Buch
Helen, Rosa und Ani sind alle drei Single – allerdings in unterschiedlichen Stadien: Helen führt mehr oder weniger eine Beziehung mit ihrer Katze, und wenn sie nicht gerade arbeitet, erfreut sie sich an ihrer makellos geputzten Wohnung.
Rosa hat sich gerade von ihrem Mann getrennt, der sie mit einer zwanzigjährigen Praktikantin namens Daisy betrogen hat. Alles, was sie will, ist sich verkriechen und heulen – Dating ist das Letzte, was ihr gerade in den Sinn käme.
Ani dagegen hatte im vergangenen Jahr vermutlich mehr erste Dates, als andere in einem ganzen Leben. Als Anwältin für Scheidungsrecht hat sie einen eher zynischen Blick auf die Männerwelt – wenn das erste Date nicht absolut perfekt läuft, dann gibt es keine zweite Chance.
Doch dann kehrt ihre Freundin Marnie zurück nach London – mit einer ebenso witzigen wie verrückten Idee: Zeig mir deinen Ex, ich zeig dir meinen – und schon ist es geboren, das Projekt »Ex-Factor« …
Autorin
Eva Woods lebt in London, wo sie schreibt und Creative Writing unterrichtet. Sie liebt Wein, Popmusik und Urlaub, und sie ist sich sicher, dass Onlinedating das schlechteste Brettspiel ist, das je erfunden wurde.
Von Eva Woods bereits erschienen:
Die Glücksliste
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Eva Woods
Roman
Aus dem Englischen
von Ivana Marinovic
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»The Ex-Factor« bei Harlequin Mira,
an imprint of HarperCollinsPublishers, London.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2016 by Eva Woods
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Melike Karamustafa
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
LH · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17688-4
V002
www.blanvalet.de
Für Diana Beaumont,
die mich zu einer besseren Schriftstellerin macht.
Prolog
Marnie
»Wir bitten alle Fahrgäste, ihre Sicherheitsgurte zu schließen; in Kürze beginnen wir mit dem Landeanflug auf …«
Sie ignorierte die Ansage so lange wie möglich. Wenn man dabei war wegzurennen, weil man keinen Ort hatte, wo man hinkonnte, bestand schließlich kein Grund zur Eile. Erst als die Stewardess kam und sie zurechtwies, schnallte sie sich widerwillig an, nahm ihre Ohrstöpsel heraus und schob die Sonnenblende hoch.
Von oben sah London grau aus. Wie ein riesiges, zusammengekauertes Wesen, das in der kalten Januarluft fröstelte. Sie war sich nicht sicher, warum und wohin sie zurückkehrte. Nicht nach Hause – sie wusste momentan nicht, wo das war.
Das Flugzeug senkte sich seitlich durch den eisigen Winternebel. Um sie herum begannen die Leute damit, ihre Habseligkeiten einzusammeln, ihren Müll zusammenzuknüllen, ihre Arme und Beine zu strecken. Voller Vorfreude auf eine neue Stadt, den Buckingham Palace, den Tower of London, Madame Tussauds.
Sie nicht. Ihr graute davor. Aber wenn ihre Mutter ihr eins beigebracht hatte, dann dies: Immer schön ein Pokerface aufsetzen. Also schob sie sich trotz des diesigen Lichts ihre große Sonnenbrille auf die Nase, wischte die Krümel des Bordmenüs von ihrem sorgfältig ausgesuchten Outfit und zog sich den Mund mit dem roten Lippenstift nach. War das Cape zu viel des Guten? Das Kleid zu schrill? Egal, jetzt war ohnehin keine Zeit mehr, sich umzuziehen.
Sie zog ihr Handy hervor und schrieb einen Tweet: Lande gleich auf der Piste! Kann es kaum erwarten, euch alle zu sehen. London! xx
Ihr blieb noch ein Moment, um darüber nachzudenken, was sie hinter sich gelassen hatte, und die Tränen zu spüren, die ihr zum wiederholten Mal an diesem Tag in die Augen stiegen. Pokerface. Sie setzte ein Lächeln auf. Aus den Lautsprechern ertönte ein Piepen, und der graue Asphalt der Landebahn kam in Sicht. Sie war zurück.
