Malcolm Boyd
Mit den Jahren wachsen
Tägliche Meditationen, die durch das Auf und Ab des Lebens begleiten
Aus dem Englischen von Maria Gurlitt-Sartori
FISCHER Digital
Meditationsbücher für Frauen
Malcolm Boyd (1923–2015) war ein amerikanischer Autor und Theologe.
Dieses Buch begleitet in 365 Meditationen durch das Auf und Ab des Lebens, gibt Hoffnung, ermutigt dazu, auch mal ein Risiko einzugehen, nach vorne zu schauen, sich im Einklang mit dem Wandel der Zeit zu entfalten.
Es hilft, voll Selbstvertrauen aus den gesammelten Erfahrungen zu schöpfen und dennoch die Welt mit täglich neuen Augen zu betrachten.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561698-7
Für meine Mutter, Beatrice Boyd
Die Übersetzerin dankt Christoph und Johannes Gurlitt für die wertvolle Unterstützung
Älterwerden ist ein Abenteuer, kein Problem.
Betty Friedan
In der Tat ein großartiges Abenteuer! Es winkt uns zu und fordert unsere ganze Energie und Vorstellungskraft, Zuversicht und Entschlossenheit, Geduld und Liebe.
Die vielfach verbreiteten Schauermärchen und Bilder von hoffnungslos hinfälligen alten Menschen dienten bisher allerdings eher dazu, uns abzuschrecken als zu ermutigen. Hinzu kommt, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der lange nur Jungsein zählte. Kein Wunder, daß das Alter als einsam, beschwerlich und häßlich galt und seine Weisheit mit Verachtung gestraft wurde.
Ganz allmählich beginnen wir uns aber von diesen überkommenen Vorstellungen zu lösen; das Alter erscheint uns in einem anderen Licht, dem des Abenteuers, der Herausforderung und der neuen Perspektiven. Niemand kann sich aussuchen, ob er älter werden möchte – es ist uns bestimmt. Nur wie wir älter werden, das können wir uns aussuchen. Diesen Weg mit Optimismus anzugehen erfordert Realitätssinn und eine gewisse Heiterkeit, ein gesundes Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Gemeinschaft, den unbeirrten Stolz des Alters, durchdrungen von der Bescheidenheit und dem ehrlichen Wunsch, Erfahrungen mit der heranwachsenden Generation zu teilen.
Heute möchte ich versuchen, mein Leben als Abenteuer zu betrachten. Ich bin der Herausforderung gegenüber offen.
Offenbar haben sie ein Problem mit ihrem Alter: Er macht ein großes Theater um sein Alter, und sie schweigt sich über ihres aus.
Milton Berle
Warum ist es so schwer, sich mit unserer runzligen Haut abzufinden? Wir suchen im Spiegel noch immer die jüngere Version von uns selbst. Wir betrachten unsere Fältchen mit Widerwillen und greifen in der Hoffnung, daß sie sich nicht weiter vertiefen, erneut zur Cremedose. Vielleicht sehen wir das Gesicht unserer Mutter im Spiegel oder bemerken, wie sich unsere Hände in die Hände unserer Großmütter verwandeln. In den meisten Fällen reagieren wir auf diese Veränderungen mit akuten Ängsten.
Um die Fünfzig herum bemerken wir unausweichlich kleine Erschlaffungen, die früher nicht da waren. Fältchen und Runzeln machen sich breit. Diese Veränderungen sind besonders dann schwer zu akzeptieren, wenn wir unserem jugendlichen Körper große Bedeutung zugemessen haben.
Warum sehen wir in unseren Fältchen und Runzeln keine wohlverdienten Auszeichnungen? Warum sehen wir nicht in jeder Falte die Spur unserer Lebenserfahrung? Warum schätzen wir unsere Fältchen nicht als Zeichen unserer sich entwickelnden Persönlichkeit?
Heute werde ich mein Alter wie ein schönes Leinenkostüm tragen und mich genauso geben, wie ich mich fühle.
Immer hatte ich Freunde, die sehr viel jünger waren als ich. Nun bin ich über siebzig und meine zwanzig- bis dreißigjährigen Freunde scheinen meine Geschichten zu mögen, sie gehen mit mir aus und verwöhnen mich. Manchmal frage ich mich allerdings auch, ob sie nicht einfach nur mein Haus erben möchten.
Freundschaften zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Abstammung, Kulturkreise, Geschlechter oder Altersgruppen gehören zum Natürlichsten von der Welt. Sie sind Anlaß zur Freude und zum Feiern, denn sie beweisen, daß allein das menschliche Verständnis zählt.
Dennoch sind viele von uns schon mit Vorurteilen der einen oder anderen Art konfrontiert worden, ebenso mit jener ablehnenden Haltung gegenüber Menschen, die anders sind als wir. Wie oft wurde uns eingetrichtert, wir müßten sie fürchten, ihnen mißtrauen? Dabei sollten wir nicht vergessen, daß das einzige, was wir fürchten müssen, die Furcht selbst ist. Wenn wir dies einmal verinnerlicht haben, werden wir in anderen Menschen Freunde und nicht Feinde sehen, vertrauensvoll auf sie zugehen und alle Vorbehalte, die unsere Furcht nähren, aufgeben.
Ich möchte die Menschen nehmen, wie sie sind, und ihnen Vertrauen entgegenbringen. Ich weiß um das Geschenk einer Freundschaft und werde es nicht verspielen.
Mit sechzig hatte ich eine richtige Krise. Mein ganzes Leben lang war ich eine tatkräftige Frau – ich habe gearbeitet, meine Familie versorgt –, und dann plötzlich dieser Stillstand. Ich hatte keine Energie und Hoffnung mehr und haßte mein Leben. Inzwischen bin ich, Gott sei Dank, wieder auf dem richtigen Weg. Ich nehme an einem Aerobic-Kurs teil, lerne Spanisch und freue mich auf den kommenden Tag.
Das Leben geht weiter und gewinnt an Lebensqualität, wenn wir ihm wohlgesinnt, vernünftig und mit unbeirrter Zielstrebigkeit folgen.
Es gibt Tausende von Möglichkeiten, ein erfülltes und reiches Leben zu führen. Das Erlernen einer Fremdsprache etwa kommt uns nicht nur auf Reisen in ein anderes Land zugute, es schult auch unser Gedächtnis. Ein Kurs, der uns körperlich wieder in Schwung bringt, sei es Aerobic, Tanz, Gymnastik oder Yoga, wirkt rundum aufbauend.
