Inhalt
Impressum
Widmung
Danksagung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
Feldmanns Geschichte – Teil eins
Feldmanns Geschichte – Teil zwei
Feldmanns Geschichte – Teil drei
Feldmanns Geschichte – Schluss
Epilog
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2017 novum Verlag
ISBN Printausgabe: 978-3-99048-853-9
ISBN e-book: 978-3-99048-854-6
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlagfoto: Paulpaladin | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Für Lucas
Danksagung
Meiner Betreuerin, Frau Nina Pfeiler-Galos, meiner Lektorin, Frau Dr. Annette Debold bin ich für Ihre Anregungen sehr verbunden.
Einen Dank geht auch an das Grafik-Team und an alle übrigen Mitarbeitern des novum pro Verlags.
1. Kapitel
Es war erst sieben Uhr morgens. Hauptkommissar Reymond Faber, der schon seit einer Stunde an seinem Schreibtisch über einer Akte brütete, brachte seinen Abreißkalender auf den neusten Stand. Samstag, der Vierte, und Sonntag, der Fünfte, mussten dem aktuellen Datum, dem 6. Mai 2014, weichen. Bevor er die abgetrennten Zettel im Abfalleimer entsorgte, las er die Zitate auf ihrer Rückseite: „Der erste Satz ist wie eine kleine Tür, die sich zu einem großen, dunklen Raum öffnet“, stand für Samstag.
„Es gibt drei Sorten von Menschen: solche, die sich zu Tode sorgen; solche, die sich zu Tode arbeiten; und solche, die sich zu Tode langweilen.“ Der bekannte Aphorismus stammte aus der Feder von Winston Churchill.
Fabers Blick auf seine Tischuhr sagte ihm, dass der Moment wohl günstig sei, seinen Kollegen zu sich zu rufen. Er drückte auf die abgegriffene Taste seiner Gegensprechanlage.
„Bist du sehr beschäftigt, oder darf ich ein Bruchstück deiner kostbaren Zeit beanspruchen?“ „Salut Reymond. Schon so früh auf?“, begrüßte ihn Kommissar Cervoni. „Ist die Sache dringend, oder kann ich zuvor noch ein Telefonat erledigen?“ „Tu das! Es besteht kein Grund zur Eile. Hauptsache ist, wir sehen uns in den nächsten zwei Stunden“, versicherte Faber. Dann schaltete er das Intercom auf seinem Pult aus.
Zwanzig Minuten später betrat Fabers engster Mitarbeiter seine geräumige Schreibstube. „Nur eine Sekunde, ich bin gleich so weit“, vertröstete ihn sein Freund und Vorgesetzter. „Mach es dir unterdessen dort drüben gemütlich.“ Reymond zeigte auf den leeren Stuhl neben seinem in die Jahre gekommenen Schreibtisch. Die Kredite für modernere Büromöbel waren vom Stadtrat schon vor vierzehn Monaten gesprochen worden, aber Faber hatte sich, bisher mit Erfolg, gegen den Austausch seiner anachronistischen Einrichtung gewehrt.
„Wo in aller Welt nur steckt dieser verdammte Wisch?“, brummte Faber. Seine Hände zerzausten den Papierstapel. „Ah, da ist er ja endlich!“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem von Altersfurchen gezeichneten Gesicht aus. Er überflog das von Hand beschriebene Papier, fügte mit seinem abgenutzten Füllhalter eine Anmerkung hinzu und legte es dann, mit einem gut hörbaren Seufzer, erleichtert beiseite.
„Ich hatte keine Ahnung, dass dein Name auch in der deutschsprachigen Schweiz ein Begriff ist“, nahm Reymond das Gespräch auf, ohne den Blick von seinem chaotisch überladenen Sekretär abzuwenden. Ihm gefiel seine Unordnung, auch wenn er ab und zu nützliche Zeit mit seiner Dokumentensucherei verbrannte. Hier war sein Reich. Niemand hatte das Recht, etwas daran zu bemängeln oder gar ändern zu wollen.
