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Buch

Sie verlor ihre Tochter an dem Tag, an dem die Bombe fiel. Ama hatte sich mit Yuko verabredet, um mit ihr über den Mann zu sprechen, den Yuko so liebte und Ama gleichermaßen verabscheute. Doch dazu kam es nie. Ama war zu spät – und ihre Tochter und ihr Enkel tot. Ama ließ Nagasaki hinter sich, wanderte nach Amerika aus, aber der Schmerz blieb. Nie konnte sie sich verzeihen, gab sich selbst die Schuld am Tod, ja sogar am Schicksal ihrer Tochter. Sie zog sich immer mehr zurück und lebte in ihrer eigenen Welt voll Trauer und Schmerz – bis ein junger Mann an ihre Tür klopft. Er sagt, er sei Hideo, ihr totgeglaubter Enkel. Zuerst will sie ihm nicht glauben, doch dann öffnet sie ihr Herz und lässt die Hoffnung herein …

Autorin

Jackie Copleton unterrichtete Englisch in Nagasaki und Sapporo, bevor sie wieder nach England zurückkehrte und als Journalistin arbeitete. Die Farbe von Winterkirschen ist ihr erster Roman, der von der Presse hochgelobt wurde. Außerdem wurde er gleich für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert und von den englischen Lesern von Richard und Judys Buchclub als bestes Buch 2016 auserkoren.

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Jackie Copleton

DIE FARBE
VON WINTER-
KIRSCHEN

Roman

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »A Dictionary of Mutual Understanding« bei Hutchinson, Penguin Random House UK, London.


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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Jackie Copleton

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017
by Limes in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

NG · Herstellung: sto

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17145-2
V001

www.limes-verlag.de

Für Robert Brooks und William Copleton

Ich hatte sehr großen Durst, deshalb habe ich nach Wasser gesucht.

Auf der Pfütze, die ich fand, schwamm Öl.

Aber ich hatte solchen Durst.

Also habe ich das Wasser trotzdem getrunken.

Neunjähriges Mädchen, verletzt beim Atombombenabwurf auf Nagasaki am 9. August 1945

Die Stimme der Wellen

die sich vor mir erheben

ist nicht so laut

wie mein Weinen

weil ich vergessen wurde.

Tausend Jahre altes japanisches Gedicht

Erdulden

Yasegaman: Die Kombination aus yaseru (Gewicht verlieren) und gaman-suru (etwas ertragen) bedeutet im wahrsten Sinn des Wortes, bis zum völligen Abgezehrtsein durchzuhalten oder etwas um des Stolzes willen zu ertragen. Die Anthropologin Ruth Benedict sagte einmal, die japanische Kultur beruhe auf Scham, die amerikanische auf dem Begriff der Sünde oder des Schuldgefühls. Verliert jemand in einer von Scham geprägten Gesellschaft sein Gesicht, wird sein Ego zerstört. Die Samurai galten beispielsweise als überaus stolze Männer. Waren sie zu arm, um sich etwas zu essen kaufen zu können, steckten sie sich Zahnstocher in den Mund, um den Anschein zu erwecken, sie hätten gerade eine Mahlzeit zu sich genommen.

Selbst im gnädigen Halbdunkel war sein entstelltes Gesicht deutlich zu erkennen. Der Mann vor meiner Tür hatte die Schultern gegen die Kälte des Wintermorgens hochgezogen. Trotz seiner Narben sah ich auf Anhieb, dass er Japaner war und in den Vierzigern oder Fünfzigern sein musste. Ich kannte Narben wie die seinen, noch schwärzer, aus einem anderen Leben. Er trug einen Anzug, aber keinen Mantel, und hielt eine Aktentasche in den verschränkten Händen. Mit einem Räuspern verbeugte er sich und bat um Entschuldigung für die Störung – obwohl ich den Kyushu-Akzent seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte, erkannte ich ihn auf Anhieb wieder. Er erkundigte sich, ob ich Amaterasu Takahashi sei, worauf ich trotz meines mulmigen Gefühls nickte. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte … ein Lächeln? »Wenn das so ist, bringe ich gute Neuigkeiten.«

Nur wenige verirrten sich vor meine Haustür, bestenfalls Versicherungsvertreter und Wanderprediger, für deren Dienste ich jedoch keine Verwendung hatte. Doch trotz der Aktentasche wirkte der Mann nicht wie ein Vertreter. Er blickte zu Boden und holte tief Luft, als müsse er all seinen Mut zusammennehmen. In diesem Moment brach die silbrige Sonne durch die Wolken, sodass ich das volle Ausmaß seiner Verwundung erkennen konnte. Die Narben machten es unmöglich, seine Miene zu lesen, doch sein Tonfall war unbeschwert, als er zu sprechen begann.

