuche hat er hinter sich, und nun sind wir an der Reihe, ihn zu beschützen.“

„Wie heißt er? Lerne ich ihn kennen, oder ist er so ein arrogantes Arschloch, das er nicht mit uns spricht?“

Kevin schüttelte den Kopf, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie aus.

„Die Familie ist adelig, hat Geld, ist aber nicht hochnäsig. Im Gegenteil. Du wirst sie nachher kennenlernen. Wir duzen uns und essen sogar alle zusammen, darauf haben beide bestanden. Corinna ist froh, wenn sie Unterhaltung hat, und Noah, der Kleine, ist niedlich und lacht stets. Vor vier Wochen war er krank, Durchfall. Wir wussten zunächst nicht, welchen Arzt wir aufsuchen konnten, da es zu auffällig gewesen wäre, ein kleines, europäisches Kind herumzuzeigen. Wir ließen einen ägyptischen Kinderarzt kommen, der half ihm.“

„Corinna und Noah? Und wie heißt der Professor?“

„Victor von Blankenheim-Solbach“, erklärte Kevin, „Professor Dr. von Solbach – unter diesem Namen wurde er bekannt.“

Leonard stockte.

„Gott, den bewachen wir? Verstehe. Ging ja wochenlang durch die Presse. Ich dachte, der ist tot.“

„Nein, aber es muss einen Maulwurf in unseren Reihen geben“, erklärte Kevin weiter. „Deshalb besprachen wir die Flucht nach Luxor nur noch mit unserem direkten Vorgesetzten Wallner, und erst jetzt, nachdem niemand weiß, wo wir sind, können wir durchatmen.“

„Gut, dann lass uns hineingehen, damit ich den Professor kennenlerne.“

 

*

 

Als sie wieder aufwachte, schaute sie sich irritiert um. Etwas hatte sie geweckt, ein Geräusch, das nicht hierher gehörte.

Motoren brummten in der Ferne.

Ein Jeep?

Näherte er sich?

Das konnte nicht sein. Der Neue war schon da, die Wachablösung für Ulli, den kleineren der drei Bewacher. Er würde erst morgen früh zurück nach Deutschland fliegen. Der Jeep, mit dem der Neue gekommen war, stand noch vor dem Haus, im Schatten der Palmen.

Vom Ufer aus sah sie vage das zweistöckige Haus mit der Dachterrasse auf dem Flachdach. Sie lachte leise. Flachdach, damit sie in der Sonne grillen konnten. Auch die aus Palmwedeln geflochtenen Sonnenschirme brachten keine Erleichterung von der Hitze. Allerdings hatte man von dort aus einen tollen Blick zum Nil, nur getrennt vom Schilf und dem Maisfeld, dann kam das Ufer. Dort herrschte stets ein laues Lüftchen.

Die Hitze setzte ihr gewaltig zu. Das Handy, das man ihr vor zwei Monaten zur Verfügung gestellt hatte, funktionierte nicht. Hier hatte sie keinen Empfang, nur auf der anderen Seite des Nils, in der Nähe des „Winter Palace“.

Sie wollte nichts riskieren. Noch hatte man sie hier nicht entdeckt. Länger als eine Stunde entfernte sie sich nie von der Hütte.

Ihr ungutes Gefühl nahm zu. Sie lauschte. Es mussten mehrere Fahrzeuge sein. Sie runzelte die Stirn. Achmed, ihre Verbindung zur Außenwelt, kam zu Fuß oder per Ruderboot von der Wasserseite her. Meist schlich er sich an, versorgte sie mit Nahrung, vor allem mit Gemüse und Fisch. Ihr kleiner Kühlschrank fasste nicht viel, an lauwarmes Trinkwasser hatte sie sich mittlerweile schon gewöhnt, aber Durchfall wollte sie nicht riskieren, immerhin war sie hier auf sich allein gestellt.

Achmed müsste gleich hier sein. Sie hatte ein Fax vorbereitet, das er versenden sollte, von Luxor aus, denn hier auf der West Bank war die Zeit stehengeblieben. Eine halbe Stunde noch, allerdings waren seine Zeitangaben relativ ... Es konnte durchaus noch Stunden dauern.

Stille!

Die Wasserpumpe in der Nähe lief nicht mehr. Der Strom war weg. Merkwürdig. Das Aggregat lief mit Diesel und war erst gestern Abend aufgefüllt worden. Das hielt mindestens drei Tage. Seltsam.