„Mein Name, sagst du?“ Faber nickte. „Kannst du mir das etwas genauer erklären? Ich kann mir keinen Reim auf deine Frage machen.“ Reymond war es gelungen, Cervonis Neugier zu wecken. Er freute sich diebisch darüber, denn es war genau das, was er mit seiner unnötig in die Länge gezogenen Einleitung bezwecken wollte.
„Die Antwort ist ebenso einfach wie kompliziert, mein Lieber: Während du gestern auf Urlaub warst, ist in unserer Zentrale eine Anfrage für dich eingegangen. Zuerst wollte der Anrufer mit niemand anderem als mit dir sprechen.
Da wir dich weder zu Hause noch auf deinem Handy erreichen konnten, wurde mir das Gespräch zugeschaltet. Ich habe mich sofort als dein Vorgesetzter zu erkennen gegeben. So kam ich in den Genuss, gewisse Informationen quasi aus erster Hand zu erhalten. Sagt dir der Name Dr. Alois Feldmann etwas?“ Cervoni hirnte einen langen Moment, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Ein eher seltener Name“, hob er hervor, als brauchte seine negative Antwort eine Rechtfertigung. „Sollte ich den Mann etwa kennen?“ „Ich war gewissermaßen davon ausgegangen“, betonte Faber kichernd. Er konnte sich ein schlitzohriges Schmunzeln nicht verkneifen. „Unter uns gesagt, ich bin ungemein froh, dass auch dir der Name Feldmann kein Begriff ist. Es ist in der Tat beruhigend zu wissen, dass ich nicht der einzige Kulturbanause in diesem Scheißladen hier bin. Aber Internet sei Dank! Mittlerweile gehöre ich wieder zum Kreis der Erleuchteten! Wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, und das ist nachgewiesenermaßen nicht immer der Fall, handelt es sich bei Dr. Feldmann um eine sehr wohlhabende und einflussreiche Persönlichkeit. Monsieur wohnt, wie es sich für Männer seines Standes gehört, in Herrliberg, einem noblen Vorort Zürichs. Ich persönlich kenne die Gegend beinahe so gut wie meine Hosentasche. In jungen Jahren frequentierte ich dort eine Blondine. Es war mein Glück, dass sie mir ein Nebenbuhler in letzter Minute weggeschnappt hat. Ich wäre bestimmt in Zürich hängen geblieben und hätte meine verstorbene Frau nie kennengelernt. Der überwiegende Teil der Einwohner, die an diesem Ort ihr Domizil haben, sind stinkreich. Es wimmelt dort nur so von protzigen Villen und großkotzigen Fahrzeugen. Von Dr. Feldmann schreibt man, dass er über weitreichende Beziehungen auf dem internationalen Kunstmarkt verfügen soll. Versuch doch einmal seinen Namen ins Web einzugeben. Ein Mausklick genügt, und du findest haufenweise interessante Eintragungen über ihn. An seinem Wohnort und im Kanton Zürich tritt Dr. Feldmann primär als Mäzen in Erscheinung. In der Weste des großzügigen Gönners betreut er mehrere bedeutende kommunale und städtische Einrichtungen. In der jüngeren Vergangenheit hat er sich insbesondere als Förderer unbekannter Maler und Bildhauer hervorgetan. Man sagt, dass er über einen einzigartigen Riecher verfüge, wenn es darum geht, unterdotierte Künstler aufzuspüren und ihre Namen erfolgreich zu vermarkten.“
„Das tönt ja alles sehr interessant“, profitierte Piero von Reymonds Redepause. „Was hat dieser Dr. Feldmann mit mir und meinem Namen zu tun? Ich sehe da keinen direkten Zusammenhang.“ „Schön eines nach dem andern“, bremste Faber Cervonis Ungeduld. „Wie ich anfangs schon erwähnte, kam die telefonische Anfrage von einem Kollegen aus Zürich. Aus einem ganz bestimmten Grund war sein Anruf eine unerwartete Überraschung für mich gewesen: Der Name Reibstein hatte augenblicklich, ungemein schöne Erinnerungen an meine Studienzeit hervorgezaubert. ‚Sind Sie etwa mit Fernand Reibstein verwandt?‘, habe ich den Anrufer gefragt.
