Das Buch
Texas, 1967. Hackberry Holland, 35, Anwalt und Veteran aus dem Koreakrieg, wird von seiner Frau Verisa, seinem Bruder Bailey, US-Senator Dowling und dessen einflussreichen Freunden in der Öl- und Rüstungsbranche zu einer politischen Karriere gedrängt. Als erfolgreicher Anwalt, gefeierter Kriegsheld und Sohn eines ehemaligen Kongressabgeordneten ist Hack geradezu prädestiniert für ein politisches Amt und soll in Washington die Interessen der texanischen Wirtschaft durchsetzen. Hack allerdings würde sich viel lieber um seine Farm und seine Pferde kümmern und in der Kanzlei weiterhin eine ruhige Kugel schieben, um gelegentlich einen dieser lukrativen Fälle für zwielichtige Ölbarone zu übernehmen. Zudem kämpft Hack mit Unmengen Jack Daniel’s gegen die Erinnerungen an seine Zeit als Kriegsgefangener und die schwere Last des gewaltigen Familienerbes der Hollands an.
Als Hack versucht, Berufung gegen die ungerechte Verurteilung eines ehemaligen Armeekameraden, des mexikanischstämmigen Landarbeiters Art Gomez, einzulegen, stößt er in einem rechtskonservativen Grenzstädtchen auf einen Sumpf aus Vetternwirtschaft, Hass und Gewalt. Trotz Bewilligung des Berufungsantrags wird Art kurz vor seiner Freilassung im Gefängnis ermordet, woraufhin die Auseinandersetzungen eskalieren.
James Lee Burkes erster Hackberry-Holland-Roman wurde im Original bereits 1971 veröffentlicht, erscheint angesichts der aktuellen politischen Geschehnisse in den USA aber erstaunlich aktuell.
Der Autor
James Lee Burke, 1936 in Louisiana geboren, wurde bereits Ende der Sechzigerjahre von der Literaturkritik als neue Stimme aus dem Süden gefeiert. Nach drei erfolgreichen Romanen wandte er sich Mitte der Achtzigerjahre dem Kriminalroman zu, in dem er die unvergleichliche Atmosphäre von New Orleans mit packenden Storys verband. Burke wurde als einer der wenigen Autoren zweimal mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. 2015 erhielt er für den zweiten Hackberry-Holland-Roman Regengötter den Deutschen Krimi Preis. Er lebt in Missoula, Montana.
James Lee Burke
ZEIT
DER ERNTE
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Daniel Müller
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Dieses Buch widme ich meinem Vater,
James L. Burke Sr.,
der mich die guten Dinge des Lebens lehrte.
Kapitel 1
Vor fast neunzig Jahren, während der Sutton-Taylor-Fehde, versenkte John Wesley Hardin ein halbes Dutzend .44er Kugeln in einem Verandapfosten des Hauses, das ich heute bewohne. Damals lebte hier mein Großvater, Old Hack, der mir später auch die Geschichte von jenem Aufeinandertreffen mit dem Outlaw erzählte: Hardin war zu Ohren gekommen, dass Hack ihn ins Gefängnis werfen wollte, sollte er sich jemals wieder in DeWitt County blicken lassen, und so ritt Hardin sturzbetrunken und über Nacht den weiten Weg von San Antonio nach DeWitt zum Haus von Old Hack. Als Hardin auf dem Hof eintraf, war die Sonne gerade aufgegangen, und es regnete leicht. Sein schwarzer Anzug war von Matsch, Pferdeschweiß und Whiskeyflecken beschmutzt, am Sattelknauf hatte er mit einem Lederriemen eine Flinte festgezurrt, und in seiner Hand hielt er einen Navy-Colt, den Hahn bereits gespannt.
»Hey, Hack! Komm raus. Und wag es ja nicht, deine Lincoln-Nigger mitzubringen, sonst knall ich die gleich mit ab.«
Dazu muss gesagt werden, dass mein Großvater als Sheriff und Friedensrichter von der Regierung der Reconstruction-Ära dazu verdonnert worden war, zwei schwarze Unionssoldaten als Deputy Sheriffs zu beschäftigen, und dass unter den zweiundvierzig Männern, die Hardin im Laufe seiner Karriere unter die Erde brachte, viele Schwarze waren. Diese hasste er ebenso leidenschaftlich wie Gesetzeshüter und Carpetbaggers – die Nordstaatler, die nach dem Sezessionskrieg in den Süden kamen, um sich dort zu bereichern.
Hardins Gesicht war rot vom Alkohol, seine Augen geweitet, als er auf die Veranda feuerte. Durch die Lautstärke der Schüsse verängstigt, scheute sein Pferd, bäumte sich auf und versuchte seitlich auszubrechen. Als sich das Tier in seiner Not im Kreis zu drehen begann, schlug Hardin ihm mit der Pistole auf den Schädel und schoss weiter. Feuerstöße und schwarzer Qualm stoben aus der Mündung des Revolvers, bis die Trommel leer war. Alle sechs Schüsse trafen den Pfeiler in der Mitte der Veranda und bildeten eine makellose senkrechte Linie.
Hack war an diesem Morgen schon sehr früh auf den Beinen, da eine seiner Stuten gerade ein Fohlen gebar. Als er Wes Hardin durch das Scheunenfenster auf seinem Hof erblickte, zog er die Winchester aus dem Sattelholster an der Wand und wartete, bis Hardin die Trommel seines Revolvers geleert hatte. Bekleidet mit einem Pyjamaoberteil, das er in die Hose gesteckt hatte, und die Hände bis zu den Ellbogen voller Blut und Schleim, trat er hinaus auf den Hof und lud die Winchester durch. Als Hardin hinter sich das Ladegeräusch des Unterhebelrepetierers hörte, fuhr er im Sattel herum.
»Du gottverdammter Scheißkerl«, sagte Hack. »Besser, du lässt die Finger von der Flinte, oder ich verpass dir ein zweites Arschloch.«
Hardin stützte die Hand mit dem Revolver auf seinem Oberschenkel ab und wendete sein Pferd.