Kapitel 1
Gestörte Routine
Helen
Wie viele Nachrichten bekommt man an einem durchschnittlichen Tag? Wie viele E-Mails, Facebook-Benachrichtigungen, Tweets? Die meisten sind sofort vergessen – die Freundinnen, die wegen ihrem Gewicht durchdrehen oder weil ihr Boss sie auf Facebook entdeckt hat (wie ironisch), der Werbenewsletter, den man seit Ewigkeiten abbestellen wollte, Bilder von einem Promi-Frühstück auf Instagram.
Doch manchmal bekommt man auch eine Nachricht, die mehr ist als das. Diese Nachricht sagt zunächst womöglich nichts Besonderes aus. Zuerst ignoriert man sie vielleicht, dreht sich um und schläft weiter, lässt das Handy zurück in die Tasche fallen und vergisst sie. Aber obwohl man es zu jenem Zeitpunkt noch nicht wissen kann, ist diese Nachricht der Beginn von etwas, das das eigene Leben für immer verändern wird. Natürlich, mindestens 99,99999 Prozent aller digitalen Benachrichtigungen sind absoluter Müll, aber man kann sich nie sicher sein.
Helen wurde vom Summen ihres Handys geweckt. Sie setzte sich kerzengerade in ihrem Bett auf und tastete blind auf dem Nachttisch herum, zwischen der Fernbedienung für den Fernseher, der für die Jalousien, den Tempos, der Handcreme und dem gerahmten Foto ihres Katers. Die Dinge in ihrer Wohnung fügten sich zu einer Mischung, die irgendwo zwischen NASA-Kontrollraum und der Pinterest-Wand einer Ü-40-Jungfer lag.
Sie starrte blinzelnd auf das Handy. Las die Nachricht noch einmal. Stieß ein kleines »Huch« in Richtung der leeren Bettseite neben sich aus, dann sah sie auf die Digitalanzeige ihres Weckers. 7:45 Uhr. Nur eine zutiefst selbstsüchtige Person würde einer Freiberuflerin zu dieser unchristlichen Zeit eine SMS schicken. Doch die Nachricht leuchtete hartnäckig auf dem Display und brannte sich in ihre Netzhaut. Ihr erster Gedanke war: Sie ist zurück. Hallo, Marnie. Tschüss, gesunder Schlaf. Ihr zweiter Gedanke war: Heilige Scheiße! Sie ist zurück! Ein undefinierbares Gefühl flackerte in ihr auf und verflog wieder. Eine Mischung aus Aufregung, Nervosität und noch etwas anderem, das sie nicht richtig einordnen konnte. Dann löste sie sich aus ihrer Erstarrung und begann umgehend damit, Bars und Restaurants zu googeln – und Detoxbehandlungen.
Es heißt, ein Freund, der einen als Menschen nicht verändert, ist kein echter Freund, sondern nur ein guter Bekannter. Helen hätte der Redensart noch eins hinzuzufügen gehabt: Eine Freundin, die einem nicht ständig das Gefühl gibt, man wäre gerade dabei, in eine Achterbahn zu steigen – aufgeregt, verängstigt und mit dem Hauch einer Chance, sich eine ernsthafte Verletzung zuzuziehen –, ist keine echte Freundin.
Sie stand um Punkt acht Uhr auf – noch bestand keine Notwendigkeit, an ihren Gewohnheiten zu rütteln – und begann mit ihrer morgendlichen Routine. Es war Dienstag, also wusch sie sich die Haare, benutzte Zahnseide und rasierte sich die Beine. Sie trug eine tief pflegende Gesichtsmaske auf, stellte den Wecker auf exakt vier Minuten und verbrachte die Einwirkzeit damit, ihr gerötetes Gesicht im Spiegel zu betrachten und einen meditativen Sprechgesang anzustimmen: »Ich bin erfolgreich. Ich bin glücklich. Mir geht es gut allein.« Nicht dass sie diese selbstbekräftigende Aussage sonderlich überzeugte – sie fühlte sich weder besonders erfolgreich noch wirklich glücklich, aber dafür definitiv ziemlich allein.