‚Allerdings, ich bin Fernands Sohn. Und Sie müssen Reymond Faber sein. Mein Vater hat viel und oft von Ihnen erzählt.‘“ –
„Peter Reibsteins Erzeuger war ein ehemaliger Kommilitone von mir“, fuhr Faber fort. „Während meines Studiums, das ich zum großen Teil in Lausanne absolviert habe, hatten wir uns, im skandalträchtigen Quartier Flon, eine Zweizimmerwohnung geteilt. Wobei die Bezeichnung Wohnung, aus heutiger Sicht, wohl etwas hochgegriffen erscheinen mag. Um es genau zu sagen: Unsere Behausung war eine elende Bruchbude gewesen, wie du sie dir kaum vorstellen kannst. Dafür war sie sturmfrei, und die Miete bezahlbar gewesen. Und Kakerlaken hatte es auch keine gehabt, was zu der Zeit, und in jenem Quartier, eine absolute Seltenheit war. Nach dem Universitätsabschluss habe ich meinen Freund Fernand für längere Zeit aus den Augen verloren. Jahre später sind wir einander auf einem Kongress wiederbegegnet. In der Folge haben wir uns einige Male gegenseitig besucht. Aber es war eine lose Freundschaft geblieben. Er hatte sein Leben, und ich hatte das meine. Zu meinem außerordentlichen Bedauern musste mir Peter Reibstein mitteilen, dass mein Studienfreund letztes Jahr an einer fulminanten Leukämie erkrankt und, nur zwei Wochen nach der fatalen Diagnose, verstorben sei. Fernands Sohn ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Er ist gegenwärtig auf der Stufe eines Gefreiten bei der Zürcher Kantonspolizei tätig. Sein Vater würde sich bestimmt über die Karriere seines Sohnes freuen. Schade, dass er keine Gelegenheit mehr dazu hat.“ Reymond bekam feuchte Augen. Seine sensible Seite war Cervoni bekannt. Er wusste, dass es nun an ihm lag, die ins Stocken geratene Konversation wieder in Gang zu bringen.
„Das mit dem Tod deines Freundes tut mir aufrichtig leid“, meinte Piero mitfühlend, um sogleich wieder auf das Wesentliche zurückzukommen: „Und aus welchem Grund wollte sein Sohn ausschließlich mit mir sprechen?“ „Peter Reibstein sagt, dein Name sei im Zusammenhang mit dem Fall ‚Dr. Werner Braun‘ gefallen und lobend erwähnt worden. Deine Causa habe, anlässlich eines internen Fortbildungskurses, als Fallbeispiel herhalten müssen. Dabei sei dein kriminalistisches Talent hervorgehoben worden. Die Sache habe viel Anerkennung gefunden. Ich muss wohl nicht besonders betonen, dass mich das unerwartete und vor allem ehrbare Kompliment außerordentlich gefreut hat. Dass ich stolz auf dich und deine Resultate bin, ist ja an und für sich nichts Neues. Leider hat deine Begabung auch ihre Schattenseite: Ich lebe mit der Angst, jemand könnte auf die unglückliche Idee kommen und dich von hier abwerben.“
„Das dürfte ein schwieriges Unterfangen sein“, gab ihm Piero zu verstehen. „Schließlich bin ich scharf auf deinen Posten. Es wäre dumm von mir, wenn ich mir den Job entgehen lassen würde.“ „Eins zu null!“, konterte Faber. „Du bist ein unverbesserlicher Kerl.“ Cervoni freute sich über seinen gelungenen Einwand. Fabers besorgtes Gesicht hatte sich augenblicklich aufgeheitert. Er konnte sogar über Pieros Bemerkung lachen.
