Sven Birkerts
Die Gutenberg-Elegien
Lesen im elektronischen Zeitalter
Aus dem Amerikanischen von Kurt Neff
FISCHER Digital
Sven Birkerts, Jahrgang 1951, Universitätsdozent und Literaturkritiker, hat preisgekrönte Bücher zu Themen zwischen Literatur und elektronischen Medien verfaßt. Er schreibt regelmäßig für die ›New York Times Book Review‹.
Leidenschaftliche und melancholische essayistische Variationen über das Lesen, allen Bücherfreunden zum Trost, die sich den Verheißungen der schönen neuen Bildschirmwelt nicht restlos überlassen wollen.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561705-2
Eine seit über einem halben Jahrhundert vertriebene, in Pappbänden massenproduzierte billige Kinderbuchserie aus dem Verlag Golden Press, New York, deren Markenzeichen der goldfarbene Buchrücken ist. – A.d.Ü.
Eine der zahlreichen populären Jugendbuchserien des Stratemeyer Literary Syndicate, einer von dem Erfolgsautor Edward Stratemeyer (1862–1930) 1906 gegründeten Jugendliteraturfabrik; viele Romane der Serie stammen aus der Feder von Stratemeyers Tochter Harriet Stratemeyer Adams (1893?–1982).–A.d.Ü.
Die Polemik gegen die Änderung des Lektürekanons läßt sich auch als Plädoyer für das Verharren in alten, eingeschliffenen Reflexen und Routinen interpretieren. Und der Ruf nach multikultureller Repräsentation im Lehrplan ist von daher gesehen vielleicht ein letzter, verzweifelter Vorstoß, um eine Verbindung mit dem dahinschwindenden Erbe des Buchdrucks aufrechtzuerhalten. Das entpräche einer einfachen Logik. Wenn eine Ressource gefährdet ist – knapp wird –, wird sie zum Gegenstand von Verteilungskämpfen. In diesem Fall geht es um die Verfügung über das Einflußpotential von Texten in einem zunehmend textfeindlichen Zeitalter. Auf dem Spiel steht die Zukunft der Buchkultur und des Lesens an sich, und eine dunkle Ahnung dieses Sachverhalts treibt die eine wie die andere der streitenden Parteien an.
Wie Katha Pollitt in ihrem vielzitierten Artikel in The Nation scharfsinnig argumentierte: Wären wir ein Volk von Lesern, gäbe es gar kein Problem. Kein Mensch sähe einen Anlaß zum Streit in der Frage, ob Toni Morrison in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden soll, denn ihre Bücher stünden sowieso als Standardgerichte auf dem Küchenzettel eines jeden der zahllosen Leser. Daß die Lektürelisten auf einmal so wichtig sind, liegt daran, daß sie in sehr vielen Fällen die einzigen Werke der seriösen Literatur benennen, mit denen der Schüler aller Voraussicht nach jemals Bekanntschaft machen wird. Wer über den Inhalt der Listen entscheidet, hat die beste Ausgangsposition im Kampf um die Herzen und Hirne der Jugend.
Vgl. McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf, Wien 1968.
Zum Beispiel kann man jene Szene zu Beginn des Essays »Das elektronische Jahrtausend« als Allegorie des heutigen Zustands der Geisteswissenschaften auffassen; auch in Deutschland wechseln zur Zeit zahlreiche ehemalige Philologen mit fliegenden Fahnen in das Lager der Kommunikations- und Medienwissenschaftler über, um »den Abstand zwischen der Wissenschaft und dem modernen Leben (zu) verringern. Aber niemand merkt, daß auch die Germanistik ebensowenig ›Medienwissenschaft‹ werden, wie ein Ornithologe nach dem Aussterben der Vögel auf den Flugzeugbau umsatteln kann.« (Thomas Steinfeld, »In der heißen Luft der Abstraktion. Wie ein Räuber auf der Lauer nach Beute: Das falsche Versprechen der Kulturwissenschaften«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geisteswissenschaften, 4. September 1996 S.N5.) Zu befürchten ist, daß die Germanistik wie auch die meisten anderen Geisteswissenschaften in nicht allzu ferner Zukunft aussterben werden.
Die Gedächtniskunst war in der Antike Bestandteil der allgemeinen Rhetorik und diente dem Memorieren von Reden; in zwei der drei wichtigsten Quellen zur Gedächtniskunst (Cicero De oratore, Quintilian Institutio oratoria) wird das Einprägen des Textes mit dem Beschriften einer Wachstafel verglichen und damit eine Analogie aufgestellt, die die Vorstellung von der Funktionsweise des Gedächtnisses und des Bewußtseins bis zu Freuds »Notiz über den ›Wunderblock‹« beeinflußte.