Sie putzte die Dusche und besprühte die Oberflächen mit Glanzspray, wischte rasch das Waschbecken aus und sammelte die Handtücher und Bettbezüge ein, um sie in die Waschmaschine zu werfen, so wie sie es jede Woche tat. Dann brühte sie einen Kaffee in ihrer Chambord-Kanne auf, die blitzeblank neben dem Spülbecken stand, wo sie sie am Vorabend zum Abtropfen stehen gelassen hatte, kochte sich ein Fünfminutenei, stellte den Toaster auf drei Minuten und schob zwei Brotscheiben hinein. Und die ganze Zeit über schaute sie kein einziges Mal auf ihr Handy. Disziplin. Das war der Schlüssel zu allem.
Um 8:46 Uhr befand Helen, dass nun ein guter Zeitpunkt sei, um auf die SMS zu antworten.
Hi! Tolle Neuigkeit. Soll ich einen Ausgehtrupp zusammentrommeln?
Als ihr Finger über dem Senden-Knopf schwebte, überlegte sie kurz, ob sie Marnie noch fragen sollte, wo sie in London unterkommen würde, entschied sich dann aber dagegen. Sie hatte bestimmt schon etwas aufgetan, ein besetztes Haus, ein Zimmer zur Zwischenmiete oder einen Lover, den sie bereits an der Victoria Coach Station aufgegabelt hatte.
Die Antwort-SMS kam sofort, was nur bedeuten konnte, dass Marnie gerade erst angekommen und noch nicht sicher war, was sie tun sollte. Ja! Gleich heute Abend, wenn möglich? Würde euch alle supergern sehen. xx
Helen öffnete die Facebook-Messenger-Gruppe, die sie jeden Tag nutzte, um mit Rosa und Ani zu chatten.
Ratet mal, was! M ist zurück.
Sie stellte sich vor, wie ihre Freundinnen die Nachricht anklickten: Rosa in ihrem Büro in der Zeitungsredaktion, Ani vielleicht auf dem Weg zum Gericht. Beide schick gekleidet, mit Schlüsselbändern, Kaffeebechern und strahlenden Businessgesichtern.
Ani meldete sich als Erste zurück: Waaaaas? Einfach so aus dem Nichts heraus? Hat sie irgendwas darüber gesagt, wo sie die ganze Zeit war?
Keine Ahnung. Ich schätze, wir werden es früh genug erfahren. Heute Abend essen gehen?
Heute-heute? So wie am heutigen Tag in ein paar Stunden?
Ach, komm schon. Leb mal ein bisschen! Du kannst doch bestimmt um acht Feierabend machen?
Ich sollte eigentlich bei meinen Eltern vorbeischauen. Dekoblumen für die Verlobung meiner Cousine basteln und dabei 10.000 Fragen beantworten, wann ich endlich an der Reihe bin.
Willst du stattdessen nicht lieber einen netten Abend mit uns verbringen?
Ich würde mir stattdessen sogar lieber die Augen zutackern. Also, ja, ich bin dabei. Was ist mit dir, Rosa?
Leute, ich tippe von unter meinem Schreibtisch. Schon wieder. Ich habe hier unten mittlerweile einen Tempovorrat gebunkert.
In Rosas Großraumbüro war der Platz unter ihrem Schreibtisch einer der wenigen Orte, an den sie sich zum Heulen verkriechen konnte. Was man anscheinend recht oft tun musste, wenn man sich gerade von seinem Ehemann getrennt hatte und besagter Ex nur ein paar Meter entfernt am anderen Ende des Raumes arbeitete.
Würde ein Drink deine Stimmung vielleicht heben?, tippte Helen rasch. Verstehe aber total, wenn nicht.