„Kommen wir zum eigentlichen Grund des gestrigen Anrufs!“ „Endlich!“, akzentuierte Piero. „Peter Reibstein ist auf der Suche nach einem kompetenten Ermittler. Der Fahnder soll ihm bei der Lösung einer überaus komplizierten Angelegenheit zur Seite stehen. Oder besser noch, den Fall in eigener Regie weiterführen. Voraussetzung sei, der Anwärter verfüge über gut fundierte Italienisch- und Französischkenntnisse. Dass du, mein lieber Piero, so ganz nebenbei auch noch fließend Deutsch sprichst, hat dich in Reibsteins Augen zum absoluten Wunschkandidaten stilisiert.“ „Soll das etwa bedeuten, dass die mich für diese Aufgabe einspannen wollen? Es gibt doch bestimmt weitaus fähigere Beamte, die zudem noch mehr Erfahrung mit sich bringen, als ich im Moment ausweisen kann.“
„Dummes Zeug!“, murrte Faber. „Du mit deiner beschissenen Bescheidenheit! Das ist ja schon beinahe krankhaft bei dir. Nur gut, dass ich dir in gewissen Situationen die Entscheidung abnehme.“ „Du hast doch nicht etwa …“ Piero hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen. „Ich hoffe, du wirst mir mein Vorpreschen nicht übel nehmen, aber ich habe dein Einverständnis vorweggenommen und bereits, wenn auch provisorisch, zugesagt.“ „Was hast du?“ Cervoni fühlte sich zu Recht übergangen. Aber es wäre eine Unwahrheit, wenn man nun behaupten wollte, Reymonds voreilige Zusage hätte ihm nicht geschmeichelt. Nichtsdestotrotz zeigte er sich vorsichtig verlegen. „Ich hoffe, du hast mit deinem Lob nicht allzu viele Vorschusslorbeeren ausgeschüttet“, bemerkte er abwägend. Aber es gelang ihm nicht, etwas von Fabers heller Begeisterung wegzukratzen. „Da mir gestern kein geeigneterer Kandidat als du zur Verfügung stand, war mir keine andere Wahl geblieben, als deine Kompetenz etwas hochzuspielen“, scherzte er. „Aber Spaß beiseite, ich kann mich nicht erinnern, je von dir enttäuscht worden zu sein. Ich bin überzeugt, dass du unser Kommissariat auch in diesem Fall nicht bloßstellen wirst. Es kann unserer Abteilung nicht schaden, wenn sie, dank deinem Einsatz, ihr ramponiertes Image etwas aufpolieren kann. Seit André Maillards peinlichen Ermittlungen im Mordfall ‚Gärtner‘, ist die Presse nicht mehr gut auf uns zu sprechen. Erst kürzlich hat unser Direktor die alte Wunde wieder genüsslich freigelegt!“ Faber kratzte sich verärgert am beinahe haarlosen Hinterkopf. „Aber lassen wird das leidige Thema beiseite. Es ist an der Zeit, dass wir ‚Le passé‘ endlich Vergangenheit sein lassen. Was geschehen ist, ist nun mal geschehen und nicht wiedergutzumachen. Zugegeben, der Schaden, den Maillat mit seiner Inkompetenz angerichtet hat, war nicht unerheblich. Aber dass er deswegen seinen Arbeitsplatz bei uns räumen musste, finde ich nach wie vor ungerecht. Daran hat sich nichts geändert. Armer Maillat! Im Grunde genommen war er ein guter und, von mir aus gesehen, auch ein entwicklungsfähiger Kollege gewesen. Auf jeden Fall ein richtiger Kumpel, auf den man sich verlassen konnte. Immer aufgestellt und zu einem Späßchen bereit. Ich persönlich hätte es bei einem strengen Verweis oder in einer Zurückstufung seines dienstlichen Grades belassen. Aber meine Fürbitte bei unserem hochverehrten Direktor war, wie allgemein bekannt, auf taube Ohren gestoßen. Ich habe seinen Entscheid damals nicht verstanden, und ich verstehe ihn auch heute immer noch nicht. Aber eines ist mit absoluter Sicherheit bewiesen: Der Alte hatte schon lange auf eine günstige Gelegenheit gewartet, um unserem Kollegen ein Bein zu stellen. Er wollte Maillat loswerden! Weshalb er den guten Kerl nie ausstehen konnte, ist mir ein Rätsel.“
Faber machte wieder ein trauriges Gesicht. Es war nicht dahergeredet, dass er sich mit Maillats unschönem Abgang nie hatte abfinden können. Dass es ihm damals nicht gelungen war, ihren Kollegen vor dem Rausschmiss zu retten, grämte ihn noch heute.