Die Fahrzeuge kamen näher.

 

*

 

„Ich bin Victor“, stellte sich der Professor Leonard Benders vor, „aber Vic reicht, lass bloß den Professor und Doktor weg. Herzlich willkommen in der Hölle. In dieser Einöde müssen wir zusammenhalten. Ich danke dir, dass du gekommen bist, um Ulli abzulösen. Ihm macht das Wetter zu schaffen, aber wem nicht?“

Der einen Meter fünfundachtzig große, blonde und schlanke Adlige war Leonard von Anfang an sympathisch. Die Haare trug er länger als er selbst. Eine Locke fiel ihm lässig in die Stirn.

Er war offensichtlich kein Freilufttyp und saß gewiss täglich mehrere Stunden im Labor. Da er durchtrainiert wirkte, musste er in Deutschland ein Fitnessstudio besucht haben. Er sah gut aus, sein Lächeln war charmant, und wäre er nicht verheiratet und auf der Flucht gewesen, würden ihm sicherlich scharenweise die Frauen nachlaufen.

Er lächelte Leonard an. „Corinna wirst du später kennenlernen und den Kleinen auch. Sie ist mit ihm an unserem Privatstrand, wie sie es nennt.“

„Aber der ist nicht gerade sauber“, wagte Leonard einzuwenden. „Viel Müll. Ich konnte es auf dem Weg hierher sehen.“

Victor lachte. „Ins Wasser kann man hier nicht gehen, schwimmen fällt aus. Corinna hat sich dort eine kleine Terrasse gezimmert. Sie ist handwerklich sehr geschickt. Umgeben von Schilf ist es dort ruhig, und sie bietet ihr einen Rückzugsort für sich und den Kleinen. Man kann das Sonnensegel von hier aus erkennen. Sie hat es selbst genäht.“ Er deutete Richtung Nil.

Rundherum sah Leonard nur Felder und zwei schmale Pfade, die in die angegebene Richtung führten.

„Wohnt niemand in der Nähe?“ Er schaute sich um. Die Behausung des Professors wirkte ärmlich, dennoch passte sie sich der Umgebung an. Er meinte irgendwo einen kleinen Bretterverschlag gesehen zu haben.

Victor zuckte mit den Achseln.

„Nur noch in der kleinen Hütte rechts von uns, dort wohnt ein Ägypter, er heißt Achmed. Wir haben ihn vor zwei Monaten kennengelernt. Er lebt zurückgezogen hier, bewirtschaftet seine Felder, und man sieht ihn und seine Frau eher selten. Sonst ist es hier einsam, einsam und heiß.“ Er stutzte und horchte.

Auch Leonard hörte das Geräusch eines sich nähernden Motors.

„Erwartet ihr Besuch?“

Victor schüttelte den Kopf.

„Dann ab ins Haus!“, kommandierte Leonard und rannte zu Kevin, der mit Ulli und Michael unter dem schattenspendenden Baum stand.

„Hört ihr das?“

Ulli sprang auf, fluchte und tastete nach seiner Waffe. Michael hastete um das Haus herum, um den unbefestigten Feldweg zu beobachten. Von dort aus hatte er einen freien Überblick. Kevin rannte zur Treppe, die auf die Dachterrasse führte, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen.

 

*

 

Sie bewegte sich leise zur Holzterrasse. Am Rand der Planken stand Noahs Kinderwagen unter einer kleineren Palme. Das Kind selbst lag unter dem Sonnensegel auf einer Matratze und schlief selig, einen kleinen, selbstgenähten Teddy fest im Arm haltend. Um die Matratze war sicherheitshalber ein Tuch gespannt, so dass Noah, sollte er aufwachen, nicht davonkrabbeln konnte.

Irgendetwas war anders. Gefahr lag in der Luft. Das ungute Gefühl nahm zu. Sie schaute sich um. Niemand zu sehen. Merkwürdig.

Sie warf einen letzten Blick auf Noah und überlegte, ob sie ihn kurz aus den Augen lassen konnte, um zurück zum Haus zu schleichen. Zweihundert Meter lagen zwischen Nil und Haus, einhundert Meter hatte sie bereits geschafft, als sie in unmittelbarer Nähe eine Stimme hörte. Irgendjemand rief etwas. Sie verstand es nicht.

Dann sah sie eine Bewegung. Geduckt lief jemand durch den halbhohen Mais. Nein, es waren drei oder vier Personen. Nun registrierte sie, dass das Motorengeräusch nicht mehr zu hören war. Wo waren die Autos, woher kamen die Männer?

