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JULIE KAGAWA

Talon

DRACHENBLUT

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Charlotte Lungstrass-Kapfer

Das Buch

Auf alles war die Drachenkriegerin Ember vorbereitet – nur nicht auf den Schmerz, den sie empfindet, als der Sankt-Georgs-Ritter Garret leblos in ihren Armen niedersinkt, vom Schwert des Gegners schwer verwundet.

Ohne zu wissen, ob Garret jemals wieder die Augen aufschlagen wird, zieht Ember in den nächsten Kampf. Denn die mächtige Organisation Talon rüstet sich zum endgültigen Schlag gegen die Ritter und die aufständischen Drachen. Ganz vorne mit dabei ist Dante, Embers Zwillingsbruder. Gemeinsam mit dem rebellischen Drachen Riley, der weiter um ihr Herz kämpft, dringt Ember in Dantes Versteck vor. Was die beiden nicht ahnen: Dante erwartet sie bereits. Und in seinen finsteren Plänen spielt Ember eine der Hauptrollen. Sollte sie sich widersetzen, ist ihr Leben nichts mehr wert …

Die Autorin

Schon in ihrer Kindheit gehörte Julie Kagawas große Leidenschaft dem Schreiben. Nach Stationen als Buchhändlerin und Hundetrainerin machte sie ihr größtes Interesse zum Beruf und wurde Autorin. Mit ihren Fantasy-Serien Plötzlich Fee und Plötzlich Prinz wurde sie rasch zur internationalen Bestsellerautorin. Drachenblut ist der vierte Band in der Talon-Serie um eine magische Liebe, die nicht sein darf. Julie Kagawa lebt mit ihrem Mann in Louisville, Kentucky.

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

The Talon Saga Book 4: Legion

bei Harlequin Teen, Ontario

Copyright © 2017 by Julie Kagawa

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sabine Thiele

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von

© Shutterstock / Pindyurin Vasily

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN: 978-3-641-17183-4
V001

www.heyne-fliegt.de

Für Tashya, Laurie und Nick,

mein großartiges Trio

Erster Teil

ES MÜSSEN OPFER GEBRACHT WERDEN

Dante

Sie war immer ihr Liebling.

»Ember!« Schon zum zweiten Mal in dieser Stunde stieß Mr. Gordon einen tiefen Seufzer aus. »Bitte pass auf. Das ist wichtig. Hörst du überhaupt zu?«

»Ja«, murmelte meine Zwillingsschwester, ohne vom Tisch aufzublicken, wo sie lustlos Strichmännchen in ihr Buch malte. »Ich höre zu.«

Mr. Gordon runzelte die Stirn. »Also schön. Kannst du mir sagen, wie man den fleischigen Teil des menschlichen Ohres nennt?«

Ich hob die Hand. Wie erwartet ignorierte Mr. Gordon mich völlig.

»Ember?«, hakte er nach, als sie nicht reagierte. »Kennst du die Antwort auf diese Frage?«

Seufzend legte Ember den Stift hin. »Ohrläppchen.« Ihr Tonfall verriet unmissverständlich, was sie dachte: Das ist langweilig, und ich wünschte, ich wäre jetzt irgendwo anders.

»Stimmt«, bestätigte Mr. Gordon mit einem Nicken. »Den fleischigen Teil des menschlichen Ohres nennt man Ohrläppchen. Sehr gut, Ember. Schreibt euch das auf, das ist wichtig für den morgigen Test.« Ember kritzelte etwas in ihr Heft, allerdings ging ich nicht davon aus, dass es die korrekte Antwort oder sonst irgendetwas war, was auch nur im Entferntesten mit dem Test zu tun hatte. Also schrieb ich den Begriff auf, nur für den Fall, dass sie es vergaß. Inzwischen fuhr Mr. Gordon fort: »Nun zur nächsten Frage. Haare und Fingernägel der Menschen bestehen aus der gleichen Substanz wie die Krallen und Hörner der Drachen. Wie nennt man diese Substanz? Ember?«

»Äh.« Ember blinzelte ratlos. Offenbar hatte sie keine Ahnung. »Weiß nicht.«

Ich wollte schon die Hand heben, überlegte es mir dann aber anders. Es hatte ja doch keinen Zweck.

»Das haben wir gestern erst durchgenommen«, rügte Mr. Gordon sie. »Während der ganzen Stunde haben wir ausschließlich über die menschliche Anatomie gesprochen. Du solltest es also wissen. Haare und Fingernägel des Menschen sowie Krallen und Hörner der Drachen bestehen aus …?«

Komm schon, Ember, drängte ich sie innerlich. Du weißt es. Es ist irgendwo in deinem Hirn gespeichert, auch wenn du gestern fast die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt hast.

Ember zuckte nur mit den Schultern und lehnte sich lässig in ihren Stuhl zurück, was ihre Ich-will-hier-raus-Attitüde noch weiter unterstrich. Unser Lehrer seufzte erneut und wandte sich mir zu. »Dante?«

»Keratin«, antwortete ich prompt.

Ein knappes Nicken, dann konzentrierte er sich wieder auf Ember. »Jawohl, Keratin. Dein Bruder hat aufgepasst.« Er kniff die Augen zusammen. »Warum gelingt dir das nicht?«

Embers Miene verfinsterte sich. Sie mit mir zu vergleichen war eine todsichere Methode, um sie auf die Palme zu bringen. »Ich sehe einfach nicht ein, warum ich den Unterschied zwischen Schuppen und menschlichen Zehennägeln kennen sollte«, murmelte sie und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Wen interessiert schon, wie man das nennt? Ich wette, die Menschen wissen selbst nicht, dass ihre Haare aus Keramik bestehen.«

»Keratin«, korrigierte Mr. Gordon sie stirnrunzelnd. »Und es ist sogar von größter Wichtigkeit, dass du weißt, welche Form dein Körper bei einer Verwandlung annimmt, innerlich wie äußerlich. Wenn du die Menschen bis ins kleinste Detail nachahmen willst, musst du sie auch bis ins kleinste Detail kennen. Sogar wenn sie selbst es nicht tun.«

»Ich finde es trotzdem dämlich«, brummte Ember und warf wieder einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Hinter dem Maschendrahtzaun, der das Gelände umgab, erstreckten sich die Wüste und der endlos weite Himmel. Die Miene unseres Lehrers wurde immer düsterer.

»Nun, dann sorgen wir doch mal für zusätzliche Motivation. Wenn Dante und du bei dem Test morgen nicht mindestens fünfundneunzig Prozent erreicht, ist das Spielzimmer für euch einen Monat lang gesperrt.« Ruckartig fuhr Ember hoch und riss wütend die Augen auf. Mr. Gordon lächelte nur kalt. »So wichtig ist Talon eine fundierte Kenntnis der menschlichen Anatomie. Wenn ich ihr wäre, würde ich also fleißig lernen.« Er deutete mit der Hand auf die Tür. »Die Stunde ist beendet.«

»Das ist so was von unfair«, wütete Ember, während wir den staubigen Innenhof überquerten, um zu unseren Schlafräumen zu gelangen. Die heiße Sonne von Nevada vertrieb die Kälte der Klimaanlagenluft aus dem Klassenzimmer und hinterließ wohlige Wärme auf meiner Haut. Oder sollte ich besser sagen: auf meiner Epidermis?

Ich musste grinsen; Ember würde den Witz wohl nicht verstehen. Und selbst wenn, fände sie ihn bei ihrer momentanen Laune wahrscheinlich nicht besonders komisch.

»Gordon ist ein Tyrann«, schimpfte sie weiter und trat so heftig gegen ein Steinchen, dass es wild über die trockene Erde hüpfte. »Der kann uns doch nicht einen ganzen Monat lang aus dem Spielzimmer verbannen – wie krank ist das denn? Dann drehe ich durch. Hier kann man doch sonst überhaupt nichts machen!«

»Na ja, du könntest versuchen, im Unterricht besser aufzupassen«, schlug ich vor. Wir hielten auf das lang gestreckte Gebäude ganz hinten am Zaun zu. Wie erwartet gefiel ihr meine Idee nicht sonderlich.

»Wie soll ich das denn machen, wenn der ganze Kram so langweilig ist?«, fauchte Ember und riss die Eingangstür auf. Wir betraten das Wohnzimmer, das fast bis auf Minusgrade heruntergekühlt war. Zwei Ledersofas bildeten ein L um den Couchtisch und waren gleichzeitig auf den riesigen, glänzenden Fernseher ausgerichtet, der stumm und dunkel an der gegenüberliegenden Wand hing. Mit dem Ding konnten wir über hundert Kanäle empfangen, alles von Science-Fiction bis hin zu Nachrichten-, Film- und Sportsendern. Vermutlich sollten wir damit ruhiggestellt werden, auch wenn das bei Ember nie so ganz funktionierte. Sie trieb sich lieber draußen herum, statt den ganzen Tag vor der Glotze zu hängen. Das Zimmer war aufgeräumt und makellos sauber, und das, obwohl ein gewisser Zwilling hier fast täglich das totale Chaos hinterließ.

Ember marschierte zu einem der Sofas und warf ihre Bücher auf die Polster. »Die lassen mich keine Sekunde in Ruhe«, jammerte sie, ohne darauf zu achten, dass eines der Bücher von der Couch rutschte und polternd auf dem Boden landete. »Immer machen sie mir Druck: Das kannst du besser, du musst schneller sein, pass besser auf! Egal was ich mache, es ist nie gut genug für sie.« Genervt, aber mit einem halben Grinsen im Gesicht sah sie mich an. »Mit dir machen sie das nie, Diedeldum.«

»Was daran liegen könnte, dass ich im Unterricht aufpasse.« Ich legte meine Tasche auf den Tisch und ging in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Unser Betreuer Mr. Stiles war nirgendwo zu sehen, also war er entweder nicht da oder in seinem Zimmer. »Ich gebe ihnen einfach keinen Grund, so hinter mir her zu sein.«

»Tja, dir ist wohl nicht klar, was für ein Glück das ist«, knurrte Ember. Sie marschierte in den Flur, der zu ihrem Zimmer führte. »Falls du mich suchst: Ich bin in meinem Zimmer und stopfe mir für den blöden Test morgen das Hirn mit Wissen voll. Und mach dir keine Sorgen, falls es irgendwann laut wird. Das ist nur mein Kopf, den ich gegen die Wand hämmere.«

Klar doch, dachte ich, während ich hörte, wie ihre Zimmertür erst geöffnet und dann zugeknallt wurde. Ich bin ein Glückspilz.

Ich schenkte mir Orangensaft ein, setzte mich auf einen der Hocker am Frühstückstresen und starrte trübsinnig in mein Glas.

Glück, hatte Ember gesagt. Ihr kam das wahrscheinlich wirklich so vor. Sie war ja auch der Liebling, auf den sich die gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte. So war es schon immer gewesen. In den vergangenen elf Jahren war anscheinend immer sie diejenige gewesen, der zuerst die Fragen gestellt oder neue Dinge gezeigt wurden, bei der die Erzieher zuerst dafür gesorgt hatten, dass sie alles lernte, was sie wissen musste. Klar, sie übten eine Menge Druck auf sie aus und verlangten, dass sie immer alles richtig machte. Dabei schien aber niemand zu bemerken, dass ich die Antworten bereits wusste. Oder es interessierte keinen. Und wenn sie mich dann mal beachteten, sollte ich bloß als Beispiel für meine Schwester herhalten. Siehst du, Dante kennt die Antworten. Dante weiß die Lösung schon. Ich würde einen Mord begehen, um auch nur halb so viel beachtet zu werden wie sie.

Ich trank den Saft aus, stellte das Glas in die Spülmaschine und ging in mein Zimmer. Ich muss einfach noch besser werden, dachte ich entschlossen. Meiner Schwester flog die allgemeine Aufmerksamkeit automatisch zu, während ich sie mir durch Arbeit verdienen musste. Ember war temperamentvoll und brachte sich ständig in Schwierigkeiten; meine Aufgabe bestand darin, auf uns beide aufzupassen. Aber wenn ich gleichzeitig weiter hart arbeitete und großartige Leistungen brachte, würde ihnen sicher irgendwann auffallen, dass ich in allem besser war als meine Schwester. Sie würden begreifen, dass ich der Clevere von uns beiden war, dass ich derjenige war, der jede ihrer Prüfungen bestand. Wenn man bei Talon nicht von allein bemerkte, wozu ich fähig war, würde ich es ihnen eben vor Augen führen.

»Mr. Hill? Der Große Wyrm erwartet Sie. Sie können jetzt zu ihr hineingehen.«

Mit diesen Worten wurde ich in die Gegenwart zurückgeholt. Ich saß in einem kalten, hell erleuchteten Vorzimmer. Kopfschüttelnd versuchte ich, die finsteren Gedanken und die Erinnerungen loszuwerden. In letzter Zeit hatte ich oft an Ember gedacht, ständig spukte sie in meinem Kopf herum, was sich fast zu einer Belastung entwickelte. Fühlte ich mich etwa schuldig, weil ich sie im Stich gelassen hatte? Weil ich meine Zwillingsschwester nicht vor ihrem schlimmsten Feind hatte beschützen können – sich selbst?

Ich stand auf, bedankte mich mit einem knappen Nicken bei der menschlichen Assistentin und ging auf die wuchtige Doppeltür zu, die zum Büro des Großen Wyrm führte. So durfte ich nicht länger denken. Ich war jetzt kein Elfjähriger mehr, der verzweifelt versuchte, seinen Wert unter Beweis zu stellen. Ich war nicht mehr der armselige Zwilling, der stets hinter der Tochter des Großen Wyrm zurückstand. Nein, ich hatte der gesamten Organisation bewiesen, dass ich meines Erbes würdig war. Ich war die rechte Hand des Großen Wyrm, ich war derjenige, dem sie Talons wichtigste Operation übertragen hatte.

Und wenn alles gut ging, würde ich eines Tages die gesamte Organisation anführen. Eines Tages würde das alles mir gehören. Heute stand ich kurz davor, genau das zu erreichen, was ich mir vor so vielen Jahren vorgenommen hatte. Jetzt durfte ich nicht zögern.

Vor mir ragte die schwere Holztür zum Büro des CEO auf, deren Messingklinken im grellen Licht schimmerten. Weder klopfte ich, noch wartete ich darauf, vom Großen Wyrm hereingerufen zu werden. Nein, ich zog die Tür einfach auf und ging hinein.

Der Große Wyrm saß am Schreibtisch, tippte mit perfekt lackierten Nägeln auf der Tastatur und blickte konzentriert auf den Bildschirm des Computers. Die Furcht einflößende, alles erdrückende Ausstrahlung dieser Frau erfüllte den gesamten Raum, auch wenn sie mich überhaupt nicht ansah. Leise durchquerte ich das Zimmer, bis ich direkt vor ihrem Schreibtisch stand, wo ich die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Freien Zugang zum Büro des Großen Wyrm für sich beanspruchen zu können, war eine Sache. Den Großen Wyrm unaufgefordert zu unterbrechen, bevor man von ihr zur Kenntnis genommen worden war, eine ganz andere. Zwar war ich der Erbe eines der größten Imperien der internationalen Geschäftswelt, aber sie war noch immer der CEO von Talon und der mächtigste Drache der Welt. Nicht einmal als ihr Sohn stand ich über dem Protokoll.

Während der Große Wyrm wortlos weitertippte, wartete ich stumm darauf, dass sie ihre Arbeit beendete. Schließlich klickte sie ein letztes Mal mit der Maus, schob den Tastaturauszug unter die Schreibtischplatte und sah mich an. Ihre stechenden grünen Augen hatten große Ähnlichkeit mit meinen und Embers.

»Dante.« Während die meisten Drachen ein Lächeln nur mühsam nachahmen konnten, wirkte ihres vollkommen aufrichtig. Natürlich wurde sie genau dadurch so gefährlich – bei ihr wusste man nie, ob das, was sie einem zeigte, echt oder nur gespielt war. »Schön, dass du wieder da bist. Wie war die Reise?«

»Sehr angenehm, Ma’am, danke.«

Sie nickte, erhob sich und deutete auf die beiden Sessel, die vor ihrem Schreibtisch standen. Während ich mich gehorsam setzte und die Beine übereinanderschlug, kam der Große Wyrm um den Tisch herum, wobei sie mich keine Sekunde aus den Augen ließ. Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit wirkte erdrückend, trotzdem lehnte ich mich mit entspannter, aber trotzdem aufmerksamer Miene zurück und achtete genau darauf, keine Angst zu zeigen.

»Unsere Pläne sind angelaufen«, sagte der Große Wyrm. Ihre leise Stimme jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. »Bald ist alles bereit. Nun fehlt uns nur noch eines. Eine Sache, um die wir uns kümmern müssen.«

Mein Puls beschleunigte sich. Mir war klar, was der Große Wyrm mit dieser letzten Sache meinte. Dabei konnte es nur um sie gehen. Nicht einmal jetzt war ihr bewusst, von welch großer Bedeutung sie war.

»Ember Hill muss zurückgebracht werden«, fuhr der Große Wyrm mit bedrohlicher Eindringlichkeit fort. Ich bekam eine Gänsehaut, und ein Teil von mir krümmte sich furchtsam zusammen, als mich der schreckliche Blick des alten Drachen erfasste. »Es ist unerlässlich, dass sie zu Talon zurückkehrt. Jetzt dürfen keine Fehler mehr passieren. Wir werden wie folgt vorgehen …«

Ember

Er ist tot.

Ich kniete auf dem harten Salzboden und hielt Garrets reglosen Körper auf meinem Schoß, während die Sonne langsam über den Horizont kroch und die öde Landschaft in blutrotes Licht tauchte. Das schlaffe Gesicht des Soldaten war leichenblass, seine Haut noch warm, auch wenn er gerade in meinen Armen verblutete. Um mich herum herrschte hektische Aktivität, mehrere Stimmen schrien durcheinander, stellten Fragen, die vielleicht sogar an mich gerichtet waren. Aber für mich war nichts davon real. Garret war tot. Ich hatte ihn verloren.

»Verdammt, er verliert zu viel Blut.« Das war Riley, der neben dem Soldaten kniete und ihm einen blutigen Lappen an den Brustkorb drückte. »Wir können nicht auf den Krankenwagen warten – wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, ist er in zwei Minuten tot.«

»Hier«, hörte ich hinter mir eine atemlose Stimme. Tristan St. Anthony, Garrets ehemaliger Partner und aktiver Georgskrieger, ließ sich neben Riley auf die Knie fallen. Er hatte eine große Plastikkiste dabei, deren Deckel er nun aufriss. Darin befanden sich jede Menge Pflaster, Verbandszeug und andere medizinische Utensilien. »Ich kann sofort eine Transfusion vornehmen«, erklärte Tristan und zog einen langen, dünnen, durchsichtigen Schlauch aus der Kiste. »Aber ich habe nicht die richtige Blutgruppe. Sein Körper wird das Blut abstoßen, wenn es nicht passt.«

»Was braucht er denn?«, knurrte Riley.

»0 positiv.«

»Verdammt.« Riley wühlte kurz in der Kiste und holte etwas hervor, das metallisch funkelte. Einen Moment lang starrte er es reglos an, als müsse er zu einer Entscheidung gelangen. »Ich kann nicht glauben, dass ich das tue«, murmelte er dann und stach sich mit dem Skalpell in die Armbeuge. Sofort quoll Blut aus dem Schnitt und lief über seinen Unterarm. Mir wurde übel.

Tristan riss die Augen auf. »Bist du …«

»Halt die Klappe und mach weiter, bevor ich anfange, das noch mehr zu bereuen.«

Hastig befolgte Tristan Rileys Befehl und legte Garret den Transfusionszugang. Der Einzelgänger nahm das andere Ende des Schlauchs und stand kopfschüttelnd auf. »Ich kann echt nicht glauben, dass ich das tue«, knurrte er noch einmal, während er sich den Schlauch unter die Haut schob.

Der dunkle Strom aus Rileys Arm floss träge durch den Kunststoffschlauch und kroch zentimeterweise auf den verletzten Soldaten zu. Fasziniert und mit wild klopfendem Herzen starrte ich auf das rote Rinnsal. Erst Rileys harsche Stimme holte mich aus meiner Trance.