Dies gilt übrigens für alle Altersstufen und jeden Lebensabschnitt. Manchmal ist nur ein kleiner Schubs nötig, damit wir uns wieder einmal aufraffen und etwas für unsere Seele oder unseren Körper tun. Dieser kleine Schubs kann von einer Freundin kommen, er kann aber auch dem eigenen Impetus entspringen – und im Nu stehen wir mittendrin.
Das Leben geht weiter. Heute beschließe ich, ihm zu folgen.
Laß meine Falten in Ruhe. Ich habe sie mir über Jahre redlich erworben.
Anna Magnani
Wir sollten lernen, die Zeichen des Alterns wie Verdienstabzeichen zu tragen, auch wenn es uns manchmal nicht leichtfällt zu erleben, wie sie lächerlich gemacht oder kritisch kommentiert werden.
Die Falten gehören mit der Zeit eben genau wie meliertes oder graues Haar zu unserem Leben. Wir bewegen uns auch langsamer oder kommen außer Atem, wenn wir mit Jüngeren Schritt halten wollen. Aber sind es allein diese Äußerlichkeiten, die uns in einem größeren Kreis oftmals an den Rand drängen?
Nein! Es gibt andere Dinge, die zählen. Das Alter verleiht uns eine gewisse Würde und Reife, die an den stolzen Wuchs einer alten, jeder Witterung trotzenden Eiche erinnern. Hinzu kommt das Gefühl der Ausgeglichenheit und inneren Gelöstheit als Zeichen dafür, daß man im reiferen Alter weiß, wie man dem Auf und Ab des Lebens begegnet und in sich ruhend Würde bewahrt.
Heute möchte ich der Welt mit berechtigtem Stolz entgegentreten.
Der Ruhestand ist lediglich eine andere Form der Herausforderung, aber eine sehr reizvolle, denn nun bestimme ich allein, was zu tun ist. Ich entscheide darüber, ob mein Leben erfüllt oder leer sein wird.
Ist es nicht großartig, die Wahl zu haben? Stellen wir uns doch einmal vor, bei Einbruch der Dunkelheit im Wald zu sein und plötzlich auf eine Weggabelung zu treffen. Wie soll es weitergehen? Es mag bisweilen ganz wichtig sein, welche Richtung wir einschlagen, im Extremfall gar eine Entscheidung über Leben und Tod.
Ganz ähnlich ist es mit der Wahl, ein leeres oder erfülltes Leben zu führen. Die Entscheidung liegt bei uns. Wer sich vom Rest der Welt abkapselt und sich in sein ausschließlich auf eigene Bedürfnisse zugeschnittenes Glashaus zurückzieht, führt ein leeres und egoistisches Leben. Ein erfülltes Leben ist indes ein Leben, das sich mitteilt – im Kontakt nach außen, der Hilfsbereitschaft gegenüber anderen, einem offenen Ohr, in Einfühlungsvermögen und Tatkraft. Die Spielregeln bestimmen letztlich wir. Denn niemand macht uns nun mehr Vorschriften, nicht einmal Vorschläge.
Der Ruhestand ist eine ganz große Chance. Er eröffnet uns ungeahnte Betätigungsmöglichkeiten und gewährt uns zugleich Raum für Kreativität und Besinnlichkeit. Warum sollten wir nicht hin und wieder im Schatten eines Baumes meditieren – wie früher die Heiligen?
Heute möchte ich über meine Wahlmöglichkeiten nachdenken. Ich werde sie ausschöpfen.
Irgendwann kommt eine Zeit, in der man überrascht feststellt, daß es nur zweiundfünfzig Wochenenden im Jahr gibt und die Jahre im Flug vergehen.
William Attwood
Richtig! Der erste Akt ist bereits vorbei, der zweite im Gange. Es dauert nicht mehr lang, und der Vorhang wird fallen, die Menge auf den Ausgang zustreben und das Theater dunkel sein. Was für ein Fazit ziehen wir aus der Erkenntnis, daß die Jahre dahineilen?
Vergessen wir nicht, daß das Schauspiel keineswegs zu Ende ist. Wir haben noch ein paar Zeilen zu sprechen, einige Aufgaben zu erfüllen. Denn das Geheimnis dieses Stückes ist noch längst nicht gelüftet. Es gibt noch einiges an Arbeit für uns. In der Zwischenzeit fordert das Auditorium, mehr zu erfahren, wir stehen auf der Bühne, um das Stück zu Ende zu führen. Auch unsere Kommunikation mit den anderen Schauspielern (ganz zu schweigen mit den Zuschauern) ist noch nicht abgeschlossen.
Ist das Bild einleuchtend? Wir können uns nicht von der Szene absetzen, solange sie fortschreitet. Wir sind in die Handlung eingebunden und zeigen bis zur Auflösung höchstes Engagement. Was von uns verlangt wird, ist, daß wir bis zur Vollendung zu unvermindertem Einsatz bereit sind.
Heute werde ich mich ganz in den zweiten Akt vertiefen. Das Ende schreibe ich, wenn es sich ankündigt.
Um die Leere in meinem Leben zu füllen, beschloß ich, einem alten Traum zu folgen. Ich überlegte mir, was ich schon immer gern tun wollte, aber nie versucht habe.
Wir brauchen uns nicht immer auf neue Träume besinnen. Ein alter Traum möchte uns vielleicht besonders viel erzählen, zumal wir ihn schon lange in uns tragen.
Es gibt so viele Dinge, denen wir uns schon immer widmen wollten, wenn wir nur Zeit dafür gehabt hätten. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir eine Fremdsprache lernen oder Gedichte schreiben, Cello spielen oder uns in der Kindernothilfe engagieren, in der Kirchengemeinde tätig werden oder uns im Bogenschießen üben, tanzen oder einen Kochkurs machen, einen Jahr für Jahr aufgeschobenen Examensabschluß nachholen oder zu malen anfangen.
Die erste Frage muß heißen: Was haben wir entgegen unseren Neigungen und Interessen nie geschafft? Das Spektrum kann von der Besteigung des Mount Everest bis zu einem Schauspielkurs in der Volkshochschule reichen, von der Aufzeichnung der Lebenserinnerungen für Kinder und Kindeskinder bis zur Anlage eines Kräutergartens oder einfach in aller Frühe aufzustehen, um die Vögel zu beobachten.
Heute möchte ich einen alten Traum träumen. Ich werde ihn verwirklichen.
Wir wähnen das Schicksal immer Jahrzehnte weit weg, aber plötzlich sind die Jahrzehnte vergangen und es ist auf einen Schlag da.
Walter M. Miller jr.
Wir erinnern uns, wie wir einundzwanzig wurden. Es war ein Meilenstein. Wie haben wir uns gefreut, endlich volljährig zu sein!