„Aber wie ich schon sagte, lassen wir die Geschichte auf sich beruhen. Kommen wir lieber auf Reibsteins Angebot zurück“, versuchte er das Thema abzuhaken. „Also, bist du damit einverstanden, dass dein zukünftiger Einsatzort für eine gewisse Zeit nach Zürich verlegt wird?“ „Nach Zürich?“ Cervoni war überrascht. An diese, wenn auch naheliegende Konsequenz hatte er noch nicht gedacht. Es war einleuchtend, dass er von seinem Genfer Büro aus nicht viel würde ausrichten können. „Ich weiß nicht so recht. Es kommt alles so plötzlich!“, gab er zu. „Aber wenn du meinst, dass ich der richtige Mann für den Job bin und meine Abwesenheit nicht allzu lange dauert, werde ich den Auftrag wohl annehmen müssen. Ich hoffe nur, dass ich deinen hohen Erwartungen gerecht werde und die Sache nicht vermassle.“ „Ausgezeichnet, ich wusste, dass ich mich auf meinen Piero verlassen kann. Eine andere Antwort als diese hätte mich eher überrascht.“ Faber strahlte über sein ganzes Gesicht. „Ach übrigens, bevor ich es vergesse, der Fall untersteht der größten Geheimhaltungspflicht! Außer Reibstein, Dr. Morel und uns beiden darf, im aktuellen Zeitpunkt, niemand etwas von der Sache mitkriegen. Ich habe Reibstein unser absolutes Stillschweigen zugesichert. Angesichts der Dringlichkeit des Falles habe ich Generalstaatsanwalt Morel noch gestern Abend in seinem Büro aufgesucht. Ich wusste, dass ich ihn dort so spät noch antreffen würde. Seit jenem Tag, an dem seine Frau verstorben ist, verbringt Morel den größten Teil seiner Abende im Office. Und ab und zu übernachtet er sogar dort. Es war ein Leichtes gewesen, ihn für unsere Sache zu gewinnen. Dr. Morel hat mir die uneingeschränkte Unterstützung seitens der Staatsanwaltschaft zugesichert. Seine Eingebung, deine Abwesenheit mit der Teilnahme an einem Weiterbildungskurs zu legitimieren, halte ich persönlich für eine exzellente Idee! Sein Vorschlag passt wie die Sohle in den Schuh! Dass ausgerechnet ab Montag nächster Woche in Winterthur ein mehrwöchiges Seminar in Kriminologie stattfindet, ist geradezu ein Glücksfall. Es ist naheliegend, dass du auch gegenüber deiner Verlobten die wahren Hintergründe deiner Abwesenheit verschweigen musst. Um unangenehmen Fragen vorzukommen, habe ich Reibstein in einem zweiten Telefongespräch gebeten, dir via Mail eine offizielle Einladung zum fiktiven Kursus zukommen zu lassen. Es gilt, den Eindruck zu erwecken, das Ganze sei von langer Hand geplant worden.“
Piero massierte sein rechtes Ohrläppchen. „Verdammt! An Marisa habe ich noch gar nicht gedacht!“ Es war schwer zu kaschieren, dass der Gedanke an seine Verlobte ein unvermeidliches Unbehagen in ihm auslöste. „Wird bestimmt kein Spaziergang werden, Marisa von der Notwendigkeit des Lehrgangs zu überzeugen. Du kennst sie ja! Sie ist von Natur aus misstrauisch und obendrein noch krankhaft eifersüchtig!“ „So wie ich dich einschätze, wirst du imstande sein, auch dieses Hindernis elegant und diplomatisch aus dem Weg zu räumen. Trotzdem, für kein Geld der Welt würde ich die Rolle mit dir tauschen wollen!“, räumte Faber ein. Cervoni schnitt eine vielsagende Grimasse. Ihm war plötzlich nicht mehr ums Spaßen zumute. Der Gedanke an Marisa und ihre zu erwartende Reaktion löste jetzt schon unangenehme und schmerzliche Magenkrämpfe bei ihm aus.