»Sitz nicht einfach nur rum, Rotschopf! Wie wäre es, wenn du langsam mal anfängst, ihn zusammenzuflicken, bevor er den Boden auch noch mit meinem Blut bewässert?«

Ich zuckte schuldbewusst zusammen, aber Tristan holte bereits mit grimmiger Entschlossenheit Desinfektionsmittel, Verbandsmaterial, Nadel und Faden aus seinem Kasten. Als er kurz aufblickte, verrieten mir seine blauen Augen, wie aufgewühlt er hinter der betont emotionslosen Maske des professionellen Soldaten war. Ein dicker Kloß stieg in meiner Kehle auf, und ich ließ Garret sanft zu Boden gleiten, um die Utensilien entgegennehmen zu können, die Tristan mir hinhielt. In den nächsten Minuten taten wir alles dafür, damit der Soldat, den wir beide liebten, uns nicht auf den kargen Salzebenen von Salt Lake City unter den Händen wegstarb. Riley stand reglos neben uns, durch ein dünnes rotes Band mit Garret verbunden. Sein Gesicht war so finster wie der Himmel vor einem Gewittersturm.

Riley

Oh, oh, mir wird ganz komisch.

Zähneknirschend versuchte ich, gegen den Schwindel anzukämpfen, der mich plötzlich überfiel, taumelte aber trotzdem kurz. Zum Glück schienen Ember und St. Anthony, die immer noch mit dem Soldaten beschäftigt waren, nichts davon zu bemerken. Sie hatten seine zahlreichen Wunden versorgt, entweder mit Verbänden oder indem sie sie vernäht hatten, und nun lag er wie ein Toter zwischen ihnen auf dem harten, salzverkrusteten Boden. Seine Haut war fast so weiß wie der Untergrund. Auf Embers Wangen glänzten Tränen. Ob sie wohl auch um mich weinen würde, wenn ich irgendwann einmal ins Gras biss?

»Lebt er noch?«, fragte ich barsch.

Der andere Georgskrieger fühlte seinen Puls, nickte knapp und ließ sich dann aufatmend auf die Fersen sinken. »Jawohl«, antwortete er ebenso brüsk. »Vorerst.«

»Prima. Dann wird mir hier wenigstens nicht umsonst so übel.« Ich sah zu, wie der Georgskrieger dem Soldaten vorsichtig den Schlauch aus dem Arm zog und ein Pflaster auf diese letzte Wunde klebte. Den Schlauch ließ er dabei einfach fallen, sodass mein Blut auf den Salzboden floss.

»Ihr solltet gehen«, stellte St. Anthony leise fest, ohne mich anzusehen. »Bringt ihn hier weg. Und zwar bevor der Rest des Ordens auftaucht.«

Mit einem müden Nicken stimmte ich ihm zu. »Ich werde Wes anrufen«, wandte ich mich an Ember. Mein menschlicher Freund, das Hackergenie, wartete sozusagen im Stand-by-Modus darauf herbeizurasen, falls etwas schiefging. Und diese Sache hier war definitiv total schiefgegangen. »Er müsste in ein paar Minuten hier sein.«

Ember nickte ohne aufzublicken und fixierte weiter den reglosen Soldaten. Am liebsten hätte ich geknurrt, unterdrückte den Impuls aber mühsam. Stattdessen zog ich mein Handy aus der Tasche und drückte eine der Kurzwahltasten.

»Bitte sag mir, dass du nicht tot bist, Riley«, meldete sich eine angespannte Stimme mit britischem Akzent.

Ich seufzte gereizt. »Nein, Wes, sie haben mir das Hirn weggepustet, und mein Geist ruft dich aus dem Jenseits an. Was glaubst du denn?«

»Na ja, da du mich anrufst, gehe ich davon aus, dass die Sache nicht so abgelaufen ist wie geplant. Dann hat der Georgskrieger es vielleicht geschafft, sich umbringen zu lassen?«

Mein Blick wanderte zu Ember und dem Soldaten. »Könnte sein.«

»Könnte sein? Was ist das denn für eine dämliche Antwort? Entweder ist er tot, oder er ist es nicht.«

»Das ist kompliziert.« Ich erklärte ihm möglichst knapp die momentane Lage und wie es dazu gekommen war. Dass Garret vom Patriarchen und Anführer des Georgsordens zu einem Duell auf Leben und Tod herausgefordert worden war, wusste Wes bereits. Dem Soldaten war es mit Mühe gelungen, den Mann zur Kapitulation zu zwingen und so den Kampf zu beenden. Aber dann hatte er einen entscheidenden Fehler gemacht, indem er sein Leben verschonte. Während der Soldat sich abgewandt und davongegangen war, hatte der Patriarch eine Pistole gezogen und ihm in den Rücken geschossen. Mit dieser Aktion hatte er sein Leben dann doch noch beendet, da einer seiner eigenen Sekundanten blitzschnell reagiert und dem ehemaligen Patriarchen mehrere Kugeln in den Leib gejagt hatte. Für den Soldaten kam diese Hilfe allerdings zu spät, sodass er nun halb tot auf der Salzebene vor den Toren von Salt Lake City lag.

»So viel zum berühmten Ehrgefühl der Georgskrieger«, murmelte ich, da am anderen Ende der Leitung schockierte Stille herrschte. »Jedenfalls müssen wir ihn – und uns – jetzt schleunigst hier wegschaffen. Kriegst du das hin?«

»Verdammt, Riley.« Wes seufzte. »Könntest du nicht wenigstens mal versuchen, nicht immer in Situationen zu geraten, in denen einer von euch fast draufgeht?« Er unterbrach sich, und ich hörte, wie ein Motor gestartet wurde. »Ich komme, so schnell ich kann. Und achte bitte darauf, dass nicht noch jemand erschossen wird, okay?«

»Eine Sache noch.« Ich senkte die Stimme, bis ich fast flüsterte, und wandte dem Trio auf dem Boden den Rücken zu. »Hiermit aktiviere ich das Abschirmprotokoll für Notfälle. Schick die Nachricht an alle Verstecke im Netzwerk.«

»Verflucht, Riley«, hauchte Wes. »Ist es wirklich so schlimm?«

»Gerade eben wurde der Anführer des Georgsordens, der große Zampano höchstselbst, getötet. Selbst wenn sie das nicht uns in die Schuhe schieben – was sie tun werden, da kannst du dir sicher sein –, wird jetzt Chaos ausbrechen. Und ich will nicht, dass einer von uns angreifbar ist, wenn die Lage eskaliert. Bis ich etwas anderes sage, rührt sich niemand vom Fleck oder streckt auch nur eine Schuppe vor die Tür.«

»Mist, verdammter«, murmelte Wes, und ich hörte, wie er auf eine Tastatur einhämmerte. Selbst in Warteposition behielt Wes seinen Laptop immer in Reichweite. »Abschirmprotokoll ist … aktiviert.« Diesmal klang sein Seufzen erschöpft. »Das wäre erledigt. Dann nehme ich mal an, dass wir uns auch einbunkern und abwarten, bis man im Orden die Nachricht vernommen hat und entsprechend ausrastet.«

»Komm so schnell es geht, Wes.«

»Alles klar, bin unterwegs.«

Ich steckte das Handy weg und rang mir ein Grinsen ab, während ich St. Anthony fragte: »Eure Leute haben nicht zufällig eine Trage mitgebracht, oder?«

»Doch, haben wir.« Er kniete immer noch neben dem reglosen Sebastian im Salz. Seine ernste Stimme schwankte leicht, auch wenn man sehr genau hinhören musste, um es zu bemerken. »Der Orden ist stets auf alles vorbereitet. Allerdings dachten wir, es würde nur … eine Leiche geben.«

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, was das Schwindelgefühl noch zu verstärken schien. Mein Blick wanderte von der kleinen Gruppe vor mir zu der reglosen, ganz in Weiß gekleideten Gestalt, die einige Meter weiter auf der Salzkruste lag. Wie auch der Soldat war sie voller Blut, am Rücken ihrer vorher so makellosen Uniform ließ sich durch die roten Flecken genau ablesen, wo die Kugeln den Körper getroffen hatten. Der Patriarch des Georgsordens lag noch immer dort, wo er tot zusammengebrochen war, das Gesicht in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Wut erstarrt.

Ich wäre vermutlich auch überrascht, wenn einer meiner eigenen Soldaten mir mehrmals in den Rücken schießen würde. Und nicht einmal der, den ich zum Kampf auf Leben und Tod gefordert hatte.

»Tristan St. Anthony.« Hinter uns erklang eine leise, kalte Stimme. Der Angesprochene schloss kurz die Augen, bevor er den Kopf hob.

»Sir.«

»Steh auf. Entferne dich von den Drachen, sofort.«

St. Anthony gehorchte prompt und distanzierte sich mit ein paar Schritten von Ember und mir. Doch seine Bewegungen waren steif und unbeholfen. Mit bemüht ausdrucksloser Miene drehte er sich zu dem Mann um, der hinter uns aufgetaucht war. Der Patriarch hatte ihn mit Martin angesprochen – Lieutenant Martin. Er war weder besonders groß noch besonders breit, schon etwas älter, verfügte aber über diese besondere Autorität, die ich schon öfter an Truppenführern und den Veteranen unter den Drachentötern bemerkt hatte. St. Anthony nahm Haltung an und starrte blind geradeaus, während der andere ihn mit seinen dunklen Augen musterte, aus denen sich nichts ablesen ließ.

Ich beobachtete die Szene aufmerksam. Würde er den jungen Soldaten gleich hier hinrichten? Vielleicht stand auf die Tötung des Patriarchen ja die Todesstrafe. Obwohl St. Anthony sich in meinen Augen vollkommen richtig verhalten hatte. Die Aufgabe der Sekundanten bestand darin sicherzustellen, dass das Duell fair ablief, dass niemand eingriff, betrog oder den Kampf irgendwie beeinflusste. Sebastian hatte gewonnen – der Patriarch hatte sich ergeben, und das Duell war damit eindeutig beendet gewesen. Sebastian in den Rücken zu schießen war nicht nur extrem feige gewesen, sondern hatte auch zweifelsfrei die Schuld des Patriarchen bewiesen, weshalb St. Anthony absolut korrekt reagiert hatte. Vermutlich war es ein Reflex gewesen, und ihm war erst später klar geworden, was er getan hatte, trotzdem hatte er dadurch vermutlich die anderen Sekundanten davor bewahrt, von zwei rachsüchtigen Drachen zu Kohle verarbeitet zu werden.