Mit dreißig war die Sache schon anders. Nun galten andere Maßstäbe! Hatten wir die erste Million bereits beisammen, unser Traumhaus gebaut, das Fundament für den Rest des Lebens gelegt?
Mit vierzig wurde noch härter abgerechnet. Vierzig! Der Slogan «Das Leben beginnt mit vierzig» war vor einigen Jahren Ausdruck eines ganz neuen Lebensgefühls, in einer Zeit, in der alle Welt meinte, vierzig hieße aufgeben. Wo das Leben noch so viel zu bieten hatte!
Mit fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig und neunzig ist eine Altersstufe erreicht, die wir je nach Individualität ganz verschieden beurteilen. Dennoch besteht wohl kein Zweifel, daß das Leben da ist, wo man es findet. Wenn wir erleben, daß die Jahre wie die Blätter vergehen, kann das Schicksal keine Luftspiegelung sein. Es ist unmittelbar präsent. Entscheidungen lassen sich nicht länger hinausschieben, um später noch einmal überdacht zu werden. Glück und Zufriedenheit nutzen uns wenig, solange sie der Realität entbehren. Die menschliche Erfüllung bleibt eine Fata Morgana, solange wir nicht wirklich nach ihr greifen.
Ich werde nicht länger auf das Leben warten. Mein Schicksal heißt jetzt und heute.
Ich sehe schrecklich aus, fühle mich ständig erschöpft und so allein, daß ich verrückt werden könnte. Ich schaffe es nicht, mein Leben umzukrempeln oder irgendwo anders hinzugehen. Wenn kein Wunder geschieht, sehe ich keinerlei Hoffnung mehr.
Wer hätte sich nicht hin und wieder verloren gefühlt, keine Perspektive mehr gesehen? Wenn wir vergessen, wie groß wir wirklich sind, verlieren wir die Gewalt über uns – wir versinken im Elend und akzeptieren, daß das Negative in uns überhandnimmt.
Es kann aber nicht angehen, sich mit der Trostlosigkeit abzufinden und innerlich aufzugeben, wo es uns lediglich an Selbstvertrauen, Hoffnung und Zuversicht mangelt. Irgendwann macht jeder die universelle Erfahrung, in ein Loch zu fallen. Dennoch sind wir nicht verloren, solange wir es uns nicht einreden.
Freilich können wir unser Leben nicht einfach wie von Zauberhand ändern. Aber wir können Tag für Tag entscheidend eingreifen. Wir können gegen unsere Niedergeschlagenheit ankämpfen, zur Ruhe kommen oder neue Initiativen ergreifen, wenn wir die alten leid sind, Kontakt aufnehmen, wenn wir uns einsam fühlen. Selbstvertrauen gewinnen wir manchmal aber auch schon, indem wir uns kritisch im Spiegel betrachten, etwas Hübsches anziehen und lächeln. Unser Credo heißt, aus dem «ich kann nicht» ein «ich will» machen.
Was für ein Wunder müßte geschehen, damit ich glücklich bin? Heute möchte ich jenes Wunder ins Auge fassen und darauf zugehen.
Überanstrengung läßt uns alle zu Feiglingen werden.
Vince Lombardi
Wenn wir überanstrengt sind, verlieren wir jeglichen Lebensmut, scheuen auch nur die kleinste Mühe oder sehen überall größte Gefahren. Wir fühlen uns nur noch als halber Mensch.
Wie aber finden wir aus einem solchen Tief heraus? Wir müssen uns dagegen wehren und auf möglichst kreative Weise dagegen angehen. Wenn wir das Gefühl haben, uns ausruhen zu müssen, sollten wir es auch wirklich tun. Schon ein erholsamer Spaziergang, die ruhige Beschäftigung im Garten, die Kraft, die wir beim Schwimmen schöpfen oder ein paar Stunden Tiefschlaf können helfen. Wichtig ist, daß wir nicht zu eitel oder zu halsstarrig sind, um einzusehen, daß es auch auf unser leibliches Wohl ankommt. Es ist die Voraussetzung für unsere geistige und seelische Ausgeglichenheit.
Wenn wir uns dagegen auflehnen, daß uns die Dinge über den Kopf wachsen, wird sich auch unsere Lebenseinstellung ändern. Wir finden aus unserer Ängstlichkeit und Zurückgezogenheit heraus und verwandeln uns in selbstverantwortliche reife Menschen, die den Anforderungen des Alters gewachsen sind.
Heute möchte ich mich um einen neuen Ansatz bemühen. Ich lasse nicht zu, daß ich aus Überanstrengung kapituliere.
Was berechtigt uns zu der verbreiteten Annahme, mit dem Alter erlösche das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, Sexualität und Liebe?
Solange der Wunsch nach Nähe, Zärtlichkeit und Sexualität ausschließlich der Jugend zugestanden wird, haben wir ihr Wesen gründlich mißverstanden.
Sexualität ist so natürlich wie Atmen. Sie ist ein großes Geschenk und Teil der Schöpfung. Warum aber wird Menschen im fortgeschrittenen Alter dieses Grundbedürfnis häufig als widernatürlich abgesprochen?
«Die Alten haben doch keine sexuellen Wünsche mehr», so oder ähnlich lauten die stereotypen Äußerungen, von Witzen hinter vorgehaltener Hand ganz zu schweigen.
Unsere Gesellschaft sollte in ihren Vorstellungen von Sexualität im Alter zu einem ganz anderen Bewußtsein und Verständnis finden. Was in diesem Bereich vonnöten erscheint, ist mehr Ehrlichkeit, Offenheit und Wachheit.
Ich habe ein Recht auf meine Vorstellungen von Liebe. Mit Liebe und Lebensmut möchte ich ihnen Ausdruck verleihen.
Im Alter überraschte mich mein Vater mit der Bemerkung, daß er nun begriffe, was Mutters Tod für mich bedeutet haben muß, dennoch aber nicht wisse, wie er damit umgehen sollte.
William Maxwell
Wenn jahrelang gehütete Geheimnisse sich unverhofft auflösen, gewinnen wir plötzlich ein ganz neues Verständnis für die Zusammenhänge der Vergangenheit.
Vielleicht kannten andere vor uns im großen Familienverband ganz ähnliche Geheimnisse über unsere Großmutter – nur wir bisher nicht. Was uns erstmals zu Ohren kommt, mag uns erschrecken, alte Wunden aufreißen, Antworten geben und zugleich nagende Fragen aufwerfen. Wie kommt es, daß wir das nicht wußten? Auf dem Totenbett vermögen viele ihr Innerstes zu öffnen – sie reden, geben Geheimnisse preis, bringen Ordnung in ihr Leben. So erfahren wir manchmal Wahrheiten, die über Jahre im dunkeln lagen.