»Schleichst dich also von hinten ran, was?«, sagte er. »Los, hol deine Pistole und lass mich nachladen. Dann bezahl ich deine Nigger-Deputys auch dafür, dass sie dich verbuddeln.«
»Hab ich nicht gesagt, du sollst dich von DeWitt fernhalten? Stattdessen tauchst du hier auf, schießt meine Veranda entzwei und verscheuchst mit deiner Ballerei höchstwahrscheinlich die Hälfte meiner Mexikaner«, sagte Hack. »Aber ich verrat dir was: Ich werde dich in Ketten legen, dich ins Gefängnis werfen und dir in meinem Gerichtssaal wegen versuchten Angriffs auf einen Gesetzeshüter den Prozess machen. Und jetzt runter vom Gaul!«
Hardin starrte Hack an. Sein Killerblick wirkte so versteinert und entschlossen, als würde er in eine Flamme stieren. Dann zog er seine Stiefel aus den Steigbügeln, presste dem Pferd die Sporen in die Seiten und beugte sich nach vorn, hinunter zum Hals des Tieres, wo er sich an der Mähne festhielt, als das Pferd in Richtung Tor preschte. Ohne zu zögern sprang Hack nach vorn, riss die Winchester mit beiden Armen in die Höhe und rammte sie Hardin gegen den Schädel. Der Outlaw kippte aus dem Sattel und landete im Dreck. An seinem Haaransatz klaffte nun eine gut acht Zentimeter lange Wunde. Als er aufzustehen versuchte, trat Hack ihm zwei Mal ins Gesicht und warf ihn anschließend auf die Ladefläche eines Gemüsekarrens. Dort legte er Hardin Handschellen an, wickelte eine Eisenkette um dessen Körper und nagelte die Kettenenden am Boden des Pferdewagens fest.
Und so landete John Wesley Hardin im Gefängnis von DeWitt County, Texas. Nach dieser Geschichte legte er sich zwar nie wieder mit Hackberry an, sehr wohl aber mit einer Reihe anderer Gesetzeshüter, von denen allerdings keiner in der Lage war, Hardin Paroli zu bieten. Erst 1895 traf der Outlaw in einem Saloon in El Paso auf seinen Meister, einen Mann namens John Selman, der ihm eine Kugel in den Schädel jagte.
Es war ein heißer, windstiller Julitag. Ich stand auf der Veranda, an den Pfeiler mit den sechs verwitterten Einschusslöchern gelehnt, und schaute hinüber zu Old Hacks weißem Grabstein unter den Sumpfeichen des Familienfriedhofs der Hollands. Reglos hingen die von Staub überzogenen Blätter an den Bäumen, und das Laubdach warf in der Hitze gesprenkelte Schatten auf die Grabsteine. Auf dem Friedhof waren mehrere Generationen meiner Familie begraben. Zum einen lag dort Son Holland, ein Mann aus den Bergen von Tennessee, der 1835 aus den Cumberlands in den Süden gekommen war und in der Schlacht von San Jacinto für die Unabhängigkeit von Texas gekämpft hatte. Er war mit Sam Houston befreundet gewesen und hatte nach dem Krieg tausendzweihundert Morgen Land von der Republik Texas erhalten. Er verstarb altersbedingt, als er gerade Pferde für die Konföderierten beschlagnahmte. Auf dem Friedhof lagen auch die beiden älteren Brüder von Hack, die mit der texanischen Kavallerie unter General Hood in die Schlacht von Atlanta gezogen waren, außerdem mein Großonkel Tip, der beim ersten Viehtrieb auf dem Chisholm Trail dabei gewesen war und eine Indianersquaw geheiratet hatte. Daneben ruhten Sidney Holland, ein Baptistenprediger und Alkoholiker, der stets zwei Revolver und eine Derringer bei sich getragen und sechs Männer getötet hatte; Winfro Holland, der während der Sutton-Taylor-Fehde in einem Bordell ermordet und anschließend von einer Bande betrunkener Cowboys hinter ein Pferd gebunden und vor dem Laufhaus durch den Dreck geschleift worden war; Jefferson Holland, der nach zwei Jahren Business College in Austin der Meinung gewesen war, er könnte mit der King Ranch und der XIT Ranch auf dem Viehmarkt konkurrieren, und als Resultat sechshundert Morgen Land der Familie Holland eingebüßt hatte; und Sam Holland, mein Vater und Old Hackberrys Sohn – ein kultivierter Mann mit einem rheumatischen Herzen, der als Südstaatenhistoriker an der University of Texas gelehrt hatte, später während des New Deal Kongressabgeordneter geworden war und schließlich Selbstmord beging.
Hinter dem Friedhof flachten die grünen Hügel zu einem Fluss hin ab, der jahreszeitlich bedingt braun gefärbt war und wenig Wasser trug. An den Uferböschungen wuchsen Schwarz- und Virginia-Eichen sowie Mesquitesträucher. Auf den umliegenden Feldern blühten in schnurgerade angelegten Reihen mit gleichmäßigen Abständen die Baumwollpflanzen, während die Tomaten angesichts der frühen Sommerschauer schon jetzt prall und rot an den Stauden hingen. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf den Rotorblättern der durch die Windstille paralysierten Western-Windräder, und durch das Hitzeflimmern sahen die Behausungen der mexikanischen Farmarbeiter, größtenteils einfache Häuser mit waagerechten Holzverschalungen oder Schindelfassaden, in der Ferne aus wie flachgedrückte Streichholzschachteln. Die Kolbenstangen meiner beiden Ölförderpumpen hoben und senkten sich monoton im Takt. Aufgrund der niedrigen Temperatur im Inneren der Rohre tropfte Kondensflüssigkeit von den Förderköpfen herab, und hin und wieder kroch mir der abscheuliche Geruch des Rohgases in die Nase. Die Bohrlöcher befanden sich in der Mitte eines Baumwollfeldes. Die Bohrtürme waren schon längst demontiert, die Baumwollpflanzen um die Förderköpfe herum mit chirurgischer Präzision in Quadratform zurückgeschnitten, was für mich schon immer wie eine Art Ehrfurchtsbezeugung der Landschaft gegenüber der texanischen Ölindustrie gewirkt hatte.
Der Zufahrtsweg zum Haus war mit weißem Kies bedeckt, auf den angrenzenden Flächen wuchs Hundszahngras. Weiße Holzzäune säumten den Kiesweg und die Straße, wo mein Grundstück endete. Der Rasen war frisch gemäht und wurde täglich von einem Schwarzen gewässert, den meine Frau mit der Pflege der Rosengärten beauftragt hatte. Neben der Veranda wuchsen auf beiden Seiten Magnolien- und Orangenbäume. Das Hauptgebäude war 1876 von Old Hack errichtet worden. Er hatte dabei die Holzstämme von Son Hollands ursprünglicher Hütte verbaut, die sich nun in unseren Küchenwänden befanden, und im Grunde hatte sich seit jener Zeit wenig verändert. Meine Frau hatte im ersten Stockwerk eine mit Rankgittern begrenzte, überdachte Veranda anlegen lassen, die nun großen Tontöpfen mit Farnpflanzen Platz bot, und eine mit Fliegengittern geschützte Seitenveranda, auf der wir an warmen Sommerabenden für gewöhnlich diniert und Eistee genossen hatten. Nachdem wir dazu übergegangen waren, unsere Mahlzeiten getrennt voneinander einzunehmen, wurde die Veranda im Erdgeschoss zur Cocktailbar für ihre Gartengesellschaften umfunktioniert, bei denen ein professioneller Barkeeper in weißem Jackett Eis schabte und Mint Juleps für die Gäste bereitete, meist Mitglieder von gemeinnützigen Organisationen wie den Daughters of the Confederacy, der Junior League und des Texas Democratic Women’s Club.
