D’Arcy Niland
Shiralee
Roman
Aus dem australischen Englisch von M. Hackel
FISCHER Digital
D’Arcy Francis Niland (1917–1967) war ein australischer Autor von Romanen und Kurzgeschichten.
Für Macauley ist seine Tochter Buster ein »Shiralee«, ein unbequemes Bündel, das er mitschleppt auf langen Wanderungen durch Australien, weil er seine Frau bestrafen will, die ihn betrogen hat. Wie der rauhbeinige Vater zum ungeliebten Kind eine neue Beziehung findet, wie für ihn aus dem »Shiralee« ein Mensch wird, für den er Verantwortung und Liebe empfindet, ist Gegenstand des Romans, in dem D’Arcy Niland gleichzeitig ein beeindruckendes, farbiges Bild australischer Landschaften und ihrer Menschen zeichnet.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561682-6
Gin = eingeborene Frau, Abkürzung von «Aborigin»
Goanna = australische Rieseneidechse
In Australien gehören die meisten Restaurants Griechen
Abo = Aboriginal: Ureinwohner, Eingeborener Australiens
Dingo = Australischer Wildhund
The swagman crawls across the plain;
The drought it prowls beside him,
A hundred miles from rim to rim,
And a shadow-stick to guide him.
The crow speaks from the broken branch,
And he replies, delirious;
But in the dark he drinks the dew
Beneath the stare of Sirius,
And from his shoulder drops the swag,
The shiralee, the tether,
That through the cruel, stumbling day
Drove all his bones together.
The load too heavy to be borne –
He cursed it in the swelter,
But now unrolls with humble hands
And lies within its shelter.
AUS «The Ballad of the Shiralee»
VON RUTH PARK
Shiralee (Australischer Slang): Bündel des Wanderburschen; lästige Bürde.
Es war ein Mann, der hatte ein Kreuz zu tragen; und er hieß Macauley. Er behauptete, daß er sich Australien zu Füßen gelegt habe, so gut er es verstehe. Seine Stiefel wirbelten den Staub der australischen Landstraßen auf, und er watete schulterhoch durch Australiens Flüsse. Die schwarzen und roten Linien auf der Landkarte, sie alle kannten ihn gut. Sein Lagerfeuer hat an tausend Stellen gebrannt, und am Ufer der Flüsse hat er geschlafen. Das Gras wuchs über seiner Spur, aber er fand sie doch, wenn er wieder des Weges kam.
Er hatte zwei Wanderbündel, eines davon hatte Beine und einen Hut aus Palmenfasern, und dieses war es, was ihn hauptsächlich unterschied von anderen Leuten, die auch auf den Landstraßen leben und – was das Brot und die Butter anlangt – der lieben Sonne vertrauen. Manche haben Hunde. Manche haben Pferde. Manche haben Weiber. Die sind ihnen Freunde und Gesellschaft, oder aus welchem Grund auch immer, sie sind ihnen jedenfalls nützlich. Aber mit Macauley verhielt es sich so: er hatte ein Kind, und er hatte es einzig und allein darum, weil er es nicht loswerden konnte.
Es hieß, er habe das Kind aus der Stadt mitgenommen, als es gerade dreieinhalb Jahre alt war, und er wanderte durchs Land und trug es auf der Schulter, unterm Arm oder in einem Zuckersack, der im gleichen Rhythmus wie sein Wanderbeutel schwang. Und das stimmt auch. So wanderte er immer noch, denn das Kind war inzwischen nur erst sechs Monate älter; aber er trug es nicht mehr oft, denn es hatte wohl oder übel wandern gelernt, und Macauley hatte sich in Verzweiflung damit abfinden müssen, sein Wandertempo und seine Gewohnheiten dem Kinde anzupassen. Man sah ihn mit dem schlafenden Kind im Arm in die Stadt hineinwandern, oder er hielt es hoch, so daß das Köpfchen auf seiner Schulter lag und im Rhythmus seiner Schritte wippte, ohne Auge für die Welt. Man sah das Kind an seiner Seite hintrotten, und man mußte lachen, wie der eine so groß und das andere so klein war.
Wohin Macauley auch ging, das Kind kam mit. Das war seine wirkliche Wanderlast. Die andere, die er auf dem Rücken trug, das war gar nichts. Wenn er die aufnahm und über die starken Schultern schnallte, dann blieb sie dort und war nicht weiter lästig. Er brauchte ihr kein Essen zu kochen. Er brauchte ihr kein Lager zu bereiten. Wenn er sie absetzte, lief sie ihm nicht davon. Er brauchte sie nicht zu waschen, zu kämmen und ihr die Knöpfe zuzumachen. Nein, diese Bürde machte ihm nie zu schaffen.
An jenem Tag war Macauley mal wieder schlechter Laune. In Bellata war nichts zu machen. Er trat aus dem Laden, blieb im Schatten der Veranda stehen und drehte sich eine Zigarette. Er war fünfunddreißig, gebaut wie ein Kriegerdenkmal, vierschrötig und stark. Auf der Stirn hatte er Furchen wie Eisenbahnschwellen; sein Blick war fest, ein großer Hut hielt sein Gesicht im Schatten, derweil ihn im übrigen die grelle Sonne beschien. Er hatte riesige Hände.
Das Bündel schulternd, ging er die Verandastufen hinunter und schielte rückwärts in die dunkle Höhle des Ladens.
«He, du, komm schon», rief er, wie man wohl einem Hunde ruft.
Das Kind kam herausgetrödelt, setzte sich aber in Trab, als es sah, daß er schon unterwegs war, und holte ihn ein.
«Guck mal, was der Mann mir geschenkt hat, Dad.»
Macauley schaute auf ein Stück zusammengedrehtes braunes Papier nieder, das harte, vertrocknete Bonbons enthielt, die in der langen Haft des staubigen Glaskastens längst allen Geschmack verloren hatten; und von da glitt sein Blick zu den blanken dunkelbraunen Augen und einer kugelförmig ausgestopften Backe.
«Willst du eins?»
«Sie werden dir die Därme zerfressen», sagte Macauley.
Das Kind blieb zurück. Auf den ersten Blick war es schwer zu sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die groben Schuhe, der blaue Overall und das Khakihemd ließen auf einen Jungen schließen, und vielleicht auch der Gang. Nach einem Weilchen hörte Macauley eine Stimme hinter sich: «Warte auf mich, Dad.»
Er hielt an. Er seufzte. Langsam, gereizt wandte er sich um.