»Ich habe so lange von diesem Tag geträumt. Wenn man es sich genau überlegt, ist es ganz unglaublich.« Er schien auflachen zu wollen. »Es grenzt sogar an ein Wunder … und gleichzeitig ist es ein Schock.« Wieder verbeugte er sich, dann stand er da, die Arme fest gegen die Seiten gepresst. »Bitte, haben Sie keine Angst. Mein Name ist Hideo Watanabe.«

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand und schwieg. Erst als er mich fragte, ob ich mich setzen wolle, erwachte ich aus meiner Erstarrung und betrachtete ein weiteres Mal, was von seinem Gesicht übrig geblieben war. Hideo ist sieben Jahre alt. Sein Haar ist ordentlich gekämmt, und er trägt seine Schuluniform. Seine Hand liegt in meiner, als wir den Gartenweg entlanggehen. Auf dem Futtertisch des Vogelhäuschens sitzt eine Gottesanbeterin. Er fragt, ob er sie als Haustier halten darf. Nein, sage ich. Am Schultor winkt er mir noch einmal zu. Das ist Hideo Watanabe. So soll er in meiner Erinnerung weiterleben, hatte ich beschlossen. Der Mann, der vor mir stand, war ein Hirngespinst. Ich hatte zu lange um Hideo getrauert, um an eine Wiederauferstehung zu glauben.

»Sie können gar nicht Hideo sein. Er ist tot. Es tut mir leid.«

»Bestimmt ist es kaum vorstellbar für Sie. Vielleicht brauchen Sie einfach nur Zeit.«

»Bitte gehen Sie jetzt. Ich möchte, dass Sie gehen.«

Der Mann nickte und zog eine Visitenkarte aus seiner Anzugtasche. Er wohne im Penn’s View Hotel, meinte er, und sein Rückflug gehe erst in ein paar Tagen. Ich wollte die Karte nicht. Wieder verschwand seine Hand in seiner Tasche, und diesmal zog er einen Brief hervor; er war ganz zerknittert, vom Alter oder von der langen Reise, die er zurückgelegt hatte. »Dieser Brief wird Ihnen erklären, weshalb ich heute hier bin und es so lange gedauert hat, Sie zu finden.« Wieder stand ich nur reglos da. Seine Hand mit dem Brief und der Visitenkarte zitterte. »Bitte, es wird Ihnen zwar schwerfallen, ihn zu lesen, aber er hilft auch zu verstehen.«

Sekunden vergingen, ehe ich beides entgegennahm und meinen Namen in der linken oberen Ecke las. Er nahm seine Aktentasche. »Wenn Sie wirklich Hideo Watanabe sind, wissen Sie auch, was wir an diesem letzten Morgen im Garten gesehen haben«, sagte ich, als er sich zum Gehen wandte.

»Ich bitte dich, diesen Brief zu lesen. Das ist ein Anfang. Es ist so schön, dich zu sehen, Großmutter. Wirklich.« Seine Worte hingen zwischen uns, hauchzart wie die Fäden eines Spinnennetzes in der Sommerbrise.

Er hob seine klauenartige Hand zum Gruß und ging davon. Ich gebe zu, seine Stimme beschwor tatsächlich das Echo der Vergangenheit herauf. Für einen kurzen Moment glaubte ich, das gemessene Stakkato meiner Tochter Yuko zu hören, trotzdem rief ich ihm nicht hinterher, er solle zurückkommen.

Menschliche Gefühle

Ninjo: Liebe, Zuneigung, Mitgefühl und Sympathie gelten bei den Japanern als die wichtigsten Regungen, die alle Menschen besitzen sollten. Der enge Zusammenhalt ist eine der zentralen Säulen der japanischen Gesellschaft, und der sorgsame Umgang mit dem Mitmenschen wird als Tugend betrachtet. Angenommen, jemand bekommt eine ganze Ladung Äpfel von Verwandten geschenkt. In diesem Fall ist es völlig normal, einen Teil davon an Nachbarn abzugeben, da die Idee des Gebens und Nehmens auf der Überzeugung basiert, dass man stets auf andere zählen können sollte.

Ich versuche mir vorzustellen, wie Yuko heute aussehen würde, wäre sie noch am Leben, doch stattdessen sehe ich nur eine dünne Gestalt vor mir, ausgemergelt von den Entbehrungen und den Sorgen des Krieges, den Kopf gesenkt unter der Last, die sie auf ihren Schultern trägt. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir auf einer Kirchenbank. Von Westen einfallendes Licht erhellt ihr schulterlanges Haar. Ich verspüre den Drang, ihren Namen zu rufen und sie zu warnen, nach Hause zu gehen. Sie muss weg, weit weg von Urakami, doch die Worte kommen nicht über meine Lippen. Stattdessen sehe ich, wie sie langsam den Kopf wendet, bis ich die Augen schließen muss, damit sich unsere Blicke nicht begegnen. Meine geliebte Tochter, das Leben, das ich für dich ausgewählt habe, war doch nicht das schlechteste, oder? Kannst du verstehen, warum ich so gehandelt habe? Dass mir keine andere Wahl blieb? Mein einziges Kind, hast du mir in diesen letzten Momenten vergeben? Dir selbst?