Warum denn nicht?, erwiderte Rosa. Karriere und Ehe im Eimer, da kann ich genauso gut an meinem Sozialleben feilen. Rosa, der frischgebackene Single, hatte einen Hang zu derlei dramatischen Verlautbarungen entwickelt. Muss los. Make-up auffrischen, bevor David vorbeikommt.
Pass auf dich auf, Süße, schrieb Helen. Denk dran, du bist toll, wir lieben dich, und du brauchst ihn nicht.
Muss auch los, der Richter wartet, schrieb Ani. Bitterböse Anhörung in einem Scheidungsfall. Wenigstens hat dein Mann nicht mit deiner Schwester geschlafen, Rosa.
Wahrscheinlich nur, weil ich keine Schwester habe.
Helen verabschiedete sich mit ein paar weiteren Mitleidsbekundungen und wünschte viel Glück. Auf wundersame Weise hatte sie es geschafft, sie alle vier zu einem Abendessen zu versammeln, und das an einem Wochentag, in London, im Januar, mit nur ein paar Stunden Vorlaufzeit. Das schien Leistung genug für einen Tag, aber die Arbeit rief.
Sie klickte ihren E-Mail-Posteingang an und holte tief Luft. Sie liebte es, von zu Hause aus zu arbeiten und konnte sich gar nicht mehr vorstellen, in ein Büro zurückzukehren, aber dennoch brauchte sie gewisse Regeln. Sich anzuziehen war eine davon, selbst wenn es sich nur um einen Pyjama handelte. Eine andere Regel lautete, dass ihre Arbeit keinen Einfluss auf ihr Privatleben nehmen durfte. Allerdings war das leichter gesagt als getan.
Die erste E-Mail in ihrem Posteingang lautete: Ich glaube, mein Ehemann trifft sich mit einer Frau von ihrer Seite. Können Sie mir seinen Nutzernamen nennen? Das ist einfach nur widerwärtig. Ich verstehe nicht, wie Sie mit so was Ihr Geld verdienen können.
Helen wurde schwer ums Herz. Herauszufinden, dass sich der Mann, den man liebte, mit einer anderen traf, sie küsste, sie hielt, ihr flirtende Nachrichten schickte – es war nicht so, als könnte sie die Wut nicht nachvollziehen. Aber das hier war ihr Job.
Sie tippte die Standard-Antwort: Es tut uns leid, aber wir sind nicht befugt, Informationen über unsere Mitglieder nach draußen zu geben. Wir möchten Ihnen jedoch nahelegen, mit Ihrem Mann zu reden – es könnte sich um reine Neugierde handeln oder einen Hilferuf. Womöglich hilft es auch, wenn Sie versuchen, Ihre Beziehung wieder ein bisschen aufzupeppen – versuchen Sie es! Sie holte noch einmal tief Luft und fügte den Rest hinzu. Sie hasste es, aber ihr Boss bestand darauf. PS: Selbstverständlich können Sie sich jederzeit selbst bei uns anmelden! Helen drückte auf Senden.
An manchen Tagen – eigentlich an den meisten – hasste sie, was sie tat, hasste sich dafür, dass sie es tat. Es war ganz sicher nicht das, was sie erwartet hatte, als sie sich vor zwei Jahren für den Im-Nachhinein-zu-gut-um-wahr-zu-sein-Heimarbeits-Job beworben hatte, aber als sie das herausfand, war es schon zu spät gewesen. Und hier saß sie nun und hing fest. Sie blickte auf den Titelkopf der Website, die sie betreute: Mein-kleiner-Seiten-Sprung. Das beliebteste UK-Datingportal für Menschen in Beziehungen.
Ein weiterer Tag am Schreibtisch. Alles war wie immer. Nur dass Marnie zurück war.
Ani
Ani steckte ihr Handy ein, als sie sich dem Gerichtsgebäude näherte.
Ihr Mandant – sie beriet ihn außergerichtlich, während ihre Kollegin Louise als Prozessanwältin seine Vertretung vor Gericht übernahm – wartete auf den Stufen und stieß eine Rauchwolke in die kühle Luft. Ani versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie bevorzugte ein nettes, knappes Händeschütteln oder, noch besser, gar keinen Körperkontakt.
»Mark, hi. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich kann’s kaum erwarten, die Sache hinter mich zu bringen, damit ich diese Kuh nie wiedersehen muss.«
»Nun, Sie werden sie wohl oder übel wiedersehen müssen, wenn Taylor und Ashley bei Ihnen leben sollen.« (Worum sie vor Gericht gebeten hatten. Wogegen Ani sich ausgesprochen hatte.) Sie lächelte weiter.
»Ja, klar. Ich meine … ich will nur sichergehen, dass ich fair behandelt werde, verstehen Sie? Es sind immerhin auch meine Kinder.«
Ani ermahnte sich still, dass es nicht ihr Job war, Urteile zu fällen. Es war nicht ihre Schuld, dass Marks Exfrau zu weinen anfing, sobald sie den Saal betraten, oder dass Mark seiner Prozessanwältin Louise in den Ausschnitt glotzte. Und es war auch nicht ihre Schuld, dass der Anwalt der gegnerischen Partei zwanzig Minuten zu spät kam und sie damit alle dazu zwang, in peinlicher Stille auszuharren, während der Richter die Prozessakten durchblätterte und mit steigender Gereiztheit Dinge von sich gab wie: »Was bitte ist ein PlayStation?« oder »Mr. Smith erlaubte seiner Tochter, vier Stunden lang Keeping Up with the Kardashians anzuschauen? Was ist ein Kardashian?«
Schließlich ergriff Louise das Wort. »Sir, vielleicht sollten wir …«
Doch genau in diesem Moment kam eine in einen teuren Wollmantel gehüllte Gestalt hereingestürmt. »Es tut mir leid, Sir. Wir mussten eine Anhörung unterbrechen, weil meine Mandantin in Ohnmacht gefallen ist.«
Ja klar, dachte Ani, die solche Tricks gewohnt war. Der Kollege versuchte wohl eher, so viele Fälle wie möglich in einen Tag zu stopfen, um sein Honorar aufzubessern.
Sie blickte auf, und ihr Ärger schnellte exponentiell in die Höhe. Der gegnerische Anwalt war etwa fünfunddreißig, gebräunt, obwohl sie Januar hatten, und seine grünen Augen blitzten unter dem teuer frisierten schwarzen Haar hervor. Er sah gut aus – und er war sich dessen sehr bewusst.
»In Ordnung, Mr. Robins, dann legen Sie mal los«, sagte der Richter besänftigt.
Ani warf einen Blick in ihre Unterlagen. Adam Robins. Er blickte beiläufig in ihre Richtung, als er sich auf seinen Platz gleiten ließ, wie um zu sagen, dass er mühelos den Boden mit ihnen aufwischen könnte.
Und er sollte recht behalten. Louise war gut, aber Adam Robins schlug sie vernichtend, indem er Marks sämtliche moralische Verfehlungen auflistete – wie er Denises Schwester unter dem Weihnachtsbaum gevögelt hatte, wie er das Geld für die Geschenke der Kinder für Call of Duty 4 verpulvert hatte, wie er Denise ein Weight-Watchers-Geschenk-Abo gekauft hatte, weil er der Meinung gewesen war, »das kannst du echt gut gebrauchen, Schatz«.