Vgl. Freud, Sigmund, »Notiz über den ›Wunderblock‹«, in: ders., Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Band III, Frankfurt a.M. 1975.
Vgl. Havelock, Eric A., Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, mit einer Einleitung von Aleida und Jan Assmann, Weinheim 1990.
Vgl. Walser, Martin, »Hölderlin auf dem Dachboden«, in: ders., Liebeserklärungen, Frankfurt a.M. 1986, S. 33–48.
Walser 1986, a.a.O., S. 44.
Walser 1986, a.a.O., S. 47.
Walser 1986, a.a.O., S. 48; vgl. hierzu auch S. 97ff. im vorliegenden Band und Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bd. 1. In Swanns Welt, Frankfurt a.M. 1979, S. 115ff.; Proust erläutert in diesem Abschnitt sehr genau, wodurch es dem Romanschriftsteller gelingt, dem Leser einen Zugang zur Wirklichkeit, zum Empfindungsleben anderer Menschen und zur eigenen Innenwelt zu verschaffen.
Flusser, Vilém, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim 19932, S. 79 u. 39.
Flusser 19932, a.a.O., S. 39.
Flusser 19932, a.a.O., S. 40.
Goethe, Johann Wolfgang von, Faust 1, in: Goethes Faust. Gesamtausgabe, Leipzig o.J., S. 169; vgl. hierzu auch Kittler, Friedrich, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 19872, S. 14ff.
Die für jeden, der sich dem Legalitätsprinzip verpflichtet fühlt, absurd anmutende Debatte über eine vermeintliche Zensur im Internet, wo es um ein Verbot von pornographischen Darstellungen ging, gibt einen ersten Vorgeschmack davon, was passiert, wenn der Abschied von der Gutenberg-Galaxis auch ein Abschied von der in nationalen Gesetzbüchern festgeschriebenen Rechtsstaatlichkeit ist.
Natürlich muß an dieser Stelle auch das Gemälde erwähnt werden, das Birkerts im Kapitel »Die Frau im Garten« beschreibt.
Vgl. Andersch, Alfred, Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970, S. 39f.
Vgl. im vorliegenden Band S. 110ff.
Paul Virilio zitiert nach Altweg, Jürg, »Die Geburt der Technik aus dem Geist des Krieges«, in: Frankfurter Allgemeine-Magazin vom 16. August 1996, S. 14.
Eich, Günter, »Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises« (1959), in: Gesammelte Werke Band IV, Frankfurt a.M. 1991, S 626.
Eich 1991, a.a.O., S. 620.
Eich 1991, a.a.O., S. 625f.
Bezeichnenderweise wurden schon sehr früh für den Computer, der wie kaum ein anderes Instrument zur Vereinsamung seiner Benutzer beiträgt, Programme entwickelt, die die Sprache eines Therapeuten imitieren. Das erste Programm dieser Art mit dem Namen ELIZA schrieb J. Weizenbaum in den sechziger Jahren. Weizenbaum, der während der Nazi-Diktatur aus Deutschland floh, zählt heute zu den schärfsten Kritikern von Therapieprogrammen. Für ihn evoziere die Vorstellung, daß Leute den Computer als Psychotherapeuten akzeptieren, eine moralische und emotionale Fühllosigkeit, die den Holocaust ermöglicht habe; vgl. Turkle, Sherry, Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York 1995.