Ich möchte so gern glauben, dass sie Frieden mit sich selbst geschlossen hatte, als sich die Wolken über Nagasaki teilten und die B-29 ihre Bombe auf die Stadt herabfallen ließ. Die Vorstellung, sie könnte sich auch in den letzten Sekunden ihres Lebens gequält haben, ist mir unerträglich. Ich brauche die Gewissheit, dass sie in jenem Moment, als sie zu ihrem Gott betete, zumindest Frieden mit ihren Entscheidungen gemacht hatte. Als Pikadon auf den Norden der Stadt fiel, löste sich ihr Körper innerhalb von Sekunden in nichts auf – ihre Knochen, ihre Organe, selbst ihre Asche waren im Nu in alle Winde verstreut. Das sagten mein Mann und ich uns immer wieder. Wir redeten uns beharrlich ein, dass sie nichts mitbekommen haben konnte, und das spendete uns ein klein wenig Trost. Dass wir keinen Leichnam hatten, den wir beerdigen oder verbrennen konnten, half, uns an diese Version zu klammern. Sie hatte nicht leiden müssen, als am 9. August 1945 um 11:02 Uhr die Atombombe auf Nagasaki gefallen war.

Nicht die Frage, wie sie gestorben ist, verfolgt mich bis heute, sondern die nach dem Warum. Was und wie viel kann ich mir selbst und anderen gegenüber eingestehen, wenn ich die Einzige bin, die diese Geschichte noch erzählen kann? Soll ich eingestehen, dass meine Tochter noch am Leben sein könnte, wenn ich nicht gewesen wäre? Auch wenn ich mir noch so oft sage, dass ich aus Liebe und mütterlicher Selbstlosigkeit gehandelt habe … welche Bedeutung haben die Beweggründe angesichts der Konsequenzen? Die Wahrheit ist viel schlimmer: Hätte ich nicht darauf bestanden, dass wir uns in dieser Kathedrale treffen, wäre sie niemals dort gewesen. Dieses Wissen trage ich all die Jahrzehnte über in meinem Herzen. Nicht einmal Kenzo wusste davon. So etwas konnte man einem Ehemann und Vater doch niemals eingestehen. Im Lauf der Jahre lernte ich, meine Schuld nicht zu schwer zu nehmen, damit niemand merkte, welch ein Ungeheuer mitten unter ihnen lebte; nur sehr selten, wenn ich einen Augenblick lang nicht auf der Hut war, gestand ich Kenzo, dass ich mir wünschte, ich wäre der Bombe zum Opfer gefallen. Dann nahm er mich in die Arme und sagte, auch er würde jederzeit mit Yuko und Hideo tauschen, wenn es ihm nur möglich wäre, dennoch könnten wir nicht ungeschehen machen, was passiert war, weil es sich unserem Einfluss entzog. Wir waren alle Opfer – dass er und ich die Katastrophe überlebt hätten, sei der einzige Unterschied. Er verstand nicht, was ich meinte: Das Ungerechteste am Tod ist, dass er immer die Falschen holt. Manchmal dürfen die Schwächsten weiterleben.