Sie schlich näher zum Haus.

Scheiße! Hier lief etwas schief. Sie wurden angegriffen. Sie musste reagieren, schnell, aber es waren zu viele. Sie vertraute den Bodyguards, aber konnten die vier gegen diese Gefahr etwas ausrichten?

Sie griff in die Tasche ihrer Cargohose, zog ihre Waffe hervor und entsicherte sie.

 

*

 

„Corinna ist mit dem Kind noch am Wasser“, rief Kevin Leonard zu, bevor er die Treppe zur Dachterrasse erreichte. „Kümmer du dich um sie, man hat uns entdeckt.“

Leonard entsicherte seine Pistole und rannte durchs Maisfeld Richtung Nil, merkte nach wenigen Metern, dass es nicht der richtige Weg war und wollte gerade umkehren, als er Schüsse hörte. Jemand schrie auf. Er drehte sich um und sah, dass Kevin von der Dachterrasse stürzte. Wieder kamen Schreie vom Haus her.

Er duckte sich, rannte quer durch das Maisfeld und fluchte, dass er sich nicht sofort nach seiner Ankunft mit der näheren Umgebung vertraut gemacht hatte. Aber wer konnte ahnen, dass das Chaos schon so schnell beginnen würde?

 

*

 

Sie schlich zurück zur Holzterrasse. Noah war aufgewacht und hatte es doch geschafft, von der Matratze herunter zu krabbeln. Ihr blieb fast das Herz stehen. Einige Meter weiter im Schilf sah sie etwas aufblitzen, wurde aber durch das Kind abgelenkt, das sich immer weiter auf den Fluss zubewegte. Nur noch zwei Meter, und er würde ins Wasser fallen.

Schüsse! Sie zuckte zusammen, schaute sich schnell um, machte eine Bewegung im Schilf aus, hörte einen erstickten Schrei, gurgelnde Geräusche, die sie zunächst nicht zuordnen konnte. Ihr Gehirn setzte aus, als sie zu Noah schaute. Nur noch ein knapper Meter, und der Junge würde hineingleiten.

Schreie, Rufe. Sie schob ihre Waffe hastig zurück in die Hosentasche. Nun galt es, das Kind zu retten, sie rannte los ...

Dann ein fürchterlicher Knall, ohrenbetäubend.

Sie hatte Noah fast erreicht. Tränen liefen ihm über die Wangen. Sie hörte ein herzerweichendes „Mama?“.

Sie hechtete die letzten Meter auf ihn zu, dankte Gott, dass sie die weite Cargohose trug, und landete unsanft auf dem harten Holz, erwischte das Kind in letzter Sekunde und zog es zu sich.

Sie hielt den Kleinen fest in ihren Armen, der wiederum klammerte sich an seinen Teddy.

Noch bevor sie erleichtert aufatmen konnte, hörte sie Kreischen aus dem Schilf, unmittelbar neben sich. Etwas explodierte direkt hinter ihr. Sie hob den Kopf und sah Augen, weit aufgerissen, eine Männerhand, die jemanden wegriss – und hörte einen Schrei, der im Keim erstickt wurde ... Sie wollte rufen, wurde aber durch die Druckwelle angehoben und landete unsanft auf den Holzplanken. Bevor sie die Besinnung verlor, hörte sie erneut: „Mama?“

 

*

 

Um ihn herum explodierte es, Schüsse fielen. Leonard konnte sich nur noch ins Schilf retten und wurde zu Boden geschleudert. Fünfzig Meter entfernt sah er kurz vor der Detonation Corinna, die sich mit einem Hechtsprung auf das Kind fallen ließ.

Schützend hielt er die Hände über den Kopf, als Erde, Gesteinsbrocken und anderer Unrat auf ihn niederprasselten.

Sekunden brauchte er, um Luft zu holen. Er blutete, aber es waren nur Schürfwunden. Er hob den Kopf, Corinna hatte sich noch nicht bewegt. Er robbte schnell auf sie zu und sah, dass ein Stein neben ihrem Kopf lag. Sie blutete ebenfalls, schien bewusstlos, hielt aber immer noch Noah fest im Arm. Der Kleine blickte ihn verwirrt an, hielt seinen Teddy umklammert und weinte.

Leonard strich dem Jungen beruhigend über die Wange und fühlte Corinnas Puls. Er war da, Gott sei Dank.