Er sah ein unbeholfenes Hantieren mit Knöpfen, die kleine Gestalt, wie sie sich hinhockte und wieder aufstand –, alles ging so langsam, daß es ihn rasend machte.
«Mach schon», schrie er.
«Ich kann schon das frische Gras sehen, Dad.»
Er merkte wohl, wie aufgeregt das klang, es ärgerte ihn nur umso mehr –, es war nichts als eine zeitraubende Albernheit!
«Ich geh weiter.»
Die Kleine kam ihm nachgerannt. Sie ging in seinem Schatten mit gesenktem Kopf, sie lauerte dem Schatten auf, darauf versessen, ihn unter den Füßen zu behalten. Dann wurde es ihr leid, sie lief zu ihm heran und schob ihre Hand in seine. Er griff sachte zu, nicht sehr zärtlich, denn die kleine Hand war klebrig. Er ließ sie nur eben dort sein, so lange sie wollte.
«Wohin gehen wir, Dad?»
«Nirgends hin.»
«Warum gehen wir dann?»
Er antwortete nicht.
«Wenn Leute gehen, dann müssen sie doch irgendwohin gehen. Und wir müssen auch irgendwohin gehen, nicht wahr?» Sie zerrte an seiner Hand und an seinem Schweigen. «Nicht?»
«Um Gottes willen, quatsch nicht soviel», fuhr er sie an. «Merkst du denn nicht, daß ich nachdenke? Warum mußt du die ganze Zeit quatschen? Du machst einen ja krank.»
«Hast du Kopfweh?»
«Natürlich.»
«Soll ich’s fortstreicheln?»
«Schon gut», sagte er ablehnend. «Hör nur auf zu schwatzen, dann wird es besser.»
Sie hopste an Macauleys Seite dahin. Er schaute auf sie nieder. Er konnte nichts sehen als den großen Strohhut und die Stiefel, die abwechselnd darunter erschienen. Es war, als ob ein Pilz neben ihm marschierte. Er hatte sich genau ausgerechnet, daß sie, während er einen machte, drei Schritte brauchte. Unauffällig und behutsam verlangsamte er sein Tempo. Er wollte sie nicht merken lassen, daß er absichtlich Rücksicht auf sie nahm. Das hätte ihn in Verlegenheit gebracht. Zudem war sie schlau genug, seine Schwäche zu merken, sich daran zu gewöhnen und sie, wenn nötig, auszunutzen. Nein, sie mußte schon begreifen, daß sie Schritt halten mußte. Es gab keinen Kompromiß und erst recht kein Nachgeben.
Das Schweigen hielt nicht lange an.
«Ich weiß schon, wohin wir gehen», sagte sie.
Macauley reagierte nicht.
«Wir gehen Mutter besuchen.» Das kündigte sie triumphierend an, als ob sie die Lösung eines Rätsels gefunden hätte, das ihr lange im Kopf herumgegangen war. «Oder?»
«Nein.»
«Ich glaube doch», bestand sie.
«Was fragst du denn immerzu? Bei dir piept’s wohl? Ich hab’s dir doch gesagt, wir gehen nie mehr dorthin.»
«Warum nicht?»
«Du willst Mutter ja gar nicht wiedersehen», sagte er. «Sie taugt ja nichts, hat nie etwas getaugt.»
«Nein», stimmte die Kleine zu, mit der überdeutlichen, gefühllosen Aussprache eines Papageis, «sie ist eine ganz dumme Mutter. Sie schlägt die Kinder, wenn sie das Bett naßmachen, und sie sperrt sie im Klo ein, wenn sie den Kuchen aufessen.»
«Denk nicht mehr an deine Mutter», sagte er.
Wie lange braucht ein Kind, um seine Mutter zu vergessen, fragte er sich. Das hinge davon ab, wie alt ein Kind sei, und je jünger, desto eher würde es vergessen, hatte man ihm gesagt. Nun, dieses war erst vier Jahre alt, und es war sechs Monate her, seit es die Mutter zuletzt gesehen hatte. Aber die Fragen kamen immer noch, und der Name sprang ihr immer wieder auf die Lippen. Woran erinnerte sie sich denn? Macauley wußte es nicht recht. Er wußte nicht, ob das Kind sich an das Aussehen der Frau erinnerte, an das dunkle, kurzgeschnittene Haar, die braunen Augen; ein Paar Pantoffeln, die in der Küche herumschlurften; Hände, die in einer Illustrierten blätterten; mürrisch vorgeschobene, rote Lippen, die an einer Zigarette sogen; eine bunte Schürze, die im kleinen Hinterhof an der Leine hing; eine vollgestopfte Einkaufstasche, aus der Gemüse herausfiel. Vielleicht war es die Stimme, die oft schrill und hart war; vielleicht der Geruch des Gasherdes, der Wäsche, die vor dem offenen Gasbackofen trocknete; die Tapete, die sich in der feuchten Luft von der Wand gelöst hatte und nun herunterhing, ein neues Muster von Schimmelflecken zur Schau tragend; vielleicht war es auch das Klappern des Fensters und die pfeifende Zugluft unter der Tür, das Klirren der Messingknöpfe am Bett, jedesmal, wenn die Schlafende sich in der bootförmig hohlgelegenen Matratze umdrehte; und vielleicht war’s das fromme Bild an der Wand: ‹Das Licht der Welt›, ein gekrönter Christus, dessen Antlitz vom gelben, warmen Schein der Laterne, die er trug, überflutet war; oder der gerahmte Spruch ‹Dein Heim ist deine Liebe›, der schief über den rauchfleckigen Büchsen auf dem Küchenregal hing. Aber vielleicht war es auch nichts von alledem. Weder die Frau selber noch irgendwelche Bilder oder Einbildungen. Vielleicht war es nur die Erinnerung an eine Zugehörigkeit, unbestimmt wie ein Traum, ein Nebel von Erinnerung im Herzen.
Sie wanderten über die Gallatherha-Ebene im Land der schwarzen Erde, und Macauley war auf eine lange, mühsame Reise gefaßt. Auf der Straße ging sich’s alles andere als leicht: sie war von der Sonne hart und klumpig gebacken, und das gab den Füßen ein unsicheres Gefühl, als ob man über einen Stoppelacker wanderte. Nichts war zu sehen als die ungeheure, weite, offene Ebene, kein Baum, keine Wohnstatt, nichts als die endlose, flache Weite. Es gab kaum Graswuchs. Die schwarze Erde war ein Gewirr von Rissen, die wie versteinerte Blitze in jähen Geraden und Gabeln verliefen, und ein braunes, verrottendes Disteldickicht bedeckte trostlos Meile um Meile.
Und wenn auch Stunde um Stunde verging, das Bild änderte sich nicht. Zeit und Raum. Aber hier wandelte sich nur die Zeit.
Macauleys Blick war in die Ferne gerichtet, und den kleinen ‹Schoßhund› neben sich spürte er mehr, als daß er ihn sah oder hörte.
Er dachte an dies und jenes, an viele Dinge. Er dachte an ein Mädchen, das er einmal gekannt hatte, und er sah sie vor sich, wie man eine Ansichtskarte sieht: mit einer Kirsche zwischen den weißen Zähnen, in einem Lächeln schwebend. Er dachte an den langen Mann in einem Mantel mit Seidenfutter und mit einem Gesicht, so schwarz wie ein alter Kochtopf.
Das Mädchen war Lily Harper; ihr Vater war ein Gemeinderat, Kirchenältester und hatte eine Metzgerei am unteren Ende der Straße; ihre Mutter war sonntags in Seide und Satin gekleidet und trug einen Sonnenschirm, und Lily selber, die war geradezu in Verfeinerung und Kultur eingewickelt. Aber an jenem Abend im Obstgarten, da gab es kein Halten. Ihr Haar war wie Kupfer. Es war so üppig, man hätte ein Sofa damit polstern können, es war in bronzene Zöpfe geflochten und mit einem grünen Band gebunden. Er machte es los, und sie ließ ihn gewähren, und dann lag es auf dem Boden wie eine große Sonnenblume, und ihr Gesicht war die Mitte. Sie war so reif und doch unberührt, sie wollte ihn.
Aber hernach hörte er sie schluchzen.
Was ist denn los?
Du hättest es nicht tun dürfen.
Und du?
Du bist scheußlich, sagte sie, einfach scheußlich.
Er sah sie an und bekam ganz schmale Augen vor Wut.
Für solche wie dich gibts einen besonderen Namen.
Welchen?
Ich möchte ihn nicht in den Mund nehmen.
Ist das nett von dir?
Nett oder nicht, auf dich trifft er zu. Was zum Teufel willst du von mir? Du heulst nicht, weil das hier passiert ist, da steckt etwas anderes dahinter. Heraus damit!
Sie fuhr wütend auf.
Du denkst, du bist ein ganz Schlauer. Bloß weil du aus Sydney bist und ein bißchen herumgekommen, glaubst du, du bist ein Mann von Welt. Du meinst, du weißt alles, du platzt einfach vor Weisheit und Klugheit. Du glaubst, du kannst dir alles herausnehmen. Du glaubst, wenn du brutal aufrichtig bist, daß du ein ehrlicher Kerl bist. Du verwechselst Roheit mit Aufrichtigkeit. Takt und gute Manieren, die würdest du nicht mal bemerken, wenn sie dir in die Quere kämen.
Jetzt redest du wie ’ne ganz große Dame. Hör mal zu: ich halte mich nicht für smart. Ich bilde mir nicht ein, ein Mann von Welt zu sein. Ich bin nicht herumgekommen. Noch nicht. Dieses Nest ist das erste, in das ich gekommen bin, das erstemal über den Rand von Sydney heraus. Ich bin noch nie von Hause weggewesen. Aber weiß Gott, wenn ich erst fünfundzwanzig bin, dann wird alles auf mich stimmen, was du sagst.
Huh!
Mache huh soviel du willst, aber du wirst schon sehen. Morgen werde ich achtzehn. Sieben Jahre bloß, ich werd’s dir schon zeigen. Jawohl, dann kannst du mich besuchen kommen, und wir werden sehen, wer recht behält.
Du bist roh und ordinär; du bist nichts als ein Rowdy. Ich bin ja wohl idiotisch, daß ich mich mit dir abgebe. Du hast keinen Ehrgeiz. Du strebst nach keinem Ziel. Du fragst nach niemandem als nach dir selber –, du bist von Selbstsucht ganz besessen. Du taugst nichts, absolut nichts. – Langsam belustigte ihn das.
Na, das weiß ich doch nicht so genau. Zu manchen Sachen tauge ich ganz gut. Ich möchte sogar behaupten, daß ich ausgesprochen erstklassig dazu tauge.
Einen Monat bist du jetzt hier. Drei Stellungen hast du gehabt. Nirgends hast du durchgehalten. Mein Vater wollte dich als Lehrling einstellen, aber das hast du nicht gewollt. Du bist eben einfach nichts wert, daran liegt’s.
Verflucht, warum gräbst du nicht einfach ein Loch und schmeißt mich hinein! Ich kann ja geradesogut begraben sein, soviel bin ich dir wert.
Ich dachte –, ja, ich dachte, es könnte so etwas wie eine gemeinsame Zukunft für uns geben; aber ich sehe schon, das würde niemals gutgehen. Ich hab dich gern, aber darüber kann ich wegkommen. Aber über das Unglück, das es gäbe, wenn ich dich heiraten würde oder wenn ich noch weiter mit dir zu tun hätte, darüber könnte ich nicht hinwegkommen.
Heiraten! Was für ein Wahnsinn! Wie kommst du auf die Idee, daß ich dich in Zaum und Zügel einschirren will? Allmächtiger Gott, ich müßte ja ein Idiot sein! Mich an eine kleine Stute fürs Leben zu binden, wenn ich mir aus jedem Gestüt in ganz Australien die schönste aussuchen kann.
Genau das meine ich –, keine Frau kann auf die Dauer mit dir leben.
Einen Augenblick lang war er böse; dann zuckte er die Achseln und grinste.
Wieso kamen wir eigentlich auf all das? Wir sind hierher gekommen, und alles ist so nett; ich bin glücklich, du bist glücklich; ich geb dir das Allerbeste, was man für teures Geld kaufen kann, umsonst, und du tust so, als würde es dir nichts ausmachen, dafür zu bezahlen. Und dann auf einmal fängst du an und läßt keinen guten Faden mehr an mir. Ihr Mädchen kriegt doch zu den komischsten Zeiten plötzlich Katzenjammer.