Unserem Neuzugang Liam Thomas und dem Rest der Familie – allen drei Generationen
Ich möchte auch der Lila Wallace-Reader’s Digest Foundation für großzügige Unterstützung während der Abfassung des Manuskripts und meiner Lektorin Fiona McCrae für Ansporn danken
»Was hat Gott zuwege gebracht?«
Samuel Morse
(in seiner ersten
telegraphischen Botschaft)
Die einfache, wenn auch drastische Prämisse, die der Antrieb zum Schreiben dieser Essays war und sie als roter Faden zusammenhält, sei unverzüglich offengelegt: Im Laufe der unmittelbar hinter uns liegenden Jahrzehnte, in einem historischen Nu, hat sich mit unserer Kultur etwas angebahnt, das einer vollständigen Metamorphose gleichzukommen verspricht. Der triumphale Vormarsch elektronischer Kommunikations- und Informationsverarbeitungstechnologien, für den die stetige Verbesserung des Mikroprozessors die Wege ebnete, hat in kürzester Zeit einen Zustand kritischer Masse herbeigeführt. Auf einmal lebt man in dem Gefühl, daß alles auf dem Sprung ist, sich zu ändern; die langsamere Welt, die viele von uns als Heranwachsende noch kennengelernt haben, schrumpft im Rückspiegel. Die dauerhaften hierarchischen Strukturen der gedruckten Seite – eine der konstitutiven Normen jener Welt – werden von Impulssalven in den allerneuesten »Chips« abgelöst. Die Verdrängung der Druckseite durch den Monitor ist noch keine totale (wie das Buch in Ihren Händen beweist) – und wird vielleicht nie eine totale sein –, aber der generelle Trend in diese Richtung ist wohl für niemanden, der Augen im Kopf hat, zu verkennen. Der Wechsel ist natürlich nur eine Facette eines weiterreichenden Transformationsprozesses, der ganze Volkswirtschaften umfaßt und auf allen Ebenen in das menschliche Dasein eingreift. Aber da wir ja inmitten zahlloser eng verknüpfter Beziehungsgeflechte leben, können wir sagen, daß Veränderungen im unmittelbaren Horizont des Buchdrucks nach draußen auf das große Ganze verweisen; sie bilden den Tumult der sozialen Kräfte in verkleinertem Maßstab ab.
Der Totalansicht fühle ich mich nicht gewachsen – es fehlt mir sowohl an Wagemut wie an technologischem Sachverstand. Statt dessen konzentriere ich mich lieber auf die verschiedenen Formen, in denen der Innovationsschock sich in der literarischen Praxis, vornehmlich der Lesekultur, niederschlägt und fortpflanzt. Dabei gehe ich in zwei Etappen vor. Zunächst entwickle ich – als Extrapolation aus eigenen Leseerfahrungen – eine unsystematische und hochgradig subjektive Ökologie des Lesens, um sodann die verschiedenen Elemente oder Kräfte zu benennen, von denen dieser Komplex empfindlicher Gleichgewichtslagen bedroht wird. Man wird feststellen, daß meine Ausführungen zum Lesen mitunter ziemlich umstandslos in Ausführungen zum Schreiben und späterhin zur Literaturkritik übergehen. Das ist nicht Zerstreutheit oder Nachlässigkeit, sondern der schuldige Tribut an die natürliche Verwandtschaft aller Facetten des literarischen Lebens.
Seit einer Reihe von Jahren breite ich jetzt auf dem Papier und in Gesprächen meine Ideen aus und habe mich mit der Zeit in meinen Grundannahmen so wohnlich eingerichtet wie in einem gemütlichen Zimmer. Sie sind mir so vertraut und in meinen Augen so selbstverständlich, daß ich stets aufs neue verblüfft bin, wenn ich wieder einmal feststelle, daß sie, um das mindeste zu sagen, nicht von aller Welt geteilt werden. Die sogenannte »Maschinenstürmer«-Haltung ist heutzutage nicht sonderlich populär, jedenfalls nicht bei der »fortschrittlichen« Intelligenz. Im fortschrittlichen Lager setzt man Primitivismus oder Antimodernismus in Sachen Technologie gern mit einer konservativen Mentalität gleich, wie sie der Nationale Schützenverein repräsentiert. Offenbar geht man dabei stillschweigend davon aus, daß die neue Technologie eine lupenrein liberale Angelegenheit sei. Wer sich jedoch auch nur einen Moment lang auf die elektronischen Aktionsforen unserer Fernsehevangelisten oder das elektronische Instrumentarium der Denkfabriken unseres Verteidigungsministeriums besinnt, muß an dieser Vorstellung irre werden. Ich glaube nicht, daß sich die Technologiefrage in herkömmliche politische Raster einordnen läßt.
In meinem engeren Umfeld sehe ich Bekannte und Kollegen, die den großen kulturellen Durchblick haben, vielfach so weitermachen, als änderte sich im Grunde sehr wenig, als lebten wir in einem essentiell statischen Milieu. Was ich vorbringe, quittieren sie mit Achselzucken und Anzeichen von Ungeduld, die besagen: »Hackst du immer noch auf den Computern und dem Fernsehen herum?« Und ich kann an Gesichtspunkten und Beweisen offerieren, was ich will, man hält mir auf alles die »Nichts als«-Erklärung entgegen. Der Schreibcomputer, das Notebook? »Nichts als ein Werkzeug, ein effizienteres Mittel für …« Elektronische Bulletin Boards (»Schwarze Bretter« oder »Anschlagbretter«) und Netzwerke? »Nichts als Kommunikationsmedien wie andere auch.« Demnächst Bücher auf CD? »Wo ist der Unterschied? Die Wörter ändern sich ja nicht …« Von denselben Leuten wird man nicht selten auch belehrt, daß es den Schriftstellern ausgezeichnet gehe, die Verlagsbranche gesund sei und das Lesepublikum lese wie nie zuvor. Manchmal frage ich mich, ob meine umsichtigen Bekannten und ich in derselben Welt leben.