Doch ich kannte mich nicht besonders gut aus mit den Richtlinien und Gesetzen des Georgsordens, wusste nur, dass sie wohl extrem streng waren, fast schon fanatisch. Vielleicht spielte für sie ja gar keine Rolle, was der Patriarch getan hatte. Vielleicht zog die Tötung des verehrten Anführers aller Georgskrieger ja automatisch ein sofortiges Todesurteil nach sich, ganz egal, welche Absicht dahintergesteckt hatte. Würde mich nicht überraschen.

St. Anthony auch nicht, seiner Miene nach zu urteilen.

Der Offizier musterte den jungen Soldaten noch einen Moment lang schweigend, dann seufzte er schwer. »Du hast getan, was getan werden musste, St. Anthony«, erklärte er steif, woraufhin sein Gegenüber ruckartig den Kopf hob. »Du hast in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Heiligen Georg gehandelt. Der Patriarch hatte sich schuldig gemacht, und seine Taten verlangten nach sofortigen Sanktionen.« Sein Tonfall passte nicht hundertprozentig zu seiner Miene. Anscheinend fiel es ihm schwer, sich mit dieser Wahrheit abzufinden. »Du hast deine Pflicht getan, auch wenn der Rat das eventuell anders sehen wird«, fuhr er fort. St. Anthony zuckte kurz zusammen. »Aber ich werde mich für dich einsetzen und alles tun, damit du nicht bestraft wirst.«

»Sir«, erwiderte St. Anthony leise, verstummte dann aber wieder, da mit knirschenden Schritten der zweite Offizier zu uns trat. Er war älter als die beiden anderen Georgskrieger, hatte einen weißen Bart und trug eine Augenklappe. Als er uns ansah, verzog sich sein Gesicht voller Hass.

Mit vor Wut zitternder Stimme verkündete er: »Wisset dies, Drachen: Am heutigen Tag mögt ihr siegreich gewesen sein, aber gebrochen habt ihr uns damit nicht. Der Orden wird sich von diesem Schlag erholen, und wenn es so weit ist, werden wir nicht eher ruhen, bis Talon vernichtet ist. Dieser Krieg ist noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Er hat gerade erst begonnen.«

Ich musste grinsen und hätte gerne etwas angemessen Trotziges und Unverschämtes geantwortet, aber da löste Ember zum ersten Mal den Blick von dem reglosen Soldaten und blickte zu den Menschen hoch.

»So muss es nicht sein«, sagte sie leise und beherrscht. »Manche von uns wollen nichts mit Talon oder dem Krieg zu tun haben. Manche von uns versuchen einfach nur zu überleben.« Durchdringend sah sie St. Anthony an. »Garret wusste das. Deshalb ist er überhaupt nur zu dir gekommen, deshalb hat er alles riskiert, um den Patriarchen auffliegen zu lassen. Talon hat den Orden dazu benutzt, Drachen töten zu lassen, die sich der Organisation nicht anschließen wollen. Der Orden des Heiligen Georg glaubt, wir wären alle gleich, aber das ist nicht wahr.« Leise Verzweiflung schlich sich in ihre Stimme, und sie starrte wieder auf den reglosen Soldaten vor sich.

»Wir wollen diesen Krieg nicht«, murmelte sie. »Es hat schon zu viele Tote gegeben. Es muss einen Weg geben, ihn zu beenden.«

»Es gibt einen«, erwiderte der Offizier kalt. »Der Krieg wird enden, wenn auch der letzte Drache auf diesem Planeten ausgelöscht wurde. Keinen Tag früher. Selbst wenn du die Wahrheit sagst, wird der Orden des Heiligen Georg niemals wanken. Der Orden wird niemals von seiner Mission abrücken: die Bedrohung auszumerzen, die deine Art darstellt. Wenn überhaupt, hat diese Angelegenheit nur wieder einmal bewiesen, wie tückisch ihr Drachen seid. Vielleicht hat Talon das alles sogar genau so geplant, um dem Orden durch die Beseitigung des Patriarchen einen schweren Schlag zu versetzen.«

»Sind Sie wirklich so dämlich?«, schaltete ich mich ein, was mir einen scharfen Blick der drei Männer eintrug. »Ist man im Orden derart blind und verbohrt, dass man nicht einmal in Erwägung zieht, dass es auch eine andere Sichtweise geben könnte? Macht die Augen auf, Georgskrieger! Hier stehen zwei Drachen vor euch, die Talon genauso hassen, wie der Orden es tut. Und wenn ihr glaubt, das sei alles ein perfider Plan der Organisation gewesen, um den Patriarchen loszuwerden, dann habt ihr das nicht richtig durchdacht. Warum sollte Talon den Patriarchen umbringen wollen, wenn in Wahrheit doch sie die Fäden gezogen und den Orden genau dorthin gelenkt haben, wo sie ihn haben wollten? Wir …«, ich zeigte auf Ember, den Soldaten und mich, »… wir waren gezwungen, diese Allianz auffliegen zu lassen, sonst hätte Talon euch nur weiter dazu benutzt, uns auszuschalten. Vielleicht solltet ihr mal darüber nachdenken, was das heißt.«

Mir fiel auf, dass St. Anthony noch immer Ember beobachtete, die krampfhaft Sebastians Hand umklammert hielt. In seinen Augen spiegelte sich Verwirrung, und er runzelte kaum wahrnehmbar die Stirn. Doch dann ergriff der alte Mann wieder das Wort, kein bisschen weniger kalt als zuvor.