Er sah sie an und erwartete eigentlich ein Lächeln und hoffte, das Unwetter sei vorbei; den wirklichen Grund merkte er immer noch nicht und gab sich auch keine Mühe, richtig darüber nachzudenken. Sie saß da mit hochgezogenen Knien, und ihr Kleid hatte sie über die Waden hinuntergezogen. Das Haar hing ihr wie ein kupferner Wasserfall im Rücken. Ihr Gesicht trug den Ausdruck uninteressierter Verachtung, der es ihm verführerisch unverschämt erscheinen ließ, und das hochmütige Blitzen in ihren Augen empfand er nur als Herausforderung seiner Männlichkeit. Sie war wieder überwältigend begehrenswert. Die noch frische, ganz deutliche Erinnerung an ihre Süße erhitzte sein Blut.
Du bist süß, sagte er, die Worte erstickten fast in der anschwellenden Flut, im hemmungslosen Stammeln der Leidenschaft. Schön bist du. Ich könnte dich fressen.
Er bedeckte ihr Gesicht, ihr Haar, ihren Hals mit rauhen Küssen. Aber diesmal reagierte sie nicht. Sie gab sich nicht, aber sie wehrte sich auch nicht. Sie drehte den Kopf weg, preßte das Gesicht ins Gras, zerbiß sich die Lippen und weinte bitterlich. Die Arme lagen weit ausgebreitet, unbeweglich. Nur die Hände ballten und lösten, ballten und lösten sich. Er hatte kein Erbarmen. Dafür war im Sturm seiner Begierde kein Platz. Erst als die Glut in Selbstverzehrung erstarb, kamen ihm Zweifel. Er fühlte kaum noch etwas. Es war alles vorbei, bezwungen von ihrem Elend.
Er wußte nicht, was er tun sollte, wortlos gab er sie frei und stand auf. Sie erhob sich, strich ihr Kleid zurecht und starrte ihn voller Entsetzen, Pein und Abscheu an, als sei sie unversehens in eine Raubtierhöhle geraten. Es wurde ihm dabei sehr unbehaglich, und das erboste ihn.
Sie wandte sich und lief davon durch den Obstgarten.
So ist’s recht, schrie er ihr nach. Lauf nach Hause und heule deiner Alten die Ohren voll. Verklag mich bei dem alten Herrn. Sag ihm, er soll mit dem Hackebeil auf mich losgehen!
Er stand eine Zeitlang da und brütete vor sich hin. In den Bäumen raschelte es wie Papier. Das lange Gras wehte und beugte sich. Alles schien Vorwurf, Gemeinheit und Unanständigkeit auszudrücken. Aber kein Alter kam mit dem Hackebeil. Damals nicht und später auch nicht. Es geschah gar nichts. Er sah sie nie mehr wieder. Etwas tat ihm leid, aber er wußte nicht, was. Er hätte gerne gehabt, daß sie wohl ein wenig traurig aber doch herzlich an ihn zurückdächte; und nicht in Zorn und Haß. Ja, dann wäre ihm wohler gewesen.
«Männer sind Schweinehunde», sagte Macauley.
Die Kleine schaute auf. «Was hast du gesagt, Dad?»
«Nichts», brummte er.
Das war also Lily Harper, sie war eine Dame; sie war Klasse! Und es tat einem Mann gut, daß ein Mädchen von solcher Art mal was für ihn übrig gehabt hatte.
Und noch jemand fiel ihm ein: der mit dem seidengefütterten Überzieher, das war Tommy Goorianawa. Der saß auf einem Petroleumkanister vor seiner Hütte, es war in derselben Stadt. Er döste in der Sonne vor sich hin, die Hände im Schoß und das Kinn auf der Brust. Er war lang und dünn, man nannte ihn das Orakel des Nordens; er redete mit allen über alles. Er prophezeite Dürre und Hochwasser und Feuer. Es hieß, er könne das Schicksal eines Menschen aus seiner Stimme und aus den Falten seines Gesichtes ablesen. Jedes Jahr an seinem Geburtstag schrieb die Zeitung über ihn, etwa: heute wird Tommy Goorianawa vierundachtzig Jahre alt. Oder fünfundachtzig oder sechsundachtzig, wie alt er eben gerade wurde. Und dann kamen die Leute aus der Stadt und brachten kleine Geschenke, etwas zu essen, und er hielt eine kleine Dankrede an alle, die bewies, daß er eine zwar unvollständige aber doch echte Bildung besaß, und dazu einen lebhaften Geist und Herzenstakt. Ein Herr aus der Stadt hatte ihm den Überzieher mit Seidenfutter geschenkt, und den trug er die ganze Zeit, denn im Sommer schon fror es ihn in den Knochen, und im Winter erst recht. Aber er trug ihn auch mit Stolz, als ob er einen Rang hätte und der Mantel das Zeichen seiner Würde sei.
Er war fast neunzig, als Macauley ihn kennenlernte; er hob den Kopf, als er Macauleys Schritte hörte; und er rief: Wer ist das? Ich kenne diesen Schritt nicht.
Macauley blieb kaum zehn Meter entfernt stehen und sah ihn an. Auf dem Gesicht des Alten lag schon das Lächeln des Willkommens. Wenn man dieses Gesicht anrührte, mußte man wohl rußige Finger bekommen, so schwarz war es. Die Barthaare auf den mageren Wangen waren wie schneeweiße Splitter. Macauley sagte seinen Namen.
Tut mir leid, wenn ich störe. Ich wollte nur den Wasserbeutel auffüllen.
Gewiß doch. Gib ihn Nellie. Sie wird ihn füllen. Eine Gin[1] kam zur Tür, eine Verwandte des Alten, wohl halb so alt wie er. Macauley nickte ihr zu und gab ihr den Beutel. Er sah immer noch den Alten an.
Komm her, Junge. Komm näher.
Macauley schlenderte heran, warf sein Bündel ab und hockte sich darauf. Er wollte ihn sich genau ansehen, und das konnte er jetzt. Er beobachtete ihn scharf. Der Alte hatte eine vielgeflickte Tuchkappe auf, und wenn sie auch vorn heruntergezogen war, verbarg sie doch nicht die blinden Augenhöhlen. Die Augen konnte man nicht mehr Augen nennen. Es waren gallertartige Schlitze, stumpf, undurchsichtig und grau wie Austern.
Das kommt vom Dynamit, sagte der Alte.
Macauley schrak zurück, aber er sah das Lächeln über des Alten Gesicht kommen, und es war auf ihn gerichtet.
Das war Pech, sagte er.
Wo willst du hin, Junge?
Ich weiß es noch nicht.