Diese Menschen – meine freundlichen Gegner im Meinungsstreit, einschließlich all der wohlmeinenden Empiriker, die mit Blick auf unsere Lebensumstände so gern betonen, daß »plus ça change, plus c’est la même chose« – bilden die vorderste Reihe des Publikums, an das ich mich wende. Ihre Äußerungen und Einwände, wirkliche und gedachte, gehen mir beim Schreiben im Kopf herum. Ich habe lange und angestrengt darüber nachgedacht, warum sie meine These von der grundstürzenden Transformation der Gesellschaft nicht akzeptieren wollen oder können. Leiden sie an der speziellen Kurzsichtigkeit der Empiriker, frage ich mich, oder hänge ich einem Wahn nach? Naturgemäß halte ich mich lieber an die Überzeugung, daß der Fehler bei ihnen liegt – daß sie nicht glauben können, was sie nicht geschehen sehen, und daß sie den Wandlungsprozeß, der um uns herum im Gang ist, nicht sehen können, weil sie sich nicht aus ihrer Verhaftung an ein synchronisches Weltbild zu befreien vermögen. Sie haben zumeist keinerlei Interesse daran, sich im Geist in vergangene oder zukünftige Zeiten zu versetzen – sie halten sich lieber an das Hier und Jetzt.
Ebendiese Leute möchte ich bitten, sich das häusliche Leben in Amerika einmal im Zeitrafferverfahren dokumentiert vorzustellen – sich eine im Schnelldurchlauf vorgeführte filmische Langzeitstudie zu denken, die das Alltagsdasein eines US-Bürgers oder einer Gruppe von US-Bürgern über, sagen wir, vier Jahrzehnte hinweg verfolgt. Lassen wir sie beobachten, was sich im Erscheinungsbild des Alltags tut: wie seit den fünfziger Jahren zahllose neue Technologien aufkommen und sich einbürgern, und wie sich dadurch elementare Verkehrsformen ändern. Um die Jahrhundertmitte besitzt ein durchschnittlicher Haushalt einen Radioapparat und ein Wählscheibentelefon, und in einer kleinen Gruppe von Pionieren hat man außerdem noch einen Schwarzweißfernseher. Sehen wir uns in demselben Milieu in den neunziger Jahren um, finden wir dort mehrere Farbfernseher mit Fernbedienung, Videorecorder und Spielkonsole, dazu PC, Modem, Faxgerät, schnurloses Telefon, Anrufbeantworter, Mobiltelefon, CD-Spieler, Camcorder und anderes mehr. Wird die Zeitraffung hinreichend beschleunigt, tritt der dramatische Wandel unverhüllt in Erscheinung. Innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem halben Jahrhundert sind wir aus einem Zustand wesensmäßigen Für-sich-Seins in einen Zustand intensiver und nahezu unausgesetzter Mediennutzung übergewechselt. Eine elektronische Gardine hat sich zwischen uns und die sogenannte »Außenwelt« geschoben. Die Vorstellung, auch nur einen Tag (ganz zu schweigen von einer Woche) abgeschnitten vom Zugriff auf unseren kompletten Gerätepark verbringen zu müssen, hat für uns etwas Unerhörtes, ja Unheimliches.