Trotz der sonntäglichen Gartengesellschaften, bei denen ehrenamtlich engagierte Frauen mit stechendem Blick und eisgekühlten Drinks auf dem Rasen schwatzten, trotz der mit Rosen bepflanzten weißen Kästen und der Klimaanlagen in den Fenstern war es immer noch das Haus von Old Hack, und manchmal, wenn ich nachts allein in der Bibliothek saß, schien das Gebäude, von seiner brummigen Gegenwart erfüllt, zu ächzen.
Ich nehme an, dass ich mich deshalb in diesem Haus schon immer eher als Gast und nicht wie sein Besitzer gefühlt habe. Ich mochte zwar Old Hacks Namen geerbt haben, das Revolverhelden-Gen der Hollands jedoch war nicht an mich weitergegeben worden. Während des Koreakrieges war ich Navy-Sanitäter und verteilte drei Monate lang Penicillin-Pillen gegen Tripper an unsere Jungs in Seoul, bevor man mich an die Front versetzte. Dort dauerte es allerdings nur sechs Tage, bis mir die Chinesen zwei Beinschüsse verpassten und mich gefangen nahmen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass mein einziger Versuch, Hacks schießwütigem Vermächtnis gerecht zu werden, gehörig in die Hose ging. Stattdessen saß ich zweiunddreißig Monate in drei unterschiedlichen Kriegsgefangenenlagern ein. Über den Fronteinsatz, die Verwundung, die Auszeichnung mit dem Purple Heart und meine Zeugenaussage vor dem Militärgericht, wo man einem Überläufer den Prozess machte, werde ich später berichten, denn all diese Details spielten eine nicht unwichtige Rolle für meine Kandidatur als Kongresskandidat der Demokraten.
Ich zündete mir eine Zigarre an und ging den gleißend weißen Kiesweg hinunter zu der Eiche, unter der mein Wagen stand. Erst eine halbe Stunde zuvor hatte ich geduscht und mir frische Sachen angezogen. Doch kaum war ich in Bewegung, fühlte sich das Hemd auf meiner Haut schon wieder feucht an, und die Sonnenstrahlen knallten wie die Flamme eines Schweißbrenners gegen die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille. Ich ließ mich in den Ledersitz des Cadillacs sinken und schaltete die Zündung und die Klimaanlage ein. Muffig warme Luft strömte durch die Lüftungsöffnungen, und einen Moment lang konnte ich den konzentrierten Geruch der Ölquellen riechen – einen Geruch, der einen monatlichen Scheck von Texaco, Inc. in Höhe von viertausend Dollar verhieß. Ich drückte den Automatikhebel in die L-Stellung, trat langsam aufs Gaspedal und spürte die vibrierende Kraft von dreihundertfünfzig Pferdestärken durch die Sohlen meiner Stiefel aufsteigen. Kieselsteine klackten gegen Kotflügel und Bodenblech, dann holperte der Wagen über das Viehgitter auf die Straße, wo ich das Gaspedal durchtrat und dem Surren der Reifen auf dem weichen Asphalt lauschte. Aus den Augenwinkeln sah ich die weißen Weidezäune am Straßenrand vorbeihuschen, deren Latten durch den Luftzug knackten wie brechende Zweige. Mit drei Fingern am Lenkrad und neunzig Meilen pro Stunde auf dem Tacho steuerte ich den Wagen an Schlaglöchern und Bodenwellen vorbei, während ich auf die Zigarre biss und zu den Schatten auf den Feldern hinausschaute, die sich, wie so häufig, wenn ich nach San Antonio oder Houston fuhr, ein Rennen mit mir zu liefern schienen. Ich war diese Strecke schon oft gefahren; einige Male auch mitten in der Nacht, volltrunken und mit Tempo einhundertzwanzig Meilen pro Stunden, während die Hillbilly- und Gospel-Musik eines in Del Rio ansässigen Senders aus den Lautsprechern plärrte. Am Morgen danach war ich meist schweißgebadet in einem elenden Whiskey-Kater versunken: Gelbe Blitze zuckten hinter meinen Augen, und ich sah den Cadillac, wie er eine klaffende Lücke in den weißen Zaun riss und sich im Feld überschlug, und dann sah ich mich selbst, von schwarzem Blut überströmt, gefangen zwischen Lenkrad und eingedrücktem Dach.
Nüchtern allerdings hatte ich beim Fahren das Gefühl, etwas Magisches in den Händen zu halten und von einer luftgekühlten Allmacht aus Stahl und Blech umgeben zu sein, wenn der lange Rahmen des Wagens die Straße unter sich verschlang.
Als ich mich dem kleinen Städtchen Yoakum näherte, schraubte ich den Deckel meines Flachmanns ab und genehmigte mir einen Schluck. Weiße Ranchhäuser und Scheunen zogen an mir vorbei, ebenso die dazugehörigen Baumwollfelder und Weiden, auf denen Rinder und Pferde standen und, hin und wieder, auch eine einsame Eiche. Die Sonnenstrahlen wurden von der Motorhaube wie weiße Blitze reflektiert, und vor mir schien die Straße in der Hitze zu zerfließen. Eine leichte Brise war aufgekommen, und Staubteufel begannen an den trockenen Rändern der Maisfelder zu tanzen. Auf einem Hügel setzten sich die Rotorblätter eines Western-Windrades in Bewegung, und kurz darauf rauschte das Wasser in einem langen, weißen Strahl aus der windbetriebenen Pumpe in eine Viehtränke. Am Stadtrand von Yoakum kam ich an den Behausungen der Schwarzen und Mexikaner vorbei, die, obwohl teilweise in unterschiedlichen Jahrzehnten erbaut, alle gleich aussahen. Die Fassaden waren allesamt grau und verwittert, die Veranden größtenteils baufällig, auf die Dächer hatten die Bewohner Fetzen aus Teerpappe genagelt, und vor den Häusern tollten dreckige Kinder in zugemüllten Gärten zwischen kaputtem Spielzeug, alten Kabel- und Drahtknäueln, leeren Bleichmittelkartons und überfüllten Mülltonnen. Hinter den Häusern sah es nicht anders aus: Zwischen alten Autos, deren verrostete Motoren und demolierte Windschutzscheiben von Spinnweben überzogen waren, wucherte das Unkraut, an den Wäscheleinen baumelten abgetragene Overalls und Jeanshemden, und die Büsche und Sträucher, die im Schotterbett der nahe gelegenen Eisenbahnschienen wuchsen, waren schwarz vom Dreck der vorbeifahrenden Züge.
