Inhalt



Erster Teil


Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9


Zweiter Teil


Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Abspann

Impressum




© 2017, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Ecken in und um Hamburg, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.



ISBN: 978-3-947145-11-9


Foto Umschlag: Rob Lampe

Für Fragen und Anregungen: info@hansanord-verlag.de


hansanord Verlag
Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel.:  +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
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Rob Lampe


unschuldig SCHULDIG



Kriminalroman

 

 

 

Abspann


Ausstellungsplakat_neu


Überall in Hamburg und Deutschland sind diese Plakate aufgehängt.

Der Kulturkritiker der Morgenpost notiert: „Die magischste Ausstellung des Jahres. Eine Entdeckung. Eine Offenbarung. Shootingstar Geraldine Gröhl auf dem Sprung in die New Yorker Galeristenszene.”

Die Leiterin des Feuilletons vom Hamburger Abendblatt schreibt: „Eine Ausstellung wie ein Aphrodisiakum. Anschauen. Anfassen. Man muss sie entDECKEN. Man geht erfrischt heraus. Voller geheimnisvoller Anziehungskraft. Kunst, die das Leben verändert.”

Für das Sicherheitskonzept der Ausstellung zeichnet sich Cordt Möller verantwortlich. Der designierte neue Polizeipräsident ist bekannt geworden durch einen der größten Fahndungserfolge der jüngeren Hamburger Kriminalgeschichte. Möller ermittelte als leitender Oberkommissar erfolgreich gegen einen erpresserischen Mädchenhändlerring. Dessen Anführer und Hauptverdächtige Achmed T. agierte mit außerordentlicher Brutalität. Umso größer ist Möllers Verdienst, die Festnahme des Tatverdächtigen durch umsichtige Vorbereitung unblutig durchgeführt zu haben.

Die 12-jährige Kiki L. konnte von der Hamburger Polizei aus den Fängen des ausgehobenen Mädchenhändlerrings befreit und ihren Eltern zurückgegeben werden. Kiki L. wurde von ihren Entführern an der linken Hand verletzt, als sie versuchten für das Kind Lösegeld zu erpressen. Die Ermittlungen dauern an.

Sebastian Westinghaus ist der neue Stern am Hamburger Politik-Himmel. Man darf sogar hoffen, dass Westinghaus sich bereit erklärt, in der nächsten Legislaturperiode das Amt des Kultursenators zu übernehmen. Es sei denn, er gibt doch noch dem Drängen von allen Seiten der städtischen Zivilgesellschaft nach und kandidiert als Bürgermeister. Seine Wahl gälte als sicher.

Nachdem es im internen Dienstverhältnis zu erheblichen Differenzen gekommen ist, scheidet Kriminalkommissarin Jesscia Nitsch aus dem Polizeidienst aus und eröffnet eine Sicherheitsfirma. Ihr erster Kunde ist Maximilian Schach. Kurz darauf betrauen Hamburger Staatsanwälte und Richter die Sicherheitsfachfrau mit privaten Schutzaufgaben, die sie äußerst diskret behandelt sehen wollen. Zurzeit nimmt Jessica Nitsch keine weiteren Kundenaufträge entgegen. Die Kapazitäten ihres Sicherheitsdienstes sind ausgelastet.

Jonas Krawczyk wurde weitergereicht als Spitzel an das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV). Er bespitzelt nun die bunte Politikszene in Hamburg, gibt es zumindest vor.

Leon Artles kehrt in die Vorstandetage seiner Firma zurück. CEO Dr. Dr. h.c. Schach bittet Leon, die internationale Marketingkampagne für Schachs Neffen Maximilian durchzuführen. Maxis Muskelbude soll Filialen in London und New York eröffnen. Leon Artles schlägt Madonna als Markenbotschafterin für Maxis Muskelbude vor. 

Überraschend für die Vorstandsetage beendet Gertrude Wentzien-Schmockenberg (genannt Schmocke) bereits zum Monatsschluss ihre Assistenz bei Dr. Dr. h.c. Schach. Künftig will die Schmocke sich um die touristischen Erfordernisse ihres Elternhauses kümmern. Das Landschloss Zum Schmockenberg soll zu einem Tagungshotel mit angeschlossenem Golfressort ausgebaut werden.

Die Assistenzstelle bei Schach wird künftig von Sophia Bogdanovich bekleidet. Sophia Bogdanovich ist bereits auf besonderen Wunsch von Schach im Haus: Sophia soll die Abläufe kennenlernen – und bringt sich schon erfreulich aktiv ein. So hält sie Madonna als Markenbotschafterin von Maxis Muskelbude für ungeeignet: Madonna sei zu alt und habe mit den Fitnessclubs Hard Candy in Berlin wenig reüssiert. Sophia schlägt als Markenbotschafter Pharrell Williams vor, den sie mag. Schach zweifelt noch. Er kennt Pharrell Williams nicht. Aber er mag Sophia.

Nachdem der eifrige Manuel Heilenegger den schon sicher geglaubten London-Deal nicht zum Abschluss bringen konnte, durfte dieser gleich in London bleiben. Seitdem meidet er Deutschland und bemüht sich um einen Assistentenjob bei dem britischen Brexit-Minister David Davis.

Aufgrund der Anzeige von Marie Artles leitet Staatsanwalt Palmer ein Ermittlungsverfahren wegen Kindesentführung gegen Leon Artles ein und bringt es vor Gericht. Weder Leon noch seine Frau sind während der Verhandlung anwesend. Sie lassen sich von Anwälten vertreten. Der Richter spricht Leon Artles frei. Das Urteil wird Leon schriftlich zugestellt. Der derzeitige Aufenthaltsort von Marie Artles ist unklar. Ihr Haus neben der Ziegelei steht leer.

Noch nie zuvor ist bei Haspa-Filialleiter Konstantin Rösch ein solches Fehlverhalten aufgetreten: Er muss sich derzeit beim Haspa-Vorstand am Großen Burstah erklären. Rösch hat einen ungewöhnlich hohen Kredit für den Betrieb eines neuen Yogastudios vergeben, ohne auf entsprechende Sicherheiten zu drängen. Bei der Rückzahlung treten Schwierigkeiten auf.

Jessica Rösch hat die stillgelegte Ziegelei von Hans-Peter Sonneborn gemietet. Dort ist nun die Logistikzentrale ihres neuen Internetversandhandels von gebrauchten Pferdedecken untergebracht. Die Umsatzzahlen steigen steil an; Jessica Rösch verhandelt mit Hans-Peter Sonneborn um die zusätzliche Anmietung des alten Verwaltungsgebäudes.