„Und wann soll meine Reise nach Zürich stattfinden?“ „Morgen!“, antwortete Reymond grinsend. „Morgen!“, bestätigte Piero trocken.
*
Cervonis Aussprache mit Marisa fand nach dem gemeinsamen Abendessen statt. „Schon wieder!“, meinte seine Verlobte, als Piero ihr seine kurz bevorstehende Reise nach Zürich behutsam zu begründen versuchte. Ihre Reaktion war augenblicklich: „Ein Fortbildungskurs! Du willst mich wohl verarschen! Ein Weiterbildungskurs, und dazu noch weit von hier entfernt!“ Aus Marisas Mund klang es spöttisch. Ihre Augen funkelten unheilvoll. „Seit wann werden Kurse so von heute auf morgen aus dem Hut gezaubert? Keine Planung, keine frühzeitige Einladung?“ Es war eine berechtigte Feststellung, die Piero auf dem falschen Fuß erwischte. Er war betroffen, obwohl er mit einem unschönen Ausbruch hatte rechnen müssen. Aber nicht auf diese ausfallende Art! Piero fühlte sich in die Enge getrieben. Er suchte nach effizienteren Argumenten, um seine Absicht in einem plausiblen Licht erscheinen zu lassen. „In dieser Hinsicht muss ich dir allerdings recht geben“, antwortete er nach einer auffällig langen Pause. „Das Ganze kam auch für mich völlig überraschend. Es war Fabers Idee, mich so kurzfristig, für einen krankheitshalber verhinderten Kollegen aus Fribourg, einspringen zu lassen. Du weißt ja, dass er große Stücke auf mich hält. Deshalb hat er mir diese einmalige Gelegenheit zugeschanzt.“ Es war offensichtlich, dass es Cervoni nicht gelang, Marisas negative Gedankenströme umzupolen. Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Aus Fribourg! Was haben die Polizisten aus Fribourg mit dem Kommissariat in Genf zu tun?“ „Sie nehmen eben nur die Besten!“, trumpfte Piero auf. „Dass ich nicht lache! Die Besten!“, feixte Marisa. „Du willst mich wohl für dumm verkaufen“, sagte sie ein zweites Mal. „Weshalb gibst du nicht offen und ehrlich zu, dass irgendein Frauenzimmer dahintersteckt? Ich kenne dich zur Genüge, mein Lieber. Lügen ist noch nie deine Stärke gewesen.“
Marisas Unterstellung traf Piero unerwartet hart, obgleich er zugeben musste, dass er sich ihre Mutmaßungen selbst zuzuschreiben hatte. Nur ein Narr hätte erwarten können, dass seine amourösen Ausrutscher der jüngeren Vergangenheit so schnell in Vergessenheit gelangen würden.
Trotzdem! Piero fühlte sich verletzt, denn diesmal hatte er sich wirklich nichts, oder noch nichts, zuschulden kommen lassen. Stumm und sichtlich verärgert hielt er Marisa zuerst Reibsteins ausgedrucktes Mail unter die Nase. Als Zweites zeigte er ihr den später eingetroffenen Kursplan. Es war der letzte Trumpf, der ihm geblieben war. Pieros Verlobte riss ihm das Papier grob aus der Hand, überflog es und warf es dann achtlos auf den Küchentisch. „Fantastisch!“, schnaubte sie, derweil sie das blitzblanke Spülbecken zum dritten Mal säuberte.