Wir alle können davon profitieren, uns jetzt und heute mitzuteilen, anstatt zu warten, denn was wäre, wenn sich keine Möglichkeit mehr ergäbe? Geheimnisse, die aufgedeckt werden, tragen wohltuend zur Klärung alter Mißverständnisse bei, sie beantworten Fragen und fördern das gegenseitige Vertrauen. Allein schon die Bereitschaft des Sichmitteilens verbindet uns noch mehr, wenngleich es Dinge gibt, die im Augenblick schmerzlich sein mögen. Aber Offenheit ist immer die bessere Lösung.
Heute möchte ich mir eingehend Gedanken machen über die Geheimnisse, die ich hege. Ich möchte meiner Liebe Worte verleihen.
Es spielt keine Rolle, ob ich hundert Millionen oder zwanzig Millionen oder hundertfünfzig Millionen wert bin. Was für mich zählt, ist ein Leben, das mir Erfüllung schenkt und das zu tun ermöglicht, was getan werden muß.
Hugh Hefner
Mit welchem Maßstab messen wir den Wert unseres Lebens? Diese Frage wird uns alle irgendwann einmal beschäftigen.
Was heißt ein erfülltes Leben? Es gibt viele Antworten darauf; sie hängen weitgehend von unseren persönlichen Prioritäten ab. Für einige steht die Familie an erster Stelle, für andere die berufliche Erfüllung und Anerkennung. Für manche mag vorrangig das Geld zählen, für andere die Kreativität, Freude an Musik und Kunst und am Leben im weitesten Sinn. Und für manche heißt es einfach dasein für andere.
Was zählt, ist unsere eigene Definition, denn sie wird unser Tun in beträchtlichem Maß bestimmen und uns unserem Ziel eines erfüllten Lebens näherbringen. Ganz gleich, ob wir diese Erfüllung in der hingebungsvollen Sorge um andere oder im harten Konkurrenzkampf suchen, in der künstlerischen Entfaltung oder im Streben nach Berühmtheit, dem Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen oder auch anderen einmal den Vortritt zu lassen, ob wir Kraft aus der Hilfe für andere schöpfen oder uns einfach nur am Duft der Blumen, der Schönheit der Bäume und dem Anblick der Vögel freuen – die Wahl liegt ganz allein bei uns.
Heute möchte ich darüber nachdenken, was mir wirklich «Erfüllung» schenkt, denn allein daran möchte ich mich orientieren.
Ich bin alt und körperlich nicht mehr ganz fit. Ich kann mir die Schuhe nicht mehr selbst binden und meinen Haushalt nicht mehr allein führen. Aber ich kann meine Freundin im Pflegeheim besuchen, der es sehr viel schlechter geht als mir.
In einer Welt, in der es überall an Hilfsbereitschaft fehlt, können wir nicht genug Geschichten über menschliche Selbstlosigkeit und Zuwendung in Umlauf bringen.
Wenn wir die Hand zur Hilfe ausstrecken, helfen wir nicht nur anderen, sondern auch uns. Indem wir unsere eigenen Wünsche zugunsten der anderen zurückstellen, wachsen wir über uns selbst hinaus und erweitern unser Blickfeld. Irgendwo im Universum nimmt die Zuwendung somit konkrete Formen an. Sie ist plötzlich mehr als ein Schlagwort, sie wird Realität.
Manche mögen fragen, «Wo finde ich jemanden, der dringend Hilfe braucht?», wenngleich man oft nur um die Ecke des nächsten Häuserblocks zu gehen braucht – schon trifft man auf Obdachlose, Menschen, die Hunger haben, eines offenen Ohrs bedürfen oder eines Blicks, der die Einsamkeit lindert. Schenken wir den Nöten der anderen Gehör, selbst wenn sie sich oft hinter vorsichtigen und verschlüsselten Worten verstecken! Wir wollen die verhaltenen Hilferufe wahrnehmen lernen, ganz gleich ob sie aus unserer Familie, unserem Freundeskreis oder von Fremden kommen. Denn sie alle brauchen uns. Wir können nicht allen auf einmal helfen, aber einem nach dem anderen.
Ich möchte heute nicht an meine eigenen Sorgen denken. Ich werde versuchen, mich um andere zu kümmern.
Das Leben bewußt erleben, Tag für Tag, anstatt Tag für Tag verstreichen lassen.
Peter Matthiessen
Ab einem gewissen Alter darf man das Leben nicht länger aufschieben. Wenn wir nicht endlich zu leben anfangen, könnte irgendwann keine Zeit mehr dafür bleiben. Warum weigern wir uns immer wieder, mitten im Leben zu stehen? Liegt es an unserer Bequemlichkeit oder haben wir Angst davor?
Versuchen wir es doch einmal, indem wir uns Fristen setzen. Sie können uns Ansporn und Hilfe sein. Immerhin entwickeln wir Schuldgefühle, wenn wir sie verstreichen lassen. Eine Frist kann ein positiver Impuls sein, sich nolens volens ins kalte Wasser zu stürzen. Dabei kann es sich um die Erledigung einer Arbeit, der wir bisher ausgewichen sind, oder die Wahrnehmung eines lange aufgeschobenen Arztbesuchs drehen, eine Frist, endlich einmal Ordnung zu schaffen oder eine längst fällige Einladung auszusprechen – eine Frist macht uns bewußt, was Leben wirklich heißt. Wer sich keine Fristen setzt, wird sich im Kreis drehen und das Leben als leere und sinnlose Übung erfahren.
Das wahre Leben aber bedeutet Aufbruch und Ankunft, Beginn und Ende, Planung und Realisierung.
Ich setze mir ein Ziel und verwirkliche es.
Auch deiner Welt dürfte die Stille fremd sein.
Wayne E. Oates
Es ist traurig, daß es unserem Leben mehr und mehr an Stille mangelt. Wir sind ständig von Tönen und Lauten umgeben, unzähligen akustischen Reizen und Lärmbelastungen ausgesetzt.
Aber selbst im Trommelfeuer der Dissonanzen vermögen wir die Stille in unserem Innern zu spüren. Sobald wir in uns hineinhören, entdecken wir jenen geheimen Garten, zu dem niemand außer uns Zutritt hat. Schon nach wenigen Augenblicken der Besinnung schöpfen wir neue Energie. Danach fühlen wir uns gewappnet für eine Welt, die unsere ganze Kraft und Initiative fordert.