Ich nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann und legte ihn zurück ins Handschuhfach. Es war Samstag, und auf den Straßen der Kleinstadt herrschte reger Verkehr. Rancher und Farmer waren unterwegs, ebenso Frauen in bunten Baumwollkleidern, mexikanische und schwarze Feldarbeiter, Pick-up-Trucks und ramponierte Autos. An den Straßenecken lungerten junge Burschen herum. Sie trugen lackierte Strohhüte und Jeanshosen, die mit so viel Stärke behandelt waren, dass sie wie aus Pappe schienen. Auf der Hauptstraße lugten aus den hohen Bordsteinen immer noch die Halteringe zum Festmachen der Pferde hervor, und der Gehweg vor den Ladenfronten war von einer Anfang des Jahrhunderts errichteten Holzkolonnade überdacht. Alte Männer mit schmalen, sonnenverbrannten Gesichtern, weißen Hemden und vorgebundenen Fliegen saßen im Schatten, spuckten den Saft ihres Kautabaks auf den Boden und schauten dem Treiben zu. Am Ende der Straße befand sich das Gefängnis von Yoakum, ein teils aus Holzstämmen, teils aus verputzten Ziegelsteinwänden bestehender Bau, in den mein Großvater einst Wes Hardin gesperrt hatte. Es stand etwas zurückgesetzt, auf einem von Unkraut überwucherten Grundstück. Das Dach und eine Seitenwand waren bereits eingestürzt, und die Trümmer, hauptsächlich zerbrochene Holzbalken und Ziegelsteine, hatte man auf einem Haufen zusammengekehrt. Vor den Gitterstangen der Zellentüren lagen die Scherben von im jugendlichen Übermut zerschlagenen Bierflaschen, in den Ecken die benutzten Verhütungsmittel nächtlicher Besucher. An einer der Wände war immer noch die Inschrift zu lesen, die ein Insasse dort 1880 mit einem Nagel in den Putz gekratzt hatte: J. W. Hardin wird Hack Holland zu Niggerfutter verarbeiten.
Oft schon hatte ich mich gefragt, ob Old Hack sich damals wohl Sorgen über Vergeltungsaktionen machte. Schließlich hätte Hardin aus dem Gefängnis ausbrechen oder dessen Verwandte ihm mit einer Schrotflinte auflauern können. So wie es aussah, hatte Old Hack aber vor nichts und niemandem Angst gehabt, denn als Hardin nach vierzehn Jahren aus dem Gefängnis kam, schickte Hack ihm ein Telegramm mit folgendem Wortlaut: Deine Cousins sagen, du würdest mich immer noch umlegen wollen. Falls dem so ist, schicke ich dir gern ein Zugticket nach San Antonio, und wir regeln die Sache kurz am Bahnhof.
Während meines Jurastudiums an der Baylor University nutzte ich einen von Hacks .44er Colts als Briefbeschwerer. Das Metall hatte seine Brünierung verloren, und die Mahagonigriffe wiesen bereits Risse auf. Federn und Hahn funktionierten aber noch tadellos, sodass sich die schwere Trommel geschmeidig in die korrekte Position drehte, wenn ich den Hahn spannte. Als ich später zusammen mit meinem Bruder eine Kanzlei in Austin eröffnete, bekam der Colt einen Platz an der Bürowand, wo er neben einem Bild aus dem Jahr 1925 hing, das Hack, bereits gealtert und mit langen weißen Haaren, an der Seite meines Strohhut tragenden Vaters zeigte. Ebenfalls an der Wand hingen mein gerahmtes Juradiplom und meine Mitgliedsurkunde der akademischen Ehrengesellschaft Phi Beta Kappa. Der Revolver und Hacks zerfurchtes Gesicht dominierten jedoch das Büro.
Als ich San Antonio kurz vor zwei Uhr erreichte, lag die Temperatur bei achtunddreißig Grad Celsius. Steif und starr zeichnete sich die Skyline gegen die flimmernde Hitze ab. Auf den Bergen über der Stadt konnte ich die Behausungen der wohlhabenden Bevölkerung sehen: weiße, stuckverzierte Häuser, mit roten Ziegeln gedeckte Dächer, Terrassengärten, in denen Seidenbäume wuchsen. Mein Weg führte mich durch das mexikanische Viertel, wo Secondhandläden, Baptistenmissionen, Kreditbanken und Pfandleihen die Häuserblocks dominierten. Drahtige Pachucos mit eng zulaufenden Hosen, an den Ärmelenden zugeknöpften, braunen Hemden und öligen Schmalztollen standen träge vor den Billardhallen und Weinbars herum.
Ich bog auf den Parkplatz des Mission Motel – ein dreckig-weißes Gebäude, dessen Architektur dem Alamo nachempfunden war. Fenster und Türen waren mit Bögen verziert, die straßenseitige Außenmauer mit kleinen Glockentürmen bestückt. Im Innenhof hatten sich die Architekten an einer Art Patio versucht, in dem angeschlagene Tontöpfe mit abgestorbenen Pflanzen vor dem Eingang der Rezeption standen. Die Pflastersteine hatten sich durch den Regen abgesenkt, und Unkraut wucherte aus den Fugen. Ich nahm ein Zimmer, das ich schon von früheren Aufenthalten kannte: Die Wände waren mit Gips verputzt und in senfgelber Farbe gestrichen, das Doppelbett verfügte über einen elektrischen Vibrationsmechanismus, der nach Münzeinwurf Massagen verabreichte, der Teppich war abgewetzt. Auf der Kommode standen zwei Gläser mit dicken Böden und ein Kübel mit Eiswürfeln. Ich entfernte das Siegel der Jack-Daniel’s-Flasche, schüttete ein paar Eiswürfel in eins der Gläser und füllte es bis zur Hälfte mit Whiskey. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, zündete mir eine Zigarre an und trank ungefähr fünf Minuten lang mit langsamen Schlucken. Durch die zugezogenen roten Fenstervorhänge konnte ich die heißen Umrisse der Sonne am Himmel erkennen. Ich leerte das Glas und genehmigte mir noch eins. Dann spürte ich langsam, wie mich die Wirkung des Whiskeys erfasste. Ich hatte schon immer gern getrunken, und der beste Moment dabei war für mich stets der gewesen, wenn man merkte, dass man gleich betrunken sein würde – dieser klare Moment, dominiert von einem Gefühl der Kontrolle und geschärften Sinne, wenn sich mit einem Mal alle Türen in deinem Oberstübchen öffnen und sämtliche Geheimnisse in simple Gleichungen verwandeln.
Ich wählte eine Nummer, die in keinem Telefonbuch zu finden war. Vor drei Jahren hatte ich sie von R. C. Richardson bekommen, einem Ölunternehmer aus Dallas, den ich vor dem Gefängnis bewahrt hatte, nachdem er sich staatliche Agrarsubventionen in Höhe von fünfzigtausend Dollar erschlichen hatte. Nach dem Prozess war er in unser Büro gekommen, hatte sich über meinen Schreibtisch gelehnt, wobei sein riesiger Bauch über seinen Cowboygürtel quoll, und mir einen Scheck über zehntausend Dollar ausgeschrieben. Zum Abschied reichte er mir seine Visitenkarte, mit der besagten Nummer auf der Rückseite.
»Ich weiß nicht, ob ihr Anwaltstypen auf mexikanisches Chili steht. Falls ja, werden Sie weit und breit kein besseres als das hier finden«, sagte er.
Er war ungehobelt und vulgär, aber er hatte recht: Es war einer der besten Callgirl-Services in ganz Texas – teuer, erlesen und professionell. Ich hatte immer den Verdacht, dass das Geld und die Organisation hinter dem Service von der Mafia in Galveston stammten, denn weder die Mädchen noch die Frau am Telefon schienen sich große Sorgen darüber zu machen, dass der Kunde ein Cop sein könnte.
Die Disponentin klang wie die Sprecherin eines Benachrichtigungsdienstes: kein Tonfall, kein Akzent, keinerlei Satzmelodie. Es war praktisch unmöglich, ihre Stimme einer bestimmten Region zuzuordnen oder mit denen von anderen Menschen zu vergleichen. Eine Zeit lang versuchte ich mir vorzustellen, wie sie wohl aussehen mochte. Sie musste die Bestellungen von unzähligen Männern entgegengenommen haben; Anrufe aus Motelzimmern oder menschenleeren Häusern, vorgetragen mit nervösen, von Alkohol belegten Stimmen, in denen Verlegenheit und Lust ebenso mitschwangen wie die Angst vor einer Zurückweisung. Ich fragte mich, ob diese zahllosen Geständnisse männlicher Sehnsucht und Schwäche für sie bestürzende Einblicke in die Welt der ehrbaren Bürger darstellten oder ob sie eine stumpfsinnige Arbeitsdrohne war, die nicht weiter darüber nachdachte. Ich mochte einfach nicht glauben, dass am anderen Ende der Leitung eine übergewichtige, blondierte Puffmutter mit Glasringen an den Fingern saß – was angesichts der mechanischen Stimme am Telefon eine viel zu menschliche Vorstellung war. Irgendwann kam ich zu der Überzeugung, dass es sich um eine herzlose, asexuelle, alte Jungfer handelte, klapperdürr und blass, die durch ihre Fähigkeit, das Sexleben anderer manipulieren zu können, ohne selbst daran teilnehmen zu müssen, still und heimlich ein von Zynismus dominiertes Gefühl der Macht entwickelt hatte.
Wie immer war sie sehr diskret und subtil, als sie mich indirekt danach fragte, was für eine Art Mädchen und welche Leistungen ich wünschte. Und wie immer gab ich den Namen an, mit dem ich mich schon an der Motelrezeption eingeschrieben hatte – R. C. Richardson.
Ich legte den Hörer auf und schenkte mir einen weiteren Whiskey mit Eis ein. Dreißig Minuten später kam das Mädchen in einem Taxi. Sie war Mexikanerin, groß gewachsen, gut und teuer gekleidet, und ihr Gang hatte eine gewisse Anmut. Das schwarze Haar hing über ihren Schultern, und ihre relativ helle Gesichtshaut war bis auf zwei kleine Narben in der Wange perfekt. Sie hatte hohe Brüste und Schultern, unter ihrem kurzen Rock zeichneten sich zwei wohlgeformte Beine ab. Als sie mich anlächelte, sah ich, dass ihr ein Backenzahn fehlte.
»Magst du einen Whiskey, vielleicht mit etwas Wasser?«, fragte ich.
»Dafür ist es mir gerade zu heiß. Außerdem soll ich an den Nachmittagen sowieso nicht trinken.« Sie setzte sich auf einen Stuhl, zog eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie an.
»Egal. Trink trotzdem einen mit.« Ich goss etwas Whiskey in das zweite Glas.
»Auch wenn Sie mir einen Drink ausgeben, gibt’s bei mir nur das, was Sie bezahlen, Mr. Richardson.«
»R. C. In Dallas nennen mich die Leute einfach nur R. C. Meinen Nachnamen kannst du dir für einen Besuch im Petroleum Club aufheben, da gilt er nämlich mehr als eine Diners-Club-Karte.«
»Ich glaube nicht, dass Sie auf Ihre Kosten kommen, wenn Sie so weitertrinken«, sagte sie.
»Abwarten. Normalerweise werde ich nämlich zum Stier, wenn ich was intus habe.«
Ich stand auf, band mir den Schlips ab und zog mein Hemd aus. In meinem Schädel brummte der Whiskey.
»Besser, Sie bezahlen mich, bevor wir anfangen«, sagte sie, nahm einen Zug von der Zigarette und schaute geradeaus.
Mein weißes Leinenjackett hing über der Stuhllehne. Ich zog das Portemonnaie aus der Innentasche, zählte fünfundsiebzig Dollar ab und legte die Scheine auf die Kommode.
»Kann es sein, dass ein paar Leute bei deinem Verein aus Galveston kommen?«, fragte ich.
»Über solche Dinge werden wir nicht informiert.«
»Du wirst doch bestimmt mal den ein oder anderen von den Strippenziehern kennengelernt haben, oder? Du weißt schon, Kerle italienischer Herkunft mit Sonnenbrillen und Maßanzügen?«
»Unser Date dauert genau zwei Stunden, Mr. Richardson.«
»Nimm dir was zu trinken. Was ist eigentlich mit der Frau am Telefon? Wurde die in ihrem Leben schon mal flachgelegt?«
Das Mädchen legte die Zigarette auf der Kommodenkante ab. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und rollte ihre Strumpfhose herunter. Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem Glas.
»Vielleicht ist’s ja auch die Großmutter von Lucky Luciano, die den Qualm eines Joints in den Hörer haucht«, sagte ich.
»Sie haben nicht oft die Chance, sich mit anderen Leuten zu unterhalten, oder?«
Sie stand auf, schlang ihre Arme um meinen Hals und presste mit einer kraftvollen Bewegung ihren Bauch nach vorn. Ich konnte das Parfüm in ihrem Haar riechen. Sie ließ ihre Hand meinen Rücken hinuntergleiten und biss mir mit geschlossenen Augen leicht auf die Lippe.
»Wollen wir nicht langsam anfangen?«, sagte sie.
Ich küsste sie auf den Mund und konnte den Whiskey in meinem Atem schmecken.
»Warum genehmigst du dir nicht erst mal einen Drink?«, sagte ich. »Ich mag’s nicht, wenn eine Frau verkrampft und wimmernd unter mir liegt, nur weil ich einen Jack Daniel’s hatte und sie nicht.«
»Verheiratet, stimmt’s?« Sie lächelte und schob ihre Finger unter meinen Gürtel.
»Ich hab einfach nicht sonderlich viel Spaß mit Frauen, die so aussehen, als hätten sie Schmerzen, wenn man sich auf sie legt. Kommt wahrscheinlich von den guten Manieren, die man als Richardson so an sich hat.«
»Muss eigenartig sein, mit Ihnen zusammenzuleben.«
»Kannst es ja beizeiten mal ausprobieren.«
Sie drückte ihren Bauch wieder nach vorn, löste die Umarmung und zog ihre restlichen Sachen aus. Sie hatte einen wundervollen Körper; einen Körper, wie man ihn nur selten bei einer Professionellen zu sehen bekommt. Ihre hohen Brüste waren straff, ihre Beine lang und braun vom Sonnenbaden am Swimmingpool irgendeines Gangsters, die Pobacken blass in der Bikinizone; der Bauch war flach, in Form gehalten von fünfundzwanzig oder mehr Sit-ups pro Tag, die Innenseite ihres Oberschenkels mit einer kleinen Tätowierung verziert, dem Pachuco-Kreuz mit drei Streifen.
Ich zog Hose und Unterhose aus, legte sie auf dem Stuhl ab, nahm die Zigarre vom Aschenbecher und schaute in den länglichen Spiegel an der Badezimmertür. Mit mittlerweile fünfunddreißig hatte ich gute fünfzehn Pfund zugenommen, seit ich im zweiten Studienjahr im Baseballteam der Baylor University gepitcht hatte. Über den Oberschenkeln hatte ich etwas Fett angesetzt, die Venen in meinen Beinen zeichneten sich lilafarben unter der Haut ab, und mein Haar war am Scheitelansatz etwas dünner geworden. Ansonsten war ich aber immer noch so fit und drahtig wie damals, als ich fast jedes Team in der Southwestern Conference nach Hause geschickt hatte. Keine Spur von Fett an Brust oder Bauch, und die Rückseite meines linken Oberarms war immer noch so muskelbepackt, wie man es von jemandem erwartet, der den Schlagmännern zwei Jahre lang einen Carl-Hubbell-Screwball nach dem nächsten servierte. Meine Schultern waren etwas nach vorn gebeugt, aber ich brachte es ohne Schuhe immer noch auf eins sechsundneunzig, und die vereinzelten grauen Ansätze in meinem sandblonden Haar verliehen mir eher Reife und Erfahrung, als dass sie mich alt machten. Dann waren da noch meine Kriegsverletzungen: zwei kreisförmige Narben von weißer Farbe an beiden Unterschenkeln, die eine schräg nach unten verlaufende Linie bildeten.
Wir trieben es eine Stunde lang und legten nur Pausen ein, damit ich mir noch ein Glas einschenken konnte. Mein Kopf schwamm im Whiskey, mein Herz hämmerte, und meine Haut fühlte sich heiß an. Der Fußboden neigte sich, als ich zur Flasche auf der Kommode ging, meine Atemzüge wurden heftiger und kratzten in meiner Kehle. Wir gingen alle Positionen durch, die sie kannte, probierten alle Experimente aus, die mir einfielen, und stellten im Grunde die Fantasien masturbierender Teenager nach. Sie vermochte es, Leidenschaft vorzutäuschen, ohne dass es offensichtlich gekünstelt wirkte, und wusste ganz genau, wann es an der Zeit war, den Körper anzuspannen oder die Beine zu spreizen. Nach dem dritten Mal, als ich schon dachte, dass wir fertig wären, beugte sie sich über mich, küsste mich und benutzte ihre Hände, bis ich bereit war, wieder in sie einzudringen. Sie fühlte sich weich und straff im Inneren an und hatte ganz offensichtlich noch nicht allzu viele Jahre im Geschäft hinter sich. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen, sodass ihre Brüste vor meinem Gesicht hingen, spannte die Muskeln in ihrem Bauch an und drehte bei jeder unserer rhythmischen Bewegungen einen ihrer Oberschenkel zur Seite. Schon bald spürte ich, wie sich etwas in mir aufbaute und an Kraft gewann. Wie ein großer Felsbrocken rollte es einen Hügel hinab, erst langsam, dann immer schneller, und schoss schließlich über die Kante eines Canyons hinweg, um außerhalb meines Körpers zu explodieren und mir den leeren Frieden eines Opiumtraums zu schenken.
Völlig erschöpft fiel ich in einen whiskeygetränkten Stupor. Der in der Luft tanzende Staub sah in den durch die Vorhänge einfallenden Sonnenstrahlen aus wie sich windende Mehlwürmer. Das Mädchen erhob sich und zog sich an. Ein paar Augenblicke später hörte ich, wie sie die Tür zuzog. Trotz Klimaanlage schwitzte ich heftig. Ich schob den Kopf über die Bettkante und hoffte, auf diese Weise das sich drehende Zimmer zum Stillstand bringen zu können. Als ich die Augen schloss, zuckten farbige Blitze hinter meinen Lidern, und das Echo der Obszönitäten, die ich dem Mädchen zugeraunt hatte, als der Felsbrocken den Hügel hinuntergerollt war, erfüllte meinen Schädel. Meine Kehle und mein Mund waren trocken vom Whiskey und den angestrengten Atemstößen, die Gefäße in meinem Kopf geweitet vom Alkohol. Am liebsten wäre ich unter die Dusche gekrochen, um unter dem Brausekopf darauf zu warten, dass das kalte Wasser die Hitze aus meinem Körper spülen würde. Stattdessen rutschte ich noch tiefer in das Delirium … und dann begann der Traum.
Ich hatte viele Träume über meine Zeit in Korea. Manchmal hob ich ein Grab im gefrorenen Boden aus, während Unteroffizier Tien Kwong mit hasserfüllten Augen über mir stand und mir in unregelmäßigen Abständen den kurzen Lauf seiner Maschinenpistole in den Nacken rammte. Dann gab es Tage, an denen mich Kwong in das Verhörzimmer des Obersts brachte, wo ich auf einem Stuhl Platz nahm und so lange schweigend vor mich hinstarrte, bis Kwong meinen Hinterkopf packte, sein Knie in mein Gesicht rammte und mir dabei die Nase brach. Manchmal war ich auch allein, nackt im Zentrum des Lagers, wo wir uns einmal pro Woche unter einem Wasserhahn waschen und die Läuse aus unserer Kleidung spülen durften. Und jedes Mal, wenn ich zum Wasserhahn ging und das verrostete Ventil aufdrehte, fiel mein Blick auf die ins Metall gestanzten Worte: Manufactured in Akron, Ohio.
Dieses Mal jedoch trug mich der Traum an einen ganz besonderen Ort; den Ort, an dem mein sechstägiger Einsatz an der Frontlinie geendet hatte – die »Schießbude«.
Am Nachmittag war noch alles ruhig gewesen. Wir hatten Stellung in einem trockenen Bewässerungsgraben bezogen. Vor uns lagen Reisfelder, die in zwei Meilen Entfernung von den kahlen, durch Artilleriebeschuss zerlöcherten Ausläufern eines Gebirges abgelöst wurden. Im Zwielicht konnte ich die zerborstenen Bäume und die von unseren 105-mm-Haubitzen gerissenen Krater ausmachen, ebenso einen von unseren Napalmbomben schwarz gefärbten Hügel. Wir hatten zwar gehört, dass die 1. Marineinfanteriedivision am Chosin-Reservoir auf ein paar Chinesen getroffen war, aber unser Gebiet galt offiziell als sicher. Einerseits hätten unsere Gegner zwei Meilen offenes Gelände zu überqueren, um uns zu erreichen. Andererseits hatten wir unseren Verteidigungsring mit Stolperdraht und Minen gesichert, was allerdings als übertriebene Maßnahme angesehen wurde, da die Nordkoreaner in den Bergen nicht genügend Truppen für einen Frontalangriff hatten. Um halb acht gingen die Suchscheinwerfer an und beleuchteten die Reisfelder und die zerschossenen Hügel. Unmittelbar danach begannen die Signalhörner mit ihrer nächtlichen Beschallung, und über die Megafone wurden Tiraden gegen den amerikanischen Imperialismus verlesen. Die Kombination aus kakophonischem Hall und dem unnatürlich weißen Licht, das die Berge und die Furchen der Reisfelder bestrahlte, wirkte wie das audiovisuelle Experiment eines geistesgestörten Professors auf der Mondoberfläche. Manchmal vergaßen die Nordkoreaner, die Nadel von der Schallplatte zu heben, ein Kratzen, ungefähr so angenehm wie Fingernägel auf einer Schiefertafel, hallte aus den Bergen. Hin und wieder veränderten die Suchscheinwerfer ihre Ausrichtung, fuhren kurz über den Himmel und die Wolken und beleuchteten in der Ferne einen weiteren, von braunen Löchern überzogenen Hügel.
Ich saß mit dem Rücken gegen die Grabenwand gelehnt und versuchte zu schlafen. Die Decke, in die ich mich gehüllt hatte, fühlte sich in der Kälte allerdings wie eine Metalloberfläche an, außerdem schmerzten meine in feuchten Stiefeln steckenden Füße. Ich war am Nachmittag beim Überqueren eines Reisfeldes nass geworden, und mittlerweile hatten sich kleine Eisklumpen in meiner klammen Uniform gebildet. Selbst als ich die Wollmütze unter meinem Helm so tief wie möglich ins Gesicht zog, fühlten sich meine Ohren aufgrund der Kälte immer noch an, als hätte jemand mit einer Holzleiste auf sie eingeschlagen. In der Ferne hörte ich, wie einer unserer Panzer eine Straße entlangrumpelte. Dann begann ein Maschinengewehr mit Kaliber .30 an unserer rechten Flanke zu feuern. »Was macht das verdammte Arschloch da?«, presste der Corporal neben mir hervor, ein Hillbilly aus dem Norden von Alabama. Der Mann war groß gewachsen und hatte sich eine Decke über den Helm gezogen und am rechten Zeigefinger die Kuppe seines Handschuhs abgeschnitten. Ich hatte ein Codein-Fläschchen im Gepäck und holte es heraus, um mir einen Schluck zu genehmigen. Das Zeug schmeckte nicht so gut wie Whiskey, aber es wärmte definitiv besser als eine dieser Dosen mit Brennpaste. Das .30er MG gab einen Moment lang Ruhe, begann danach aber wieder längere Salven abzufeuern. Kurz darauf knatterte ein leichtes Maschinengewehr los, wahrscheinlich ein Browning Automatic Rifle, abgekürzt B. A. R., unter das sich das unregelmäßige Knallen von Kleinwaffen mischte. »Was zum Teufel ist da los?«, brummte der Corporal. Er richtete sich auf und kniete nun im Graben, sein M1 Carbine fest mit den Händen umschlossen. Plötzlich explodierten Leuchtgeschosse im Himmel, und über den Feldern begannen weiße Halos zu flackern. Im künstlichen Licht schien das Gesicht des Corporals blass wie Kerzenwachs, seine Lippen waren schmal und weiß.