Anwalt Adalbert von Gerte , besser bekannt als der schöne Bertie , war bei Redaktionsschluss leider nicht erreichbar. Er befand sich nach Aussagen seiner Assistentin Sonja von Gerte für den nächsten ihm zugetragenen Fall vor Gericht. Wir bleiben dran...

*  *  *  ENDE  *  *  *

 

über den Autor


RL_150

Genau wie die Protagonisten im Roman wuchs Rob Lampe im schönen Hamburg an der Elbe auf. Schon während der Schulzeit begann er eine Vielzahl an Kurzgeschichten durch alle Genres zu schreiben, die er allerdings nicht veröffentlichte. Während seines Studiums arbeitete er als Konzeptioner und Texter, nach seinem Studium folgten weitere aufregende Jahre in der Medien- und Werbewelt in Hamburg, Berlin und München u.a. als stv. Anzeigen-Leiter bei BILD im Axel Springer Verlag, als Marketing-Direktor im Hubert Burda Verlag und als Unit-Leiter für Content-Management und Redaktion im Bereich eCommerce. In seiner Freizeit betätigt sich Rob Lampe als Fotograf. Er liebt zeitgenössische Kunst sowie die mediterrane Küche.

Mit „unschuldig SCHULDIG“ legt Rob Lampe sein Debüt-Kriminalroman vor.


 





Für Felix, Helena, Tom & Zoé.






E r s t e r  T e i l



Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde

Kapitel 1


Noch 7 Minuten.
„Was machen die Kinder?”, fragte Leon Artles.
Er dämpfte die Stimme. Nötig war das nicht. Aber er mochte es so.
Es versetzte ihn in eine heimelige Stimmung. Als säße er an den Betten seines Sohns Ben und seiner Tochter Anna und erzähle ihnen Gute-Nacht-Geschichten.
Die Vorstellung ließ Leon die Augen feucht werden. Vielleicht auch, weil er vor einigen Wochen von zu Hause ausgezogen war.
Mit dem lachsfarbenen Taschentuch tupfte Leon eine Träne ab.
Er genoss das Gefühl der verpassten Möglichkeiten und der kleinen Tragik. So wie er auch seine wiedergewonnene Freiheit genoss.
„Ben putzt gerade Zähne”, sagte Marie am anderen Ende der Leitung. Marie und Leon waren weiterhin verheiratet, Leon liebte seine Frau. Besonders wenn er nicht mit ihr unter einem Dach leben musste. Marie sagte: „Von Anna habe ich nichts gehört. Das werten wir als gutes Zeichen?”
„Denke schon. Sollten wir.”
Leons Blick löste sich von der Kladde mit seinen Aufzeichnungen, schweifte über den Hafen.
Anna würde er für zwei Wochen nicht sehen. Aber er freute sich auf Ben. Dem könnte er heute Abend aus Harry Potter vorlesen. Leon musste nur zusehen, rechtzeitig aus der Firma zu kommen. Es wäre schade, sich bis hinter Volksdorf aus der Stadt zu quälen, um dann nur noch einen schlafenden Ben in seinem Bettchen zu sehen.
Es musste heute klappen. Morgen käme er nicht dazu, Ben zu besuchen. Morgen stand der Termin in London auf dem Programm. Dafür würde er früh aufstehen, um vor dem Berufsverkehr durch das Nadelöhr an der Fuhlsbüttler zu flutschen. Dann erwischte er den Frühflieger, bräuchte nur einmal in London übernachten und wäre vorm Wochenende zurück.
Natürlich könnte er stattdessen den eifrigen Heilenegger nach London schicken. Heilenegger würde sich ein Bein ausreißen, um den Londoner Auftrag für die Firma an Land zu ziehen. Genau das aber war das Problem. Heilenegger wurde Leon zu eifrig. Er wollte ihn auf Abstand halten. Besser Leon machte den Londoner Deal selbst.
Noch 3 Minuten.
„Danke auch für die Rosen, Leon”, sagte Marie. Sie holte seine Gedanken zurück.
„Gerne”, erwiderte er.
Es war der Jahrestag ihrer Hochzeit. Die iPhone -Kalender-App hatte ihn erinnert, die Schmocke hatte das Nötige veranlasst.
„Leon, wir hatten eine schöne Zeit.”
Wohl wahr, Marie. Aber es ist vorbei.
Noch 1 Minute.
Leon holte das Hugo-Boss -Jackett von der Lehne.
„Ich muss Schluss machen, Marie. Die Arbeit … du weißt.”
Natürlich wusste sie, und er dachte, sie würde noch fragen, wie es mit seinem persönlichen Lieblingsprojekt stünde.
Aber sie fragte nicht.
Sonst erkundigte sie sich immer.
Nun gut. Er beendete das Gespräch, klappte die Kladde zu.
Sie war in weichem Kalbsleder gebunden, das glänzend geworden war, da er die Kladde oft zur Hand nahm. Er schrieb viel hinein. Nach Feierabend, wenn die Büros der Kollegen sich geleert hatten.
Sein persönliches Projekt. Keiner wusste davon. Nur er und Marie.
0 Minuten.
Das rote Lämpchen leuchtete auf. Er nahm ab.
„Herr Artles, die Konferenz. Ich sollte Sie erinnern.”
„Vielen Dank, Schmocke. Bin auf dem Weg.”
Alle in der Firma nannten sie Schmocke. Eigentlich hieß sie Gertrude Wentzien-Schmockenberg. Sie sah aber nicht so aus.
Schmocke war die Assistentin des großen Schach und die Seele der Firma. Schmocke mochte Leon. Hielt ihn für das größte Talent auf der Etage.
Leon Artles warf die Kladde in die Schreibtischschublade, schloss ab und erhob sich mit Schwung. Das Taschentuch drapierte er als Einstecktuch.
Showtime, Leon.
Fast hätte er sein iPad vergessen, fischte es noch vom Schreibtisch. Es sah besser aus, wenn er etwas in der Hand hatte.
Brauchen tat er das nicht. Alles war im Kopf. Keine Cloud-Lösung war nötig, kein PowerPoint, kein Flip-Chart. Präsenz war entscheidend. Daran glaubte Leon.
Mit Verve betrat er den Konferenzraum.
Es war, wie er es erhofft hatte. Alle waren da. Die Köpfe drehten sich ihm entgegen.
Der große Dr. Dr. h.c. Schach thronte an der Schmalseite des Mahagoni-Konferenztischs. Vor Schach stand nur ein Glas mit stillem Wasser.
An den Längsseiten saßen die Abteilungsleiter, der Direktor des Controllings und der eifrige Heilenegger.
Schach tippte auf seine TAG-Heuer -Armbanduhr.
„Pünktlich wie die Maurer, unser Leon Artles.” Dröhnendes Lachen von Schach. Seine Knappen an den Längsseiten stimmten ein.
„Komm herein, Leon. Wir sind im Zeitplan. Es folgt Punkt 3. Dein Vortrag, New Century Marketing .”
Schach hatte bei seinem Amtsantritt die Fliegende Konferenz eingeführt. Die Anwesenheit der Executives war obligatorisch, aber Vortragende aus der zweiten Reihe erschienen just in time . So ging ihre Arbeitszeit nicht durch Konferenzhocken verloren.
Leon baute sich auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Konferenztischs auf. Er schaute in die Runde, schob das Kinn vor, blickte durch die Panoramascheibe auf den Hafen.
Es sollte seinen visionären Blick darstellen.
Ruhig sprach er die ersten Sätze. Streute eine Anekdote ein, brachte Fakten und seine Schlussfolgerungen zum New Century Marketing .
Man hörte konzentriert zu.
Schließlich kam Leon zu den vier großen „R”.