Ich redete mir ein, mein Leben sei nur erträglich, wenn ich meine Vergangenheit entsprechend nachbearbeitete, und dass ich nicht zu lange über meine Fehler nachdenken durfte, die dazu geführt hatten, dass Yuko sich an dem Ort aufhielt, wo die Bombe eingeschlagen hatte. Wie hätte ich sonst jeden Morgen aufstehen können? Wie hätte ich all die viel zu langsam verstreichenden Jahre ertragen sollen … mit mir als letzter Überlebender. Zumindest hatte ich das bis heute Morgen geglaubt. Ich hatte mir eingebildet, Kenzo und ich seien vor unserer Vergangenheit sicher, indem wir Japan verließen. Wann immer mich die Leute nach meinem Leben vor Amerika fragten, manipulierte ich die Einzelheiten, die mir nicht gefielen; ich spielte die Ereignisse herunter oder unterschlug sogar ganze Jahre, je nach meiner Gemütslage oder Zuhörerschaft. Manche stellten den Zusammenhang zwischen meinem Alter, Nagasaki und dem Krieg her. Sie waren zu neugierig, um sich die Frage zu verkneifen, besaßen aber immerhin den Anstand, den beschämten Tonfall der Siegermächte anzuschlagen, wenn sie sich erkundigten: »Und waren Sie an jenem Tag dort?« Ich konnte nicht lügen, meine Darstellung aber immerhin wegen meines schlechten Englischs auf eine Handvoll Substantive, schwache Adjektive und den falschen Tempus beschränken. »Enkel und Tochter sterben, weg. So traurig. Großes Problem für mich.« Im Gegenzug suchten sie nach passenden Worten, um mich mit meinen eingeschränkten Sprachkenntnissen nicht zusätzlich durcheinanderzubringen: wie schrecklich, absolut grauenvoll, unvorstellbar schlimm, Sie sind so tapfer. Tapfer. Ich hasste dieses Wort, weil es suggerierte, dass ich eine Wahl gehabt hätte. Andere versteckten sich hinter meinem mangelnden Sprachverständnis, um mir mitzuteilen, was sie in Wahrheit dachten. Ich konnte nur ahnen, was sie meinten: Diese Bomben haben den Krieg beendet. Denken Sie an die Tausende Menschen, die durch den Tod Ihrer Tochter gerettet werden konnten. Wenigstens haben Sie und Ihr Mann noch einander – beiläufig dahergeplapperte Worte, die die Schwere des Verlusts weiter herabwürdigten. Die Leute erwarteten, dass man dankbar war, die Katastrophe überlebt zu haben. Ich manipulierte meine Vergangenheit nicht, weil ich Mitleid ernten oder andere überzeugen wollte, sondern unterschlug gerade so viel, um einigermaßen weiterleben zu können, ohne an meinen Schuldgefühlen zu zerbrechen. Die Lügen und Unterlassungen verliehen mir die Kraft, den Anblick der Frau zu ertragen, die mir morgens im Spiegel entgegenblickte. Doch wie sollte ich nun, da jemand gekommen war und das Vergrößerungsglas über meine Vergangenheit hielt, Fantasie und Realität auseinanderhalten? Meine Erinnerung hatte die beiden längst zu einer untrennbaren Einheit verwoben, wie wilde Kapuzinerkresse, die an einem halb verrotteten Spalier wuchert, symbiotisch und nicht länger fähig, isoliert voneinander zu existieren. Dieser Mann würde die Wahrheit erfahren wollen. Welch eine Forderung – der Blick zurück würde weder Vergebung noch Erlösung bringen.

Ich trug den Brief in die Küche und setzte mich an den Tisch am Fenster. Die rote Resopalplatte war längst ausgebleicht vom Putzen, auf der Arbeitsplatte standen die Plastikbehälter fein säuberlich aufgereiht. Es war still. Lediglich der Kühlschrank, den wir gekauft hatten, kurz bevor Kenzo krank geworden war, summte. Er hatte unbedingt eine amerikanische Marke gewollt, Frigidaire. Mit Eiswürfelbereiter. Er hatte immer so gern auf den Knopf gedrückt und zugesehen, wie die Würfel klirrend ins Glas fielen. »Amerika«, hatte er beim ersten Mal ausgerufen und staunend den Kopf geschüttelt, »was fällt diesem Land wohl als Nächstes ein?« Ich hatte ihm etwas Gesundes kochen wollen, Fleisch und Gemüse, aber in den letzten Wochen hatte er nur noch dieses Zeug aus der Dose gewollt, am liebsten Makkaroni mit Käse, Fertigspaghetti und Corned Beef. Vanilleeis mit Schokoladensirup war seine letzte Mahlzeit gewesen, bevor er ins Krankenhaus gekommen war. Er hatte am Küchentisch gesessen und zugesehen, wie ich Sprühschlagsahne darauf verteilt und ihm die Schüssel hingestellt hatte. Wir hatten einander gegenübergesessen und uns bei den Händen gehalten, während er ein paar zittrige Löffel gegessen hatte. Am Ende hatte ein kleiner Klecks Sahne an seinem unrasierten Kinn geklebt. »Gut?«, hatte ich gefragt. »Gut«, hatte er geantwortet. Unwillkürlich hatte ich die Hand ausgestreckt und mit dem Daumen den weißen Klecks abgewischt. »Komm, ich rasiere dich, du siehst ja wie ein Wilder aus«, hatte ich gesagt, aber er hatte den Kopf geschüttelt. »Meine Haut tut weh.«

»Ich bringe gute Neuigkeiten«, hatte der Mann gesagt. Ich blickte auf den weißen Umschlag, das dicke Papier, auf meinen Namen, Amaterasu Takahashi, in säuberlichen schwarzen Buchstaben. Es war lange her, dass ich meinen Namen in Kanji geschrieben gesehen hatte: Acht Jahre, nachdem wir Japan verlassen hatten, war ein Brief von meiner ehemaligen Hausangestellten, Misaki Goto, gekommen. Ihre Tochter würde bald heiraten, und sie würde sich so freuen, wenn wir zur Feier nach Nagasaki kämen. Ich war entzückt, sagte jedoch mit aufrichtigem Bedauern ab. Ich kann nur hoffen, dass sie verstand, warum ich nicht zurückkehren konnte. Als Geschenk schickte ich ein Bild von den Rocky Mountains, obwohl Kenzo und ich nie dort gewesen waren. Kurz danach zogen wir von Kalifornien nach Pennsylvania, und der Kontakt zwischen Misaki und mir schlief ein. Außer mit ihr war ich mit niemandem in Verbindung geblieben, was die Frage aufwarf, wer mir wohl schreiben könnte.

Mein Blick fiel auf das in schwarzem Holz gerahmte Foto an der Wand. Obwohl es längst vergilbt war, konnte man Hideo in seiner Schuluniform immer noch deutlich erkennen, wie er zwischen seinen Eltern, Yuko und Shige, stand. Jedes Jahr am 9. August hatte Kenzo seinen besten schottischen Whiskey herausgeholt, dann setzten wir uns hin, das torfige Aroma auf den Zungen, und mein Mann erfand immer neue Geschichten über unseren toten Enkelsohn. In manchen Jahren war er Matrose, in anderen Anwalt, manchmal auch ein Dichter, der irgendwo in den Bergen lebte. Er war gut aussehend, freundlich und klug, hatte einen ganzen Stall voller Kinder oder eine Mätresse aus Frankreich. Sein Leben war erfüllt, exotisch und voller Abenteuer. Der Mann vor meiner Haustür entsprach so gar nicht diesem Hollywood-Bild. Das war nicht das Ende, das ich mir vorgestellt hatte, für keinen von uns. Stattdessen hatte ich ein weiteres Ungeheuer vor mir, großgezogen in den Trümmern von Nagasaki. Ich glaubte ihm kein Wort. In diesem Umschlag konnten sich unmöglich gute Nachrichten verbergen, trotzdem holte ich ein kleines Messer aus der Schublade und setzte mich wieder hin. Viel zu leicht glitt die Klinge durch das Papier. Ich zog den Brief heraus, legte ihn vor mir auf den Tisch und las die Unterschrift. Zwei Worte sprangen mir ins Auge. Zwei Worte nur, aber welche Wirkung sie auf mich hatten. Natsu Sato. Die Frau des Arztes. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Ich stand auf, trat ans Fenster und blickte hinaus auf die leere Straße, dann schloss ich die Jalousien. Es wäre ein Leichtes gewesen, Natsus Brief in den Papierkorb zu werfen, den Fernseher anzumachen, ganz laut zu drehen und alles zu übertönen, was der Brief mir sagen mochte. Stattdessen setzte ich mich auf den Küchenstuhl und begann zu lesen.

An Amaterasu Takahashi

Erstens muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich Ihnen mit dieser Neuigkeit solch einen Schock versetze. Bei dem Mann, den Sie inzwischen kennengelernt haben, handelt es sich um Ihren Enkelsohn, Hideo Watanabe. Das kann ich bestätigen. Auch wenn Sie nur wenig Grund haben, mir zu glauben, ist es doch die Wahrheit. Hideo ist an jenem Tag nicht gestorben, sondern hat die Katastrophe überlebt. Ist das nicht eine wunderbare Nachricht? Allerdings hat er so schwere Verletzungen davongetragen, dass die Behörden ihn nicht identifizieren konnten. Ein Jahr nach Kriegsende kam er in ein Waisenhaus für minderjährige Kriegsopfer, wo mein Ehemann und ich ihn gesehen und herausgefunden haben, wer er ist. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie bereits nach Amerika ausgewandert. Es hat viele Jahre gedauert, Sie ausfindig zu machen. Durch einen glücklichen Zufall las Ihre ehemalige Hausangestellte, Mrs. Goto, einen Artikel über unsere Friedensorganisation, in dem Hideos Geburtsname erwähnt wurde. Daraufhin nahm sie Kontakt zu mir auf und gab mir die Adresse von Ihnen und Ihrem Ehemann. Allerdings stellte sich heraus, dass sie nicht mehr aktuell war. Während ich diesen Brief schreibe, suchen wir noch nach Ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung. Ich kann nur ahnen, wie verwirrend diese Neuigkeit für Sie sein muss.