„Alles wird wieder gut“, versuchte er den Kleinen zu beruhigen, „deine Mama schläft nur.“

Urplötzlich stellten sich seine Nackenhaare auf. Er fühlte sich beobachtet. Schnell zog er seine Waffe.

Im Schilf, direkt am Wasser, machte er eine Bewegung aus. Ein Gesicht, eine Gestalt, bekleidet mit einer Galabija winkte ihm zu. Er richtete die Mündung auf den Mann, der älter als dreißig sein musste. Die schlanke, eher schmale Gestalt war dunkel gekleidet und trug die ortsübliche Kopfbedeckung in Form eines grauen Tuches. Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und deutete aufs Schilf. Er näherte sich Leonard vorsichtig und sprach in gebrochenem Deutsch: „Mitkommen, ich nehme Kind, du Frau, da ist Boot, schnell weg.“

„Achmed?“, fragte Leonard unsicher.

Der Mann nickte, kam näher und löste Noahs kleine Hand vom Shirt der Frau.

Leonard blieb keine andere Wahl, er schnappte sich Corinna und folgte Achmed durch das meterhohe Ufergestrüpp. Zwei Minuten später stießen sie auf einen Holzkahn, der versteckt dort lag. Achmed stieg ein und winkte Leonard, ihm zu folgen.

Corinna hatte sich immer noch nicht bewegt. Vorsichtig legte er sie auf den Boden des kleinen Kahns. Achmed drückte Leonard den Jungen in die Arme und nahm ein Paddel. Langsam stakten sie durch das Schilf. Achmed blieb in Deckung und schaute sich immer wieder nach möglichen Verfolgern um.

„Sie muss zu einem Arzt“, sagte Leonard. Achmed nickte. Hatte er verstanden?

„Wer waren diese Leute?“

„Böse Männer aus deiner Heimat, keine Ägypter“, erklärte Achmed, „wollen Professor, Frau und Kind ermorden. Schnell weg, in Sicherheit bringen.“

Dann hatte Leonard richtig vermutet. Es war nur einem glücklichen Umstand zu verdanken, dass er überlebt hatte und zumindest die Frau und das Kind hatte retten können. Dass all seine Kameraden tot waren, davon ging er aus.

Die Sondereinheit, Foxfire genannt, war eine kleine Truppe von zwanzig Leuten mit militärischer Ausbildung. Sie beschützten Menschen, die ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden, und brachten sie in Sicherheit. Wenn er richtig verstanden hatte, gab es einen Maulwurf in ihren Reihen. Nun kapierte er auch die Vorsichtsmaßnahmen, die sein Chef Karl Wallner ihm angeraten hatte, und den umständlichen Reiseverlauf. Noch waren sie nicht in Sicherheit, noch waren sie in diesem Land, aus dem er Corinna und Noah herausbringen musste.

Achmed steuerte auf eine der kleinen, unbewohnten Inseln im Nil zu. Umgeben von hohen Wucherungen versuchten sie im Schutz der Wildnis das andere Ufer zu erreichen. Wie weit sie von Luxor entfernt waren, konnte Leonard nur ahnen. Von dort aus bestand die Möglichkeit, seinen Vorgesetzten Wallner telefonisch zu erreichen und Hilfe anzufordern.

Er hatte keine Ahnung, wie er seine Schützlinge unbemerkt außer Landes bringen konnte. Außerdem musste er zurück und vorsichtshalber nach seinen Kameraden sehen. Und was war mit Victor? Lebte er noch? Hatte man ihn entführt oder auch brutal abgeknallt wie Kevin? Dass Kevin den Sturz vom Dach nicht überlebt haben konnte, war sicher. Das Haus lag in Schutt und Asche, sie hatten wie wild Sprengladungen geworfen. Eins war sicher, dieses Attentat sollte niemand überleben.

 

*

 

Erst auf der anderen Seite der kleinen Insel stellte Achmed den Motor an. Vorher deutete er Leonard an, sich auf den Boden zu legen, damit er, Corinna und Noah unsichtbar blieben.

„Wohin bringst du uns?“, fragte Leonard. „Corinna braucht einen Arzt, sie ist immer noch nicht aufgewacht, und das Kind muss etwas essen.“

Achmed nickte. „Zu Schwester, sie kümmern um Kind.“

Schnell erreichten sie das andere Ufer des Nils, und Achmed deutete Leonard an, auszusteigen.

„Nur kleines Stück weiter“, erklärte Achmed mit dem Säugling auf dem Arm und lief los.

Dank des monatelangen Trainings, fiel es Leonard nicht schwer, die zierliche Corinna zu tragen. In unmittelbarer Nähe des Ufers befand sich versteckt hinter Sträuchern ein kleines Häuschen. Achmed öffnete die Tür und verschwand im Inneren. Die Hütte war nur mit einer breiten Bank, einigen Stühlen und einer kleinen Ablage mit Gaskocher möbliert.

„Du warten, da legen Frau hin“, sagte Achmed, „ich bringen Kind zu Schwester und kommen wieder.“

Vorsichtig ließ Leonard Corinna auf die Bank gleiten, fühlte den Puls und untersuchte ihre Kopfwunde. Sie blutete nicht mehr stark, und die Abschürfungen an Armen und Beinen waren durch ihre Bekleidung größtenteils abgehalten worden. Er wunderte sich über die Kleidung. Warum lief sie in grünem Shirt und einer weiten Cargohose mit vielen großen Taschen herum? Victors Frau hatte er sich anders vorgestellt. Erst jetzt bemerkte er die Waffe, die in der linken Hosentasche steckte.

Es dauerte nicht lange, und Achmed kam zurück. Er riss ihn aus seinen Gedanken.

„Doktor gleich kommen“, raunte er, „guter Freund, er nichts sagen zu Fremden.“

„Ich muss dringend telefonieren und zurück“, versuchte Leonard ihm verständlich zu machen. „Kann Corinna hierbleiben oder bei deiner Schwester? Es wäre besser, sie ist bei ihrem Sohn.“

„Ja, erst soll Doktor nachschauen.“ Er deutete auf Corinnas Kopf. „Dann bringen weg. Schwester bereitet Bett vor.“

Nur wenig später hörten sie Schritte, es näherte sich jemand der Hütte. Achmed sprang auf und lief raus, während Leonard sofort seine Waffe zog.

Er hörte Stimmen, Achmed unterhielt sich auf Arabisch mit jemandem. Sekunden später öffnete sich der Verschlag, und ein kleiner Mann trat ein. In der rechten Hand hielt er einen Arztkoffer. Er starrte auf Leonard und die Waffe in seiner Hand. Erschrocken wich er zurück. Leonard steckte sie sofort weg und zeigte auf Corinna. Ein Wortschwall Achmeds, und der Arzt nickte. Er war verhältnismäßig klein, dafür schon älter, mit beginnender Glatze. Er trug nicht die landesübliche Tracht, sondern einen Anzug, der vor dem Marsch durch das Feld sauber und ordentlich gewesen sein musste.

Er untersuchte zunächst Corinnas Kopfwunde und runzelte die Stirn. „Ich Doktor Hamidullah. Ist nicht wieder wach geworden?“, sagte er in gebrochenem Deutsch.

Leonard schüttelte den Kopf.

„Nicht gut.“

„Sie muss ins Krankenhaus, aber nicht hier, das ist zu gefährlich.“ Leonard wusste nicht, wie viel Informationen Achmed dem Doktor gegeben hatte. „Sie muss zurück nach Deutschland. Ich muss dringend telefonieren.“

Der Arzt nickte, er schien verstanden zu haben.

Achmed sprach mit dem Doktor, dann wandten sich die Männer zu Leonard um: „Erst bringen zu Schwester, dann ich dich bringen zu Telefon, vorher du ziehen Galabija über.“

Leonard schnappte sich erneut Corinna, die nur zwischenzeitlich einmal aufgestöhnt hatte, und folgte Hamidullah und Achmed zum Haus seiner Schwester.

Der Fußmarsch dauerte eine Viertelstunde. Achmeds Schwester öffnete ihnen die Tür, noch bevor sie angeklopft hatten. Sie hielt Noah auf dem Arm, der scheinbar frisch gewickelt worden war und nun an einem Fläschchen nuckelte. Auf seinem kleinen Gesicht waren noch die Tränenspuren zu erkennen.

„Das Schwester“, stellte Achmed die verschleierte Frau vor, „Jamila. Sie kümmern sich um beide. Doktor bleiben hier, wir gehen zu Telefon.“

Er reichte Leonard eine dunkle Galabija, der sie sofort überzog. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Achmed zu folgen und darauf zu vertrauen, dass man Corinna und dem Kind helfen würde.