- Reach
- Responsibility
- Relevance
- Revenue

Die oberste Konzernebene liebte englische Fachausdrücke, und Leon Artles gab seiner Stimme amerikanischen Akzent. Vier Jahre war er Marketing Assistent in New York gewesen, bevor er nach Hamburg zurückgekehrt war.
Die vier großen „R” bildeten den Höhe- und Schlusspunkt seines Vortrags zum künftigen Marketing des Unternehmens, dem New Century Marketing .
Als Leon geendet hatte, entstand eine Pause.
Schach stützte den Kopf auf, rieb sich am Kinn.
Seine Knappen schwiegen. Sie konnten sich Maßanzüge leisten, aber keine eigene Meinung.
Gern hätte Leon das Taschentuch gezogen und die Stirn abgetupft. Er hoffte, sie glänzte nicht.
Schach griff zum Glas, nahm einen Schluck.
Er stand auf. Es war erstaunlich, wie klein er blieb. Schach war ein Sitzriese. Während er auf kurzen Beinen zu Leon watschelte, klatschte er dreimal in die Hände, mit gedehntem Abstand dazwischen.
„Famos! Sie sind ein Pfundskerl, Leon! Ich habe es immer gewusst. Sehr überzeugend. Wirklich sehr überzeugend. Genauso machen wir das.”
Nun klatschten auch die Knappen Beifall, überschlugen sich in Superlativen zu Leons Ideen, erhoben sich und gingen zu ihm, um ihm auch persönlich - und vor den Augen Schachs - zu dem fantastischen Vortrag zu gratulieren.
Schach scheuchte sie bald zurück. Er mochte es nicht, von so vielen um Kopfeslänge überragt zu werden.
„Setzt euch, meine Freunde. Setzt euch. Ich glaube, jetzt ist der richtige Moment, um euch etwas mitzuteilen.”
Er nahm die Schultern zurück und steckte die Daumen in die Armausschnitte seiner Weste.
„Ich habe entschieden. Natürlich in völliger Abstimmung mit unseren Anteilseignern. Dass unser guter Leon Artles. Aufgrund seiner hervorragenden, wirklich herausragenden Leistungen für die Firma. Und aufgrund seines Talents und seines unermüdlichen Einsatzes für die Firma. Mache ich ihn ab Monatsanfang zu meinem Stellvertreter.”
Schach strahlte.
Von ihren Plätzen schauten seine Untergebenen zu ihm auf, als habe Gott gesprochen. Alle wussten, was die Entscheidung bedeutete. Leon Artles würde - wenn er nicht noch silberne Löffel stahl - zum 1. April Oberchef der Firma werden. Der neue CEO. Schach ginge in den Aufsichtsrat.
Vom Marketingfuzzi zum CEO innerhalb von nicht mal zwei Jahren. Was für eine Karriere.
Leon war zunächst sprachlos. Und er vergaß, das Kinn vorzuschieben. Er war am Ziel seiner Wünsche. Sogar mehr als das. Er machte richtig Karriere.
Dazu hatte er zwei wohlgeratene Kinder. Und eine verständnisvolle Frau, die ihn unterstützte.
Dazu war sein persönliches Traumprojekt „15 minutes of fame “, sein großer Hamburger Tatsachenbericht über die Verführbarkeit jedes Einzelnen, was Leon aus dem Marketing kannte, fast abgeschlossen.
Kurzum: Er war der glücklichste Mann der Welt.
„Danke. Danke.” Er sprach mit rauer Stimme. „Euch allen möchte ich danke sagen. Ohne euch, ohne die Unterstützung jedes Einzelnen von euch, wäre ich nicht da, wo ich jetzt stehe. Wäre die Firma nicht da, wo sie jetzt steht.”
„Leon, wir vertrauen dir.” Schachs Händedruck war fest und trocken. „Mit deiner Kraft und deinen Marketingideen sieht das Unternehmen goldenen Zeiten entgegen.”
Die Knappen erhoben sich, klatschten Beifall, brachten Hochrufe auf Leon aus. Am lautesten war Heilenegger.
Leon badete in dem Jubel.
Schmocke hatte Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen.
Sie hatte die mahagonigetäfelte Tür einen Spalt geöffnet und ihren Kopf hereingesteckt. Frische Dauerwelle, Gleitsichtbrille mit wechselbaren Bügeln: heute Leopardenmuster.
„Entschuldigen Sie, Herr Schach. Hier sind zwei Herren, eine Dame -”
Weiter kam Schmocke nicht.
Sie wurde beiseitegeschoben. Die Tür flog auf. Die Klinke krachte in die Wandtäfelung.
Zwei Männer in Freizeitkleidung vom Discounter stürmten herein, gefolgt von einer Frau mit Pferdeschwanz.
„Wer von Ihnen ist Leon Artles?”, fragte der Erste und Größte von ihnen.
Schach stellte sich vor Leon.
„Haben Sie einen Termin, meine Herren?”
„Herr Artles hat einen Termin. Auf dem Polizeikommissariat”, sagte der große Mann, zeigte einen Dienstausweis.
Schach nahm den Dienstausweis und studierte ihn, runzelte die Stirn, gab den Ausweis an Leon weiter.
Nachdem Leon gelesen hatte, sagte er: „Ich bin der, den Sie suchen, Oberkommissar Möller.” Leon sprach ruhig. Dabei raste sein Blut. Warum hatte Möller sich nicht einfach einen Termin geben lassen? Warum kamen die zu dritt, als wäre er ein Schwerstverbrecher, was wollten sie von ihm? Er war der rechtschaffenste Bürger der Welt.
Leon fand eine Stuhllehne, an der er sich festhielt.
Vor Schachs Knappen wollte Leon unbedingt Haltung bewahren und sich nicht von Beamten in Freizeitklamotten in die Knie zwingen lassen.
Möller erklärte so laut, dass es auch jeder im Konferenzraum mitbekam: „Leon Artles, Sie sind vorläufig festgenommen.”
Mein Gott, was das peinlich.
Möller sagte: „Wir haben zwei Möglichkeiten. Sie kommen gesittet und ohne Aufsehen mit uns. Wir verzichten auf Handschellen und nehmen den Hinterausgang. Oder Sie fangen an zu diskutieren. Kommissar Vered legt Ihnen Handschellen an, wir fahren die 23 Stockwerke hinab und nehmen den Vorderausgang. Dort warten schon Fernsehteams und Stadtblogger, um einige schöne Aufnahmen zu machen.”
Schach und seine Knappen hielten die Luft an.
Der zweite Mann, Kommissar Vered, holte Handschellen heraus. Leon fiel die kreisrunde, kahle Stelle auf dem Hinterkopf des Kommissars auf. Die Kettenglieder der Handschellen klackerten in die Stille.
Möller fragte: „Wie hätten Sie es gern, Leon. Mit oder ohne Handschellen?”


Leon Artles schaute sich um: vier freudlose Wände.
Keine Bilder waren aufgehängt und keine Uhr.
In der Mitte des Raums stand ein Tisch, dazu zwei Stühle; alle drei Möbel waren aus Holz. Die Jahrzehnte hatten die Möbelecken rundgescheuert und Speckglanz hinterlassen.
„Haben Sie hier keine Uhr?”
„Nö. Aber Kaffee”, sagte Möller und hing sein Billigblouson über die Lehne, zupfte es an den Schultern, bis es gerade hing.
Dann ließ sich der Oberkommissar nieder. Zwischen ihm und Leon war der Tisch.
„Besser stecken lassen”, sagte Möller, „das Handy, steckenlassen.”
„Ich wollte nur die Uhrzeit nachschauen.”
Oberkommissar Möller ging darüber hinweg, fragte: „Kaffee? - Frau Nitsch, bringen Sie uns zwei Tassen?”
„Bestimmt nicht”, sagte eine Frauenstimme von der Seite.
Leon drehte sich zu ihr. Frau Nitsch, jünger und entschieden besser gekleidet als Möller, hatte sich außerhalb des Lichtkegels gehalten, den der Lampenschirm zeichnete.
Möller erhob sich, warf der Nitsch einen Blick zu. „Dann mach ich es selbst. Wollen Sie auch einen, Leon?”
Duzte er Leon? Ne, er nannte ihn beim Vornamen, aber mit Sie dazu. War das kumpelig oder frech oder korrekt? Auf jeden Fall hamburgisch. Möller war bestimmt ein Hamburger Jung, hier geboren und aufgewachsen.
„Äh ja, ich nehm auch einen”, entschied Leon.
„Passen Sie auf ihn auf”, sagte Möller zur Nitsch und war raus, und die Nitsch trat in den Lichtkegel.
Leon glaubte, ihr erklären zu müssen: „Ich, ich wollte nur nach der Uhr gucken, als ich das Handy rausholen -”
„Zeit spielt keine Rolle”, unterbrach sie ihn, legte ein kleines Aufnahmegerät auf den Tisch. Die Nitsch hatte grüne Augen und keinen Wimpernschlag. Ihr Blick forschte in seinem Gesicht. Unbehaglich rutschte Leon auf der blankgescheuerten Stuhlsitzfläche hin und her.
„Was erzählen Sie da, Nitsch”, polterte Möller, der schon zurückkehrte und zwei dampfende Becher in den Händen hatte. Er schloss die Tür, setzte sich, schob Leon einen Becher zu.
„Trinken Sie auf den Schreck zum Feierabend. Ich denke, die Sache wird sich einrenken.”
„Dazu will ich gern beitragen. Ich bin unschuldig.”
„Dann sind Sie schnell wieder zu Hause, Leon.”
Erleichtert atmete Leon aus; gefühlt das erste Mal seit seiner Festnahme vor … wie lang war das her? Er schaute aus dem schmalen Fenster. Es war dunkel geworden.
„Das wäre gut” meinte er, „wenn ich gleich nach Hause kann. Ich würde meinem Sohn gern noch Gute Nacht sagen.”
„Ihrer Frau nicht?”
„Doch, doch, schon -”
„Aber Sie leben getrennt von ihr.”
„Erst seit Kurzem.”
„Wohnung in der Stadt.”
Fragte Möller das, oder wusste er es?
„Ja, ja, ich habe mir ein Apartment in der ABC-Straße genommen.”
„Boarding-House, Wäschedienst, Pförtner unten.”
Möller wusste es. Leon war überrascht.
„Wir haben uns erkundigt”, sagte Möller, „trinken Sie, wird kalt.”
Leon trank, und die heiße Automatenplörre tat ihm gut, und das wunderte ihn. Von dem Ristretto , den die Schmocke ihm aus dem Bezzera -Chrom-Ungetüm, (eine Siebträgermaschine mit Doppelmanometer, beschickt mit direktimportierten Premiumbohnen aus Santo Domingo) presste, von dem Ristretto bekam er manchmal Magenschmerzen.
Er sollte die Schmocke bitten, ihm künftig Nescafépulver in heißes Wasser zu rühren. Wenig Pulver, viel Wasser mit Milch und Zucker. Aber was würden die Kollegen denken. Artles ist auf Nescafé umgestiegen - das ginge auf der Etage rum:
„Wisst ihr schon, Leon Artles hat es am Magen. Der Stress nach der Beförderung. Macht es nicht mehr lang. Ist zu viel für ihn.”
Sorgfältig stellte Leon den Plastikbecher ab. Er beobachtete sich selbst. Seine Hand zitterte nicht. Nach dem ersten Schock der Festnahme hatte er sich im Griff. Er war ein Profi, der sich nicht nur auf dem Geschäftsparkett zurechtfand, sondern auch in ungewöhnlichen Situationen klarkam.
„Darf ich jetzt einmal bei meiner Frau anrufen?”
„Das können wir gleich machen, Leon. Was ich aber gar nicht verstehe: Sie sagen Ihrem Sohn Ben Gute Nacht .”
„Ja.”
„Ben wohnt bei seiner Mutter.”
„Ja.”
„Draußen, hinter Volksdorf.”
„Ja. Neben einer alten Ziegelei. Wunderschön dort.”
„Dauert aber 70 Minuten da raus.”
„Abends nicht, wenn ich Feierabend mache. Da ist der Berufsverkehr durch. Und zurück geht‘s noch schneller.”
„Mmh, Sie fahren wieder zurück?”
„Ja, meistens.”
„Weil Sie Ihre Frau nicht mögen.”
„Nein. So ist es nicht.”
„Sie fahren 50 Minuten raus … Wie lang genau? Sagen Sie es mir.”
„35 Minuten.”
„Weil der Berufsverkehr schon durch ist.”
„Genau.”
„Sie arbeiten lang und gern.”
„Genau. Es ist eigentlich keine Arbeit, es macht mir Freude.”
Möller nickte, schien ihn zu verstehen. „Macht Ihnen Freude. Da arbeitet man gern länger. Dann ist der Berufsverkehr durch und man huscht schnell durch die Stadt, um Gute Nacht zu sagen.”
Möller schaute Leon in die Augen. Dann sagte der Oberkommissar:
„Aber der Junge liegt doch längst im Bett und schläft. Wenn Sie so lang arbeiten und 35 Minuten raus brauchen.”
„Vielleicht sind es nur 25. Aber meine Güte. Es ist so, wie ich sage.”
„Wie Sie sagen? 35 Minuten oder 25 Minuten? Was denn nun? Andererseits, vielleicht auch egal.”
Möller hob beschwichtigend die Hände. „Da hängen wir uns nicht dran auf. Da gehen wir drüber weg. - Die zwei Radarfallen auf der Barmbeker ignorieren Sie? Wenn Sie durch die Stadt huschen zu Ihren Kindern.”
„Ich kenne sie.”
„Okay, 35 Minuten, um Ihrem Sohn Ben einen Gute Nacht -Kuss auf die Stirn zu drücken und dann 30 Minuten zurück.”
Leon antwortete nichts darauf, sondern fragte sich, worauf Möller hinauswollte.
Möller sagte: „Das ist ziemlich viel Aufwand für ein bisschen Kinderliebe und ein bisschen Ehefrauenabneigung.”
„Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.”
„Ich will nirgendwo drauf hinaus. Ich versuche zu verstehen.”
„Was werfen Sie mir vor, weswegen bin ich festgenommen?”
Nun mischte sich Jessica Nitsch ein:
„Wir werfen Ihnen nichts vor, Leon. Wir erkundigen uns.”
„Ich möchte jetzt meine Frau anrufen und meinen Sohn.”
„Und Ihre Tochter auch?” Möller schaute ihn von unten her an. „Haben Sie die vergessen?”
Natürlich hatte er Anna nicht vergessen.
„Erzählen Sie uns von Anna”, forderte ihn die Nitsch auf. Er mochte Frau Nitsch und ihre grünen Augen. Sie hatten ihn getestet, und er war zumindest nicht durchgefallen. Jetzt blickten sie ihn mit Wärme an.
„Sie ist auf zweiwöchiger Klassenfahrt”, sagte Leon. Seine Frau Marie atmete auf deswegen - aber das verriet Leon nicht. Solche Privatsachen gingen die Polizisten nichts an, fand er. Immer wieder hatte Marie in den letzten Monaten geklagt, Anna sei nicht mehr beherrschbar. Ständig bringe Anna Jungen mit nach Hause, das Abitur sei gefährdet, da sie nicht lerne.
Zu rauchen hatte Anna auch angefangen.
Mehrmals hatte Leon mit Anna gesprochen. Er hatte einen guten Draht zu seiner Großen, und sie war auch verständig, wenn sie miteinander sprachen in ihrem geräumigen Zimmer, das neben Bens kleinem Zimmer im ersten Stock lag. Nur, da musste er Marie rechtgeben: Anna änderte ihr Verhalten nicht.
Ihre Schuhe wurden hochhackiger, ihre Noten in Englisch, in Mathe … eigentlich in allen Fächern wurden schlechter, und die Freunde wechselten schneller.
Leon, der an seiner Karriere feilte und spät nach Hause kam, machte seiner Frau Vorwürfe. Sie war den ganzen Tag zu Hause, hauptsächlich sie hatte für die Erziehung zu sorgen. Im Nachhinein gesehen, waren seine Vorwürfe ein Fehler gewesen.
Sowieso hatte Marie ein angespanntes Verhältnis zu Anna und Ben. Sie liebte ihre Kinder, mindestens so sehr wie Leon; aber sie hatte kein Händchen für sie. So empfand es Leon zumindest. Schnell fühlte Marie sich überfordert, wenn mit Anna etwas nicht lief wie abgesprochen, dann wurde es laut, und auch Ben litt darunter. Als Leon eines Abends eine solche Auseinandersetzung mitbekam und Marie Vorhaltungen machte, schlug Marie vor, die Kinder auf ein Internat zu geben.
Leon war dagegen gewesen. Es kam zu einem hässlichen Streit - und letztlich zum Auszug von Leon aus dem gemeinsamen Haus. Scheidung war kein Thema. Sie kannten sich seit der 10. Klasse und haben mit 19 in Uppsala , der Geburtsstadt seiner Frau, geheiratet. Nur 3 Monate nach dem Abi. Sie wollten auch weiterhin zusammen für die Kinder da sein, Marie mochte Leons Toleranz für ihre Projekte, und sie mochte sein Geld. Aber der Ehe hatte der Streit um Erziehung, Internat und der Auszug von Leon einen Knacks gegeben.
„Leon? … Leon, sind Sie noch da?”
Diese grünen Augen. Sie verstanden ihn.
„Wir wollen alle schnell nach Hause, Leon. Es ist Mitternacht. Wenn Sie kooperieren, dann ist die Sache geritzt.”
„Natürlich kooperiere ich.” Er griff zum Kaffeebecher. Nur noch eine Pfütze war darin.
Die Nitsch sagte: „Ich hole uns schnell einen Neuen.”
Möller grinste, als die Nitsch draußen am Automaten war. „Sie hat es eilig. Sie will heim zu ihrem neuen Kerl.” Er leerte seinen Becher. „Auf mich wartet nur das Bett. Hier ist es interessanter. Wir können ruhig noch ein bisschen machen.”
„Ich will meine Frau anrufen und muss nach Hause”, sagte Leon. „Ich bin gerade befördert worden. Es wartet jede Menge Arbeit auf mich und alle gucken auf mich, ob ich mich bewähre. Ich muss morgen ausgeschlafen sein.”
Frau Nitsch kam mit zwei gefüllten Bechern zurück.
„Mir haben Sie keinen mitgebracht?”, fragte Möller.
„Drei Hände sind mir noch nicht gewachsen.”
Leon machte den Rücken gerade und fragte: „Was wirft man mir denn nun genau vor?”
„Die Regeln sind so, dass wir die Fragen stellen, und Sie antworten”, sagte Möller. „Wollen wir uns daran halten?”
„Dann können Sie bald zu Hause sein”, sagte die Nitsch und reichte ihm den Becher. Leon berührte ihre Finger, und sie zuckte nicht zurück.
„Okay”, sagte Leon und nahm sich vor, die Fragen konzentriert zu beantworten, um die Sache zum Ende zu bringen. Morgen wartete ein herausfordernder Tag auf ihn, und er wollte Schach auf keinen Fall enttäuschen.
Vielleicht könnte er die Nitsch zu einem Mittagessen einladen. Später, wenn alles vorbei war.
„Wir haben gehört, dass Sie, nennen wir es Nachforschungen, d ass Sie Nachforschungen anstellen”, sagte Möller.
„Nachforschungen?” Worauf wollte Möller hinaus?
„Erkundigungen im Milieu.”
„Ach so … ja, schon.”
„Warum?”
„Ich sitze da so an einem … an einer großen Geschichte. Mehr ein Hobby von mir. Neben der Arbeit.”
„Als Ausgleich.”
„Genau.”
Möller lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah Leon an, freundlicher nun, interessiert. Frau Nitsch hatte sich wieder aus dem Lichtkegel zurückgezogen.
Leon berichtete in Umrissen von seinen nächtlichen Ausflügen auf die Reeperbahn, an den Hafen. Ihn faszinierte das Nachtleben. Auf gerade mal einem Quadratkilometer konzentrierten sich auf St. Pauli die menschlichen Laster. Prostitution, Glückspiel, Drogen, Menschenhandel, Auftragsmord.
„Das schreibe ich auf”, sagte Leon, „in eine Kladde.”
„Erst erforschen Sie es, also schauen es sich an”, rekapitulierte Möller, „dann schreiben Sie es auf.”
„Genau. Ist mein Traum. Ein großer Tatsachenbericht über die menschliche Psyche. Wie leicht ist ein Mensch verführbar? Wie weit gehen Menschen für 15 Minuten Rampenlicht? Wie weit für einen kurzen Kick?”
„Neben Ihrer Arbeit als Marketingchef. Zum Ausgleich.” Möller drehte den leeren Becher um. Auf dem Tisch bildete sich ein wässriger Kringel um den Becherrand.
Die Nitsch sagte: „Ich glaube, Chef, ich kann Feierabend machen. Das läuft hier ja.”
Schade, dachte Leon. Er hätte gedacht, dass seine Geschichte über die Laster sie mehr interessieren würde.
„Ja, ja, machen Sie Schluss. Ich komm klar”, meinte Möller, „erzählen Sie mir morgen, wie‘s gelaufen ist?”
„Wie‘s gelaufen ist?”, fragte die Nitsch.
„Mit Ihrem neuen Lover.”
„Träumst du von.” Sie knallte die Tür.
Leon blieb mit Oberkommissar Möller allein zurück.
Möllers flache Hand drückte auf den umgedrehten Becher. Bis er auseinanderplatzte und Kaffeespritzer verteilte.
Erschrocken fuhr Leon zurück. Sein guter Anzug.
„Nun reden wir Tacheles ”, sagte Möller.
„Was meinen Sie?”
„Von Mann zu Mann.”
Leon war unklar, was Möller erwartete.
Der sagte: „Sie wollten Ihre Frau umbringen.”
„Was???!”
„Geben Sie nicht den Überraschten. Sie haben kein Schauspieltalent.”
„Aber … nein. Das ist ein Missverständnis.”
„So machen Sie es schlimmer, Leon. Wenn Sie jetzt kooperieren und ein Geständnis ablegen wird das wohlwollend berücksichtigt.” Möller erhob sich. „Wir wissen sowieso alles.”


Ben träumte von seinem Vater:
Leon plantschte mit Ben im Teich hinter dem Haus. Dabei entdeckte Ben Enten im Schilf.
„Schwimmen die nach Hamburg, wo du arbeitest?”, fragte Ben und sein Papa lachte:
Ja, die schwömmen nach Hamburg.
Und während er noch lachte und Ben dabei mit seinen lieben Augen ansah, da zog etwas an Bens Füßen. Zog Ben in die kalte Tiefe.
Ben schrie. Das funktionierte gar nicht, denn er war schon unter Wasser und Schwärze war um ihn. Er schrie trotzdem, denn es war ein Traum, und im Traum ist alles möglich, das wusste Ben. Mit einer hohen, panischen Stimme schrie er und schreckte hoch und setzte sich auf.
Der Traum war aus. Aber der Schrei blieb. Ein hoher, panischer, leiser Schrei.
Ben sah sich um. Schwärze war um ihn.
Die Leuchtzeiger seines Weckers, der gegenüber auf dem Kinderschreibtisch neben dem Fernglas stand … Er hatte den Wecker von Hannah bekommen, nachdem er ihr seine besten Yugioh -Karten geschenkt hatte … die Zeiger des Weckers standen nahe dem Leuchtpunkt für die Elf.
Ben blinzelte. Also war es mitten in der Nacht. Mama würde nebenan schlafen. Oder Mama guckte unten Fernsehen, weil Papa noch bei der Arbeit war und Mama auf ihn wartete. Obwohl … Ben überlegte … es war so spät, Papa käme wohl nicht mehr.
Das Schellen der Klingel an der Haustür war so laut, dass Ben zusammenzuckte. Und danach war der Schrei verschwunden, den er gehört hatte.
Ben ließ sich aus dem Bett rutschen. Die Füße verhedderten sich in Ladekabel des ausrangierten Handys von Papa. Er befreite sich, schob das Handy unters Bett. Die Pantoffeln vergaß er.
Der Schrei war bestimmt Einbildung gewesen. Ben hatte Traum und Wirklichkeit nicht auseinander gehalten. Er war doch nicht dumm und ließe sich von seinem Traum reinlegen.
Aber das Schellen, das war Wirklichkeit. Da war Ben sicher und schlich hinaus auf den Flur, achtete auf die Bohle direkt an der Treppe, denn die knarrte und verriete ihn. Er stieg über sie hinweg und die Füße bekamen einen kalten Luftzug ab:
Mama würde die Haustür geöffnet haben. Der Fernseher lief mit leisem Ton und Mama würde auf der Couch gelegen und auf Papa gewartet haben.
Aber Papa hatte einen Schlüssel, Papa konnte es nicht sein?
Die Wohnzimmertür war angelehnt, warmes Licht drang durch den Spalt in den Flur im Erdgeschoss. Ben hörte nun Stimmen und setzte sich auf die zweitoberste Stufe. Die Füße waren ihm kalt, der Popo wurde es. Aber die Ohren, die fingen vom Lauschen an zu Glühen.
„Dann müssen Sie mir Ihre Ausweise zeigen.” Das war Mama, die sprach.
Dann hörte man eigentlich nichts weiter. Aber gerade das war aufregend. Denn wenn man genau hörte, wie Ben es konnte: Dann war da ein Rascheln, wie es Outdoorjacken verursachen. Und da war schweres Atmen. Wie von sehr alten Männern, die bald tot sein würden, weil sie nicht auf ihre Gesundheit achteten. Sagte Mama jedenfalls immer. Obwohl … Ben war nicht sicher, ob das so ganz stimmte. Mama hatte einen Gesundheitsfimmel. Vielleicht wollte sie mit dem Krankheitsgerede auch ihre Kurse vollkriegen, von denen Papa immer sagte, sie brächten sowieso nichts und vor allem kein Geld und dann schrien sie sich an. Außerdem hörte Ben den Fernseher brabbeln: einen Moderator und eine Jury. Und er hörte den Wind, der draußen durch die kahlen Zweige eilte und sich am Schornstein der alten Ziegelei teilte. Der alte Mann und Mama und der Dritte unten im Flur wären besser zu hören, wenn Wind und Moderator ausnahmsweise Ruhe gäben. Aber in einer Novembernacht schwieg der Wind selten und ein Moderator niemals. Das hatte Ben schon herausgefunden.
„Kommen Sie hier durch, bitte”, sagte Mama …
Blitzschnell erhob sich Ben, verschwand von der Treppe, zog sich in den Schatten des oberen Flurs zurück. Natürlich ohne die Bohle zum Knarren zu bringen.
Blöd nur, dass man von hier nicht sehen konnte, wer genau da unten vorbeiging.
Mamas Schritte waren zu hören, dann die schweren Schritte des halbtoten Mannes. Aber da waren auch leichte Schritte, die hinterher kamen. Die eigentlich viel schneller könnten, wenn sie dürften. Junge Schritte. - Ben riskierte einen Blick nach unten und sah im Flur eben noch den blonden, straff geflochtenen Pferdeschwanz einer Frau. Schon waren sie alle drei im Wohnzimmer verschwunden. Die Flurfliesen glänzten. Bestimmt hatten die Besucher Fußspuren hinterlassen, und Mama würde sie nachher wegwischen. Auch wenn keine Spuren da waren, würde sie wischen. Da hatte sie einen Tick.
Endlich passierte mal was hier draußen. Ansonsten waren die Tage nämlich so fade wie Mamas Veggieburger (ohne Knoblauch, Mama hasste Knoblauch). Ben mochte keine Veggieburger und dann gab es Streit, wenn er das sagte.
Gleich war Ben am Schlüsselloch. Die Fliesen unten waren noch kälter als die Bohlen oben. Echt schade, dass er die Pantoffeln vergessen hatte. Aber egal, hier gab es zu gucken und zu hören.
„Wir raten Ihnen davon ab, jetzt Ihren Mann anzurufen”, schnaufte der alte Mann. Er saß auf der Couch, auf der Mama sonst lag, wenn sie Fernsehen guckte.
Mama hielt das Telefon in der Hand.
„Ich möchte es aber, Herr Kommissar … Vered ist ihr Name? - Mein Mann ist im Gefängnis. Da rufe ich ihn an, das ist das Natürlichste von der Welt!”
„Aber -”, schnaufte Kommissar Vered, wurde unterbrochen von der Pferdeschwanzfrau:
„Vielleicht sollte ich -”
„Sie sollen gar nichts, außer mich jetzt mit meinem Leon telefonieren lassen.”
„Vielleicht -”
„Wie ist die Nummer, Frau Fitsch?”
„Nitsch. Frau Kommissarin Jessica Nitsch.”
„Die Nummer. Bitte. Wo sitzt er eigentlich?”
„Im Dammtor.”
„Dammtor?”
„Die Untersuchungshaftanstalt. Wird von allen Dammtor genannt.”
Mama setzte sich. Ihre Haare waren wirr. Sie trug Papas Frotteebademantel. Den zog sie abends gern an, wenn sie auf Papa wartete.
„Wird von allen Dammtor genannt”, wiederholte Mama die Worte, die Kommissarin Nitsch gesagt hatte. Mama klang gerade nicht besonders clever, fand Ben. Mama hielt die Hand vor den Mund. Genauso wie es Marktweiber machen, wenn sie sich gegenseitig eine schreckliche Geschichte erzählen. So stellte Ben es sich jedenfalls vor. Er hatte noch nie Marktweiber gesehen. Schon gar nicht welche, die sich schreckliche Geschichten erzählen.
Mama sagte immer, er solle nicht so viel Fantasie entwickeln, sondern sich an die Fakten halten. Also presste er das Auge dichter ans Schlüsselloch. Da strömte warme Luft heraus, das war schön. Und wenn er die Füße dichter an die Ritze zwischen Türunterkante und Fliesen stellte, dann bekamen auch die Zehen etwas von dem warmen Luftzug ab.
Kommissarin Nitsch sagte: „Wir wissen nicht genau, was ihr Mann unternehmen wollte.”
„Mich umbringen wollte er wohl kaum”, meinte Mama, und die Kommissare sagten nichts, sondern guckten Mama nur an.
Mama guckte zurück und ließ das Telefon sinken.
„Mich umbringen …”, sagte sie und lachte kurz und hart.
„Sie könnten ihn entlasten”, sagte die Nitsch.
Kommissar Vered, der alte Mann, mischte sich ein: „Zumindest dazu beitragen.” Er hatte auf dem Hinterkopf eine große, kreisrunde Stelle ohne Haare. Das sah merkwürdig aus, fand Ben.
„Wo war Ihr Mann letzte Woche am Dienstagabend?”, fragte die Nitsch.
„Dienstagabend letzter Woche?” Mama dachte nach, und Ben ebenso. Außerdem zwinkerte er mit dem Auge. Die warme Luft war doch nicht so gut. Aber er musste weiter gucken, es war zu interessant. Was war los mit Papa. Irgendwas musste mit Papa sein, das verstand Ben so langsam. Aber letzte Woche am Dienstagabend … na ja, Ben hatte im Bett gelegen. Ob Papa unten gewesen war oder noch bei der Arbeit, das wusste Ben nicht recht.
Mama sagte: „Letzten Dienstag … ich hatte meinen Kurs … weiß nicht, müsste ich überlegen.”
Wieder sahen sich die Kommissare an. Die Nitsch sagte: „Besser Sie sprechen mit Ihrem Anwalt und rufen Ihren Mann jetzt nicht an. Wenn er Sie wirklich umbringen wollte, wie Sie sich vorstellen können-”.
„Aber ich habe nicht -”.
„Sie können nichts gewinnen, wenn Sie ihn jetzt anrufen. Und es könnte so aussehen, als wollten Sie Ihre Alibis abstimmen. Das schadet ihm. Er bleibt die Nacht so oder so im Dammtor und morgen ist er wieder bei Ihnen, wenn sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat.”
„Sie meinen, ich helfe ihm sogar, wenn ich mich nicht melde?” Mama überlegte, guckte in Bens Richtung.
Ben reagierte, trat zur Seite und wusste im selben Moment, dass das ein Fehler gewesen war.
Mama konnte ihn nicht sehen. Sie saß im Wohnzimmer, Ben stand im Flur, der nur von Energiesparlampe im Sparmodus beleuchtet wurde. Zwischen Mama und Ben war die Wohnzimmertür. Aber Ben hatte sich bewegt: Vorher war das Schlüsselloch dunkel gewesen; jetzt war es hell. Und seine flüchtenden Füße hatten die Schatten unter der Türritze zum Tanzen gebracht.
Mist.
Der Fernsehsessel seufzte. Mama würde aufgestanden und auf dem Weg zur Wohnzimmertür sein.
Ben raste nach oben, beachtete die Bohle.
„Ben”, rief Mama von unten. „Ich habe dich gesehen, Ben.”
„Wieso, ich bin in meinem Zimmer!” - Noch ein Fehler. Das sagte man nicht, wenn man im Bett lag. Er musste noch viel lernen. Die Welt der Erwachsenen war kompliziert und dann gab es noch das Problem mit Hannah, das war noch komplizierter. So kompliziert, dass er nicht mal Papa davon erzählen konnte.
Papa.
Was war mit Papa?

Kapitel 2


Die Beamten hatten sich verabschiedet, Marie ging nach oben zu ihrem Sohn.
„Du kannst nicht lauschen, Ben. Das gehört sich nicht. Das macht man nicht. Hörst du, Ben?” Marie zog ihm die Bettdecke bis zum Hals, damit er nicht fror. Hatte die ganze Zeit im kalten Flur gestanden, der unvernünftige Junge.
„Mama, meine Füße.”
Die guckten unten heraus. Marie schlug die verdrehte Decke auseinander, damit es Bens Füße bedeckte.
„Die sind ganz verfroren. Meine Güte, Ben! Wie lange hast du denn da gestanden.” Marie knetete Bens Füße, war froh, einen Anlass gefunden zu haben, bei ihrem Sohn bleiben zu können und etwas zu tun. Abgesehen davon, dass Lauschen ungehörig war und einen schlechten Eindruck bei den Kommissaren hinterließ: Es hatte den Vorteil, dass sie Ben nicht erklären brauchte, was vorgefallen war.
Marie war sich nämlich unsicher, was der Junge verstand und was nicht. Was sie ihm zumuten konnte und was nicht. Er war in einem schwierigen Alter, und wenn die Pubertät einsetzte, würde es noch schwieriger werden. Sagten jedenfalls ihre Freundinnen. Marie legte Wert auf die Meinung ihrer Freundinnen und sie hatte einige davon. Obwohl sie nicht ganz sicher war, ob die Freundinnen wirklich kompetent in Kinderdingen waren. So viele Kinder hatten die Freundinnen nicht bekommen. Die meisten gar keine, wenn Marie es recht bedachte. Einige hatten ihre Kinder auf Internate geschickt.
„Mama, was ist mit Papa?”
Marie seufzte. „Wenn ich das wüsste.”
„Ist er im Gefängnis?”
Marie nickte und knetete.
„Aber was hat er gemacht?”
„Gar nichts hat er gemacht.”
„Mama, genug.” Ben ließ die Füße unter der blauen Bettdecke verschwinden. Marie wusste nicht wohin mit den beschäftigungslos gewordenen Händen, aber etwas Merkwürdiges passierte:
Bens kleine Hände kamen unter der Decke hervor, wurden zu kleinen Fäusten, die sich in Maries Handflächen legten.
„Du musst mich festhalten, Mama.”
Das machte sie. Sie würde diesen Jungen immer festhalten und beschützen. Vor dem Bösen und vor der Welt. Auch vor ihren Freundinnen, falls sie gehässig werden sollten. (Das konnten sie nämlich.) Marie fühlte, wie sie angefüllt war mit Liebe. Endlich konnte sie ihre Liebe ausgießen über Ben.
Denn Leon war nicht da.
Leon, den Anna und Ben anhimmelten.
Die drei hingen zusammen wie Pech und Schwefel. - Was waren eigentlich Pech und Schwefel?
Sie schüttelte den Kopf. Unwichtig. - Wie Pech und Schwefel hingen sie zusammen, wenn Leon von der Arbeit da war, was allerdings selten vorkam. Leon arbeitete viel und gern und verdiente gut. Aber jetzt war es, als wäre ein Bann gebrochen:
Ben war bei ihr und seine Hände waren in ihren.
„Du schüttelst den Kopf.”
„Was?”
„Die ganze Zeit, Mama. Und eben hast du die Hand vor den Mund gehalten. Wie ein Waschweib.” Er kicherte. - Ben kicherte, das hatte sie noch nie erlebt.
„Wie ein Waschweib?”, erkundigte sie sich und lächelte Ben an. Das war vielleicht ein komischer Junge.
„Unten im Wohnzimmer.”
„Aha”, machte sie und fühlte sich warm und wohlig. Ben entzog ihr seine Fäustchen, und Marie zupfte ihm die Decke wieder bis an den Hals heran.
„Irgendetwas muss Papa gemacht haben.”
Bens Satz hallte in ihr nach. Irgendetwas musste Leon gemacht haben. Marie schaute zum schwarzen Vorhang, der den Blick auf die alte Ziegelei verdeckte.
Aber was hatte er gemacht? - Jetzt erst, da die Anspannung nachließ, ging sie der Frage nach.
Ben kuschelte sich auf die Seite, und sein kleiner Kopf verschwand fast unter der Decke. „Außerdem schreit da immer jemand.”
Sie verstand ihren Jungen kaum, denn er nuschelte jetzt.
„Wer soll schreien?”, fragte sie mit sanfter Stimme nach.
Aber Ben war bereits im Reich der Träume. Seine Augenlider waren geschlossen und doch in Bewegung.
„Lieber Junge”, flüsterte Marie und strich Ben eine Strähne aus der Stirn.
Warum waren die hier gewesen? Kommissar Möller und Kommissarin Jessica Nitsch. - Marie blieb auf dem Bett sitzen und schaute zum Vorhang, als wäre dahinter die Lösung verborgen.
Beiseite ziehen und klar sehen.