Tommy Goorianawa kicherte. Er streckte die langen Beine aus, kreuzte die Arme über dem Bauch und sprach also zu Macauley:
Manche Männer sind wie ein Rad. Sie sind dazu geschaffen, sich zu drehen. Sie rosten, wenn sie still daliegen, und fallen auseinander. So bist du. Manche Leute können in einer Schachtel leben, aber zu denen gehörst du nicht.
Das stimmt, zu denen gehöre ich nicht.
Aber solche Leute sind nicht immer glücklich, sie sehnen sich nach etwas, sie wissen nicht wonach, und oft kriegen sie es niemals heraus. Sie klettern auf einen Berg, und dann sieht das Tal unten soviel schöner aus. Sie schlagen ihr Zelt im Tal auf und schauen nach den leuchtenden Bergen hinauf. Wer in einer Schachtel lebt, der hat, was er will, und ist zufrieden.
Jawohl, der arme Idiot, ich gönne es ihm.
Aber es gibt noch eine andere Sorte. Die sind wie Orangenkerne. Sie wollen im Mittelpunkt sein, in einem Leben, das ihnen paßt, und darum herum ist das Fruchtfleisch und die Schale. Die halten so einen zusammen. Ohne sie geht der Kern ein. Seine Seele geht ein, und dann folgt der Körper nach. Verstehst du das? Für solche Leute ist der Himmel die Fruchtschale der Welt, und die Haut ist die grüne Haut der Erde. Beide gehören ihm, und er gehört ihnen. Derselbe Herzschlag ist in allem.
Macauley drehte sich die zweite Zigarette. Er begriff schon, worauf der Alte hinauswollte, aber das Gespräch hatte etwas von forschender Kritik, was ihn reizte.
Komm näher, Junge. Laß mich dein Gesicht fühlen.
Der Alte streckte die Hände aus, die Handflächen waren rosa und glatt wie Steine, die vom Wasser geschliffen sind. Die Handgelenke, mit Schnüren von Sehnen und Adern, entsprossen den geräumigen Mantelärmeln wie junge Bäumchen.
Sachte, behutsam befühlten die Finger Macauleys Gesicht, fuhren an den prägenden Zügen entlang, ertasteten die kräftigen Kieferknochen, die tiefen Augenhöhlen, die festen Wangen, die entschlossene Kurve der Lippen. Macauley kam sich etwas blöd vor, und zugleich war ihm nicht recht geheuer. Etwas war unheimlich an dem Alten, und das spürte er. Er spürte so etwas wie Furcht in sich hochkriechen, während die modellierenden Finger in seinem Gesicht lasen. Macauley forschte in dem schwarzen Gesicht nach einem Zeichen, aber da war nichts. Mochte der Seher hinter seinen blinden Augen auch etwas sehen, das Gesicht verriet nichts davon.
Schließlich zog der Alte seine Hände zurück und ließ sie in den Schoß fallen. Er schwieg. Macauley kam es vor, als sei er gerade von einem Arzt untersucht worden und warte nun auf den Urteilsspruch.
Na? Was haben Sie herausgefunden?
Willst du es wissen?
Natürlich, warum denn nicht?
Einer wie du, sagte Tommy Goorianawa, der hat entweder einen schnellen Tod mit einem Messer im Bauch, oder er wird hundert Jahre alt.
Einen Augenblick war Macauley bestürzt.
Und in meinem Fall?
Ich weiß es nicht. Wenn ich’s wüßte, ich würd’s dir sagen. Aber das weiß ich: du bist ein Mann, Zoll für Zoll, und in dir steckt viel Gutes, aber es ist tief vergraben, und es ist verzerrt. Es ist wie ein scheues Wild, das man ans Licht locken und zähmen muß, das nicht von selber kommt, weil es Angst hat. Es wird schon jemand kommen und es hervorlocken, und es wird wie ein Geheimnis in dir aufsteigen. Gib acht, daß du es nicht verscheuchst. Wohl wirst du unterm offenen Sternenhimmel und im rauhen Winde leben auf den Landstraßen, die wie die Schnüre die Städte zusammenbinden, das ist schon gut; aber ich sage dir, hüte dich vor dem, was Unheil bringt; lebe nicht zwei Leben, dann sind beide unglücklich, lebe eines ganz und gut. Und sei nicht zu hart zu denen, die schwächer sind als du. Mehr kann ich nicht sagen.
Macauley sagte gar nichts. Er blinzelte, die Worte gingen ihm im Kopf herum. Er wußte nicht recht, ob er es dem Alten übelnehmen sollte oder nicht. Verwirrung und Ärger stritten in ihm. Er bemerkte die alte Schwarze mit ihrem vorstehenden Bauch in der Tür mit seinem Wasserbeutel in der knotigen Hand, und er war froh, die Gelegenheit ergreifen zu können. Er nickte dankend und nahm sein Bündel auf. Aber er konnte doch nicht so ohne weiteres davongehen. Der weise Alte half ihm drüber weg.
Mach’s gut, Junge!
Auf Wiedersehen, sagte Macauley. Weiter fiel ihm nichts ein. Er stolperte durch die Pferdekoppel bis zur Landstraße. Er sah nach der Hütte zurück, die aus schief zusammengeschobenen Wellblechstücken und mit Säcken verhängten Fenstern bestand; ans dem Blechrohr, das der Schornstein war, kräuselte sich eine dünne, blaue Rauchfahne. Der Alte saß da in der Sonne, an die Wand hingekauert, wie eine groteske Vogelscheuche. Der Kopf war auf die Brust gesunken, und die Hände hielt er im Schoße. Er sah wie ein schwarzes Bündel aus, wie ein verzerrter Schatten; und so hatte er Tommy Goorianawa zum letzten Mal gesehen.
Macauley war wütend, aber er wußte nicht, warum. Sein Gesicht brannte, und seine Nerven waren gespannt. Er stand unter Druck wie ein Dampfkessel ohne Ventil. Er setzte seinen Weg nicht fort. Er ging die halbe Meile zur Stadt zurück und dachte an den alten Quacksalber, den alten schwarzen Gauner, den Scharlatan; und man hätte ihm doch einfach die Mütze vom Kopf reißen und einen Groschen hineinwerfen sollen, nur um ihm zu zeigen, wer wen durchschaute; und als er das Wirtshaus erreichte, war also Macauley in Gewitterlaune. Er goß zwei Glas Bier hinunter, brach einen Streit vom Zaune, legte den Gegner um und fühlte sich schon viel besser.
Aber der Besiegte hatte ihn auch ganz schön zusammengehauen und ihm nur ein brauchbares Auge gelassen; er war ein junger Bursche wie Macauley selbst, nicht einer von denen, der grollt und ein brummiges Gesicht zieht, wenn’s ihm eigentlich gar nicht danach zu Mut ist. Er hieß Lucky Regan, und er kam auf Macauley zu und streckte die Hand aus, und im Handumdrehen waren sie betrunken und gemeinsam unterwegs, suchten auf der Hauptstraße nach Blumen, sangen das Spottlied Das war der Teufel Alkohol, ließen sich im Eingang eines Ladens nieder und fischten gebackene Kartoffelschnitzel aus einem Loch in einem Haufen von weißem Papier.
Lucky hatte genug Geld, am nächsten Morgen die Polizeistrafe zu zahlen, und sie zogen zusammen los. Sie waren Kameraden auf der Landstraße und machten zusammen ihre ersten Erfahrungen. Und das war auf eben dieser Straße gewesen, die von Bellata ausging. Eben dieser Straße. Da waren sie auf Lastwagen gefahren und dankbar gewesen fürs Mitgenommenwerden, wenn ihnen die Füße so geschwollen waren und wehtaten, daß sie nur noch dahinlahmten wie unbeschlagene Pferde und die Bündel über der Schulter ihnen das Rückgrat der ganzen Länge nach steif und schmerzhaft machten.
Wie er jetzt diese Straße wieder ging, wanderte er in der Vergangenheit. Lebhafte Erinnerungsbilder schossen ihm durch den Sinn wie Bilder auf einer Filmleinwand. Eine schlimmere Straße hätten sie sich zum Angewöhnen nicht aussuchen können. Das sah ihnen in ihrer Unerfahrenheit ähnlich, daß sie sich für ihre Jungfernfahrt das Hinterteil Australiens ausgesucht hatten. Jeder Knochen im Leibe wurde gesprächig, selbst Knochen, von deren Existenz sie nie etwas gewußt hatten.
Eine riesige kreisrunde Ebene wie ein Büchsendeckel, nichts drauf, weder Lebendiges noch Totes. Kein freundlicher Baum zum Ausruhen, kein Wasser zum Trinken.
Wir hätten einen Wasserbeutel mitnehmen sollen, Mac. Aber woher konnten wir das wissen?
Hast recht; woher denn?
Hätten wir einen mitgenommen, dann könnten wir jetzt Wasser in einer Büchse kochen und eine gute Tasse Tee trinken.
Mit was für Holz?
Ja, stimmt. Auch nicht ein beschissenes Stück Holz gibt es hier.
Sie waren eben noch zwei grüne Tippelbrüder.
Die grünen Tippelbrüder schleppten sich weiter, rings weit und breit um sie her war Stille, die nur gelegentlich durch Macauleys Jammern und Regans Jaulen unterbrochen wurde. Die Sonne stürzte heiß auf sie herunter wie geschmolzenes Metall. Durst war lange schon ein eingesessener Untermieter, der sich ständig beschwerte. Er drohte sie unterzukriegen. Nichts als ihr Herzschlag erhielt sie aufrecht.
Dann sah Regan die riesige Wasserfläche, die eine Fata Morgana war, aber das wußte er nicht gleich, und später schalt er sich den größten Idioten von Sydney; Macauley auch, denn er hatte dieselbe Illusion. Sie verdoppelten ihr Tempo und stierten in die Ferne. Der Mund war immer wie ein kribbelnder Ameisenhaufen. Wasser – sie konnten an nichts anderes mehr denken. Meilenlang redeten sie von Wasser und wurden dabei immer durstiger, und je mehr der Durst stieg, desto mehr redeten sie von Wasser; mit Wonne stellten sie sich Pfützen und Regen vor, beschworen mit scharfer Klarheit Bäche und Flüsse, Kaskaden und Wasserfälle, ein Ufer, Boote wurden gebaut, Menschen waren da, tranken Wasser, schwammen, segelten. Das erinnerte sie an hübsche Postkarten von ausländischen Badeorten, und sie kramten in ihrem Gedächtnis und versuchten, sich Orte vorzustellen, die sie in Zeitschriften abgebildet gesehen hatten.
Sie sahen sogar Gestalten, die sich in der Fata Morgana bewegten, eingebildete Schemen; manchmal ein ganzes Heer von Menschen, dann wieder fahrende Wagen, und einmal sogar ein großes Schiff.
Sie wußten so wenig von Geographie, und sie waren so hingerissen, daß sie aufgeregte Vermutungen anstellten, welcher große Fluß dies wohl sein könnte. Macauley sagte, es sei sicherlich der Barwon, aber Regan meinte, seiner Ansicht nach sei der Barwon in Viktoria, er tippte auf den Swan oder vielleicht den Murray; wahrscheinlich der Murray, denn das war der längste Fluß der Welt, der war so lang, daß er sich selbst begegnete. Aus der Geographie von New South Wales suchten sie alle Namen zusammen, die sie je gelesen oder gehört hatten, und Macauley entschied sich endgültig für den Murrumbidgee. Aber Regan hatte sich’s anders überlegt. Es war gar kein Fluß. Es war der große Binnensee, von dem er soviel gehört hatte. Und seine einzige Sorge war, ob das Wasser nicht zu salzig zum Trinken sei.
Plötzlich ging es ihnen auf, daß sie der großen Wasserfläche noch nicht einen Meter nähergekommen waren, obwohl sie schon weit gewandert waren, seit das Bild zuerst vor ihnen auftauchte. Nun waren sie schon mehr tot als lebendig, so schmachteten sie nach einem Trunk guten Wassers, die Qual hatte sie ausgedörrt, die Glut ihrer Begeisterung hatte sie aufs äußerste geschwächt.
Sie stolperten vor sich hin, reden konnten und wollten sie nicht mehr. Sie waren am Umfallen, als sie plötzlich auf ein Bohrloch stießen. Regans Gliedmaßen gerieten außer Kontrolle. Er schmiß das Bündel hin, warf die Arme hoch und bewegte die Beine auf einem Fleck, wie einer, der mit dem Fahrrad bergauf fährt.
Vorsicht, Lucky! Macauley zeigte auf zwei große Schlangen. Regans Beine setzten sich wieder in Bewegung, nur war es diesmal, als führe er auf dem Fahrrad bergab. Sie ließen die Schlangen davongleiten und entkommen, es war ja weit und breit kein Stock und kein Stein da, womit man sie hätte totschlagen können.
Regan tauchte die Blechbüchse in das Becken, worin das Wasser aus dem Rohr floß, und riß sie sich an den Mund. Er zuckte, ließ die Büchse fallen, das Wasser spritzte nach allen Seiten.
Das ist ja kochend heiß! schrie er. Verdammt, was ist denn los? Sind wir verhext oder was?
Vorsichtig steckte Macauley die Hand ins Wasser.
Verflucht, heiß ist gar kein Ausdruck!
Hat mir fast die Schnauze ausgeglüht!
Macauley sah, daß das Wasser aus dem Becken in einen Entwässerungsgraben lief. Sie folgten ihm ein Stück, bis das Wasser soweit abgekühlt war, daß man es trinken konnte. Sie gossen es sich büchsenweise über den Kopf. Sie gossen es sich gierig in den Hals. Bald hatten sie Bäuche wie bleierne Fußbälle, die rülpsten und kollerten.
Herrgott, Mac, das Wasser – vielleicht war es vergiftet?
Man tränkt das Vieh damit, hab ich gehört.
Vieh, meinst du vielleicht Kaninchen?
Nein, richtiges Vieh, Pferde, Schafe. Dafür haben sie diese Abflußröhren, die transportieren das Wasser. Jedenfalls kommt es mir so vor.
Aber Lucky Regan war nicht überzeugt. Man vergiftete solche Wasserlöcher, um die Kaninchen zu vernichten. Er wußte Bescheid. Und es dauerte nicht lange, da hatte er Macauley mit seiner Angst angesteckt.
Ich kriege Krämpfe im Bauch, kündigte er an. Du auch?
Genau.
Regan stand auf, krümmte sich, hielt sich den aufgeblähten Bauch. Seine Augen waren irre.
Ich sage dir, Mac, wir haben den Bauch voll Arsen!
Bei Gott, hast wohl recht.
Auch Macauley erhob sich mit verzerrtem Gesicht und gefletschten Zähnen und hielt sich den Bauch.
Als ob du dich an Brei überfressen hast und der Darm Knoten macht.
Aber Regan interessierte sich nicht für weitere Erläuterungen. Mit panischem Entschluß steckte er sich den Finger in den Hals und röchelte und würgte, bis er sich übergab. Macauley tat dasselbe. Beide beugten sich über den Graben und gaben ihm sein Wasser zurück.
Danach legten sie sich erschöpft und mit tränenden Augen nieder, den Kopf auf dem Bündel, den Hut übers Gesicht gezogen, und schliefen.
Macauley wachte zuerst auf, ein kalter Schatten lag auf ihm. Der Himmel war bedeckt, düsterfarbene Wolken mengten sich wie Hefeteig und verdunkelten die Erde mehr und mehr. Die Blitze tanzten scharf und hell, als ob im verdunkelten Raum plötzlich der Rolladen hochsaust gegen den hellen Tag. Die Erde bebte unter den Donnerschlägen. Der Wind wühlte über die Einöde, riß die Erdschollen auseinander; wie eine Herde blöder Schafe jagte er sie vor sich her. Das Bild wurde noch echter, so oft eine oder zwei Schollen sich übereinanderschoben.
Auch Regan war aufgewacht und blickte sich in dieser trostlosen Umgebung mit ungläubigem Erstaunen um.
Allmählich dämmert’s mir, wir haben wohl am Freitag den dreizehnten über ’ner schwarzen Katze ’nen Spiegel zertöppert. Ich glaube, ich mache besser mein Testament.
Jedenfalls, hier können wir nicht bleiben. Komm.
Gehen, weitergehen, etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Irgendwann mußten sie ja auf eine Stadt stoßen. Der Regen kam mit ein paar großen Tropfen, zur Probe sozusagen; dann hörten sie ihn über die Ebene heranbrüllen und sahen ihn kommen, eine graue Wand zwischen Himmel und Erde.
Eine Zeitlang ging es noch. Sie scherzten darüber.
Na, jammert noch jemand nach Wasser?
Wasser? Das ist kein Wasser, Mac. Das ist ’ne Sintflut. Wenn ich bloß das Maul aufmache, sauf ich ab.
Bald aber wurde die Sache schwierig. Die Straße unter ihren Füßen verwandelte sich erst in fettige Schmiere und dann in klebrigen Schlamm, der sich an ihre Stiefel hängte und sich festklebte wie ein Hemmschuh aus Zement. Immer breiter und dicker klebte er an Sohlen und Absätzen, bis sie schließlich eine Art Schneeschuhe aus Dreck trugen. Es fiel ihnen immer schwerer, die Füße zu heben, von Schritt zu Schritt gingen sie langsamer und schwerfälliger. Sie waren froh, alle paar hundert Meter anhalten zu müssen, um das Zeug mit dem Taschenmesser abzukratzen.
Dann war der Regen vorbei, der Zornesausbruch hatte nur eine Stunde gedauert, und der Himmel leuchtete in staubfreier Klarheit. Die Sonne war noch heiß, aber der schwarze Boden schien beim Trocknen nur noch klebriger zu werden. Macauley und Regan wurden zollweise größer. Die Absätze nahmen schneller an Höhe zu als die Sohlen, und sie gingen leicht vorwärtsgeneigt, wie hochgewachsene Frauen auf Stöckelabsätzen. Die Sohlen wurden wieder zu zwölf Zoll breiten Polstern. Das machte das Gehen zur Qual, bis es ganz unmöglich wurde und sie erst das Zeug wieder abkratzen mußten.
Macauley schlug mit dem Absatz ein paarmal scharf gegen die Spitze des anderen Schuhs, als plötzlich der Stelzhacken aus Dreck, der hart und spitz war, losflog, Regan am Schienbein traf und ihm dort eine blutende Schürfwunde beibrachte. Er hielt sich fluchend das Bein und setzte sich hin. Sein Hosenboden trocknete zu einem schwarzen Fladen, steif wie ein Pappdeckel.
«Wann machen wir Brotzeit?»
Dieselbe Straße war es, ihre Tauf- und Einweihungsstraße –, und jetzt war sie etwas ganz Alltägliches; wie lange schon ganz alltäglich; und heute kam er wieder auf ihr gezogen, siebzehn Jahre später, und schleppte ein Kind mit sich –, sein eigenes Kind schleppte er wie eine Fußangel, in der er gefangen war. Unglaublich! Eine schöne Bescherung! Wie in einer Rattenfalle! Die richtige Geschichte für alle alten Klatschbasen, um sich darüber totzulachen!
«Ich möchte was essen!»
«Was zum Teufel hast du zu meckern!» wollte Macauley wissen.
