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Die in diesem Roman vorkommende Geschichte vom Bauernjungen Kosta ist zitiert aus dem Bilderbuch ‹Als die Schmetterlinge kamen› von Rosemarie P. Sohn und Helga Höfle, Friedrich Witte Verlag Hamburg, 1991.
© 2017 Zytglogge Verlag AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Thomas Gierl
Umschlaggestaltung: Simon Lanz
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel
ISBN: 978-3-7296-0954-9
eISBN (ePUB): 978-3-7296-2152-7
eISBN (mobi): 978-3-7296-2153-4
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
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Für Sandro und Mischa
Die Ankunftshalle des Flughafens Zürich war noch fast leer um diese Zeit. 7:45 Uhr, verriet mir ein kurzer Blick auf meine Tissot. Noch fünfzehn Minuten. Normalerweise hätte ich an einem Samstag um diese Zeit noch längst im Bett gelegen, hätte abgesehen vom regelmäßigen Atemgeräusch keinen Mucks von mir gegeben und es nicht einmal in Erwägung gezogen, einen einzigen Zeh unter der warmen Decke hervorzustrecken. Doch heute war alles anders. Heute war es egal, dass Samstag war. Heute hatte ich schon, bevor mein Wecker um 5:30 Uhr klingelte, stundenlang wach in meinem Bett gelegen, hatte angespannt die Sekunden gezählt, um dann doch im Minutentakt wieder auf den Wecker zu starren und ihn anzubeten, er möge doch ab und zu eine Minute überspringen.
Er hatte keine einzige übersprungen. Noch jetzt war es mir ein Rätsel, wie ich die Stunden hatte überstehen können, ohne wahnsinnig zu werden.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie immer mehr Menschen in die Ankunftshalle strömten. Offenbar war ich doch nicht der Einzige, der auf die Swiss-Maschine aus New York wartete.
New York. Der Ort, an dem alles begonnen und dennoch nicht alles geendet hatte. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich in genau dem gleichen Flugzeug gesessen und nicht damit gerechnet, dass sie noch einmal Teil meines Lebens sein würde. Würde sie es wirklich nochmals werden? Diese Frage konnte ich nicht beantworten. Noch nicht.
Für einen Augenblick wandte ich mich von der elektronischen Schiebetür ab, die ich nun schon seit Stunden anstarrte, wie mir schien, um einen weiteren Blick auf meine Uhr zu werfen. Dreizehn Minuten. Es fiel mir immer schwerer, auf der Bank, die sich im hinteren Teil der Wartehalle befand, sitzen zu bleiben. Unruhig begann ich, mit meinem linken Fuss auf den Boden zu stampfen. Noch dreizehn qualvolle Minuten, bis ich mir eine Antwort auf die Frage geben konnte. Noch dreizehn Minuten, bis ich wusste, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, alles auf eine Karte zu setzen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie weitere Menschen in die Ankunftshalle strömten. Wo blieben nur Frank und Angela, fragte ich mich. Es verblieben doch nur noch wenige Minuten, bis sie durch diese Tür treten würde. War es nicht Pflicht, die Tochter mit einem Willkommensplakat am Flughaften abzuholen, nachdem man sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen hatte?
Erst da fiel mir auf, welchen groben Fehler ich in meiner Zeitrechnung begangen hatte. Mir war vor Anspannung schon vorher übel gewesen, aber als ich nun erkannte, dass ich möglicherweise noch deutlich länger warten musste, überkam mich ein Gefühl, als müsste ich mich übergeben. 8:00 Uhr. Das war nicht die Zeit, zu der sie durch diese Tür spazieren würde. Das war gerade mal die Zeit, zu der sie einige hundert Meter von hier entfernt landete. Danach folgten noch Passkontrolle, Zoll und Gepäckabholung, weswegen ich nicht früher als um 8:15 Uhr mit ihr rechnen konnte. Weitere fünfzehn Minuten.
Ich kam mir selbst lächerlich vor, wie ich auf der Bank sass, mich wand und an weniger als einer halben Stunde Wartezeit zu zerbrechen drohte. Aber dennoch konnte ich mir nicht helfen. Ich hatte ein Jahr lang gewartet. Ja, nicht einmal gewartet, sondern einfach mein Leben gelebt. Ich war ein Jahr lang ein Bächlein, wenn nicht sogar ein Fluss gewesen. Während Tagen, Wochen und Monaten war ich widerstandslos über jeden Untergrund geglitten und jetzt, unmittelbar vor der Mündung ins Meer, schienen mich die letzten Minuten in die Knie zu zwingen.
Reiss dich zusammen, befahl ich mir selbst und stand von der Bank auf. Jetzt würde ich mich noch einmal hinsetzen, darauf achtend, dass jeder Muskel entspannt war, und dann die verbleibenden Minuten absitzen, ohne daraus ein Drama zu machen. Ich hatte die Zukunft genauso wenig in der Hand wie die Gegenwart. Es würde kommen, wie es kommen musste. Das Einzige, was es noch zu klären gab, war, ob ich litt oder die Situation so annahm, wie sie war.
Doch auch nachdem ich mich zum zweiten Mal auf die Bank gesetzt hatte, fand ich keine innere Ruhe. Wie ein Tiger im Käfig konnte ich keine Sekunde stillhalten. Ich rutschte auf der Bank herum, einmal seitwärts, einmal vorwärts, ohne dadurch meine Lage in irgendeiner Weise zu verbessern. Mein Körper war wieder Gefängnis, mein Verstand die Folter.
Wahrscheinlich wäre das noch ewig so weitergegangen, wenn nicht plötzlich ein älteres Paar in mein Blickfeld getreten wäre und mir die Sicht auf die Schiebetür versperrt hätte. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sie in die Halle gekommen waren. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich die beiden von hinten erkannte. Da waren sie nun also, ihre Eltern. Hand in Hand gingen Frank und Angela auf das Absperrgitter zu, das es den Besuchern verunmöglichte, ganz an die Schiebetür heranzutreten. Frank trug eine Papierrolle in seiner rechten Hand und begann sie nun, am Gitter angekommen, sorgfältig zu entrollen. Da hatte ich mit meiner Vermutung also doch ins Schwarze getroffen. Ein Willkommensplakat. Unschlüssig sass ich auf der Bank. Die beiden hatten mir die ganze Zeit den Rücken zugewandt und mich deshalb noch nicht bemerkt. Sollte ich auf sie zugehen und sie grüssen?