Nur zum Teil greift dieser enorme Wandel in den Literaturbetrieb direkt ein. Die globale Umgestaltung der Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens hat jedoch zwangsläufig immense Auswirkungen auf die Kultur des Schreibens und Lesens. Das vordem stabile System – die Achse Schriftsteller-Leser mit der Trias Lektor-Verleger-Buchhändler in der Mitte – wird langsam zur Brezelform umgebogen. Was der Schriftsteller schreibt, und wie er schreibt, wie er redigiert und verlegt und verkauft und dann gelesen wird – all die alten Selbstverständlichkeiten stehen ausnahmslos zur Disposition. Und das sind nur die äußeren Symptome. Noch tiefer greifende Veränderungen finden im subjektiven Bereich statt. In dem Maße, wie sich die Situation des gedruckten Buches und der Buchkultur – des Bücherschreibens und -lesens – verändert, weil elektronische Medien erfolgreich die Vorherrschaft beanspruchen, ändern sich auch »Stimmungslage« und »Erlebnisqualität« der Beschäftigung mit Literatur. Schreiben und Lesen bekommen anderen Sinn und andere Bedeutung. Während die Welt weiterwirbelt, ihrem geheimnisvollen Stelldichein entgegen, wird der altbekannte Akt des langsamen Lesens eines seriösen Buches zu einem elegischen Unterfangen. Das Nachdenken über diesen Akt führt uns zwangsläufig vor inhaltsschwere Fragen nach unseren erklärtermaßen humanistischen Werten, nach dem Zwiespalt zwischen geistigem und materiellem Interesse und nicht zuletzt nach der Subjektivität selbst.
Diese und viele andere Dinge fasse ich in den folgenden Essays ins Auge. Ich erhebe freilich keinen Anspruch auf Unparteilichkeit. Ja, ich habe mich sogar nach Kräften bemüht, den Ton von jemandem zu vermeiden, der allem etwas Gutes abzugewinnen sucht. Ich spreche als unverbesserlicher Leser, als einer, der nach wie vor glaubt, daß nicht die Technik, sondern die Sprache das wahre Wunder der Evolution ist. Ich habe mich noch nicht von der Überzeugung verabschiedet, daß das Erleben von Literatur eine Weisheit vermittelt, die nirgends sonst zu finden ist, daß Tiefgründigkeit allein schon in der Begegnung mit den Wörtern liegt, unabhängig davon, was ein Autor darüber hinaus an Tiefgründigkeiten zu bieten hat, und daß das gebundene Buch für das geschriebene Wort das ideale Medium ist.
Es sind in mancher Hinsicht pessimistische Perspektiven, die hier aufgetan werden. Pessimistisch auf jeden Fall, wenn wir die Lage der Dinge am alten humanistischen Axiom von der Souveränität des Individuums messen. Die einschlägigen Essays sind Extrapolationen, Prognosen, Warnungen. Sie finden allerdings ein Gegengewicht – wenn auch leider nicht ihre Widerlegung – in einer Anzahl von Stücken, die im Geist der Feier geschrieben wurden. Wenn die Vorzeichen der schönen neuen Zukunft mir Mut und Kraft zu rauben begannen, suchte ich Zuflucht bei den Büchern. Ich las und dachte über das Lesen nach, und in einer Anzahl von Betrachtungen zu dem Thema ließ ich meinen alten Vorlieben und Neigungen die Zügel schießen. Diese Abschnitte stellen das glaubensfeste Herz meines nicht immer freudebringenden Unternehmens dar.
Mein Buch umkreist zwar eine zentrale Prämisse, ist aber gleichwohl nicht das, was in der Sprache meiner fünfjährigen Tochter »Kapitel-Buch« heißt. Will sagen: Das Sujet wird nicht in linearer Folge entwickelt, sondern in einer Form dargeboten, die sich in meinem Denken als organische Büschelung nach Art von Trauben oder Dolden abbildet. Jeder Essay wurde als selbständige Einheit konzipiert; jeder erwuchs aus einem speziellen privaten Zwang. Da aber viele in der ein oder anderen Hinsicht auf der zentralen Prämisse aufbauen, waren gewisse thematische Reprisen nicht zu vermeiden. Sie auszumerzen käme einem Sabotageakt an den einzelnen Essays gleich. Ich hoffe – zuversichtlich –, daß die Reprisen nicht simple Wiederholungen sind, sondern tatsächlich unterschiedliche Perspektiven auf eine kulturelle Situation, der gar nicht genug Beachtung zuteil werden kann. Die gleiche Nachsicht erbitte ich, ohne etwas zur Entschuldigung anführen zu können, für die Mischung aus diskursiver und autobiographischer – oder unparteiischer und parteiischer – Schreibweise. Das Thema Lesen fesselt mich zu stark und betrifft zu sehr den Kern meiner Persönlichkeit, als daß ich ihm gegenüber die Objektivität des unbeteiligten Beobachters wahren könnte. Die intimeres Gepräge tragenden Essays am Anfang des Buches sollten als der Humus verstanden werden, in den die Keime der späteren Betrachtungen eingebettet wurden. Alles auf diesen Seiten entspringt letzten Endes dem privaten Ich – dem Ich des verträumten Gesellen mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien.