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Buch

Eine neue Kundin, Sheila McInerney, betritt das Büro von Samuel Hoenig. Die junge Frau beauftragt ihn mit der Beantwortung folgender Frage: »Wer ist der Mann, der behauptet, mein Ehemann zu sein?« Mit diesem Auftrag findet sich Samuel auf völlig unbekanntem Terrain wieder – der Ehe. Und so setzt er alle Hebel in Bewegung, um seine Assistentin Janet Washburn zurückzuholen, die sich auf diesem Gebiet deutlich besser auskennt. Als Sheila panisch bei Samuel anruft, weil ihr vermeintlicher Ehemann sie bedroht, ahnt Samuel, dass es hier um weit mehr als die Beantwortung einer simplen Frage geht …

Autor

Jeff Cohen, aufgewachsen in New Jersey, ist ein schriftstellerischer Tausendsassa. Als Reporter schrieb er u. a. für die New York Times, Entertainment Weekly und USA Today, er arbeitete als Lehrer, Redakteur und Drehbuchautor und veröffentlichte zwei Sachbücher über das Asperger-Syndrom. In seinen Kriminalromanen, die sich in den USA bereits über 100 000-mal verkauften, bringt Jeff Cohen seine Leser gern zum Lachen, während er ihnen reihenweise Verdächtige präsentiert und sie auf falsche Fährten lockt.

Jeff Cohen bei Blanvalet

Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen (Samuel Hoenig 1)

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Jeff Cohen

Eine Leiche

auf Abwegen

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Question of the Unfamiliar Husband

(An Asperger’s Mystery)« bei Midnight Ink, Woodbury.

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1. Auflage

Copyright © 2015 by Jeff Cohen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel/punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(© Colorcocktail, © Panptys, © jorgen mcleman)

Redaktion: Angela Küpper

JB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18644-9
V001

www.blanvalet.de

Für Seymour M. Cohen,

Byron T. Copperman und

Jessica Oppenheim

1

Die Eingangstür ging auf, und eine Frau trat ein.

Ich hatte an meinem Mac Pro gearbeitet und versucht, die Antwort auf die Frage eines Kunden zu finden. Den Auftrag hatte ich in der vergangenen Woche angenommen. Darin ging es um einen Rapfen, ein Sprungbrett und eine bestimmte Menge Bourbon, aber die Frage war nicht bemerkenswert genug, um sie hier näher auszuführen. Allerdings hatte ich zugestimmt, sie zu beantworten, denn ich hatte seit sechs Tagen nicht mehr gearbeitet und brauchte die geistige Übung. Auch das Honorar hatte eine Rolle gespielt.

Vor sechs Monaten hatte ich Fragen Beantworten gegründet. Ich hatte das Ladengeschäft in der Stelton Road 735 in Piscataway, New Jersey, gemietet, weil es in der Nähe des Hauses liegt, in dem meine Mutter und ich gemeinsam leben. Es genügte meinen minimalen Ansprüchen, und ich konnte es mir leisten. Seither hatte ich hier und da eine Anzeige geschaltet. Dadurch und durch ein bisschen Mundpropaganda – ein Ausdruck, der für mein Empfinden nur wenig Sinn ergibt, da Wörter auf Papier oder als Pixel ebenso wirksam sind – war es mir gelungen, die meiste Zeit über mit Aufträgen eingedeckt zu sein.

Die Frau, sie war etwa siebenundzwanzig Jahre alt, einen Meter siebzig groß, hatte braune Augen und Haare, sah sich nervös im Raum um – bei Menschen, die mein Geschäft betreten, keine ungewöhnliche Reaktion.

Vor Fragen Beantworten hatte sich in diesem Gebäude eine Pizzeria namens San Remo befunden. Die Öfen, die zur Herstellung des hauptsächlichen Produkts dieses Einzelhandelsunternehmens verwendet worden waren, standen noch immer in meinen Räumlichkeiten, doch ich hatte niemals einen von ihnen eingeschaltet. Allerdings muss ich zugeben, dass ich bisweilen versucht war, es aus Neugier auszuprobieren.

In der Mitte des großen Raumes – größer als eigentlich notwendig, jedoch meinen Bedürfnissen angepasst und geeignet, darin auch bisweilen ein Experiment durchzuführen – standen ein Schreibtisch, an dem ich arbeitete, daneben ein Lehnstuhl, in dem meine Mutter oft saß, wenn sie mich im Büro besuchte, und außerdem gab es noch zwei tragende Säulen. Der Großteil des Raumes war leer, aber sauber. Man hatte mir schon gesagt, dass die Wände einen neuen Anstrich vertragen könnten, doch ich hatte keinen Nutzen darin gesehen, da es meines Wissens keine Erkenntnisse darüber gibt, dass Menschen interessantere Fragen stellen, wenn sie sich in einer frisch gestrichenen Umgebung aufhalten.

»Darf ich Ihnen helfen?«, fragte ich die Frau. Ich hatte mir antrainiert, diese Frage zu stellen. Mein natürlicher Impuls war eigentlich herauszufinden, was ein möglicher Kunde wissen wollte, doch Mutter behauptet, dass die Leute so viel Direktheit verstörend finden. Zudem frage ich nie: »Kann ich Ihnen helfen?« Wenn mir irgendjemand in einem Geschäft diese Frage stellt, verwirrt es mich jedes Mal, denn ich habe ja keine Ahnung, ob die betreffende Person das kann, bevor er oder sie weiß, was ich von ihr will. Zwar bin ich mir sicher, dass ich den meisten Menschen helfen kann, die in mein Büro kommen und mir eine Frage stellen, aber statistisch gesehen ist es eine Tatsache, dass ich nicht jede einzelne Frage beantworten kann. Man hat mir bisher noch keine Frage gestellt, auf die ich keine Antwort finde, doch theoretisch ist das eben möglich.

»Ich … ich bin mir nicht sicher«, entgegnete die Frau. »Ist das hier so etwas wie ein Detektivbüro?«

So. Diese Unterhaltung abzukürzen wäre ein Leichtes, denn mein Unternehmen hat mit einem Detektivbüro nichts zu tun. »Nein«, antwortete ich folglich. »Sie sind bei Fragen Beantworten.« Ich machte eine Geste in Richtung des Schildes im Schaufenster, auf das ich den Namen des Unternehmens deutlich mit wasserfestem Stift geschrieben habe. Mutter findet, ich sollte in ein professioneller aussehendes Schild investieren, und wahrscheinlich sollte ich das wirklich, denn üblicherweise hat sie in solchen Dingen recht.

Statt entmutigt zu wirken, machte die Frau jedoch weitere fünf Schritte auf mich zu. Ich erhob mich, denn Dr. Mancuso hatte mir gesagt, dass es als unhöflich wahrgenommen würde sitzen zu bleiben, während die Person, mit der man spricht, vor einem steht. Wie ich es geübt hatte, streckte ich die Hand aus. »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Samuel Hoenig. Mir gehört Fragen Beantworten.«

»Ähm, ich habe eine Frage, die ein paar Ermittlungen erfordert. Das gehört doch zu Ihren Leistungen?« Streng genommen war das keine Frage, aber ihr Tonfall, der am Ende des Satzes um eine Terz anstieg, zeigte mir an, dass sie es für eine hielt.

Also antwortete ich ihr, als wäre ich der Meinung, sie hätte mich etwas gefragt. »Es hängt von der Frage ab. Die meisten Fragen erfordern einige Nachforschungen, doch nicht alle bedürfen Ermittlungen außerhalb dieser vier Wände.«

»Sie haben schon früher in einem Kriminalfall ermittelt«, erinnerte sie mich. »Davon habe ich im Star-Ledger gelesen.«

Ich biss mir auf die Lippe. Es stimmte. Vor drei Monaten hatte ich eine Frage zu einem Mordfall beantwortet, allerdings nur weil sie mit einer anderen Frage in Verbindung stand, die ich ebenfalls zu beantworten versuchte – und weil Mutter mir, was eher unfair war, eine Frage zu dem Mord gestellt und mir dann für die Beantwortung einen Dollar gezahlt hatte.

»Haben wir«, räumte ich ein. »Das ist jedoch nicht unser vordringliches Betätigungsfeld. Wenn Sie jemanden benötigen, der für Sie eine Straftat untersucht, dann rate ich Ihnen, sich an einen Privatdetektiv oder an die Polizei zu wenden.« Ich erwog, mich wieder hinzusetzen, als Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war, doch das stand im Konflikt mit der Möglichkeit, dann als unhöflich wahrgenommen zu werden. Es war eine schwierige Entscheidung, also blieb ich erst einmal stehen.

»Ich bin nicht sicher, ob ich jemanden brauche, der eine Straftat untersucht«, entgegnete die Frau. »Ich bin nicht mal sicher, ob überhaupt eine Straftat vorliegt.« Sie sah sich noch einmal rasch um. Ihr Blick blieb an Mutters Lehnstuhl hängen. »Darf ich mich setzen?«

Da meine Mutter nicht anwesend war und ich sie demnächst auch nicht erwartete, nickte ich. Wenn die Frau sich setzte, würde mir das immerhin erlauben, mich ebenfalls wieder an meinem Schreibtisch niederzulassen. Ohne die Fußstütze auszuklappen, setzte sie sich also in den Lehnstuhl. Auch ich nahm meinen ursprünglichen Platz wieder ein und kam zur Sache: »Wie lautet Ihre Frage?« Erneut war ich unsicher, ob diese direkte Nachfrage angemessen war, doch meines Erachtens war es notwendig, mit der Unterhaltung voranzukommen, damit ich mich wieder der Angelegenheit mit dem Rapfen widmen konnte.

»Mein Name ist Sheila McInerney«, stellte die Frau sich vor. Zwar hatte ich sie nicht nach ihrem Namen gefragt, aber sie fuhr fort, genau wie ich es erwartet hatte. »Ich arbeite als Grafikerin bei einer Werbeagentur in der Stadt.« Wenn Leute aus dem nördlichen New Jersey von »der Stadt« sprechen, meinen sie New York City, genauer gesagt Manhattan. Wenn Leute aus dem südlichen New Jersey von »der Stadt« sprechen, meinen sie Philadelphia. Ms. McInerney meinte Manhattan.

Da sie bisher nichts gesagt hatte, was auf eine Frage hinwies, mit deren Beantwortung sie mich hätte beauftragen können, schwieg ich.

»Ich habe stets gern gearbeitet, doch ich möchte auch ein Zuhause, eine Familie und all das haben«, fuhr Ms. McInerney fort und sagte damit immer noch nichts, was besonders aufschlussreich gewesen wäre. »Ich habe die üblichen Dates hinter mich gebracht, habe mich sogar auf einer dieser Internetplattformen angemeldet, aber ich habe den Richtigen für mich offenbar noch nicht gefunden.«

Mir schien, es wäre nun an der Zeit, etwas zu erwidern, obwohl es schwierig würde, dabei weder ungeduldig noch unhöflich zu klingen. Also überlegte ich sorgfältig. »Wieso hat diese Suche Sie hierhergeführt?« Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass Ms. McInerney durch irgendeinen Computeralgorithmus den Schluss gezogen haben könnte, dass ich ihr Traummann war, doch falls sie wirklich zu diesem Ergebnis gekommen sein sollte, wäre es wohl notwendig, sie von dieser Vorstellung wieder abzubringen.

Trotz meines Versuchs, taktvoll zu sein, wirkte sie überrascht. »Nun, dazu äußere ich mich gleich. Ich wollte nur klarstellen, dass ich keine bin, die – Sie wissen schon – sich einfach dem Erstbesten an den Hals wirft. Ich suche einen Mann, der mein Freund und Partner, nicht nur mein Liebhaber sein kann.«

Das Gespräch führte inzwischen unzweifelhaft in eine Richtung, die mir Unbehagen bereitete. Ich erwog, Ms. McInerney gegenüber zu behaupten, in einer Beziehung zu sein, doch das wäre eine Lüge gewesen, und Mutter sagt immer, dass Lügen unter keinen Umständen hilfreich sind. Theoretisch könnte ich das anzweifeln, aber praktisch bin ich ein sehr schlechter Lügner, also nehme ich diesen Rat von ihr grundsätzlich erst einmal an.

Glücklicherweise hatte Ms. McInerney einfach nur Luft geholt und erwartete nicht, dass ich etwas erwiderte. »Was ich, glaube ich, zum Ausdruck bringen will, ist, dass ich nicht die Art Frau bin, die mit jedem Typen gleich ins Bett steigt.«

Es hatte Jahre gebraucht, bis ich bei Gesprächen meinem Gegenüber in die Augen sehen konnte, doch wenn das Thema mir unangenehm ist, bereitet es mir auch heute noch einige Schwierigkeiten. Nun starrte ich auf den Bildschirm meines MacBooks, auf dem eine Seite aufgerufen war, die sich mit den unterschiedlichen Sorten von Bourbon beschäftigte. Allerdings versuchte ich nicht wirklich, sie zu lesen. »Verstehe«, sagte ich. Streng genommen war das die Wahrheit – ich verstand, welche Botschaft sie mir zu vermitteln versuchte. Warum sie jedoch diese Information mit mir teilen wollte, war mir im Moment noch vollkommen schleierhaft.

»Gut«, sagte Ms. McInerney, als wäre nun irgendetwas geklärt. »Wir haben uns also über die Grundlage verständigt, auf der Sie mein Problem verstehen können.«

Manche Schlüsselworte lösen in mir fast reflexhafte Reaktionen aus. Wenn ich höre, dass jemand von einem »Problem« spricht, erfolgt eine rasche Antwort meinerseits. »Ich löse hier keine Probleme. Mein Unternehmen heißt Fragen Beantworten. Ich beantworte Fragen.«

Gerade wollte ich einige Vorschläge machen, wie Ms. McInerney ihr wie auch immer geartetes Problem stattdessen lösen könnte, da ergriff sie erneut das Wort.

»In Ordnung«, sagte sie. »Ich habe eine Frage an Sie, Mr. Hoenig: Wer ist der Mann in meinem Bett, der von sich selbst behauptet, mein Ehemann zu sein?«

2

Dieses Mal stellte ich sicher, dass ich Ms. McInerney in die Augen sah. »Glauben Sie, dass ein Hochstapler vorgibt, Ihr Ehemann zu sein?«, fragte ich. »Sind Sie mit jemand anderem verheiratet?« Sie schien zuvor das Gegenteil behauptet zu haben, also betrachtete ich ihr Gesicht sehr aufmerksam. Es gab kein Anzeichen eines Zögerns, kein Zucken. Sie hatte mit dieser Reaktion gerechnet und hatte ihre Frage tatsächlich genau so formuliert, dass sie den größten Effekt erzielte. Das hatte sehr gut geklappt.

Mein Interesse war geweckt.

»Nein, ich glaube, dass ich gar nicht verheiratet bin. Ich denke, dass der Mann, der jetzt in meiner Wohnung lebt und in meinem Bett schläft, ein Betrüger ist.«

Ich sah auf ihre linke Hand, an der Frauen oft einen Verlobungs- oder Ehering oder beides tragen. An ihrer gab es nur einen einfachen goldenen Ring, sonst nichts. An keiner Hand trug sie einen Diamanten oder anderen Schmuck.

»Wie ist das möglich?«, fragte ich sie. »Sie würden es doch sicher wissen, wenn Sie jemanden geheiratet hätten.«

»Das ist kompliziert«, entgegnete sie, und mir fiel auf, dass sie diesmal den Blickkontakt abbrach. Das gilt bei den meisten Menschen, die als »neurotypisch« gelten, als ein verräterisches Zeichen.

»Das kann ich mir vorstellen. Welcher Art ist die Komplikation genau?«

Ms. McInerney saugte an ihren unteren Schneidezähnen, als wolle sie einen unangenehmen Geschmack loswerden. »Ich möchte nicht, dass Sie denken, mir passiert das häufig.«

Meine Meinung über ihr Verhalten schien ihr wichtig zu sein, und da sie eine mögliche Kundin war (genauer gesagt, da ich mich für die Frage interessierte), war es von Bedeutung, ihre Bedenken zu zerstreuen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mehr als einen Ihnen unbekannten Ehemann haben.«

»Das ist nicht lustig, Mr. Hoenig.«

»Ich wollte keinen Witz machen«, erwiderte ich. »Bitte. Erzählen Sie, was passiert ist.«

Sie nickte und atmete einmal tief durch; ich war mir nicht sicher, ob das spontan oder meinetwegen geschah. Plötzlich wünschte ich mir, dass Mutter hier wäre, da sie mir oft Gesten oder Zeichen erklären kann, die ich als solche nicht erkenne.

»Es war auf einer Party, vor etwas über einem Monat«, begann Ms. McInerney.

»Wer hat die Party gegeben?«, fragte ich nach.

Ms. McInerney blinzelte und öffnete die Augen ein bisschen weiter. Sie war entweder überrascht oder verärgert über die Unterbrechung. »Eine meiner Freundinnen von der Arbeit, Jenny LeBlanc. Es war eine Mottoparty, was ich normalerweise nicht mag. Aber diese war lustig. Wir sollten als unsere liebste Filmfigur kommen.«

Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass Ms. McInerney mit ihrem »wir« nicht sagen wollte, ich hätte ebenfalls kostümiert zu dieser Party kommen sollen. »Welche Figur haben Sie gewählt?«, fragte ich, weil ich annahm, dass sie diese Frage von mir erwartete.

»Harpo Marx. Wissen Sie, wer das ist?«

War das eine Fangfrage? Ich hatte alle dreizehn Filme der Marx Brothers gesehen, und auch wenn manche der Witze für mich schwer zu verstehen waren, war ich mit Harpo Marx vertraut. Was mich allerdings verwirrte, war, dass sich Ms. McInerney als diese Filmfigur verkleidet hatte.

»Harpo Marx war ein Mann«, stellte ich fest. »Und Sie haben glattes Haar. Seins war sehr lockig und zerzaust. Er ist seit über sechzig Jahren tot. Wie konnten Sie hoffen, dass man Sie für Harpo Marx halten würde?«

Sie starrte mich nicht wirklich an, hielt aber für einen langen Moment Blickkontakt, als suche sie in meinen Augen nach etwas, was dort nicht zu finden war. »Ich habe nicht gehofft, dass die anderen glauben würden, ich wäre wirklich Harpo Marx«, erklärte sie. »Ich habe mich nur für die Party verkleidet. Andere Gäste hatten sich als Spiderman und als Ron Burgundy verkleidet. Eine Frau kam als die Prinzessin aus der Eiskönigin. Es war eine Party.«

Ich zwang mich, nicht weiter über den Sinn von Verkleidungen nachzudenken, und konzentrierte mich stattdessen auf die Frage. »Was hat das mit dem Ehemann zu tun, den Sie für einen Betrüger halten?«

Ms. McInerney nickte und kehrte zum eigentlichen Thema zurück. Im Stillen nahm ich mir vor, keine weiteren unproduktiven Abschweifungen des Gesprächs zuzulassen. »Ich habe auf der Party einen Mann kennengelernt, an so viel erinnere ich mich. Er war als Zorro verkleidet und trug eine Maske, die den Großteil seines Gesichts verdeckte.«

Obwohl ich noch nie einen Film über den fiktionalen Zorro gesehen hatte, kannte ich Fotos von Schauspielern in dieser Rolle, also konnte ich mir vorstellen, wie die Figur ungefähr ausgesehen haben musste: ein breitkrempiger Hut und eine Maske vor den Augen, wegen der man nicht viel vom Gesicht erkennen konnte. »War er der Mann, mit dem Sie nun verheiratet sind?«

Ihre Arme schlenkerten ein wenig an ihren Seiten, aber nur einmal. Manche Menschen, die Verhaltensweisen des Autismusspektrums aufweisen, schlenkern manchmal vor Aufregung oder aus Frustration mit den Armen, doch diese Geste war weniger ausgeprägt – eher wie ein Schulterzucken, das anzeigen sollte, dass sie nicht in der Lage war, darauf eine abschließende Antwort zu geben.

»Er behauptet es«, führte sie aus. »Ich weiß, dass ich mit ihm zwei Gläser Rotwein auf der Veranda hinter dem Haus getrunken habe. Und dann sind meine Erinnerungen für drei Tage weg. Er behauptet, wir hätten am zweiten Abend geheiratet, weil wir so verliebt ineinander waren, dass wir nicht länger hatten warten wollen. An nichts davon erinnere ich mich, aber es gibt eine Heiratsurkunde und Bilder, die sein bester Freund Roger bei der Hochzeit geschossen hat. Darauf lächle ich, obwohl mir nicht klar ist, warum.«

»Wo hat die Hochzeit stattgefunden?«, fragte ich. »In New Jersey hätten Sie so schnell kein Aufgebot bestellen können.«

»Offenbar sind wir nach Darien in Connecticut gefahren. Es gibt dort keine Wartezeit, solange man einen Ausweis bei sich hat.«

»Ich hätte auf Delaware getippt, doch wenn die Person, die heiraten möchte, nicht aus diesem Staat stammt, gibt es dort eine viertägige Wartezeit«, bemerkte ich. Tatsächlich hatte ich mich noch nie direkt um Wartezeiten vor Hochzeiten gekümmert, aber einmal war mir eine Frage gestellt worden, die sich ausdrücklich auf diejenigen in Delaware bezog. Ein Mann hatte herausfinden wollen, ob die Hochzeit seiner Eltern wirklich gültig war. Sie war es.

»Keine Ahnung«, fuhr Ms. McInerney fort. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Darien gewesen zu sein. Ich erinnere mich nicht einmal daran, die Party verlassen zu haben. Man muss mir wohl etwas eingeflößt haben, Mr. Hoenig.«

»Mir ist kein Betäubungsmittel bekannt, das drei Tage der eigenen Erinnerung auslöscht, Ms. McInerney, aber ich muss mich darüber kundig machen. Woran erinnern Sie sich denn im Anschluss an die Party, auf der Sie als Harpo Marx aufgetreten sind?«

Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als zwinge man sie dazu, sich einem traumatischen Erlebnis zu stellen. Diesen Blick kenne ich von Menschen, deren Haustier gerade gestorben ist oder deren Lieblingsmannschaft ihr wichtigstes Spiel verloren hat.

»Ich entsinne mich, dass ich wie immer in meiner Wohnung aufgewacht bin«, erklärte Ms. McInerney. »Und als ich Ollie sah – so heißt er, Ollie Lewis –, wie er im Bett neben mir lag, bekam ich beinahe einen Herzinfarkt.« In diesem Punkt übertrieb sie offenbar, denn Herzkrankheiten werden durch verstopfte Arterien oder andere organische Störungen ausgelöst und niemals von einem Gefühl der Überraschung. Das ignorierte ich einfach. »Zuerst dachte ich, es wäre das Unüberlegteste und Dümmste gewesen, was ich jemals getan habe, und ich behielt recht, doch ich wusste nicht, wie sehr ich recht behielt, bevor er aufgewacht ist und mich als seine Frau bezeichnet hat.«

»Sie kannten Mr. Lewis vorher nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand hatte je auch nur seinen Namen erwähnt.«

Ich hatte mir keine Notizen gemacht, und die waren auch nicht nötig; an dieses Gespräch würde ich mich in allen Einzelheiten erinnern. »In welcher Beziehung stand er denn zu Ihrer Freundin Ms. LeBlanc? Warum war Oliver Lewis auf ihrer Party?«

Ihre Stimme klang wehmütig und voller Reue. »Er war der Freund eines Freundes. Terry Lambroux soll ihn mitgebracht haben.«

»Terry« ist ein Name, der Personen beiderlei Geschlechts bezeichnen kann. »Ist Terry ein Mann oder eine Frau?«, hakte ich daher nach.

»Das ist eine gute Frage«, entgegnete Ms. McInerney. »Ich wünschte, ich könnte sie Ihnen beantworten, doch ich kenne nur den Namen. Die dazugehörige Person habe ich nie getroffen. Die einzige andere Person, der ich auf der Party begegnet bin, ist Ollies Freund Roger Siplowitz.«

»Die Party und die Hochzeit – falls es tatsächlich eine gegeben hat – haben schon vor Wochen stattgefunden«, sagte ich, um mit der Unterhaltung voranzukommen. »Was haben Sie inzwischen unternommen? Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Was hätte ich denen denn sagen sollen? Dass mich ein Mann gegen meinen Willen geheiratet hat? Das ergibt doch gar keinen Sinn, Mr. Hoenig. Geld habe ich keines, ich lebe von der Hand in den Mund. Ollie kann also nicht vorgeben, mein Ehemann zu sein, um dadurch Zugriff auf ein riesiges Vermögen zu erlangen. Es gibt nämlich keins, und auch bei meiner Familie ist nichts zu holen.«

»Vielleicht wollte er nur Sex mit Ihnen haben«, vermutete ich. Sex ist für Menschen – vor allem für Männer – oft ein starkes Motiv.

»Und deshalb hat er mich geheiratet? Wenn Ollie mir K.-o.-Tropfen in den Drink geschüttet hat, um mich nach unserem Date zu vergewaltigen, hätte er das getan und sich dann aus dem Staub gemacht. Davon hört man ja andauernd.« Sie stand auf und drehte sich um. Die Geste ähnelte der in einem alten Film noir, nur dass Ms. McInerney keinen Trenchcoat trug und auch keine Zigarette in der Hand hielt.

Recht hatte sie allerdings damit, auf die mangelnde Logik meines Vorschlags hinzuweisen. »Haben Sie die Heiratsurkunde gesehen, deren Existenz Mr. Lewis behauptet?«, fragte ich. »Haben Sie vielleicht eine Kopie bei sich?«

Die Frage schien Ms. McInerney zu überraschen. Sie blinzelte zweimal und biss sich dann wieder auf die Unterlippe. »Nein, habe ich nicht. Aber ich habe sie gesehen. Sie wirkte offiziell.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die oberen Schneidezähne. Das geschieht bei mir ganz unwillkürlich beim Nachdenken. Da ich in der Therapie über ein Jahr dafür gebraucht habe, mir eine viel auffälligere Geste (mit den Fingern zu wackeln) abzugewöhnen, schien dies das kleinere Übel zu sein. »Es ist nicht weiter schwer, ein echt wirkendes Dokument zu erstellen. Ich werde ein paar Nachforschungen in den Verwaltungsakten des Fairfield County anstellen müssen.« Was ich sagte, war mehr an mich selbst gerichtet als an Ms. McInerney, deren Gesichtsausdruck ich schwer deuten konnte – Verärgerung? Verwirrung? Das hätte ich nicht sagen können.

»Also übernehmen Sie den Fall?«, fragte sie.

»Ich übernehme keine Fälle«, erklärte ich ihr erneut. »Ich beantworte Fragen.«

»Werden Sie dann meine Frage beantworten, Mr. Hoenig?«

»Zuerst muss ich wissen, was Ihr liebster Beatles-Song ist.«

Ms. McInerney kniff die Augen zusammen, als versuche sie mich besser zu sehen. Diese Reaktion ist mir schon öfter aufgefallen – doch es ist eine Frage, die mir dabei hilft, die Persönlichkeit eines Menschen besser einzuschätzen. Sie fragte mich allerdings nicht, warum mich das interessierte. Für einen Augenblick schürzte sie ganz leicht die Lippen.

»›Yesterday‹«, antwortete sie dann.

Konventionell. Möglicherweise bedauert sie etwas in ihrem Leben.

»Mehr wollte ich gar nicht wissen«, sagte ich.

»Also werden Sie tatsächlich meine Frage beantworten?«

»Ja, auch die über Ihren angeblichen Ehemann.«

Sie bedankte sich, wir einigten uns auf ein Honorar, und sie gab mir die Hälfte davon als Anzahlung, so halte ich es mit sämtlichen neuen Klienten. Sie brauchte neun Minuten, um mein Neukundenformular auszufüllen, dann ging sie und versicherte vorher noch, wie glücklich sie über meine Hilfe sei. Ich wollte schon entgegnen, dass ich nicht zugestimmt hatte, ihr zu helfen – wenn sie tatsächlich mit einem Mann verheiratet war, den sie kaum kannte, konnte ich sie aus dieser misslichen Lage nicht befreien, dafür benötigte sie einen Scheidungsanwalt –, entschied aber, dass die Bekräftigung, ihre Frage beantworten zu wollen, wohl genügte.

Als Ms. McInerney wieder fort war, machte sich jedoch ein ängstliches Gefühl in meiner Magengegend breit. Normalerweise sind die Fragen, um die ich mich kümmere, mit ein paar einfachen Nachforschungen zu beantworten. Tatsächlich lehne ich allzu einfache Fragen oft ab oder beantworte sie dem Kunden auf der Stelle und berechne dafür nur einen Bruchteil meines üblichen Honorars. Viele Menschen könnten ganz leicht selbst auf die Antworten kommen, die sie für kompliziert halten. Oft ist ein Besuch bei Fragen Beantworten eher ein Zeichen von Faulheit als für die Schwierigkeit einer Fragestellung.

Mit dieser Art von Aufgabe begab ich mich auf ein Terrain, das nicht zu meinen Stärken zählte. Tatsachen sind häufig leicht zu ermitteln, vor allem wenn sie mit Geschichte oder Wissenschaft zu tun haben. Herauszufinden, ob die Schlacht von Gettysburg von der Gesichtsbehaarung eines bestimmten Generals beeinflusst worden ist (wie man mich einmal gefragt hat), war eine einfache Angelegenheit von Recherche und Meteorologie. Den behaupteten legendären Tausch des Schlägers der Boston Red Sox, Ted Williams, gegen den Star der New York Yankees, Joe DiMaggio, über den man sich angeblich bereits handelseinig war, bevor er dann doch wieder abgeblasen wurde, konnte ich in weniger als drei Stunden bestätigen.

Aber Ms. McInerneys Frage bewegte sich auf erheblich weniger vertrautem Gebiet. Ob eine gültige Eheschließung in Darien, Connecticut, am erwähnten Datum stattgefunden hatte und aktenkundig war, war ziemlich leicht herauszufinden. Doch ihre Frage war ja tatsächlich komplexer, als nur ihren Familienstand zu bestimmen.

Ms. McInerneys Frage hatte weitere Aspekte: »Wer ist der Mann in meinem Bett, der von sich selbst behauptet, mein Ehemann zu sein?« Um das zu beantworten, würde ich mich mit dem Verhältnis von Mann und Frau beschäftigen müssen, dem Bereich von Gefühlen und ihrem Ausdruck, der wirklich nicht zu meinen Spezialgebieten gehört. Es war denkbar, dass ich mich bereit erklärt hatte, einer Frage nachzugehen, für deren Beantwortung ich in hohem Maße unqualifiziert war.

Ich begann mit ein wenig Powerwalking in meinem Büro, wobei ich die Arme für einen zusätzlichen Fitnesseffekt nach oben streckte. Da mein Arzt mir geraten hatte, nicht länger als zwanzig Minuten am Stück auf einem Bürostuhl zu sitzen, achtete ich sehr darauf, meinen Herzschlag drei Mal pro Stunde auf Touren zu bringen. Ich würde gern sagen, dass mir diese Gewohnheit dabei hilft, tiefgreifender nachzudenken, aber die traurige Wahrheit ist, dass ich auf genau derselben Ebene nachdenke, dabei nur heftiger atmen muss und stärker schwitze.

Mutter erschien an der Tür, als ich gerade meine elfte Runde drehte. Sie kannte mein körperliches Fitnessprogramm, doch sie sah auf die Uhr und fragte sich wahrscheinlich, warum ich sieben Minuten später als üblich immer noch damit zugange war.

Ich war ein bisschen außer Atem, allerdings nicht so sehr, dass ich ihr nicht hätte berichten können.

»Ich habe mich mit einer neuen Kundin getroffen.« Mutter weiß, dass ich mein Programm anpasse, wenn eine unbekannte Person (vor allem eine, die eventuell zu zahlender Kundschaft werden könnte) anwesend ist. Aus irgendeinem Grund bereitet es manchen Menschen Unbehagen, mir dabei zuzusehen, wie ich schnell durch den Raum gehe und dabei die Arme hebe und wieder senke, obwohl es aus gesundheitlichen Erwägungen heraus überaus vernünftig ist. Mutter nickte verständnisvoll.

Sobald ich meine Runden beendet hatte, ging ich zu dem Getränkeautomaten hinüber und kaufte mir eine Flasche Quellwasser. Ein Mann namens Les kommt einmal die Woche vorbei, um die Maschine aufzufüllen, und gibt mir dann, was er meinen »Anteil« des Geldes nennt, das ich in der entsprechenden Woche für Getränke ausgegeben habe. Es erscheint mir keine vernünftige Vorgehensweise zu sein, doch offenbar ist Les zufrieden damit, und die Kosten für meinen Trinkwasserverbrauch werden auf diese Weise halbiert.

»Was beschäftigt dich?« Mutter kann Gesichtsausdrücke lesen, vor allem bei mir. Es ist eine Fertigkeit, an der ich ebenfalls sehr hart arbeite, aber sie fliegt mir nicht zu. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, hatte sie bereits erkannt, dass ich ratlos und vielleicht auch ein wenig besorgt war. »Hat es etwas mit der neuen Kundin zu tun?«

Ich nickte und erklärte ihr mein Dilemma.

»Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten kann«, schloss ich, nachdem ich ihr die genauen Umstände beschrieben hatte. »Das Verständnis von Bereichen, in denen ich gar nicht beschlagen bin, könnte dafür notwendig sein.«

Da kam mir ein Gedanke, der wiederum meinen Gesichtsausdruck beeinflusst haben musste, denn Mutter fragte: »Was ist?«

Es schien die logischste Lösung der Welt zu sein, also war ich verblüfft, dass ich nicht vorher daran gedacht hatte. »Es gibt nur einen Weg für mich, diese Frage anzugehen«, teilte ich ihr mit. »Ich muss mich umgehend mit Janet Washburn in Verbindung setzen.«

Mutter lächelte, doch in ihrem Tonfall kam, soweit ich das heraushören konnte, keinerlei Freude zum Ausdruck. »Oje«, sagte sie.

3

»Das hatten wir doch alles schon einmal, Samuel.«

Janet Washburn saß im Wohnzimmer ihres bescheidenen Zuhauses in der Kleinstadt Cranford, New Jersey, und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich als streng beschreiben würde. Mutter, die mich erst nach einigen Diskussionen zu Ms. Washburns Haus gefahren hatte, trank die Limonade, die Ms. Washburn ihr angeboten und die ich abgelehnt hatte. Limonade ist einfach nur Wasser mit Zitronensaft und Zucker und wirklich kein sehr gesundes Getränk.

»Das ist genau der Grund, warum ich Sie bitte, wieder zu Fragen Beantworten zurückzukehren«, entgegnete ich. »Sie verstehen, wie ich arbeite, und Sie ergänzen mich sehr gut.«

Ms. Washburn hatte mir lediglich bei zwei Fragen assistiert, die sich beide um dieselbe Sache gedreht hatten. Unsere Geschäftsbeziehung hatte nur einen Teil zweier aufeinanderfolgender Tage angedauert, dennoch war ich beeindruckt von ihrer Fähigkeit gewesen, meine Konzentration zu schärfen und Aspekte der Frage zu deuten, die mir von allein niemals aufgefallen wären; verstanden hätte ich sie erst recht nicht. Ich hatte ihr einen festen Job bei Fragen Beantworten angeboten, doch Ms. Washburns Ehemann war dagegen gewesen, wie sie mir erzählt hatte. Er war der Ansicht, dass die Arbeit zu gefährlich sei.

»Ich meine nicht, dass wir schon einmal zusammengearbeitet haben«, präzisierte Ms. Washburn. »Ich meine, dass wir dieses Gespräch schon geführt haben. Sie fragen mich, ob ich zurückkommen möchte, und ich habe Ihnen vor dem heutigen Tag wenigstens viermal abgesagt.«

Das stimmte. Tatsächlich hatte ich in den letzten drei Monaten fünfmal mein Jobangebot gegenüber Ms. Washburn erneuert, die mir bei der Beantwortung der Frage nach dem verschwundenen Kopf eine unschätzbare Hilfe gewesen war. Jedes Mal hatte sie abgelehnt, obwohl Mutter mir gegenüber oft den Eindruck geäußert hatte, Ms. Washburns Absagen seien zögerlich erfolgt. Sie hatte das aus Gesichtsregungen und der Körpersprache geschlossen, die ich entweder gar nicht bemerkt oder nicht korrekt interpretiert hatte.

»Dieses Mal ist es etwas anderes«, argumentierte ich. »Ich bitte Sie nur für diese eine Frage um Hilfe, weil ich glaube, dass sie meine Fähigkeiten übersteigt. Ich brauche Sie, weil Sie sowohl die Dynamik zwischen Menschen als auch meine eigenen Gedankengänge verstehen.«

Ms. Washburn nickte, sah mir dabei aber nicht in die Augen, wohingegen ich mich absichtlich bemühte, sie direkt anzublicken.

»Ich weiß, dass Ihr Asperger-Syndrom manches für Sie schwieriger macht, Samuel, aber Sie wissen sehr gut, dass Sie mit dem richtigen Maß an Anstrengung und Konzentration auch ohne mich alles gut meistern können.«

Mutter, die begonnen hatte, an einem Schal zu stricken, saß in ihrem Sessel und sah nicht auf. »Genau das habe ich ihm auch gesagt, liebe Janet«, warf sie ein. »Aber du weißt ja, wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

Um es gleich vorwegzuschicken: Mutter hat eine etwas andere Einschätzung meiner Beziehung zu Ms. Washburn als ich selbst. Sie glaubt, dass ich irgendwelche romantischen Gefühle für Ms. Washburn hege, und dieser Gedanke irritiert sie, da Ms. Washburn ja eine verheiratete Frau ist. Solche Gefühle habe ich zwar wiederholt und nachdrücklich bestritten, doch Mutter lässt sich nicht davon abbringen, wenn sie irgendetwas an mir festgestellt zu haben glaubt.

»Meine Überzeugung ist, dass Sie mir eine große Hilfe bei einer Frage sein können, die für mich allein eine besondere Herausforderung darstellt«, erklärte ich Ms. Washburn und versuchte auf diese Weise, Mutters Kommentar ausdrücklich nicht zu bestätigen. »Sie können sich etwas dazuverdienen, ich denke, das ist Ihnen recht, und ich behalte sowohl meinen Ruf als auch meine makellose Bilanz, alle Fragen beantwortet zu haben, die man mir jemals gestellt hat. Für wen soll das ein Nachteil sein?«

Ms. Washburn atmete langsam ein und ließ die Luft in derselben Geschwindigkeit wieder ausströmen. Das scheint bei manchen Menschen eine Möglichkeit darzustellen, entweder die eigenen Gedanken zu sammeln, bevor sie antworten, oder Gefühle zu unterdrücken, die sie lieber nicht zum Ausdruck bringen wollen, wie zum Beispiel Ärger. Ich fragte Mutter später, welche der beiden Deutungen in diesem Fall zutraf, und sie versicherte mir, es sei erstere.

»Der Nachteil besteht darin, dass mein Mann noch immer etwas dagegen hat, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite«, erwiderte Ms. Washburn nach einer kurzen Pause. »Er glaubt weiterhin, dass Ihre Arbeit zu gefährlich ist, und nach dem, was letztes Mal passiert ist – fast passiert ist –, kann ich ihm das auch nicht wirklich verdenken. Es tut mir leid, Samuel, aber meine Antwort lautet immer noch Nein.«

Mutter steckte die Strickarbeit in die Tasche, trank den Rest der Limonade mit einem zufriedenen Glucksen und erhob sich. »Entschuldige bitte die Störung, Janet. Und vielen Dank für die Limonade.«

Es war sonderbar, dass Mutter aufstand und so eine Bemerkung machte, wo das Gespräch doch eindeutig nicht beendet war, aber ihre Gedankengänge erschließen sich mir nicht immer sofort.

»Bei dieser Frage droht keine Gefahr«, sagte ich zu Ms. Washburn. »Wir versuchen nur, die Identität des Mannes zu klären, der vorgibt, Ms. McInerneys Ehemann zu sein, sowie die Gründe für sein Verhalten herauszufinden.«

Ms. Washburn schaute mich an, sah zu Mutter, dann wieder zu mir, doch jetzt kniff sie die Augen zusammen, als wäre ich sehr weit weg und schwer zu sehen. »Sie erkennen wirklich nicht, wo hier eine mögliche Gefahr liegt?«

Ich gestand, dass dem tatsächlich so war.

»Stellen Sie sich mal vor, dass dieser Lewis eine Art Hochstapler ist und dass wir seine Pläne durchkreuzen, indem wir ihn entlarven«, erklärte Ms. Washburn. »Stellen Sie sich vor, dass er böse auf uns ist, weil wir das getan haben. Glauben Sie denn, dass ein Mann, der sich einer Frau aufdrängt, sie abfüllt und dann heiratet oder zumindest vorgibt, sie zu heiraten, dass so ein Mann einfach aufsteht, in die Hände klatscht und sagt: ›Gut gemacht, da haben Sie mich erwischt‹? Glauben Sie wirklich, dass hierin nicht die geringste Gefahr liegt? Kommen Sie, Samuel. Sie sind doch ein intelligenter Kerl. Ist dieses Szenario, wie Sie sich ausdrücken würden, denn auch nur im Geringsten wahrscheinlich?«

Wenn sie sich tatsächlich nur wegen einer Gefahr für Leib und Leben Sorgen machte, konnte ich diese Bedenken zerstreuen. »Mr. Lewis wird niemals erfahren, dass Sie bei der Beantwortung der Frage geholfen haben, darauf werde ich achten. Wenn irgendjemand fragt, stelle ich Sie als Ms. Baroni vor, eine Doktorandin in Neuropsychologie, die« – und bei dem Folgenden zuckte ich wahrscheinlich zusammen – »mich für ihre Abschlussarbeit beobachtet. Ihren echten Namen erwähnen wir nicht.«

Mutter wirkte überrascht, hielt inne und legte die Hand vor den Mund. Sie schien diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Ms. Washburn teilte ihre Einschätzung offenbar nicht. »Nein, Samuel«, sagte sie. »Ich werde Simon auf keinen Fall sagen, dass ich in dieser Sache gegen seinen Willen handle. Ich bin mir sicher, dass Sie jemand anderen finden, der Ihnen mindestens so gut wie ich behilflich sein kann.« Sie blickte zu meiner Mutter. »Vivian?«

Das schien meine Mutter aufzuschrecken. »Oh nein, Janet. Das kann ich nicht. Meine Knie machen das nicht mit. Außerdem sieht es doch nicht gut aus, wenn ein erwachsener Mann bei der Arbeit seine Mutter im Schlepptau hat.« Sie hob die Hände, als wollte sie alle nur erdenklichen Widerworte vonseiten Ms. Washburns daran hindern, ihr zu nahezukommen. »Ich stehe für diesen Job nicht zur Verfügung.«

»Ich auch nicht«, bekräftigte Ms. Washburn. »Ich fühle mich geschmeichelt, Samuel, ehrlich. Aber ich bin nichts Besonderes, und ich bin auch nicht der einzige Mensch auf der Welt, der Notizen machen und Ihnen den Rücken freihalten kann. Warum schalten Sie nicht einfach eine Anzeige?«

»Ich habe sehr spezielle Bedürfnisse«, erwiderte ich, denn ich hatte diese Möglichkeit vorher schon einmal erwogen. »Man findet so jemanden nicht auf einem Internetportal. Das scheint mir eher der Ort zu sein, an dem man seine überflüssigen Möbel oder gebrauchte Billardtische loswird.«

Das Problem erwies sich als schwer lösbar. Ich brauchte Ms. Washburns Hilfe, doch es gelang mir nicht, sie davon zu überzeugen, dass die Situation ihren Beistand unumgänglich machte. Ohne lang darüber nachzudenken, entschloss ich mich, eine andere Taktik auszuprobieren.

»Haben Sie denn kürzlich in Ihrem Beruf als Fotografin gearbeitet?«, fragte ich sie. Ms. Washburn war als Fotografin bei einer Zeitung angestellt gewesen, aber der Job war wegrationalisiert worden, kurz bevor wir einander kennengelernt hatten. Ursprünglich hatte ich mich bereit erklärt, ihre Frage – sie sollte sich später als ziemlich einfach herausstellen – als Gegenleistung für einige Fotos zu beantworten, die ich für einen Auftrag benötigte.

Sie sah weg. Wenn ich das in einem Gespräch tue, geschieht es, weil ich anderen nicht gern ins Gesicht schaue. Aber ich habe festgestellt, und das wird von der Fachliteratur bestätigt, dass so eine Geste auch ein Zeichen dafür sein kann, dass einem irgendetwas unangenehm ist.

Ms. Washburn in Verlegenheit zu bringen war nicht meine Absicht gewesen. Vielmehr hatte ich sie dazu überreden wollen, einige Fotos in Zusammenhang mit der Frage zu machen. Sie errötete leicht, und ihr Tonfall war verändert, als sie mir zur Antwort gab: »Nein. Nicht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

Das hätte eigentlich die perfekte Eröffnung für meinen Schachzug sein können, sie als Fotografin für meine Ermittlungen anzuheuern, doch nun war ich unsicher, welchen Effekt die Frage zu ihrer Arbeit auf Ms. Washburn gehabt haben mochte. Ich zögerte kurz.

»Nun, ich bin mir sicher, dass Samuel ein paar Bilder gebrauchen könnte, wenn er diesen falschen Ehemann unter die Lupe nimmt«, warf Mutter ein.

Ihre Worte schickten einen elektrischen Schlag durch den Raum. Mein Kopf drehte sich schnell in ihre Richtung. Ich fragte mich, ob sie meine Absicht irgendwie erraten hatte. Ms. Washburns Reaktion war nun sogar noch auffälliger. Sie kniff die Augen zusammen, und ihr rechter Zeigefinger wanderte zu ihrer Nasenspitze.

Sie überlegte.

»Es würde mir wirklich helfen«, fügte ich schnell noch hinzu. »Ich glaube, dass einige Bildbeweise mein Bemühen um eine Antwort unterstreichen sowie deren Korrektheit erhöhen würden.«

Ms. Washburn dachte noch etwas länger nach. Diesmal kratzte sie sich an der Nase. Man hat mir beigebracht, das sei unter Pokerspielern eine verräterische Geste dafür, dass der Spieler sich unwohl fühlt, vielleicht wegen des Blattes, das er oder sie auf der Hand hat. Sie öffnete leicht den Mund, atmete noch einmal ein und hielt inne. Dann wandte sie sich mir zu und lächelte mich freundlich an, da war ich mir sicher.

Und schließlich sagte sie: »Nein.«