Ab und an warf Mark protestierend den ein oder anderen Satz ein: »Hab ich nicht!«, »Na ja, sie hat doch immer gesagt, sie sei fett!« oder »Das war kein richtiger Sex, nur oral«; und Ani war aufrichtig überrascht, als er am Ende trotzdem das eingeschränkte Sorgerecht für die Kinder zugesprochen bekam. Er verließ geschlagen den Gerichtssaal, während er wenig überzeugend etwas von Männerrechten vor sich hin brummte. »Das ist eine Schande. Ich werde mich an die Organisation Väter für Gerechtigkeit wenden.«
»Die haben sich aufgelöst«, bemerkte Ani knapp, als sie auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude standen. »Nun, Mark, es war nicht ganz das, was Sie sich erhofft haben, aber ich denke, es ist wirklich das bestmögliche Ergebnis.«
»Kann schon sein«, erwiderte er, schon wieder vollkommen unverdrossen. »Hören Sie mal, haben Sie Samstag schon was vor?«
Zuerst missverstand sie ihn. »Ich arbeite am Wochenende nicht, und …«
»Nein, ich meinte mehr Sie und ich auf ein Curry und ein Bier. Ich wette, Sie kennen ein paar nette Läden, wo man richtig gut Curry essen kann. Ach übrigens, was für eine Abkürzung ist das eigentlich? Ani ist doch gar kein indischer Name, oder?«
Sie starrte ihn sprachlos an, bis sie hinter sich jemanden sagen hörte: »Anisha. Sorry, Miss Sing, meine ich. Sie sind mir doch nicht böse wegen vorhin?«
Es war der schreckliche Anwalt, Adam Robins, der sich das dunkle Haar aus dem Gesicht strich. Mark schüttelte ihm die Hand, scheinbar unbeirrt von dem Rufmord, den selbiger gerade vor Gericht an ihm verübt hatte.
Ani funkelte ihn an. Wir konnte er es bloß wagen, so attraktiv und gleichzeitig so souverän zu sein? »Mr. Robins, nicht wahr? Vielleicht könnten Sie in Zukunft versuchen, nicht zu spät zu kommen? Wie Sie sich denken können, ist meine Zeit ebenfalls etwas wert.«
Adam Robins grinste sie amüsiert an. Seine Augen hatten exakt dieselbe Farbe wie grüne Fruchtgeleebonbons. »Da bin ich mir sicher. Ich weiß schließlich, was Sie für Ihre Leistungen pro Stunde verlangen.«
Mark riss die Augen auf. »Sie meinen, dass sie …«
»Juristische Leistungen.« Ani wandte dem Anwalt den Rücken zu. Und fügte an Mark gewandt kurz angebunden hinzu: »Ich gehe jetzt. Ich habe noch andere Mandanten.«
»Kann ich dann ihre E-Mail-Adresse haben? Also Ihre persönliche, mein ich.«
»Klar. Das wäre Ani-at-nichtineinermillionjahrekumpel-punkt-com. Melden Sie sich bei Ihrer nächsten Scheidung bei mir, die wird zwangsläufig nicht ausbleiben.«
Als sie davonstapfte, hörte sie Adam Robins ein leises Geräusch von sich geben, das durchaus ein Lachen hätte sein können, während Mark ihn fragte: »Alles klein geschrieben, oder was meinen Sie?«
Sie hatte sich unprofessionell verhalten, aber das war ihr egal. Und das war genau der Grund, warum sie mit zweiunddreißig Jahren immer noch mehr Single war als eine Single-LP – ohne B-Seite –, und warum sie, wenn sie am Wochenende ihre Eltern besuchte, ihnen ein weiteres Mal würde erklären müssen, dass sie sich zurzeit mit niemandem traf, und nein, auch immer noch nicht wollte, dass sie einen netten jungen Mann für sie fanden, aber trotzdem danke. Denn wie sollte man bitte an die Liebe glauben, wenn man den lieben langen Tag damit beschäftigt war, ihre zersplitterten Überreste aufzukehren?
Wenigstens stand heute Abend das Essen mit ihren Freundinnen an. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. Und wenn es jemanden gab, der ein noch hoffnungsloserer Fall war als Ani, dann war das Marnie.