Ich mochte ihre Eltern, aber dennoch wollte ich jetzt in kein Gespräch verwickelt werden. Viel mehr wollte ich mich ganz der Schiebetür widmen, sodass ich sie ganz bestimmt nicht verpassen würde. Langsam stand ich auf. Erstens nahmen mir ihre Eltern mit ihrem Plakat die Sicht auf die Tür, und zweitens strömten jetzt laufend mehr Menschen in die Ankunftshalle, sodass ich näher an die Tür herantreten musste, wenn ich etwas sehen wollte. Wo sollte ich mich hinstellen? Unsicher trat ich einige Schritte auf die Gitterabsperrung zu, darauf achtend, dass ich nicht von den Personen angerempelt wurde, die sich entschlossen einen Weg durch die Menge bahnten. Wie würde sie reagieren? Das war nach wie vor die Frage, die mich am meisten beschäftigte. Würde sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnen, sobald sie mich sah? Würde sie auf mich zu gehen? Würde sie mich in die Arme schließen? War es vielleicht geschickter, im Hintergrund zu warten, bis sie ihre Eltern begrüßt hatte?
Auf einmal wurde mir bewusst, dass es noch so viele Fragen gab, mit denen ich mich während meiner Wartezeit nicht beschäftigt hatte, mit denen ich mich hätte beschäftigen müssen. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. Mein Körper war zwar physisch präsent, doch der Kopf bewegte sich in einer Endlosschlaufe, unfähig, brauchbare Gedanken auszuspucken. Wie angewurzelt stand ich da, ohne Anstalten zu machen, mich irgendwann weiterzubewegen.
Minuten verstrichen. Ich spürte, wie sich jemand hinter mir vorbeischob. Ich sah, wie sich Menschen an mir vorbeidrängten. Ohne mir dessen bewusst zu sein, befand ich mich auf einmal mitten im Getümmel, hatte die Schiebetür aus den Augen verloren und konnte gerade noch durch die Menschenmenge Franks Willkommensplakat erkennen, das er nun in die Höhe hielt. Ich löste mich aus meiner Starre. Ich bahnte mir einen Weg nach vorne. Ich nahm mir vor, die Menschen nicht anzurempeln, aber ganz ohne zu stossen war es mir nicht möglich, mich zwischen den Wartenden hindurchzuzwängen. Endlich konnte ich die Schiebetür wieder sehen.
Es gelang mir nicht mehr, mich ganz bis zum Gitter vorzuarbeiten. Gerade als ich mich anschickte, wenigstens einen Platz direkt daneben zu ergattern, öffnete sich die Tür.
Vom Grossmünster her schlägt es elf Uhr, als ich meinen königsblauen Audi R8 im Parkhaus Opera parke. Es war erst meine dritte längere Fahrt mit dem neuen Auto – und ist gleichzeitig die letzte gewesen. Ich habe mir für die Strecke Zeit gelassen. Anstatt den kürzesten Weg über die Autobahn nach Zürich zu wählen, bin ich zuerst von St. Gallen nach Wil gefahren. Von dort aus habe ich das Toggenburg erkundet, bin über Wattwil und den Rickenpass bis nach Uznach gelangt und dann den See entlang von Rapperswil bis nach Zürich gekurvt.
Ich habe jede Sekunde der Fahrt in vollen Zügen genossen. Bei bestem Wetter habe ich das Panorama bestaunt und auf Höhe Zürich Tiefenbrunnen sogar noch kurz Rast gemacht, um den Ausblick auszukosten und meine Lungen mit frischer Seeluft zu füllen. Es ist eine kleine Abschiedstour gewesen, eine von der Sorte, nach der man nicht mehr das Gefühl hat, irgendetwas verpasst zu haben.
Ich steige aus, gehe mit entschlossenen Schritten um den Wagen herum und öffne die Fronthaube, unter der sich der Kofferraum befindet. Es ist mühsam gewesen, die beiden unscheinbaren schwarzen Reisekoffer im Audi zu verstauen. Der eine liess sich nur mit roher Gewalt in den Hohlraum unter der Fronthaube quetschen, und beim anderen hatte ich gar keine andere Wahl, als ihn zwischen Beifahrersitz und Armaturenbrett zu zwängen.
Ich hätte mir zuvor nie träumen lassen, dass der Inhalt der Koffer so viel Platz benötigen würde. Ich bin von einem Businesskoffer im Handgepäckformat ausgegangen. So wie man das aus Hollywoodfilmen kennt. Aber bei Weitem nicht von zwei solchen Ungetümen, die ausserdem schwer sind, als hätte man sie mit Backsteinen gefüllt, und die sich nur mit einem gewaltigen Kraftakt aus den Wagen hieven lassen.
Ich bin gerade dabei, den Audi zu verriegeln, als mir einfällt, dass ich noch etwas vergessen habe. Ich öffne das Handschuhfach und ziehe einen kleinen Pappkarton heraus, auf den ich mit klarer Handschrift den Namen meines Vaters und die Adresse seines Firmensitzes geschrieben habe. Ich hebe den Deckel an, lege die Autoschüssel neben die zwei Bündel à 100 Tausendernoten, die sich darin befinden, und verschliesse den Deckel mit einem dicken Streifen Klebeband. Es steht mir nicht zu, die 200 000 Franken wegzugeben. Mein Vater würde es nicht verstehen und auch nicht wollen. Ausserdem bin ich keiner dieser Menschen, die einen Preis haben. Ich stehe nicht zum Verkauf. Weder meine Dienste noch meine Loyalität. Ich werde meinem Vater zurückgeben, was er mir gegeben hat.
Mit schwerfälligen Schritten verlasse ich das Parkhaus. Ohne die beiden Koffer würde sich der Weg womöglich leicht anfühlen. Aber mit den beiden Ungetümen im Schlepptau ist es ein Krampf. Ich lasse mich nicht von meinen Muskeln beirren, die schon nach wenigen Hundert Metern steif sind und schmerzen.
Dies ist meine letzte Bürde. Dies ist mein letzter Gang.
Heuchelei. Der Gedanke raubte mir den Schlaf. Immer wieder wälzte ich mich von der einen Seite auf die andere, lag mal bäuchlings, mal rücklings auf dem Bett, ohne aber jemals in eine Position zu kommen, in der sich meine Muskulatur entspannte und mein Geist langsam in einen Dämmerzustand verfiel. Ich schwitzte. Obwohl ich das Fenster sowie die Läden davor geöffnet hatte, klebte das Oberteil meines Pyjamas auf meiner Haut, und die Poren darunter sonderten laufend mehr Flüssigkeit ab, die mein Bett langsam, aber sicher in ein warmes, feuchtes Nest verwandelten. Ich hasste es, wenn mein Bettlaken sich nicht trocken anfühlte. Ich hasste es, wenn ich deswegen nicht schlafen konnte. Aber noch mehr hasste ich es, wenn mein Verstand nicht aufhören konnte zu denken, mich überhaupt erst in diesen Teufelskreis hineinmanövrierte. Ich musste schlafen.
Obwohl ich wusste, dass es eine Dummheit war, mich selbst unter Druck zu setzen, tat ich es dennoch. Ich konnte nicht anders. Mein Verstand konnte nicht anders. Ich konnte meine Gedanken nicht loswerden. Sie sagten, dass ich morgen frisch sein musste, dass die Prüfungen näher kamen, dass die Zeit knapp war, dass ich sonst versagen würde.
Mit einem Ruck stand ich auf. Ich zwang mich, nicht auf meinen Wecker zu sehen, das Bedürfnis zu unterdrücken, auszurechnen, ob ich noch auf die acht Stunden Schlaf kommen würde, die ich erfahrungsgemäss brauchte, um am nächsten Morgen effizient lernen zu können. Ich durfte dem Teufelskreis keine weitere Nahrung geben. Ohne das Licht einzuschalten, tappte ich zur Toilette. Ich hatte mich schon oft gefragt, ob ich wirklich so eine schwache Blase hatte, wie es für die Mitbewohner meiner Wohngemeinschaft den Anschein machen musste. Sicher war einzig, dass ich immer, wenn ich nicht schlafen konnte, an meine Blase dachte. Und sobald ich an meine Blase dachte, musste ich auch auf die Toilette. Ich drückte die Spülung der Toilette und zog die Taste gleiche wieder zurück. In Anbetracht der Möglichkeit, dass ich in zehn Minuten vielleicht schon wieder urinieren musste, war es sinnvoll, Wasser zu sparen. Auf dem Rückweg ins Zimmer achtete ich darauf, die Tür so leise wie möglich ins Schloss gleiten zu lassen. Marcel, der im Zimmer gleich nebenan wohnte, hatte mich schon öfters darauf hingewiesen, die Tür nicht immer zuzuknallen, was bei geöffnetem Schlaf- und Badezimmerfenster meist ganz ohne mein Zutun geschah. Heute klappte es problemlos.
Ich ging um mein Bett herum und stellte mich ans offene Schlafzimmerfenster. Draussen fielen vereinzelte Schneeflocken auf den Gallusplatz vor dem Kloster St. Gallen. Augenblicklich fing ich an, im feuchten Pyjama zu frieren. Doch die Kälte störte mich nicht. Ich genoss es fast ein wenig, wie sich die Härchen auf meinen Armen und meiner Brust aufstellten und ich Gänsehaut bekam. Frische Luft. Endlich konnte ich wieder ruhig atmen. In einiger Entfernung hörte ich das Geräusch eines Automotors. Kurz darauf war es wieder still. Ich liess meinen Blick über den Platz wandern. Das Kloster, der Brunnen, aus dem zu dieser Jahreszeit kein Wasser kam, der Baum mit den Sitzbänken in der Mitte des Platzes. Alles war so friedlich. Zum ersten Mal seit ich vor anderthalb Jahren für mein Wirtschaftsstudium nach St. Gallen gezogen war, wurde mir bewusst, wie sehr ich doch St. Gallen mochte. Meine Wohnung, im Zentrum der Altstadt, den Dorfcharakter des Ortes, die Umgebung mit den Drei Weihern, die sich im Sommer zum Schwimmen und das ganze Jahr als Joggingparadies anboten. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, wenn nicht …
Heuchelei. Der Gedanke schoss mir wieder durch den Kopf und vernichtete den Anflug von Behagen, das sich für kurze Zeit in meinem Körper hatte ausbreiten wollen. Nun fror ich, aber nicht mehr auf eine angenehme Weise. Meine Muskeln verkrampften sich, als wollten sie sich dagegen wehren, dass die Kälte an sie herandrang. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper und trat einen Schritt vom Fenster weg. Das war genug. Entschlossen verschloss ich das Fenster und legte mich zurück ins Bett. Eigentlich hätte ich auch die Läden verschliessen sollen, aber um noch einmal aufzustehen, fehlte mir der Nerv. Warum hatte ich mir das nur angetan? Warum war ich hier? Warum war ich nur nach St. Gallen gekommen? Sosehr ich mir versuchte einzureden, dass es mir in dieser Stadt gefiele, dass ich glücklich wäre, ich fühlte in meinem Innersten, dass ich mich selbst belog. Wie konnte man schon glücklich sein, wenn der eigene Lebensmittelpunkt so viel Energie kostete, ein Kampf gegen mich selbst war, eine Tortur, die ich mindestens drei Jahre lang über mich ergehen lassen musste?
Das Studium, die Universität, die Leute an der Universität, ich konnte sie allesamt nicht ausstehen. Diese Geldgier, dieses Streben nach Macht und Anerkennung, dieses Gefühl, besser zu sein als alle anderen, das sowohl Studierende als auch Dozenten prägte. Das war nicht ich. Und dennoch ging ich tagtäglich die Treppen hinauf zum Rosenberg, verbrachte meinen ganzen Tag in den düsteren grauen Universitätsgebäuden aus Sichtbeton und war am Ende genauso ein HSG-Student wie alle anderen. Heuchelei? Ich wusste es nicht. Oder zumindest war ich mir nicht sicher. Wie immer wenn der Heuchelei-Gedanke drohte, mich in ein geistiges Hamsterrad zu verfrachten, versuchte ich mir zurück ins Gedächtnis zu rufen, wie ich mich entschieden hatte, nach St. Gallen zu gehen. Ich war schon als Kind ein Naivling gewesen, oder zumindest ein unverbesserlicher Optimist, gespickt mit einer Prise Grössenwahn, was auch meine Studienwahl nachhaltig geprägt hatte.
Wie so viele meiner Kollegen hatte ich nach dem Gymnasium nicht sicher gewusst, was ich studieren wollte. Was ich aber wusste, war, dass ich mich für Menschen interessierte. Wie sie sich verhielten und was sie dazu veranlasste, die Entscheidungen zu treffen, die sie trafen. Psychologie wäre eine naheliegende Entscheidung gewesen. Ich hätte in Bern studieren können, nur gut eine halbe Stunde entfernt von Langenthal, jener Kleinstadt im Oberaargau, in der ich aufgewachsen war. Ich hätte weiterhin zu Hause wohnen können und weder selbst einkaufen noch waschen müssen. Doch ich hatte mehr gewollt. Ich hatte mich für Grösseres bestimmt gesehen als für ein reibungsloses Studium und ein wohliges Nest, in dem ich wohnen konnte. Ein Psychologiestudium, nachdem ich die Matura als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte? Psychologie studierte doch heute jeder, sagt man, Psychologie ist etwas für die Leistungsschwachen, als Psychologe bist du ein halber Psychiater, aber eben nur ein halber, da du keine Medikamente verschreiben darfst. Also hatte ich die Idee verworfen. Ich hätte es nicht ertragen, als leistungsschwach gebrandmarkt zu werden, auch wenn dies niemand laut ausgesprochen hätte. Ich hätte es gespürt. Genauso wie ich an der HSG spürte, dass mich Leute aufgrund meines Berner Dialektes im ersten Augenblick für intellektuell beschränkt hielten, weil sie nicht verstehen wollten, dass sich von meiner Artikulationsgeschwindigkeit nicht direkt auf meine Denkleistung schliessen liess. An meiner ersten Studentenparty hatte ein Kommilitone meinen WG-Mitbewohner Marcel gefragt, ob ich geistig behindert sei. Doch das war für mich nur noch die Bestätigung gewesen. Gespürt hatte ich diesen leicht jovialen Blick, sobald ich meinen Mund geöffnet hatte.
Meine zweite Idee war ein Politikwissenschaftsstudium gewesen. Schliesslich wollte ich mehr, nicht im materiellen Sinn, sondern als Legitimation für meine Existenz. Mich trieb der Gedanken an, die Welt zu verändern, sie zu verbessern, sie zu einem lebenswerten Ort für alle zu machen. Das war sie wieder. Die Prise Grössenwahn, die in meinem Fall wohl eher ein ganzer Esslöffel war. Ich hatte ganze Tage meines Lebens dafür verwendet, Artikel über Todesstrafen in verschiedenen Ländern zu lesen, allen voran in den Vereinigten Staaten. Ich hatte davon geträumt, mich für existenzielle Rechte einzusetzen, mich mit den ganz Grossen anzulegen, für eine Welt zu kämpfen, die wenigstens in den Grundzügen dem entsprach, worin ich mich wohlfühlte. Doch nachdem ich gesehen hatte, wie der amerikanische Präsident Obama erfolglos versuchte hatte, auf Kuba Guantanamo zu schliessen, seine «Yes We Can»-Bewegung zwar zu einem Friedensnobelpreis, aber zu keiner sichtbaren Veränderungen geführt hatte, hatte ich resigniert. Wenn es der mächtigste Politiker der Welt nicht einmal schaffte, ein Gefangenenlager zu schliessen, dann brauchte ich Politik gar nicht erst zu studieren. Dann war Politik grundsätzlich der falsche Weg, die Welt zu verändern. Und ich wollte die Welt verändern. Ich wusste, dass es grössenwahnsinnig war. Ich spürte, dass mir meine Einstellung der Welt gegenüber als Arroganz ausgelegt wurde. Aber dennoch fühlte ich mich auf irgendeine Weise dazu bestimmt.
Also dachte ich weiter, wälzte mich nächtelang schlaflos in meinem Bett, bis es mir eines Tages, als ich an der Coop-Kasse stand, in der einen Hand einen Apfel, in der anderen eine Zehnernote, wie Schuppen von den Augen fiel. Wer Menschen verstehen wollte, musste nicht Psychologie studieren, musste nicht Psychiater werden. Er musste einzig und alleine verstehen, was wir heutzutage alle brauchten, um zu leben, um zu überleben – Geld. Obwohl ich bis heute der Meinung bin, dass sich Glück nicht mit Geld kaufen lässt, war ich der Überzeugung, dass der Grossteil der westlichen Gesellschaft dieses Wissen nicht zu leben schien. Dass die Menschen zwar schon sagten, das Geld mache sie nicht glücklich, dann aber dennoch vor nichts zurückschreckten, um die Beförderung zu ergattern, stundenlang zur Arbeit pendelten, obwohl ihnen die Arbeit vor Ort mehr zusagte, und sich zum Geburtstag nur die teuersten Dinge schenkten, weil sie anders nicht fähig waren, ihre Gefühle auszudrücken. Geld war in unserer Welt nicht nur lebensnotwendig, sondern auch Entscheidungskriterium Nummer eins.
Meine Entscheidung war gefallen. Ich wusste, was ich studieren musste. Wirtschaft. Wer verstand, woher Geld kam und wohin es ging, verstand auch die Menschen. Man brauchte nur dem Weg des Geldes zu folgen.
So weit, so gut. Das war mit Sicherheit nicht der Teil meiner Studienentscheidung, der mich um meinen Schlaf brachte. Doch danach hatte ich noch vor einer weiteren Entscheidung gestanden. Wo sollte ich studieren? Volkswirtschaft genauso wie Betriebswirtschaft liessen sich an praktisch jeder Universität oder Hochschule in der Schweiz studieren. Ich hätte in Bern, Basel oder Zürich studieren können. Jede dieser Städte wäre mit dem Zug in weniger als einer Stunde zu erreichen gewesen, und ich hätte weiterhin in meinem wohligen Nest zu Hause gewohnt. Aber nein. Ich hatte mich an keinem dieser drei Orte für mein Studium eingeschrieben. Ich hatte nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht. Die Entscheidung, an der HSG zu studieren, war im selben Augenblick gefallen, in dem mir bewusst wurde, dass ich Wirtschaft studieren würde. Wieso? Genau das war der springende Punkt, der Grund für meine Schlaflosigkeit. Ich wusste es nicht. Und nicht einmal dessen war ich mir sicher. Immer wieder beschlich mich das ungute Gefühl, dass ich es eigentlich doch wusste, dass ich mir nur einredete, es nicht zu wissen, als Selbstschutz, um mir nicht eingestehen zu müssen, was ich in Tat und Wahrheit war – ein Heuchler.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht stand ich ruckartig auf und begab mich auf die Toilette. Doch als ich auf der Klobrille sass, konnte ich nicht. Ich hatte es mir nur eingebildet. Ernüchtert beugte ich mich nach vorne und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich wünschte mir, Sophia wäre hier gewesen. Ich mochte es zwar auch nach mittlerweile mehr als zweijähriger Beziehung nicht wirklich, mit ihr im gleichen Bett zu schlafen. Aber heute wäre das anders gewesen. Heute hätte ich mich nicht durch ihre Anwesenheit bedrängt gefühlt. Heute hätte ich ihre Nähe gebraucht. Sophia wäre auch wach geblieben, weil sie gespürt hätte, dass ich sie brauchte. Sie hätte mir gesagt, dass ich mich in dieser Stresssituation grossartig machte, dass ich mich tapfer schlug. Obwohl es das gefühlt hundertste Mal gewesen wäre, hätte sie mir geduldig die rationalen Gründe aufgezählt, die es für mich gab, an der HSG zu studieren: Wenn man die Welt verändern wollte, musste man zuerst diejenigen kennenlernen, die in der Welt das Sagen hatten. Die Bekanntschaft des Löwen machte man nur in seiner Höhle. Ein pyramidenförmiges Machtsystem, mit wenigen Mächtigen und ganz vielen, die aufsteigen wollten, liess sich nicht durch Rütteln am Fundament zum Einsturz bringen. Dafür war das Fundament zu breit. Eine Revolution führte nur dazu, dass die Köpfe auf den verschiedenen Stufen ausgetauscht wurden, aber sie veränderte nicht das System. Wer das System wirklich nachhaltig verändern wollte, brauchte Geduld. Musste mühsam Stufe um Stufe erklimmen und durfte erst zuoberst angekommen der Welt sein wahres Gesicht zeigen. Mit zwei vorgestreckten Stinkfingern stellte man sich dann auf die Pyramidenspitze und sprengte diese kontrolliert. Bumm! Ende der Geschichte. Waren das sonst nicht meine Worte?
Was Sophia nicht wusste, was ich ihr nie erzählt hatte, war, dass es neben diesem Szenario noch weitere gab. Was, wenn ich es nicht bis auf die Pyramidenspitze schaffte? Was, wenn mein naiver Optimismus, meine gefühlte Mission einfach nur purer Grössenwahn waren, und ich dann irgendwann in meinen frühen Vierzigern erkennen musste, dass ich mir nur etwas vorgemacht hatte. Das Resultat wäre eine Midlife-Crisis sondergleichen. Es sei denn …
Ich war immer noch ein HSG-Absolvent. Sogleich spürte ich, wie sich meine Atmung beschleunigte. Ich war an der zentralen Frage angelangt. Am Herz der potenziellen Heuchelei. War ich an die HSG gekommen, weil ich etwas verändern wollte, oder hatte ich mir einfach nur das grösstmögliche Auffangnetz im Falle meines Scheiterns ausgesucht? Wenn man ein HSG-Studium mit einem passablen Notenschnitt abschloss, hatte man praktisch ausgesorgt. Die durchschnittlichen Eintrittsgehälter von HSG-Absolventen lagen weit über dem Schweizer Durchschnitt. Das Netzwerk, das man sich schon während des Studiums aufbaute, war einzigartig. Nach einigen Jahren zäher Arbeit in der Unternehmensberatung oder auf einer Bank konnte man den typischen gutbürgerlichen Traum von einem Eigenheim und zwei Kindern bei Weitem übertreffen. Man baute nicht das Einfamilienhaus, sondern die Einfamilienvilla. War ich dem Renommee der HSG und dem Pragmatismus des Geldscheffelns genauso verfallen wie alle anderen?
Es gab einen triftigen Grund, der dafür sprach: Falls ich wirklich auf einer Mission war, wenn es meine Bestimmung war, die Welt zu verändern, hätte ich die HSG nicht gebraucht, hätte ich nicht einmal studieren müssen, um mein Ziel zu erreichen. Es sei denn, genau dieser Weg war Teil meiner Bestimmung, das Studium, die Leute die ich hier kennenlernte, die Qualen, genau die Vorbereitung, die Werkzeuge, die ich brauchte, um am Ende die Pyramide zu sprengen.
Nun war ich verwirrt. In meinem Schädel brummte es, und ähnlich wie bei einem Laptop, bei dem man die Ventilatoren surren hört, wenn der Prozessor maximal ausgelastet ist, hatte ich das Gefühl, dass mein Gehirn überhitzt sein könnte. Ich stand von der Toilette auf und wusch mir das Gesicht. Die Wassertropfen auf meiner Stirn wirkten wie Balsam. Ich hatte das Gefühl, als würden sie bis tief in meinen Kopf hineindringen und einen schweren Schleier über alle Gedanken legen. In meinem Kopf kehrte Ruhe ein. Entkräftet schleppte ich mich durch die Dunkelheit zurück in mein Zimmer, liess mich bäuchlings fallen und spürte nur noch, wie meine Zehen an das Bettgestell stiessen.
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum ich dieses unergründliche Gefühl, geliebt zu werden, unbedingt brauchte. Ob es daran lag, dass meine Mutter sich ständig mit anderen Männern vergnügt hatte? Daran, dass ich ohne Vater aufgewachsen war? Oder ob ich es doch einfach der Tatsache schuldete, dass ich ein ungewolltes Kind, ein Unfall gewesen war? Wie in so vielen zentralen Dingen war ich mir auch hier nicht sicher, mit dem einzigen Unterschied, dass ich nicht das Gefühl hatte, die Wahrheit zu verdrängen. Dass sich meine Mutter mit verschiedenen Männern abgegeben hatte, hatte mich nie gestört, vielmehr hatte dies ihre flutwellenartigen Wutausbrüche verhindert, wofür ich dankbar war. Dass ich ohne Vater aufgewachsen war, machte für mich keinen Unterschied. Ich hatte keinen Referenzpunkt, würde also nie herausfinden, ob es sich anders anfühlte, mit einem Vater aufzuwachsen. Das Einzige, was mir wirklich zu schaffen machte, war die Tatsache, dass mich nie jemand gewollt hatte.
Mein Vater war für meine Mutter ein rotes Tuch. Dementsprechend wenig hatte sie mir über ihn erzählt. Meine ganze Kindheit lang hatte sie mir einzig gesagt, dass mein Vater uns verlassen hatte und nicht zurückkommen würde. Doch als ich älter wurde, hatte mir das nicht mehr gereicht, ich hatte nachgehakt, und eines Tages war sie nicht mehr darum herumgekommen, zuzugeben, dass mein Vater in Tat und Wahrheit gar nie bei uns gewesen war.
Es war auf einem Linienflug von New York nach Zürich geschehen. Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit für die Swissair als Stewardess und betreute die Fluggäste der ersten Klasse. Als sie den Champagner ausschenkte, wurde sie von einem jungen Geschäftsmann angesprochen, der, wie sie es ausdrückte, eine unerklärliche Anziehungskraft auf sie ausübte. Er habe kalt und unnahbar gewirkt, Gefahr ausgestrahlt, andererseits aber auch einen dunklen Charme gehabt und genau gewusst, was er wolle. Dieser Mischung hatte meine Mutter nicht widerstehen können. Vom Flughafen Zürich aus ging es auf dem schnellsten Weg ins Hotel Dolder Grand und gute neun Monate später erblickte ich das Licht der Welt.
Es war für meine Mutter ein Leichtes gewesen, meinen Vater ausfindig zu machen. Er hiess Peter Widmer, war in der Schweizer Finanzszene eine kleine Berühmtheit und hatte auch umgehend einem Vaterschaftstest zugestimmt, aus Angst, die Affäre könnte mediale Aufmerksamkeit erregen. Doch als Vater habe er sich nie gesehen, auch nicht, als das Resultat positiv ausfiel. Er sei in Bezug auf mich genauso unnahbar geblieben, wie in den ganzen knapp zwölf Stunden, die sie mit ihm verbrachte habe, hatte mir meine Mutter erzählt. Er habe mich wie ein geschäftliches Problem gehandhabt, für das er möglichst schnell und unkompliziert eine Lösung finden musste. Im ersten Augenblick hatte meine Mutter die grosse Geldsumme, die er als Gegenleistung dafür anbot, mit mir nichts zu tun haben zu müssen, nicht annehmen wollen. Doch nach reichlicher Überlegung war sie zum Schluss gekommen, dass ich ohne Vater besser dran wäre als mit Peter Widmer. Sie nahm das Geld, das es mir letztlich ermöglichte, in St. Gallen zu leben und an der HSG zu studieren.
Das war auch schon alles, was mir meine Mutter zu meinem Vater erzählt hatte. Alles, was ich sonst über meinen Vater wusste, wusste ich dank Wikipedia. Unter seinem Namen existierte ein kurzer Artikel, da er, wie es den Anschein machte, in jungen Jahren nicht nur verdammt anziehend, sondern auch ein Mann mit einem ausgezeichneten Riecher gewesen war.
Peter Widmer war auf dem Schweizer Finanzmarkt unter dem Spitznamen ‹Baby-Buffet› bekannt. Er stammte aus gut betuchtem Haus und hatte jung geerbt – vor allem Aktienpakete. Zusammen mit seinem Jugendfreund Klaus Stadelmann, der aus einer noch viel wohlhabenderen Familie von der Zürcher Goldküste stammte, gründete er in den 80er-Jahren eine Investmentgesellschaft, in die er als Mehrheitsbeteiligter seine Aktienpakete als Eigenkapital einbrachte. Mit diesen Aktienpaketen als Sicherheit nahmen Klaus und er Privatdarlehen aus Klaus’ Verwandtenkreis auf. Diese flüssigen Mittel nutzten sie, um in weitere Aktienpakete zu investieren, und da Widmer dabei einen ausgezeichneten Riecher bewies, liess sich weiter frisches Kapital, später auch von Banken, aufnehmen. Heute war Peter Widmer einer der reichsten Schweizer mit einem geschätzten Vermögen von über einer Milliarde Schweizerfranken. Seinen Spitznamen ‹Baby-Buffet› handelte er sich wegen seiner extrem konservativen Investitionsstrategie ein, die auch das Idol aller Investoren, Warren Buffet, zum drittreichsten Mann der Welt gemacht hatte. Peter Widmer war kein Spekulant. Er hatte sich voll und ganz der Fundamentalanalyse von Unternehmen verschrieben. Er investierte nicht einfach in Vermögenspapiere und hoffte, dass diese kurzfristig im Wert steigen würden. Er kaufte sich Anteile an Unternehmen, die er vorher ganz genau durchleuchtet hatte, und hielt diese dann über Jahre hinweg, ohne sich von temporären Kursschwankungen beirren zu lassen. Glaubte man dem Internet, war er ausserdem ein lediger, kinderloser Mann, der zurückgezogen in Zürich wohnte.
Sonnenstrahlen. Verschlafen blinzelte ich und wartete darauf, dass sich meine Augen an das Sonnenlicht gewöhnten. Das hatte ich lange nicht mehr erlebt, dass ich schon vor dem schrillen Piepen meines Weckers erwachte. Langsam gab mein Gehirn erste Lebenszeichen von sich und ich erinnerte mich daran, dass ich gestern zu müde gewesen war, um die Fensterläden zu schliessen. Gute Wahl, dachte ich und grinste in mich hinein. Einen besseren Tag hätte ich mir dafür nicht aussuchen können. Ein klarer Himmel im Januar war in St. Gallen eine Seltenheit.
Obwohl ich gerne noch einige Minuten liegen geblieben wäre, zwang ich mich aufzustehen. Nur zu gut wusste ich, dass ich, wenn ich so liegen bliebe, gleich wieder einnicken würde. Mich danach trotz Wecker noch einmal aus dem Bett zu bekommen war in etwa gleich schwierig, wie einem Esel beizubringen, auf zwei Beinen zu gehen. Ich war alles andere als ein Morgenmensch. Schlaftrunken torkelte ich in die Küche. Es gab nur eines, was jetzt half, mich in Schwung zu bringen – Zucker. Ich öffnete den Küchenschrank rechts von der Spüle und nahm eine Frühstücksschale vom Regal. Sie war schon uralt und dementsprechend verblasst, aber dennoch liess sich noch eindeutig der Schmetterling darauf erkennen. Ich füllte sie mit Cornflakes und Milch und setzte mich damit auf unsere Couch im Wohnzimmer. Ich war froh darüber, dass Marcel wie gewöhnlich um diese Zeit noch fest schlief. Ständig nörgelte er herum, ich solle nicht auf der Couch essen, die er eigens für unsere Wohngemeinschaft gekauft habe. Als wäre ich nicht alt genug, um zu essen, ohne dabei eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen.
Unsere Mitbewohnerin Martina war in diesen Dingen viel angenehmer. Sie kritisierte und bemängelte unsere Verhaltensweisen fast nie und war auch grundsätzlich ein ausgesprochen schweigsamer Mensch. Ich fand es schade, dass sie nur sehr wenig Zeit in unserer Wohnung verbrachte, denn ich mochte sie und war gerne in ihrer Nähe, obschon sie eine Welt verkörperte, die mir fremd war. Martina war das, was ich unter einer Arbeitsbiene verstand. Punkt 6:30 Uhr klingelte ihr Wecker, unabhängig davon, ob Semester-, Prüfungs- oder Ferienzeit war. Nicht einmal am Wochenende machte sie dabei eine Ausnahme. Unter der Woche führte ihr Weg danach entweder schnurstracks in die Bibliothek oder ins Early-Bird-Yoga, das von Unisport St. Gallen für Frühaufsteher angeboten wurde. Martina hatte einen äusserst disziplinierten Tagesablauf. Noch militärischer als ihre Lebensweise war ihr nahezu puritanischer Kleidungsstil. Martina kleidete sich so wie der typische männliche HSG-Student. Ausnahmslos trug sie ein einfarbiges Hemd und darüber einen Baumwollpullover, entweder von Abercrombie and Fitch oder von Ralph Lauren. Als wäre das nicht schon streng genug, band sie sich auch noch ihre Haare zu einem straffen Knoten auf dem Hinterkopf zusammen, so, wie ich das nur aus Filmen kannte, die noch schwarz-weiss gedreht wurden. Marcel witzelte oft darüber, ob man Martina nicht darüber aufklären sollte, dass sie in Tat und Wahrheit eine Frau war. Ich hatte aber Mühe, über seine Sprüche zu lachen. In mir löste allein schon der Gedanke, in ihrer Situation zu sein, ein beklemmendes Gefühl aus. Was hatte sie nur dazu veranlasst, so streng zu sich selbst zu sein? Ich konnte mir fast nicht vorstellen, dass sich eine junge Frau freiwillig zu dem entwickelte, was Martina zurzeit verkörperte. Aber wie konnte man schon nach so etwas fragen?
Die einzige Zeit, zu der Martina jeweils ein wenig auftaute, waren die seltenen Abende, an denen, kurz bevor sie wie geregelt um 22:30 Uhr zu Bett ging, plötzlich leise Jazz-Musik aus ihrem Zimmer hervordrang. Sie besass ein altes Grammofon, das sie meiner Meinung nach viel zu selten benutzte. Ich hatte einmal, als ich die Musik spielen hörte, nicht widerstehen können, an ihrer Tür zu klopfen. Ruckartig war die Tür aufgerissen worden und Martina hatte mit völlig zerzauster Frisur und schelmischem Grinsen vor mir gestanden. Bis heute war mir ihr Grinsen geblieben, und ich hoffte seither, dass ich es irgendwann wiedersehen würde. Ich hatte mich aber davor gehütet, noch einmal während die Jazz-Musik spielte, an ihre Tür zu klopfen. Ich war mir sicher, dass Martina in ihrem Zimmer tanzte und dabei auf irgendeine Weise aus der Welt ausbrach, in der sie sonst lebte.
Das Surren meines iPhones holte mich zurück aus meinen Gedanken. Ich hatte mich lange dagegen gesträubt, mir ein Smartphone zuzulegen. Doch als ich mein Studium an der HSG begonnen hatte, war es schlicht nicht mehr möglich, ohne eines auszukommen. Alle Gruppenarbeiten und Termine wurden nur noch über WhatsApp geregelt. Dem konnte sich auch ein überzeugter Gegner des technologischen Fortschritts wie ich sich nicht entziehen.
Heute freute ich mich ausnahmsweise über die WhatsApp-Nachricht, die auf dem Display aufleuchtete. Sophia hatte mir geschrieben: «Ich hoffe, du hattest eine ruhige Nacht. Komme am Freitagabend nach St. Gallen. Liebe dich. Sophia.»
Freitagabend, wiederholte ich noch einmal in Gedanken. Jetzt musste ich kurz nachdenken. Während der Prüfungsvorbereitungszeit verlor ich häufig mein Zeitgefühl, da sich alle Tage einschliesslich Wochenende ziemlich ähnlich abspielten: Aufstehen. Frühstücken. Lernen. Mittagessen. Lernen. Sporttreiben. Abendessen. Schlafen. Das Einzige, was mich dabei vom Grossteil der anderen Studenten an der HSG unterschied, war, dass ich zwischen Lernen und Abendessen noch Zeit fand, Sport zu treiben. Für mich war jeder Tag, an dem ich nicht trainierte, ein verlorener Tag.
«Freitag, Freitag, Freitag», murmelte ich vor mich hin. Der Zucker hatte seinen Weg bis in meine Hirnzellen eindeutig noch nicht gefunden. Doch langsam dämmerte es mir auch ohne Hirndoping. Gestern Abend war ich in Zürich im Boxzentrum Spartakus gewesen. Das tat ich jeweils drei Mal die Woche: am Montag, am Mittwoch und am Donnerstag. Da ich aber gestern auch noch mit Jelena in der Mensa zu Mittag gegessen hatte, die nur montags und dienstags an der Universität war, weil sie an diesen Tagen für den Lehrstuhl arbeitete, konnte ich daraus schliessen, dass heute Dienstag war. Zufrieden antwortete ich Sophia. Ich machte mir aber erst gar nicht die Mühe, ihr eine ganze Nachricht zu schreiben. Ich schickte ihr einzig das Ideogramm eines hochgestreckten Daumens. ‹Emojis›, ein weiterer Fortschritt der Technik, für deren Verwendung ich mich insgeheim schämte.
Ein Blick auf die Uhr des iPhones verriet mir, dass ich mich nun sputen musste. Es war kurz vor neun, was bedeutete, dass Marcel bald aufstehen würde, und ich wollte nicht darauf vertrauen, dass das heutige Wetter selbst sein Gemüt in einen Frühlingszustand versetzte. Ausserdem hatte ich mir vorgenommen, mindestens noch die PowerPoint-Folien der ersten drei Semesterwochen durchzugehen, bevor ich mich mit Jelena zum Mittagessen traf. Ich ging in mein Zimmer und stopfte hastig Laptop und die ausgedruckten Präsentationen in den Rucksack. Ich wollte schon das Zimmer verlassen, als ich bemerkte, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte. Mit einem gezielten Griff angelte ich mir den kleinen Ordner mit der Aufschrift ‹Rechnungslegung› aus dem Regal. An der HSG nahm sich längst kein Student mehr die Mühe, ausführliche Zusammenfassungen des Unterrichtsstoffes anzufertigen und die empfohlenen Bücher zu lesen. Dafür fehlte erstens die Zeit, und zweitens hatte sich mit ‹Uniseminar› über die Jahre ein kleines Start-up eines ehemaligen HSG-Absolventen etabliert, das nicht nur massgeschneiderte Zusammenfassungen, sondern auch Übungen und Kopien der Prüfungen der letzten zehn Jahre zu jedem Pflichtkurs kompakt in einem kleinen Ordner bereitstellte. Obwohl Professoren alljährlich etwas anderes behaupteten, war Uniseminar der effizienteste Weg der Prüfungsvorbereitung, und wer sich die über 50 Franken für den Ordner nicht leistete, war an den Prüfungen absolut chancenlos. Damit wurde Studieren aber auch zum reinen Auswendiglernen und Repetieren von Übungen und Prüfungen degradiert und war nicht mehr eine Frage der Intelligenz, sondern nur noch des Geldes, des Fleisses und des Willens. Ich hatte mich während meines ersten Jahres an der HSG unzählige Male darüber aufgeregt, dass Studieren längst nicht mehr das Lernen aus Interesse war, wie ich es mir im Gymnasium noch vorgestellt hatte, sondern ein maximaleffizientes Aneignen reproduzierbaren Wissens, von dem nach der Prüfung nicht mehr viel übrig blieb. Aber irgendwann hatte ich resigniert und erkannt, dass in dieser Hinsicht Idealismus fehl am Platz war und einzig dazu führen würde, dass ich nach dem ersten Jahr zu der unglücklichen Hälfte der Studenten gehören würde, die den Übertritt ins zweite Jahr nicht schafften. Also hatte ich mir vorgenommen, das Studium mit möglichst wenig Energieaufwand hinter mich zu bringen, das Universitätsdiplom auf dem schnellsten Weg abzuholen und ausserhalb des Hörsaals die Dinge zu lernen, die wirklich wichtig waren.
Das Piepsen von Marcels Wecker, das aus dem Nebenzimmer an meine Ohren drang, sagte mir, dass es höchste Zeit war, die Wohnung zu verlassen. Ich schaffte es gerade noch zur Wohnungstür hinaus, bevor ein schlecht gelaunter Marcel aus seinem Zimmer trat.
Ich war zehn Jahre alt, als meine Mutter entschied, dass ich von nun an keine Babysitterin mehr benötigte. Mit meiner geliebten Anouk verschwand auch ihre kleine Schwester Sophia kurzfristig aus meinem Leben, worüber ich zu dieser Zeit nicht unglücklich war. Nachdem sie den Kindergarten hinter sich hatte, gingen wir zwar ins gleiche Schulzentrum, aber ich hütete mich davor, ihr auf dem Pausenplatz über den Weg zu laufen. Seit unserer ersten Begegnung hatte Sophia wie eine Klette an mir gehangen, eine Eigenschaft, die sich auf dem Schulhof nicht änderte. Sie himmelte mich an, wollte in meiner Nähe sein, eine Nähe, die mir Angst machte und die ich nicht erwidern wollte. Die Bewunderung des kleinen Mädchens bestätigte mich in keiner Weise im meinem Sein, wie das vielleicht zehn Jahre später der Fall gewesen wäre, sondern löste in mir einzig ein Gefühl der Scham aus. Wer wollte schon auf dem Schulhof mit einem Mädchen gesehen werden, das so viel jünger war? Wer wollte sich schon die Sprüche der Mitschüler anhören? Wer wollte schon von Sophias gleichaltrigen Freundinnen angesprochen werden, die versuchten herauszufinden, ob ich für sie auch etwas übrig hatte?
Da es mir nicht gelang, Sophia komplett aus meinem Leben zu verbannen, begnügte ich mich damit, sie zu ignorieren, und als ich dann später nach der sechsten Klasse für die Sekundarschule in ein anderes Schulzentrum wechselte, löste sich das Problem von selbst. Sophia war nicht länger Teil meines Lebens, und mit den Jahren vergass ich auch, dass sie es jemals gewesen war. In einer Kleinstadt im Oberaargau kam es zwar immer wieder vor, dass man sich im Kino oder an der Fasnacht über den Weg lief. Das war aber mehr die Ausnahme als die Regel und erinnerte mich einzig daran, dass es vor der Sekundarschule und später vor dem Gymnasium noch eine andere Zeit in meinem Leben gegeben hatte, die nun weit hinter mir lag.
Pfui Teufel! Als ich die Mensa der HSG betrat, wurde ich beinahe von der dicken Luft im Raum erschlagen. Am liebsten hätte ich gleich wieder rechtsumkehrt gemacht. Aber ich wusste, dass mein Gehirn den süsslichen Geruch, der sich aus einem Gemisch von Hunderten verschiedener Parfüms, Aftershaves und Schweiss ergab, innerhalb weniger Minuten ausblenden würde. Die Luft in der Mensa war auch während Semesterwochen alles andere als frisch, aber trotzdem kam es mir so vor, als wäre sie in der Prüfungsphase noch schlechter. Meine Erklärung dafür war, dass die Studenten während der andauernden Stresssituation mehr Adrenalin ausschütteten und folglich mehr schwitzten, da dieses nicht durch eine aussergewöhnliche körperliche Leistung abgebaut wurde. Aber ich war weder Arzt noch dergleichen und mir dementsprechend unsicher.