Ein solcher Selbstheilungsversuch hat nichts mit Egoismus zu tun. Wenn wir diese existentielle Regeneration vernachlässigen, geht dies auf Kosten der anderen, können wir auf die Dauer weder uns noch ihnen helfen. Häufig projizieren wir unsere Erschöpfung auf diejenigen, die wir unterstützen sollten. Wenn wir mit den Nerven am Ende sind, überempfindlich reagieren, körperlich ausgelaugt und seelisch am Boden sind, sollten wir uns einen Augenblick Zeit zur Selbstfindung und Regeneration gönnen.
Ich suche mir ein stilles Plätzchen, um mich zu finden und in mich hineinzuhorchen.
Fünfundvierzig Jahre lang glaubte ich, nur deshalb keine Freunde zu haben, weil ich zu dick bin, bis ich mich entschloß, von mir aus auf andere zuzugehen und nicht mehr auf deren Initiative zu warten. Es klappte, und ich merkte, daß sich die wenigsten an Äußerlichkeiten stören.
Manchmal braucht man ein ganzes Leben, um so eine Entdeckung zu machen. Es mag daran liegen, daß wir einer Gesellschaft angehören, in der dem Schein oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Sein.
Hinzu kommt der durch die Medien geschürte Jugendkult, der zu einer unverhältnismäßigen Verherrlichung der körperlichen Attraktivität führt. Die hübsche Fassade zählt mehr als die innere Ausgewogenheit, die Form mehr als der Gehalt. Viele eifern bis zur Selbstverleugnung einem Idealbild nach. Aber geben wir damit nicht unsere Individualität auf, werden wir uns auf diese Weise nicht selbst fremd?
Wen wundert es, wenn wir nur noch mit leblosen Models, den immer gleichen Schaufensterpuppen zu tun haben? Es ist so befreiend zu erkennen, daß wir verblüffend menschlich, unglaublich eigenständig und nicht nur von Modeströmungen, sondern von der Liebe geprägt werden, die uns die Freiheit gibt, so zu sein, wie wir wirklich sind.
Ich möchte in den Spiegel schauen und lächeln. Ich begrüße mich wie jemanden, den ich liebe.
Nichtstun erschöpft mich.
Pablo Picasso
Es ist unwahrscheinlich, daß der große Künstler Picasso öfters unter Langeweile litt. Selbst im hohen Alter hatte er meist mehrere Eisen im Feuer.
Und wir? Manche sind arbeitssüchtig und unfähig, je einmal auszuspannen oder loszulassen. Die meisten aber haben mit dem Älterwerden zugleich auch mehr Freizeit. Die Zwänge des beruflichen Alltags scheinen sich mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in Luft aufzulösen.
Dennoch sollten wir nicht zulassen, daß von nun an die Langeweile unseren Alltag regiert. Stellen wir unsere überschüssige Energie in den Dienst einer guten Sache! Sehen wir uns nach einer Aufgabe um, in die wir unsere Fähigkeiten einbringen können. Nun haben wir Zeit, unseren Interessen zu folgen, Verpflichtungen nachzukommen, denen wir in der Vergangenheit immer wieder ausgewichen sind. Ob wir an einem Kurs teilnehmen oder ein Musikinstrument erlernen, Briefmarken sammeln oder etwas Gutes kochen, zur Gymnastik gehen oder wandern und schwimmen, Bücher lesen, in einen Verein eintreten oder für eine Wahl kandidieren, spielt keine Rolle. Wichtig ist allein, daß wir aktiv bleiben.
Ich möchte der Langeweile zuvorkommen.
Ich weiß, daß die Verzweiflung ein Faß ohne Boden ist. Ob ich es schaffe, ihr Hoffnung entgegenzusetzen?
Hoffnung gibt es immer, vorausgesetzt, wir ändern unseren Blickwinkel. Solange wir aber in das tiefe Loch der Verzweiflung starren, werden wir kaum in der Lage sein, uns dem strahlenden Gesicht der Hoffnung zu öffnen.
Manchmal müssen wir uns zwingen, der Verzweiflung Einhalt zu gebieten, uns ganz bewußt davon abkehren und bereit sein, uns ablenken zu lassen. Selbst eine Feuerwerksrakete kann einen Augenblick lang den starren Blick in das bodenlose Faß vergessen machen. Und oftmals bedarf es eben wirklich nur eines einzigen Augenblicks des Loslassens.
Die Veränderung des Blickwinkels gehört zu den größten Gaben unseres Lebens. Im Nu kann sich eine neue Sicht der Dinge auftun, eine andere Perspektive, ein grundlegender Wandel. Plötzlich sieht einiges, ja alles ganz anders aus! Wo soeben noch Verzweiflung herrschte, stehen nun alle Wege offen. Wir mögen so etwas zwar schon erlebt haben, aber wohl nicht oft genug. Machen wir es uns zur Gewohnheit, den Blickwinkel zu ändern!
Ab heute möchte ich mein Leben in einem neuen Licht sehen. Wo Hoffnung ist, werde ich sie auch finden.
Irgendwann müssen wir einsehen, daß es weder sicher noch politisch opportun, noch populär ist, dennoch aber kein Weg daran vorbeiführt, zu tun, was unser Gewissen uns sagt.
Martin Luther King
Wir sollten in unserem Leben für etwas grundlegend Gutes eintreten. Unser Leben schreit nach Sinngebung.
Es genügt nicht, vor der Hoffnungslosigkeit und Not der anderen die Augen zu verschließen. Das menschliche Leben ist ein komplexes Netz, ein Universum, das unzählige Individuen in unüberschaubar vielen verschiedenen Lebenslagen einschließt. Wohl wissend macht uns John Donne in seinen klassischen Zeilen bewußt, daß es uns nicht zu fragen ansteht, wem die Stunde schlägt. Sie schlägt dir und mir, uns allen.
Wir können uns gegenseitig helfen, dieses Leben zu meistern. An Stelle von Überheblichkeit und Desinteresse können Hoffnung und Unterstützung treten, Liebe und Einsatzwillen, Kameradschaft und Offenheit, vorbildhafte und tatkräftige Hilfe. Wir sollten uns nicht von Trägheit, Egoismus und Furcht davon abhalten lassen, uns zu engagieren, wenn es vonnöten ist.
Auf meine Stimme kommt es an. Ich möchte versuchen, mir Gehör zu verschaffen.
Ich merke, daß es unmöglich und töricht ist, mein Leben ständig unter Kontrolle halten zu wollen – aber es ist so schwer, loszulassen.
Es ist ebenso schwer, nicht loszulassen. Die Frage ist nur, was wir wollen. Dabei kommt es nicht einmal so sehr auf den Ausgang an, sondern vielmehr darauf, was am besten, am realistischsten ist.
Wenn es uns gelingt, die starren Kontrollmechanismen aufzugeben und loszulassen, werden wir uns sehr viel freier fühlen, nicht nur körperlich, sondern auch geistig und spirituell. Wir werden ein ausgewogeneres und harmonischeres Verhältnis zum Leben und dem Universum gewinnen.