Mein Ehemann und ich beschlossen, Hideo zu adoptieren. Wir haben ihn nach Nagasaki zurückgebracht, wo er zu einem tüchtigen Mann herangewachsen ist. Aber er soll Ihnen seine Geschichte selbst erzählen. Wir sind ebenso stolz auf ihn, wie Sie es sein werden. Hideo hat ein Päckchen bei sich, das Ihnen helfen wird zu verstehen, was vor all den Jahren geschehen ist – falls Sie es zu erfahren wünschen. Ich habe es ihm nie gezeigt und überlasse es Ihnen, was Sie damit tun; allerdings bitte ich Sie, zuerst den Inhalt anzusehen. Danach werden Sie wissen, wie Sie am besten weiter vorgehen. Ich gebe Ihnen Ihren Enkelsohn heute nicht nur zurück, weil ich dazu in der Lage bin, sondern weil ich es gerne tun möchte. Es ist das Mindeste, was ich nach den vielen Jahren der zwangsweisen Trennung tun kann. Ich hoffe, er macht Ihnen ebenso große Freude wie unserer kleinen Familie.

Hochachtungsvoll

Natsu Sato

Der Brief trug kein Datum, sondern war nichts als eine im Vakuum der Zeit gefangene Nachricht. Ich faltete ihn zusammen, verließ die Küche und ging den fensterlosen Korridor hinunter ins Schlafzimmer. 1956 hatte Kenzo mich zum ersten Mal in unser neues Heim in Chestnut Hill gebracht. »Ich habe das perfekte Haus für uns gefunden. Zwar werde ich pendeln müssen, aber es ist wunderschön, sehr traditionell.« Das Haus im viktorianischen Stil stand ein Stück zurückversetzt in einer ruhigen, von Buchen gesäumten Wohnstraße, war grün gestrichen, mit einer weißen Holzveranda. Bei der ersten Besichtigung mit dem Makler flüsterte ich meinem Mann zu, ich fände es ein bisschen düster, aber er hatte meine Einwände bereits geahnt und meinte nur: »Wir streichen es in kräftigen Farben, verkleiden es mit hellem Holz, und schon wirkt es heller.« Ihm als Ingenieur gelang es mühelos, Licht in den Schatten zu erahnen.

Er engagierte einen Schreiner, der die Eichenschränke im Schlafzimmer durch Walnusseinbauten ersetzte. »Das erinnert mich an Kirschbaumholz«, meinte er und strich über die Vertäfelung. Die Wände ließen wir gelb streichen – in Japan war das die Farbe für die verlorene Liebe, hier stand sie für die Sonne. Ich kaufte eine Tagesdecke mit Rosenmuster und hängte Fotos von lilafarbenen Bergen und fliederfarbene Vorhänge auf, die so dünn waren, dass man fast hindurchsehen konnte. Am Ende standen wir in der Tür und betrachteten staunend unsere Interpretation eines amerikanischen Lebens. »Gefällt es dir?«, fragte Kenzo. »So ist es gleich viel heller, nicht?« Ich nickte. Er hat nie begriffen, dass er nach dem Krieg das einzige Sonnenlicht in meinem Leben war.

Sechzehn Jahre lebten wir gemeinsam in diesem Haus. Nach seinem Tod 1972 überlegte ich, ob ich umziehen sollte, aber wohin hätte ich schon gehen sollen? Hier hatte ich wenigstens eine gewisse Routine, einen Alltag, die Gegend war mir vertraut, ebenso wie die Langeweile. Ich füllte die Stille mit der Geräuschkulisse von Tierdokumentationen, Nachrichten und Seifenopern; manchmal verbrachte ich den ganzen Vormittag auf dem Sofa sitzend. Abends trank ich hinter zugezogenen Gardinen Whiskey in wachsenden Mengen. Lebt man lange genug mit der Einsamkeit, wird sie irgendwann zu einer Art Gesellschaft. Und hier, in diesem Haus, befand sich alles, was mir noch von meiner Familie geblieben war. Ich sah Kenzo immer noch mit der Zeitung auf dem Sofa sitzen, Formulare ausfüllen oder die Antworten einer Quizsendung rufen, voller Stolz, dass er die fremde Sprache inzwischen fast ebenso beherrschte wie seine eigene. Meine Weigerung, Englisch zu lernen, hatte zu allerlei Streitereien geführt, aber was hätte er tun sollen – mich zwingen, Grammatikbücher zu studieren oder Kurse zu besuchen? »Widerborstig, stur und absichtlich unwissend«, hatte er mich in jenen ersten Jahren vor Chestnut Hill genannt, als wir noch im Norden von San Francisco, ganz in der Nähe von Mare Island und der Werft, gelebt hatten. Er sprach Japanisch und übersetzte dann die Worte in seine zweite Sprache. »Hässliche Worte, hässliche Sprache«, erwiderte ich auf Englisch und versuchte, den Akzent zu imitieren, damit er mir glaubte. Kenzo schüttelte nur den Kopf und widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel, das er, wie ich mit gemeiner Befriedigung registrierte, nicht lösen konnte.

Zu unserem ersten oder zweiten Weihnachtsfest in Amerika überreichte er mir ein in goldenes Papier verpacktes Buch – der Umschlag hatte die Farbe von Klatschmohn und fühlte sich an wie Frost auf einer Fensterscheibe. An English Dictionary of Japanese Culture lautete der Titel. Kenzo lächelte mich an. »Ich dachte, das könnte ein Kompromiss sein. Siehst du, auf dieser Seite steht das Japanische und hier das Englische.« Ich blätterte das mit teils geschmacklosen Schwarz-Weiß-Skizzen bebilderte Buch durch und las einen der Einträge. »Wabi: schlichte, herbe Form der Schönheit. Das Wort leitet sich vom Verb wabi (Stärke verlieren) und dem Adjektiv wabishi (reizend) ab. Ursprünglich bedeutete es das Unglück, von der Gesellschaft isoliert zu leben; später bekam es eine positive, ästhetische Bedeutung: der Genuss eines stillen, sorglosen und entspannten Lebens.« Ich schlug es wieder in das goldene Papier ein und fragte ihn, woher er es hätte. Er nahm ein zweites Päckchen. »In den USA bekommt man alles. Man muss nur wissen, wie man danach fragt.« Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ehrlich, Ama, Sushi, Teppanyaki und sogar Shabu-Shabu, es gibt alles hier. Amerika ist die Welt.« Die Gründe, weshalb ich diese Sprache nicht lernen wollte, verstand er niemals. Dieses Land war mein Unterschlupf nach Pikadon, aber es war nicht meine Heimat, die Leute waren nicht mein Volk, und ich wollte ihre Nähe nicht.

Ich trat vor Kenzos Seite des Kleiderschranks, öffnete die Tür und ließ mich auf die Knie sinken. Als wir Japan 1946 verlassen hatten, waren wir 44 und 51 Jahre alt gewesen; zu alt, um ein neues Leben zu beginnen, aber innerlich zu niedergeschmettert, um unser vergangenes fortzuführen. Wir hatten zwei Koffer mit Fotos, Dokumenten und alten, größtenteils militärkakifarbenen Fetzen, die wir Kleider nannten. Außerdem hatte ich ein paar Erinnerungsstücke hineingeschmuggelt, von denen Kenzo nichts wusste. Nach seinem Tod hatte ich sie in seine Hälfte des Schranks gelegt, damit auch er endlich etwas davon hatte. Ich zog eine Schuhschachtel unter seinen Pullis und Krawatten hervor, legte Natsus Brief hinein und schob sie ganz nach hinten. Dann nahm ich eine zweite Schachtel und setzte mich damit auf die Bettkante. Das Gewicht wog schwer auf meinem Schoß, und ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Konnte ich der Frau von Jomei Sato trauen, jenem Mann, dem ich ebenfalls die Schuld am Tod meiner Tochter gab?

Beziehung

En: Der Begriff basiert auf dem buddhistischen Glauben, dass nichts ohne Grund geschieht; en bezeichnet das Mittel zwischen Ursache und Wirkung. Jede Beziehung zwischen zwei Menschen, sei es zwischen Mann und Frau, zwischen zwei Nachbarn oder aber zwischen zwei Geschäftspartnern, beginnt und verändert sich mit en. Das bedeutet, dass en Gelegenheiten und Möglichkeiten für sich entwickelnde Beziehungen erschafft, und sehr häufig ermöglicht es Menschen, ihre Angelegenheiten mühelos und ohne großen Aufwand zu erledigen.

Für mich ist Nagasaki immer noch realer als dieses viktorianische Haus, in dem ich lebe. Nachts liege ich allein in meinem Bett und denke an unser altes Haus auf dem Hügel mit Blick über die Stadt, die von der schmalen Hafenzufahrt aus immer weiter landeinwärts wuchs. Unser Haus stand inmitten eines Gartens mit chinesischem Holunder, Rot-Ahorn und Hainbuchen. Es war aus schwarzem Holz, zweigeschossig mit einem dreieckigen Schieferdach; die Traufen waren mit Schnitzereien und alle Balken mit Drachen und Schiffen aus grünspanbedecktem Metall verziert. Über der Eingangstür saß der Gott des Krieges rittlings auf einem wilden Eber. Gleich links befand sich das Wohnzimmer, auf dessen Boden Tatamimatten mit grünen und goldenen Seidenborten lagen. Auf der einen Seite des Raums standen schwarze Lackkommoden, in der Mitte befanden sich ein quadratischer Tisch und vier Kissen, an den Wänden hingen Kalligrafie-Rollen. Das Fenster auf der linken Seite ging auf den Garten hinaus, rechts war der Alkoven mit dem Familienschrein eingerichtet: ein kleiner Buddha, eine Kerze, ein Räucherstäbchen, ein Glöckchen und ein Holzklöppel. Typisch, ja, aber er gehörte uns.