«Ich möchte was essen.»
«Kriegst was, sobald es mir paßt.»
Die Kleine sagte nichts, und Macauley spürte, wie seine Kiefer sich entspannten.
«Kannst noch ein bißchen weiterlaufen, was?»
«Na schön», sagte die Kleine.
Macauley ließ sich Zeit. Noch hundert Meter, dann war er es zufrieden, er hatte ihr gezeigt, wer hier der Boß war.
«O.K., jetzt kochen wir ab. Aber was du tun kannst: siehst du die Disteln?»
«Welche? Die großen da?»
«Nein, die nicht, die wachsen noch. Siehst du die trockenen auf dem Boden? Die meine ich. Aber ich will die größten, die du finden kannst, verstehst du? Nicht das kleine Kroppzeug. Los – mach fix.»
Er warf das Bündel ab, nahm die Blechteller und -becher aus dem Essensbeutel. Er sah auf, was wohl sein Gehilfe mache, aber die Kleine war verschwunden. So sah es wenigstens aus. Wie er so hockte, konnte Macauley sie nicht sehen, aber als er aufstand, sah er die kleine Gestalt auf dem Bauch liegen hinter einem vier Fuß hohen Distelbusch.
«He!»
Der Kohlstrunkhut drehte sich. «Hier ist was Komisches, Dad; es hat ’nen Pulli mit lauter Streifen an und hat schrecklich viel Beine. Komm, guck doch mal!»
«Was ist mit den Disteln?» schrie er.
Die Kleine stand auf. «Ich hol sie schon.»
«Ach, du bist auch zu nichts zu gebrauchen. Ich hätt es selbst machen sollen, anstatt es dir lang und breit zu erklären.»
In ein paar Minuten hatte er die größten der sonnengedörrten Strunke aufgelesen und ein Feuer angezündet. Das Tageslicht war so blendend hell, daß die Flammen fast unsichtbar waren, aber nachdem der Rauchdunst sich verzogen hatte, leckten sie empor, und der heiße, trockne Wind entfachte sie. Bald hatte er ein gut geschürtes, niedriges Feuer, das behaglich knisterte.
Die Disteln ersetzten in dieser Wüste das Holz.
Er öffnete den Essensbeutel und nahm ein Stück gepökeltes Rindfleisch und einen Laib Brot und ein paar Tomaten heraus. Er schnitt zwei Scheiben Brot ab, steckte jede auf eine lange, dreizinkige Gabel aus Draht und stellte sie wie einen Zaun um das Feuer. Als sie geröstet waren, bestrich er sie mit Butter, schraubte den Deckel wieder aufs Butterglas, legte auf jeden Teller ein Stück Brot und halbierte Tomaten. Die Blechbüchse überm Feuer sang wie eine kleine Trommel, und schon kamen die siedenden Bläschen wie an Schnüren heraufgeperlt.
«He, ich dachte, du bist hungrig?»
«Bin ich auch.»
«Na los! Alles ist fertig.»
Die Kleine schlenderte über den hartgebackenen Boden heran, sie starrte gebannt auf ihre Hand. Sie streckte sie Macauley hin.
«Sieh mal, Dad.»
«Das ist ’ne Raupe.»
«Tun sie einem was?»
«Nein, aber heb lieber nicht so’n Zeug auf. Schließlich beißt dich noch mal was.»
«Kann ich sie behalten?»
«Meinetwegen.»
Des Kindes Augen strahlten vor Wonne. Sie warf die Arme um seinen Hals und küßte seinen Hut vor Begeisterung.
«Uh! Danke, du bist ein lieber Daddy.»
«Schon gut», brummte er. «Mach dich an dein Futter.»
Er warf eine Handvoll Tee in die kochende Büchse, hob sie mit der Drahtgabel am Henkel vom Feuer und stellte sie zum Ziehen neben seine Füße. Die Kleine aß hungrig und beobachtete abwesend die Teeblätter, die hochkamen und wieder sanken.
«Was gibt man ihr zu essen?»
«Wem?»
«Der Raupe. Fressen sie Brot?»
«Blätter.»
Macauley goß den sirupfarbenen Tee ein und tat Zucker hinein. Er schlürfte vorsichtig. Die Kleine ließ den ihren abkühlen. Die Raupe hatte sie in die Hosentasche gesteckt, die sie ab und zu aufmachte, um sich zu vergewissern, ob die Raupe noch da sei.
Während sie so in der Sonnenglut saßen und aßen und die Buschfliegen sich auch ihren Anteil holten, kam ein altes Kleiderbündel von einem Mann auf der Landstraße von Westen heran. Macauley sah ihm entgegen und erkannte sogleich, wen er da vor sich hatte: einen Tippelbruder aus dem Flachland, eine Sorte für sich.
«Tag auch.»
«Tag.»
«Heiß, was?»
«Jawohl, ganz schön warm.»
Der Alte ließ sein Bündel fallen und kratzte sich den schwitzenden Schädel unterm Hut. Der Hut wackelte, fiel aber nicht herunter. Der Mann sah aus wie ein geräucherter Fisch, trocken und verrunzelt und braun. Seine Schuhe hatten die Farbe eines alten Kuhfladens. Seine Hosen, die einmal zu einem guten Straßenanzug gehört hatten und deren Streifen hie und da ganz abgescheuert waren, hingen herab wie ein loses Futteral, das sich der Form seiner Beine anpaßte; sie hingen auf den Hüften, und die Hüften hinderten sie am Herunterfallen. Der Hosenboden hing irgendwo in Höhe der Knie. Der Gürtel mit der großen Schnalle, der eigentlich die Hosen halten sollte, war um seinen Bauch geschnallt, zu nichts gut als zur Zierde über dem grauen Flanellhemd. Weißes Haar wuchs ihm im Nacken.
Macauley überließ es dem Alten, ein Gespräch anzufangen, er konnte abwarten, bis der andere Farbe bekannte. Er hatte schon viele solcher Flachlandputer, wie man sie nannte, getroffen. Mit manchem hatte er Unannehmlichkeiten gehabt, oder vielmehr sie mit ihm.
Gefallen hatte ihm noch keiner. Das hing mit ihrer Berufsehre zusammen. Sie haßten den Gebirgs-Wanderburschen ebenso wie seine gebirgige Heimat und ließen ihn ihre Verachtung spüren. Sie drückten sich immer davor, ihm zu helfen. Sie waren ein Clan für sich und hatten ihre eigenen Geheimnisse.