Es ist nämlich gar nicht so schwer, wenn wir nicht alptraumartige Ängste und Herzrasen entwickeln und uns gebärden, als ob der Dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre. Das Geheimnis des Loslassens heißt ganz einfach loslassen. Wenn es uns gelingt, diesen Bremsblock aus unserem Leben zu schaffen, der nichts als Schaden und Unheil anrichtet, wird sich unser Leben reicher und erfüllter gestalten.
Heute möchte ich die Bremsen einmal lockern. Ich werde herausfinden, in welche Richtung mein Leben sich bewegt.
Wenn du mir nicht weh tust, werde ich dir auch nicht weh tun.
Boris Pasternak
Die unverzichtbare Basis für jede Art von Beziehung heißt Vertrauen. Ein Vertrag fußt auf dem Dialog, nicht auf einem autoritären oder ichbezogenen Monolog.
Niemand möchte in einer Beziehung verletzt werden. Dennoch tun wir einander immer wieder weh, häufig ohne es zu wollen. Oft liegt es daran, daß wir die Gefühle der anderen ignorieren, uns lauthals weigern, für andere zu sorgen, oder instinktiv fürchten, verletzt zu werden. Wo es uns an Einfühlungsvermögen fehlt, kann keine Nähe entstehen.
Es wäre gar nicht so abwegig, in jeder Beziehung von vornherein zu erklären: «Wenn du mir nicht weh tust, werde ich dir auch nicht weh tun.» Es könnte ein tragfähiges Friedensangebot sein, ein Bekenntnis zu mehr Sensibilität und einem einfühlsameren Miteinander. Zugleich bestätigt es eine tiefgehende Wahrheit: daß es niemandem erstrebenswert erscheinen dürfte, zu verletzen oder verletzt zu werden.
Ich nehme mir vor, niemandem Schaden zuzufügen. Dieser Vorsatz wird auch mir zugute kommen.
Mein ganzes Streben gilt dem Glück. Aber obgleich ich dafür arbeite, ist es mir nicht vergönnt. Wie heißt das Geheimnis des Glücklichseins?
Es hat keinen Sinn, etwas mit Gewalt zu erzwingen. Das Glück ist nur schwer faßbar, wie Sonnenstrahlen am Morgen oder Wellen am Strand. Wir können es nicht einfach packen, einschließen und für einen Regentag aufheben.
Dennoch haben wir gewisse Chancen, unser Leben mit Glück zu erfüllen. Halten wir an der Hoffnung fest, betonen wir die positiven Faktoren und Möglichkeiten und begegnen wir einander offen und ehrlich. Überdies sollten wir bereit sein, Hilfe anzunehmen, um alte Wunden aufzudecken und zu heilen. Ein Quentchen Humor mag uns unserem Ziel näherbringen, ebenso wie neue Pläne und das Bemühen, sie zu verwirklichen. Wenn wir erst einmal erkennen, daß wir einen Körper, ein Gemüt und eine Seele haben, gilt es sie in Einklang zu bringen und ein harmonisches Ganzes daraus zu formen.
Lassen wir uns auf der Suche nach Glück von unserem Sinn für das Machbare, Beharrlichkeit und Systematik leiten. Ratgeber, Kurse und Workshops können sich ebenso als Hilfe erweisen wie ein Tagebuch. Und wir sollten einfach auf das Glück vertrauen, das häufig unverhofft über uns kommt – auf die gelegentlichen Wunder, die uns auch auf Erden zuteil werden, den Zufall, die Lebenskraft und die göttliche Gnade.
Heute möchte ich aufhören, etwas zu erzwingen. Ich möchte mich gedulden und ich selbst sein.
Inzwischen ist mir klar, daß ich auch ohne weiterführende Schule und Diplom nie aufgehört habe zu lernen.
Lilian Gish
Leben heißt lernen. Dennoch scheinen viele nicht dazu bereit zu sein. Warum nur?
Zum einen müssen wir uns Fehlschläge eingestehen und mit gelegentlichen Mißerfolgen fertig werden, zum anderen aber auch die ganz wichtige Erfahrung machen, aus unseren Fehlern zu lernen und sie dann hinter uns zu lassen. Machen wir das Beste daraus, denn nichts ist schlimmer, als ständig die gleichen Fehler zu begehen. Statt dessen sollten wir uns zuversichtlich auf neue Wege besinnen und offen sein für die Kraft der Veränderung.
Lernprozesse sind an keine Schule gebunden, sie stehen jedem offen. Am meisten lernen wir im Miteinander, wobei wir einmal in die Rolle der Lehrerin und ein anderes Mal in die der Studentin schlüpfen. Ein Kernfach in der Schule des Lebens ist die Ehrlichkeit. Falschheit und Lüge sind im Unterrichtsprogramm nicht vertreten. Auch ein Diplom können wir nicht erwerben, da der Lernprozeß nie endet. Unser Klassenzimmer ist die Welt.
Solange ich lerne, werde ich mich entwickeln. Heute will ich mich etwas Neuem zuwenden.
Warum können uns unsere Kinder nicht wenigstens ein bißchen von der Liebe erwidern, die wir ihnen selbstlos und unter großen Opfern geschenkt haben?
Liebe ist nicht meßbar, auch wenn wir uns zeitweise von unserem Rollendenken darüber hinwegtäuschen lassen. Anstatt schlichtweg Mensch zu sein, sehen wir uns auf die Rolle der Mutter, Tochter, Ehefrau oder Großmutter beschränkt.
Dabei ist es ungeheuer wichtig zu wissen, daß hinter jeder Rolle ein Wesen aus Fleisch und Blut steht. Warum wir dies dennoch oft nicht erkennen, mag daran liegen, daß wir mit vielen Rollen ganz bestimmte Erwartungen verknüpfen. Warum hat mir meine Mutter so vieles erschwert? Warum ließ sie mich hängen, als ich ihr Verständnis und ihre Unterstützung brauchte? Wie konnte mich meine Tochter derart im Stich lassen? Wie sollte ich ihr jemals verzeihen, was sie mir angetan hat? Mit welchem Recht kritisiert mich meine Enkelin? Warum wies mich meine Großmutter gefühllos ab, als ich ihre Liebe und Wärme suchte?
All diese Reaktionen resultieren aus einer bestimmten Erwartungshaltung. Wir sollten uns nicht nur selbst von diesem Rollendenken befreien, sondern auch die anderen, die uns in Liebe zugetan sind. Nur so vermögen wir uns ehrlich in unserer wahren Identität, unseren Gefühlen und Motiven, unseren konkreten Erwartungen und Möglichkeiten zu begegnen.
Heute werde ich rundum reinen Tisch machen. Ich möchte mich von meinen Ansprüchen und Erwartungen an andere freimachen. Von jetzt an soll die Liebe mein Wegbegleiter sein.
Wenn etwas wirklich Schlimmes passiert, bleibt nur die Wahl, das Leben voll zu bejahen oder zu sterben.
James Agee
Es ist oft entscheidend, wie wir uns im Extremfall verhalten, insbesondere wenn uns etwas sehr Schmerzliches, Bedrohliches oder Niederträchtiges widerfährt, das uns zutiefst verletzt oder zerstört.
Lassen wir uns von unseren Emotionen zu Boden drücken oder bringen wir die Kraft auf, wertvolle Lehren daraus zu ziehen und weiterzuleben, ja selbst eine Art Triumphgefühl zu empfinden? Vergessen wir nicht, daß Kraftschöpfen lebenswichtig ist. Die Kraft kann dem individuellen Glauben oder einer engen freundschaftlichen Verbindung entspringen, an einem Vorbild orientiert sein oder einfach aus der Weigerung resultieren, die menschliche Würde aufzugeben. Wenn wir uns stark fühlen, verfügen wir über die Kraft durchzuhalten.
Krisensituationen sind eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Die Entscheidung liegt bei uns. Wenn wir uns in aller Entschiedenheit zum Leben bekennen, vermögen wir ihm eine ganz andere Richtung zu geben. Danach werden wir niemals wieder dieselben sein wie zuvor.
Heute möchte ich versuchen, Unglück und Sorgen hinter mir zu lassen. Ich hole tief Luft und blicke einer besseren Zukunft entgegen.
Eine gute Freundin sein heißt zugleich auch auf andere zugehen, hin und wieder die Initiative ergreifen und ein Treffen vereinbaren, das nicht nachträglich widerrufen wird. Unsere Pläne sind uns teuer, und gute Freunde haben heißt zugleich auch, sich als Freundin zu bewähren.
Freundschaften gehören untrennbar zu unserem Leben. Wir sollten sie pflegen und ihnen Treue und Dankbarkeit entgegenbringen. Dennoch vernachlässigen wir unsere Freunde oft, weil wir uns ihrer zu sicher fühlen. Wir nehmen und nehmen unaufhörlich, ohne zum Geben bereit zu sein. Mit größter Selbstverständlichkeit erwarten wir, daß sie, wenn wir ihrer bedürfen, für uns da sind, obgleich wir ihnen in vergleichbaren Lebenslagen häufig nicht beistehen. Manchmal sehen wir nur ihre Fehler und Schwächen und weigern uns hartnäckig, ihre Stärken herauszukehren oder ihnen Lob zu zollen.
Vermutlich sind wir mit wahren Freunden einfach so vertraut, daß wir meinen, sie wie alte Schuhe behandeln zu dürfen. Sie sind ständig verfügbar, zuverlässig, bequem und treu. Warum sollten wir ihnen dann wie Partygästen begegnen? So sicher fühlen wir uns ihrer, daß es oft nicht einmal einer Erklärung bedarf.
Wir sind selbst bessere Freundinnen, wenn wir sorgsam und pfleglich mit unseren Freundschaften umgehen.
Heute möchte ich über Menschen, die ich mag, nachdenken. Ich werde ihnen am Telefon oder in einem Brief sagen, warum ich sie schätze.
Wenn ich meine Brille abnehme, vermag ich insbesondere in Regennächten die Welt in einem sehr viel schöneren Licht zu sehen, als sie gemeinhin erscheinen mag.
Richard Avedon
Wir sollten versuchen, hinter die Dinge zu schauen, und uns nicht mit Trugbildern zufriedengeben.
Zumindest das Alter müßte uns lehren, daß wahre Schönheit nur wenig oder gar nichts mit einer hübschen Fassade zu tun hat. Mit welchen Augen betrachten wir ein Gebäude oder die Häuserzeilen einer Straße? Auch Bauten, die alt und restaurierungsbedürftig sind, würden wir nicht einfach als baufällig und abrißfähig bezeichnen. Wenn doch, dann wissen wir ihren wahren Wert, ihren beeindruckenden Charakter, ihre geschichtliche Vergangenheit und die Botschaft, die sie der Welt vermitteln, nicht einzuordnen – sie entgehen unserem oberflächlichen Blick, der sich allein von Äußerlichkeiten leiten läßt.
In unserer schnellebigen Welt nimmt man sich aber meist nicht die Zeit für einen zweiten Blick. Und doch gibt es so viel mehr Schönes im Leben, als wir gemeinhin wahrnehmen.
Heute werde ich die Welt ohne Brille ansehen – und schauen.
Ich bin mir bewußt, daß ich nicht ewig leben werde. Kann ich damit umgehen?
Man sollte es schleunigst lernen, besser heute als morgen.
Gewiß verheißen uns Religionen und spirituelle Glaubensrichtungen, daß die Seele oder unsere Persönlichkeit nach dem Tod des Körpers weiterlebt.
Dennoch gilt es sich zunächst einmal einfach dem Hier und Jetzt zuzuwenden. Die Angst vor dem Tod dürften die meisten von uns kennen. Und doch ist er die logische und vorherbestimmte Folge alles menschlichen Daseins. Es mag schwerfallen, sich eingehender mit dem Tod zu befassen, solange man im Leben steht, Freude und Leid erfährt, Probleme bewältigt und Chancen wahrnimmt. Es ist aber ganz wichtig, sich auf die unmittelbar bevorstehenden Schritte dieses Lebens zu konzentrieren, anstatt über das, was danach kommt, zu spekulieren. Zugleich aber sollten wir das Ende nicht aus den Augen verlieren, mit Entschiedenheit unsere Erbangelegenheiten regeln, liebe Verwandte und Freunde bedenken und uns innerlich auf das unausweichliche Ende vorbereiten. Ein erfülltes Leben führen heißt auch Raum schaffen für das, was kommt.
Ich bin mir der Unausweichlichkeit meines Endes bewußt, konzentriere mich auf das Wesentliche und gehe mit offenen Augen der Zukunft entgegen.
Die eine meiner beiden erwachsenen Töchter ist lesbisch und lebt mit einer anderen Frau zusammen; die andere ist im Gefängnis. Beide wissen, daß ich ihre Lebensweise mißbillige. Inzwischen schreibt mir nur noch meine eine Tochter aus dem Gefängnis.
Es gibt kaum etwas Schlimmeres im Leben, als wenn wir uns von jenen abkapseln, die es nicht hinnehmen, daß wir uns in ihr Leben einmischen.
Wenn wir uns das Recht herausnehmen, das Leben anderer nach unseren Vorstellungen zu lenken, koppeln wir unsere Liebe an Bedingungen. Nichts aber widerspricht der Liebe mehr als Abhängigkeiten. Wahre Liebe ist vorbehaltlos, sie läßt keine Klauseln zu.
Wir können nicht lieben und zugleich über ein anderes Leben herrschen, sonst verfangen wir uns in einem untragbaren Konflikt. Lieben heißt Vertrauen haben, ganz gleich unter welchen Umständen, denn wahre Liebe versagt sich nicht.
Warum sollte ich urteilen, solange ich liebe? Heute möchte ich all die umarmen, die mir etwas bedeuten. Ich möchte sie vorbehaltlos akzeptieren.
Als Single in fortgeschrittenem Alter habe ich mein gesichertes Auskommen und vielseitige Interessen. Dennoch fällt mir das Leben ohne Partnerschaft außerordentlich schwer.
Es ist die natürlichste Sache der Welt, daß wir uns nach Gemeinschaft sehnen. Aber viele Menschen sind allein. Einige haben immer allein gelebt, andere ihren Ehepartner verloren, wieder andere sind geschieden. Aber die Ironie des Schicksals will es, daß jene, die in einer festen Beziehung leben, oftmals die Alleinstehenden beneiden.
Wie kommt es, daß uns das Gras auf der anderen Seite des Zauns stets grüner erscheint? Die Frage läßt sich nur so beantworten, daß wir, in der Partnerschaft oder als Single, Wege der Selbstbestätigung finden müssen. Das Zusammenleben mit anderen ist nicht der einzige Weg dazu. Denn ein erfülltes Leben verdanken die meisten von uns keineswegs anderen Menschen.
Noch einen Schritt weiter in dieser Erkenntnis geht die Dichterin Marianne Moore, die als bestes Heilmittel gegen das Alleinsein die Einsamkeit nennt. Wir müssen das Alleinsein lernen, die Dämonen bändigen und Frieden finden. Diesen Frieden finden wir aber weder in pausenloser Beschäftigung noch in der Abhängigkeit von anderen.
Ich möchte mich daran gewöhnen, mit mir selbst zusammenzusein, selbst wenn ich mit jemandem zusammen bin.
Sich verwirrt zu fühlen ist der Anfang des Wissens.
Kahlil Gibran
Wie oft zeigen wir uns den Gefühlen der anderen gegenüber irritiert oder gar intolerant?
Noch empfindlicher reagieren wir auf die Art und Weise spontaner Gefühlsausbrüche. Wir akzeptieren zwar, daß bei bestimmten Anlässen in der Öffentlichkeit geweint wird – aber ansonsten doch bitteschön die Grenzen des guten Geschmacks wahren! Sich der menschlichen Sensibilität und Verletzlichkeit gegenüber verschließen kommt jedoch einer generellen Verarmung und Gefühlskälte gleich. Nur wenn wir Gefühle als Teil unseres menschlichen Miteinanders akzeptieren, werden wir sie verstehen lernen. Vergessen wir nicht, daß Verstehen zugleich Wissen heißt. Setzen wir dieses Wissen an Stelle der Irritation, der Unsicherheit, der Intoleranz und einer weit verbreiteten Hilflosigkeit im Umgang mit Gefühlen. Wenn wir uns offen zu unseren Gefühlsäußerungen bekennen, werden wir begreifen, daß sie kein Zeichen unserer Schwäche, sondern vielmehr Ausdruck unserer Sensibilität und Wärme sind.
Ich möchte versuchen, offen zu sein für die ehrlichen und unverhohlenen Gefühle der anderen.
Ich habe gelernt, meinen Schmerz schrittweise zu bewältigen. Auf diese Weise werde ich die nächste halbe Stunde durchstehen und auch für die übernächste gewappnet sein.
Es gibt eine Grenze dessen, was wir auf einen Schlag verkraften können. Wenn wir versuchen, unser ganzes Leben zu rekapitulieren, werden wir rasch merken, daß wir überfordert sind und im dunkeln tappen.
Gelingt es uns aber, zwischen den einzelnen Etappen unserer Biographie zu unterscheiden und uns rückblickend lediglich mit einem bestimmten Abschnitt zu befassen, so haben wir sehr viel bessere Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung. Schmerz läßt sich mit nichts vergleichen. Er fordert uns ganz, wird uns zugleich aber auch vertraut. Wir gewöhnen uns an sein Kommen und Gehen. Phasen extremer Belastung über einen längeren Zeitraum zu ertragen kann allerdings verheerende Auswirkungen haben. Nur wenn wir einen Sinn für das Machbare entwickeln, werden wir fähig sein, mit unserem Schmerz umzugehen.
In gewisser Hinsicht gleicht das Leben selbst dem Schmerz. Wir werden es kaum in einem Zug durchleben können, es wäre auch nicht der Sinn der Sache. Aber wenn wir es in überschaubare Abschnitte gliedern, werden wir mit der Zeit lernen, wie wir ihm begegnen, wenn uns der Schmerz zu überwältigen droht – und ihm Positives entgegensetzen.
Ich möchte das Leben nicht als Ganzes betrachten, sondern als eine großartige Sammlung kostbarer Fragmente.
Die alten Tage? Welche alten Tage? Ich erinnere mich an nichts. Was würden sie mich auch kümmern, solange ich heute lebe?
Rodney Hall
Es ist schon tragisch, mit ansehen zu müssen, mit wieviel Verbissenheit und Kurzsichtigkeit manche lediglich dem Augenblick leben – gleich Motten, die auf eine offene Flamme zufliegen. Dabei handelt es sich häufig um Menschen, die den Höhen und Tiefen der Vergangenheit gegenüber blind sind und keinerlei Wink für die Gegenwart darin erkennen.
Und dennoch gehören die alten Tage zu unserem Leben. Manche bleiben uns als gut, andere als schlecht in Erinnerung – immer aber sind sie uns Lehrmeister. Wir erkennen uns darin wie in einem Spiegel. Unsere Eltern sind uns im Alter ebenso Leitfiguren wie unsere Geschwister, Großeltern, Freunde und Freundinnen aus Kindertagen und Autoritätspersonen aus der Schulzeit. Manche haben wir nur noch unklar vor Augen, wenngleich sie in unseren Träumen bisweilen zum Leben erwachen. Deshalb sollte in unserer Erinnerung Raum sein für Wegbegleiter, die uns mit der Zeit lieb geworden sind, Orte, die uns faszinierten, Kindheitserlebnisse und Meilensteine, die unser Erwachsenwerden markierten.