Wann immer ich an unser altes Zuhause denke, sehe ich Yuko in diesem Raum sitzen, in weiches Licht von Kräuselmyrte, Oleander und Blumenrohr gebadet. Sie wirkt wie ein Trugbild, erschaffen von der fahlen Sonne auf der Holzvertäfelung. In ihrer ausgestreckten Hand hält sie das Schälchen und dreht es im Uhrzeigersinn, dann gießt sie heißes Wasser auf das grüne Teepulver und greift nach dem kleinen Bambusbesen, mit dem sie so lange umrührt, bis die Flüssigkeit wie eine Schaumzikade auf dem Rasen blubbert und schäumt, ehe sie mir die Schüssel reicht. Sie trägt einen Kimono in der Farbe von jungen Winterkirschen oder eines Teestrauchs, aber stets rot, als Zeichen des Glücks, des Lebens, des Mutterleibs.

Alles, was mir von ihr noch geblieben ist, befindet sich in den wenigen Schuhkartons. Ich saß auf dem Bett und registrierte den leichten Modergeruch, der von den Kartons aufstieg. Ich hielt ihr Notizbuch in der Hand, dessen grüner Ledereinband sich bereits aufzulösen begann. Winzige glitzernde Krümel der zerfallenden Seiten klebten an meinen Fingern. Auf der inneren Umschlagseite stand ihr Name in sorgfältiger Handschrift: Yuko Takahashi. Später sollte ihr Nachname durch Watanabe ersetzt werden. Die Tagebücher meiner Tochter. Ich sah sie, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, den geneigten Stift, der gegen ihren Mittelfinger drückte, ihre zarten Kanji-Buchstaben. Wenige Tage nach dem Abwurf der Bombe waren wir zu ihr nach Hause gefahren. Beim Anblick ihres Einkaufszettels auf dem Küchentisch war Kenzo in Tränen ausgebrochen. Mehl, Nadeln, Seife. Drei Wörter. Stellen Sie sich vor, es wären Tausende. Ich klappte ihr Tagebuch zu, drückte es einen Moment lang gegen meine Brust und spürte seine Festigkeit, ehe ich es zurück in die Schachtel legte. Keiner von uns war bereit für diesen Übergriff.

Als Nächstes schlug ich ein zusammengefaltetes Blatt Papier auseinander. Die Kohlestiftlinien waren verblasst, aber immer noch deutlich zu erkennen. Obwohl die Perspektive korrekt war, stimmte die Bildkomposition irgendwie nicht ganz – so als hätte die Künstlerin versucht, zu viele Details hineinzugeben. In der unteren rechten Ecke hatte Yuko Ort und Datum notiert: Iōjima, 22. August 1936.

Der Sommer war brutal gewesen. Die Kleider hatten einem am Leib geklebt, als wäre man in einen Schauer geraten, und die Luft hatte regelrecht in der Lunge gebrannt. Ich konnte die Hitze wieder spüren, als ich die Konturen des Gesichts betrachtete, die hohen Wangenknochen, den säuberlich gestutzten Bart, das Muttermal. Ich sah die Kohlespuren auf Yukos Fingerspitzen, den Schweißfilm auf ihrem Gesicht, während sie zeichnete, spürte ihre Sehnsucht. Seine Miene war wie gewohnt ausdruckslos. Ich legte die Skizze umgedreht hin. Ich wollte nicht an Jomei Sato denken, wollte mich nicht an ihn erinnern, ebenso wenig wie an diesen brutalen Sommer oder den letzten Morgen all die Jahre später.

Neuerliche Ängste erfassten mich. Wie hatte Hideo überlebt? Kenzo und ich hatten nach ihm gesucht, aber wir waren sicher gewesen, dass Pikadon ihn getötet hatte. Wie sollte ich mit der Möglichkeit umgehen, dass er all die Jahre am Leben gewesen war? Und wenn es tatsächlich stimmte – wie war es dem Doktor und seiner Frau gelungen, ihn zu adoptieren? Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Vielleicht war der Mann vor meiner Tür ein weiteres Opfer des Doktors. Oder ein Komplize. Wie erbärmlich von Sato, so lange zu warten, bis er sich rächte. Keine Strafe könnte jemals all die Jahre seit diesem Sommer aufwiegen, seit diesem Morgen, seit dieser Minute.