„Jetzt ist aber genug! Ich halte deine pathologischen Eifersuchtsszenarien nicht mehr aus!“ Pieros Stimme bebte vor Wut; seine Entrüstung war echt. „Ich bin zur Einsicht gekommen, dass es vielleicht klüger ist, wenn wir unsere Beziehung, und insbesondere unsere gemeinsame Zukunft, nochmals überdenken. Ich habe das unheimliche Gefühl, dass wir uns mit der geplanten Hochzeit gegenseitig ins Unglück stürzen. Es ist nicht zu verheimlichen, dass da schwerwiegende Probleme auf uns zukommen. Deine krankhafte Eifersucht gibt mir zu denken. Habe ich dir nicht immer und immer wieder gesagt, wie sehr ich meinen Beruf liebe? Habe ich auch nur einen einzigen Moment ein Geheimnis aus meinen Ambitionen gemacht? Jetzt, da sich mir endlich die Gelegenheit bietet, meiner Karriere den vielleicht entscheidenden Kick zu geben, versuchst du alles, meine Zukunft zu untergraben. Eigentlich solltest du stolz darauf sein, dass ich nicht mein ganzes Berufsleben lang den Posten eines Kommissars bekleiden will. Aber wenn ich keine Weiterbildungskurse besuche, werde ich unweigerlich auf der Strecke bleiben! Ist dir vielleicht lieber, wenn man einen meiner Kollegen nach Winterthur schickt? Ich kann dir versichern, dass meine Mitarbeiter jetzt schon in den Startlöchern stehen und sehnlichst darauf warten, um sich an meiner Stelle positiv in Szene setzen zu können.“
Diesmal hatten sich Cervonis unerwartet scharfe Worte nicht ungehört im Raum verflüchtigt. Marisa hatte offenbar begriffen, dass es aussichtslos war, Piero von seinem Vorhaben abzubringen. Das Risiko einer Trennung, so kurz vor ihrer Vermählung, durfte sie auf gar keinen Fall eingehen. Nicht auszudenken, was ihre Familie, was ihre Freundinnen sagen würden, wenn sie das bevorstehende Ereignis so Hals über Kopf absagen würde. Ein absoluter Horrorgedanke, an den sie nicht zu denken wagte.
Mit einer theatralischen Geste wischte sich Marisa eine unsichtbare Träne von der Wange. „Ich habe es ja nicht so gemeint“, säuselte sie plötzlich versöhnlich. „Du musst auch etwas Verständnis für mich aufbringen. Ich habe mich so auf nächsten Samstag und unser seit Langem geplantes Picknick im Freien gefreut. Hast du vielleicht vergessen, dass wir unseren Ausflug schon drei Mal verschieben mussten? Entweder hatte es am schlechten Wetter gelegen, oder man hat dich in letzter Minute ins Kommissariat beordert. Tatsache ist, dass jedes Mal etwas Ungeplantes dazwischengekommen ist. Wenn das so weitergeht, werden wir unser Picknick auf einem Schneefeld abhalten müssen!“
Piero frohlockte; es sah alles danach aus, als hätte sich das Blatt endlich zu seinen Gunsten gewendet. Selbstzufrieden, aber mit gespielt bedachtsamer Miene setzte er sich in eine Ecke und versteckte sein Gesicht hinter der Tageszeitung. Die Lust auf weitere Diskussionen war ihm vergangen. Aber er genoss seinen Erfolg, auch wenn er ihn sich mühsam erkämpfen musste.