Rosa
Rosa saß wieder an ihrem Schreibtisch und ging im Kopf ihre Checkliste durch. Verwischte Wimperntusche? Check. Sie hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, welche zu benutzen, nachdem sie eine B-Promi-Schauspielerin interviewt hatte, ohne zu merken, dass sie so riesig dunkle Flecken um die Augen hatte wie ein Panda. Rotz im Gesicht, auf dem Kleid oder im Haar? Check. Sie hatte sich angewöhnt, so viele Taschentücher mit sich rumzutragen, dass sie bei einem Sturz aus dem Flugzeug wahrscheinlich ohne auch nur einen Kratzer überleben würde. Ihr geblümtes Kleid, der Cardigan und die blickdichte Strumpfhose hatten womöglich heute Morgen bei ihrer trendbewussten Chefin für ein gequältes Zusammenzucken gesorgt, aber wenigstens sah sie so einigermaßen respektabel aus. Gab sie gerade laute, schluchzende Geräusche von sich, ohne es zu merken? Check. Außer sie war angesichts der Häufigkeit ihrer Ausbrüche schon taub geworden. Alles war in Ordnung oder zumindest so weit in Ordnung, wie es das in Anbetracht der Tatsache, dass ihr Mann sie vor zwei Monaten verlassen hatte, sein konnte.
Sie warf einen Blick auf den Text auf ihrem Bildschirm: Der Star des TV-Polizei-Dramas ’Aving a Laugh Natasha Byrd macht bei unserem gemeinsamen Brunch ihrem Namen alle Ehre. Während sie in ihrem Salat herumpickt wie ein Vögelchen, erzählt sie mir, dass sie nur einmal täglich isst und …
Mist. Ihr David-Radar schlug aus. Sie hatte in dieser Hinsicht so feine Antennen entwickelt, dass sie selbst dann bemerkte, dass er sich ihr näherte, wenn er sich außerhalb ihres Blickfelds befand. Rosas Schreibtisch befand sich direkt auf dem Weg zum Hauptbesprechungsraum, und die Redaktionskonferenz musste diesmal früher geendet haben. An den meisten Tagen versteckte sie sich zu dieser Uhrzeit auf dem Klo und wartete dort in relativer Sicherheit ab, bis er an seinen Platz zurückgekehrt war. Aber jetzt blieb ihr nur eine Möglichkeit. Nachdem sie sich ihr Handy geschnappt hatte, ließ sie sich unauffällig auf die Knie herunter und kauerte sich wieder unter dem Schreibtisch zusammen. Es war gemütlich dort unten zwischen den herunterhängenden Kabeln und den jahrzehntealten Staubschichten, und der Platz war schnell zu ihrem neuen Lieblingsort geworden.
»… deswegen denke ich, wir sollten im Januar ganz groß auf Detox setzen. Mehr Quinoa, mehr Mungbohnen. Weiß irgendwer, welches die neuesten Trendkörner sind?«
Auuua! Rosas Schreibtischsessel wurde von unsichtbaren Händen zur Seite geschoben und war mit Karacho über ihren Daumen gerollt. »Heilige Kacke!«, brüllte sie, bevor sie es sich verkneifen konnte. Oh nein.
»Ach du Scheiße, alles okay?«
Rosa spähte unter dem Tisch hervor, um dort Jason Connell, den neuen Chefredakteur, den ihre Zeitung von der Klickköder-Seite Listbuzz abgeworben hatten, stehen zu sehen, und daneben ihre Chefin, Suzanne, die in knallengen Metallic-Leggins und einem zweiwöchigen Botoxzyklus steckte.
»Rosa, was tust du da?«, fragte Suzanne. »Bist du nicht ein bisschen zu alt, um Verstecken zu spielen?«
Doch Rosa hatte nur Augen für die dritte Person im Bunde, die eine rote Skinny-Jeans und ein knallgelbes T-Shirt trug. Das war der Mann, den sie vor fünf Jahren geheiratet hatte, der Mann, mit dem sie ihr Leben hatte verbringen wollen, und von dem sie nie erwartet hätte, dass er irgendwann einmal eine rote Jeans tragen würde. Von dem sie nie geglaubt hätte, dass er seine Schallplattensammlung einpacken und aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen würde. Und schon gar nicht, dass er sie mit einer Praktikantin betrügen würde. Sie hatte ihm von der roten Jeans abgeraten, aber er hatte sie trotzdem gekauft, rückblickend hätte sie das als ein Zeichen erkennen müssen.
»Rosa?« David starrte auf sie herab. »Alles in Ordnung?«
»Alles super!« Sie versuchte, jedes Körnchen journalistischen Scharfsinns zusammenzukratzen, über das sie vielleicht noch verfügte. »Ähm, das ist nur so ein neuer Trend, den ich ausprobiere. Er heißt … Kopf-zu-Tisch-Raum.«
»Kopf-zu-Tisch-Raum?« Beinahe wären Suzannes übertrieben gezupfte Augenbrauen in der Mitte ihrer Botox behandelten Stirn zusammengestoßen. Sie hatte kaum noch so was wie Mimik übrig, daher war sie gezwungen, allein durch das angedeutete Blähen ihrer Nasenflügel Angst und Schrecken zu verbreiten. Es war ein wohlgehütetes Geheimnis – was hieß, dass vom Reinigungspersonal bis hin zu den Vorstandsvorsitzenden alle davon wussten –, dass Suzanne mal in flagranti mit Bill McGregor, dem verheirateten Geschäftsführer der Zeitung, in den alten Druckereiräumen erwischt worden war. Die Abdrücke auf der Abendausgabe hatten anscheinend nur wenig der Fantasie überlassen. Damit hatte sie sich unkündbar gemacht, ungeachtet dessen, dass sie die Personifizierung des Bösen selbst war.
»Jep. Das ist ein neuer Meditationstrend«, erwiderte Rosa verzweifelt. »Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Achtsamkeit die Leistung bei der Arbeit bis zu … äh … siebenundvierzig Prozent steigern kann.«
»Hm, das gefällt mir«, sagte der neue Chefredakteur und beugte sich zu Rosa hinunter. Er musste über eins achtzig groß sein, und er sah aus wie ein Surfer, mit dem welligen blonden Haar, das einen Hauch zu lang, und einer Krawatte, die einen Tick zu locker saß für Londoner Büroverhältnisse. An einem anderen, besseren Tag, an dem sie sich nicht unter einem Schreibtisch verkrochen hätte – unter den Blicken ihrer Chefin, deren Boss und ihrem baldigen Ex-Ehemann –, hätte Rosa seinen australischen Akzent sexy gefunden. »Das ist ein guter Ansatz: Arbeite smarter, nicht härter. Könnten wir nicht einen Beitrag dazu bringen?«
»Klar!«, erwiderte Suzanne eifrig. »Was auch immer du willst, Jason. Wir setzen uns sofort dran.« Aber ihre Nasenflügel sagten: Ich werde dich umbringen, Rosa. Ich werde dich zwischen meinen Fingern zerquetschen, wie morgens die frischen Zitronen für meinen Detoxsmoothie.
Rosa jedoch konnte nur David anstarren, der sie mit einem flüchtigen Blick bedachte – war das Mitleid? – und sich dann umdrehte, um davonzugehen. Immerhin hatte sie recht gehabt: In der Jeans sah er aus wie ein wandelnder Weihnachtstruthahn.
Jason Connell betrachtete sie immer noch neugierig, und Rosa versuchte, ihm mit einem Lächeln mitzuteilen, dass sie ein cleveres, total professionelles und geschätztes Mitglied der Belegschaft war – was wirklich nicht einfach war, wenn man gerade unter einem Schreibtisch kauerte. Er ging vor ihr in die Hocke und zupfte sanft an ihrem langen, dunklen, geflochtenen Zopf.
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Da war eine Staubflocke«, erklärte er. Dann lächelte er – war das ein Zwinkern? – und ging zurück in sein Büro.
Rosa setzte sich wieder an ihren Platz. Nur noch vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten, bis sie das Büro verlassen, einen Drink kippen und – mit ein bisschen Glück – damit das letzte bisschen Hirn vernichten konnte, das sie an diesen Vorfall erinnern würde. Außerdem war Marnie zurück. Sie hatte mit Sicherheit einen Ratschlag parat, wie man am besten damit umging, wenn der eigene Exmann im selben Büro arbeitete wie man selbst. Immerhin gab es in Bezug auf Männer keine Situation auf dieser Welt, die Marnie noch nicht erlebt hatte.