»Nehmt Sebastian mit und verschwindet.« Er trat einen Schritt zurück. »Der Orden wird euch nicht verfolgen, zumindest heute nicht. Doch der Tag der Abrechnung wird kommen, Drache. Und dann solltet ihr besser weit, weit weg sein, sonst werdet ihr mit dem Rest von euresgleichen untergehen. Martin, St. Anthony.« Er stapfte zum Leichnam des Patriarchen hinüber, der inzwischen in einer großen Blutlache lag. Martin folgte ihm, während Tristan noch einen Moment stehen blieb und Ember durchdringend musterte, bevor er auf dem Absatz herumwirbelte und hoch aufgerichtet davonging. Keiner der Männer sah sich noch einmal um.

Ich kniete mich hin, legte Ember eine Hand auf die Schulter und beugte mich über sie. »Wes ist unterwegs. Bald kommen wir hier weg.«

Sie nickte, ohne mich anzusehen. »Meinst du … meinst du, er schafft es?«, flüsterte sie.

Einerseits wollte ich ihr nicht wehtun, andererseits konnte ich sie auch nicht belügen. Oder ihr falsche Hoffnungen machen. »Ich weiß es nicht, Rotschopf«, murmelte ich deshalb. »Er hat sehr viel Blut verloren. Ich habe keine Ahnung, ob die Kugel lebenswichtige Organe verletzt hat, aber … sein Zustand ist kritisch. Du solltest dich wohl auf das Schlimmste gefasst machen.« Sie presste die Lider zusammen, und als sie den Kopf hängen ließ, rann eine Träne über ihre Wange. Mein Drache erwachte, und ich spürte, wie ein dicker Kloß in meiner Kehle aufstieg. Verbittert musste ich daran denken, was sie dem Soldaten zugeflüstert hatte, als er sterbend in ihren Armen lag. An das leise Geständnis, das sie ihm mit in die Bewusstlosigkeit gegeben hatte. In diesem Moment wusste ich, dass sie diese Worte wohl nie zu mir sagen würde.

Es sei denn, es gäbe ihn nicht mehr.

Bei diesen finsteren, ekelhaften Überlegungen meines Drachen wurde mir ganz schlecht. Schnell stand ich auf und ging ein paar Schritte, wobei ich den leeren Horizont absuchte.

Der Patriarch war also tot. Wir hatten erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Na ja, nicht unbedingt, den Mann umzubringen, aber doch, ihn vor dem Rest des Ordens auffliegen zu lassen und damit das Bündnis zwischen ihm und Talon zu beenden. Nun konnte die Organisation nicht mehr die Strippen des Ordens ziehen, da ihre liebste Marionette von der Bühne abgetreten war. Das würde den Georgsorden ins Chaos stürzen, und sie würden Vergeltung für den Tod ihres Anführers fordern, aber zumindest waren sie so eine Weile beschäftigt. Und während die Georgskrieger ihr weiteres Vorgehen überdachten, konnte ich mein Netzwerk noch besser im Untergrund verstecken, damit wir beim zu erwartenden Gegenschlag nicht mehr auffindbar waren.

Blieb allerdings immer noch Talon.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube sah ich zu, wie die Sonne langsam über den Horizont stieg und die Salzebene in rotes Licht tauchte. Irgendetwas lag in der Luft, das spürte ich. Der Tod des Patriarchen würde auch Talon zu einer Reaktion zwingen. Vielleicht hatten sie es ja tatsächlich so geplant. Ich kam mir vor wie eine Figur auf einem Schachbrett – ein Bauer, der gerade einen Läufer geschlagen hat, sich umdreht und plötzlich der Dame gegenübersteht, die ihn quer über das Brett hinweg angrinst.

Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. Langsam wurde ich paranoid. Selbst wenn Talon mit so etwas gerechnet hatte, hätte das nichts an unseren Plänen geändert. Wir wären trotzdem gezwungen gewesen, den Patriarchen zu entlarven, und alles wäre genauso gekommen: Am Ende wurde der Anführer des Ordens erschossen, und der Soldat, der ihn enttarnt hatte, schwebte auf dem blutverklebten Salzboden zwischen Leben und Tod.

Über die Schulter schaute ich zu Ember und dem Menschen zurück, die eng aneinandergeschmiegt auf der tristen, gnadenlosen Ebene hockten. Das Gesicht des Soldaten war ebenso weiß wie das Salz unter ihm, während ungefähr die Hälfte seines Blutes – und wahrscheinlich auch ein wenig von meinem – in der aufgehenden Sonne trocknete. Versuch, nicht zu sterben, Georgskrieger, dachte ich plötzlich, was mich selbst überraschte. Von nun an wird alles noch unüberschaubarer werden, und es wäre nicht schlecht, dich dabeizuhaben, wenn alles den Bach runtergeht. Falls Talon sich dazu entschließt, mit geballter Macht gegen uns vorzugehen, brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können. Außerdem würde Ember es dir nie verzeihen, wenn du jetzt den Löffel abgibst.

Und ich will nicht den Rest meines Lebens mit einem beschissenen Geist konkurrieren müssen.