Marisa saß in ihrem persönlichen Schaukelstuhl, den Piero noch nie hatte benutzen dürfen. Sie wippte vor und zurück und glotzte lange Zeit schmollend ins Leere. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. „Ich habe da eine glänzende Idee!“, frohlockte sie. „Was würdest du dazu sagen, wenn ich dich auf deiner Reise nach Zürich begleiten würde? Während du tagsüber deine Kurse besuchst, gehe ich shoppen, spazieren oder in der Limmat baden. Ich bin noch nie in Zürichs City gewesen. Nach allem, was ich darüber gelesen und gehört habe, muss Zürich eine total aufregende Stadt sein. Die Abende könnten wir dann gemeinsam verbringen. Wäre das nicht fantastisch, wir zwei ganz allein? Es wäre so quasi ein Vorgeschmack auf unsere Hochzeitsreise.“
Cervoni stockte der Atem. Er konnte von Glück sagen, dass er keinen Bissen im Mund hatte. Höchstwahrscheinlich wäre er augenblicklich daran erstickt. Hatte er seinen vermeintlichen Sieg zu früh gefeiert? Er hätte es besser wissen sollen! Es wäre das erste Mal in ihrer langen Beziehung gewesen, dass Marisa nicht das letzte Wort für sich in Anspruch genommen hätte. Obwohl er insgeheim davon ausgehen konnte, dass es sich bei Marisas verwegener Eingebung um einen schwer realisierbaren Vorschlag handelte, ärgerte er sich insgeheim über ihren maliziösen Einfall. Er fühlte sich wieder bedrängt, obwohl er hätte voraussehen müssen, dass Marisa nichts unversucht lassen würde, ihn im letzten Moment doch noch von seinem Vorhaben abzubringen. Pieros Entschluss stand fest: „Diesmal werde ich nicht klein beigeben! Diesmal ganz bestimmt nicht!“ Dennoch war guter Rat teuer. Cervoni sah nur einen einzigen Ausweg aus seiner misslichen Situation: Es galt, die Flucht nach vorne anzutreten!
„Was für eine ausgezeichnete Idee!“ Ungeachtet seiner Perplexität gelang es Piero, seiner Stimme einen Hauch der Begeisterung beizumischen. Er stand augenblicklich auf, ging zu Marisa und zog sie in seine Arme. „Ich werde sofort Reymond anrufen und ihm von deinem genialen Einfall erzählen“, gelobte er. „Wenn wir Glück haben, finde ich ihn um diese Zeit zu Hause an. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er etwas gegen deinen Vorschlag einzuwenden hat. Freilich werden wir die Kosten für die Fahrt und den Aufenthalt von unserem gemeinsamen Ferienkonto abbuchen. Es ist nicht anzunehmen, dass die Polizeikasse für deinen Aufenthalt in Zürich aufkommen wird. Aber was bedeutet schon Geld, wenn ich dich dafür bei mir haben kann! Ein wirklich glänzender Einfall von dir!“
Piero war sich sicher, dass er mit seiner provokativ schnellen Zusage etwas ins Spiel gebracht hatte, was Marisa wenig behagen und sie bestimmt zur sofortigen Aufgabe ihres Vorhabens bewegen würde. Denn wenn es an ihr Eingemachtes ging, hörte bei seiner Verlobten der Spaß auf. Eher hätte sie sich in den Finger geschnitten, als auch nur einen Rappen von ihrem gemeinsamen Bankkonto abzuheben.
„Schon gut!“, winkte sie erstaunlich schnell ab. „Vielleicht ist es klüger, wenn wir unser schwer erspartes Geld nicht voreilig antasten, schließlich war es für unsere Hochzeitsreise bestimmt.“ Piero atmete auf, ließ sich aber seine Erleichterung nicht anmerken. „Das ist aber schade! Ich habe mich schon auf unsere gemeinsamen Nächte in einer kleinen Pension gefreut!“, klagte er pathetisch. „Du wirst mir fehlen, Marisa! Es wird nicht einfach sein, die Abende allein und ohne dich zu verbringen!“
Piero freute sich dermaßen über seine gelungene Strategie, dass es ihm sogar gelang, Marisas Röntgenblick standzuhalten. „Ich wäre bestimmt ein guter Schauspieler geworden“, dachte er wehmütig. Für einen Moment bereute er es tatsächlich, dass er in jungen Jahren seinen Eltern gehorcht und ihnen zuliebe eine, wie sie sagten, sicherere Laufbahn eingeschlagen hatte.