Die ersten Mörsergranaten schlugen vor unseren Ziehharmonika-Stacheldrahtrollen ein und ließen die Minen detonieren, die wir vorher ausgelegt hatten. Gelbe und orangefarbene Flammen schossen empor und katapultierten Dreck und zerfetzten Stacheldraht in die Höhe. Dann betäubte ein Donnerdröhnen meine Ohren, das sich anfühlte, als rasten zwei Güterzüge zusammen. Ich spürte den heißen Luftzug des explosionsbedingten Vakuums, und im nächsten Moment brach die Grabenwand über mir zusammen und knallte mit der Wucht eines Vorschlaghammers gegen meinen Kopf. Die Erdmassen rammten mir die Kante des Helms in die Nase, was für eine ordentliche Platzwunde sorgte, und ich konnte sofort das Blut schmecken, das über meinen Mund lief. Irgendwo zwischen den umherfliegenden Felsbrocken und Erdklumpen, dem Donner der Granateinschläge und dem brummenden Beben unter meinen Füßen hörte ich einen Marine schreien. Es war nur ein lang gezogenes Wort, geschrien von einer Stimme, die aus einem Verbrennungsofen emporzusteigen schien: »DOOOOOOOOOOC!«
Ich setzte mich in Bewegung und kroch auf allen vieren den Boden des Grabens entlang. Doch plötzlich änderten die Chinesen die Ausrichtung ihrer Geschütze und konzentrierten das Feuer auf das Zentrum unserer Linie.
Bis dahin hatte ich immer geglaubt, dass, sollte ich mir jemals eine Kugel einfangen, es als Konsequenz einer von mir gefällten Entscheidung geschehen würde. Ich würde dran glauben müssen, weil ich selbst gehandelt hatte, und ganz egal, wie gedankenlos oder unbesonnen diese Tat auch sein mochte, besäße ich auf diese Weise noch ein wie auch immer geartetes Mitspracherecht bei meinem Tod. Auf dem Boden des Grabens dämmerte mir nun langsam, dass ich stattdessen inmitten eines Feuersturms sterben würde. In dieser Situation den eigenen Tod abwenden zu wollen war so aussichtslos, wie vor der niederfahrenden Faust Gottes zu fliehen. Die Granaten schlugen in unregelmäßigen Abständen im Graben ein und katapultierten Männer, Waffen und Ausrüstung in alle Himmelsrichtungen. Mit einem Mal erstarrte der Corporal neben mir in einer Explosion aus Licht und Erde. Er hatte Mund und Augen weit aufgerissen, sein Helm war löchrig, von Granatsplittern zerrissen. Wie in Zeitlupe schien er sich in einer Pirouettenbewegung zu drehen, das gesamte Gewicht seines massigen Körpers auf nur einen Fuß gelagert, und fiel mit dem Rücken zuerst auf mich. Das Blut quoll unter seiner Wollmütze hervor und lief ihm dünn wie Bindfäden über das Gesicht. Er öffnete und schloss den Mund, und seine mit weißem Speichel belegte Zunge formte einen feuchten, saugenden Laut. Er hustete noch einmal leise und tief in seiner Kehle. Dann fixierten seine Augen eines der am Himmel brennenden Leuchtgeschosse und hörten auf, sich zu bewegen.
Wenig später verstummte der Feuersturm. Zu plötzlich und zu rasch eigentlich, denn man sollte meinen, dass ein derart intensives und mörderisches Ding nicht einfach so endet, sondern sich aus seiner eigenen kataklystischen Kraft speist und bis in alle Ewigkeit fortwährt. Ich schob den Corporal zur Seite und merkte in der Stille (oder dem, was ich für Stille hielt, denn links und rechts erfüllte das Knattern automatischer Waffen immer noch die Luft), wie meine Ohren klingelten. Der zerfetzte Helm rollte vom Kopf des Corporals. Auf seiner Schädeldecke klaffte eine lange Wunde, die aussah wie von einem Skalpell gezogen. Auf dem Boden des Grabens lagen die Toten in unnatürlichen Positionen verstreut. Einige von ihnen waren zur Hälfte unter den eingestürzten Grabenwänden verschüttet, ihre Körper verdreht, ihre Gliedmaßen abgeknickt, als wären sie vom Himmel gestürzt. Die Gesichter der Verwundeten waren aschfahl, gezeichnet von Schock und Gehirnerschütterungen. Etwas weiter hinten im Graben schrie ein Mann.
»Sind Sie verletzt, Doc?«, fragte mich der First Lieutenant. Er trug sein Carbine in der rechten Hand, sein linker Arm baumelte reglos an der Seite herunter.
»Nein. Alles in Ordnung.« Unsere Stimmen klangen in meinen Ohren wie die von zwei weit entfernten Männern.
»Bereiten Sie alles für die Evakuierung der Verwundeten vor. Unserer rechten Flanke wird gerade der Arsch aufgerissen. In fünf Minuten sollen wir Artillerieunterstützung bekommen, und dann ziehen wir uns zurück.«
»Sie bluten ziemlich stark, Lieutenant.«
»Helfen Sie so vielen auf die Beine, wie Sie können. Gleich wimmelt es hier von Schlitzaugen.«
Die versprochene Deckung durch unsere Artillerie blieb aus. Fünfzehn Minuten später wurden wir überrannt. Unsere automatischen Waffen mähten Hunderte der über die Reisfelder auf uns zustürmenden Chinesen nieder, und wir schaufelten Schnee auf die glühenden Läufe unserer MGs, damit sie nicht überhitzten. Der Boden des Grabens war von Patronenhülsen und leeren Munitionskisten bedeckt. Auf den Feldern lagen die Toten in Zickzack-Reihen, so weit das Auge reichte. Wie Wellen stürmten die Gegner in unsere Richtung. Kaum waren die einen gefallen, folgten ihnen schon die nächsten nach. Daraufhin setzten die Signalhörner wieder ein, und Stielhandgranaten zerrissen unseren Stacheldraht. Jedes Mal, wenn eine unserer Waffen nachgeladen werden musste oder ein Marine zu Boden ging, rückten sie näher an unseren Graben heran. Unser einziger Panzer stand hinter uns, lichterloh in Flammen, unser Lieutenant hatte einen Schuss in den Mund abgekommen, und alle unsere Unteroffiziere waren tot. Nachdem wir die letzten Patronen verschossen hatten, schien unser Alamo gekommen, und wir pflanzten die Bajonette auf unsere Gewehrläufe. Dann brach eine neue Welle chinesischer Angreifer über uns hinweg.
Sie liefen am Graben entlang und feuerten aus nächster Nähe mit ihren Maschinenpistolen auf uns hinab. Erfüllt von einem hysterischen Gefühl der Erleichterung, den Frontalangriff überlebt zu haben, schossen sie auf die Toten ebenso wie auf die Lebenden. Ihre Waffen waren nicht für zielgenaues Schießen ausgelegt, auf ein paar Meter Entfernung jedoch pumpten sie im Handumdrehen ein komplettes Trommelmagazin in ihre Gegner. Schließlich kam der Moment, in dem ich, zum ersten Mal in meinem Leben, vor dem Feind davonlief. Ich ließ die Bahre mit dem verwundeten Marine fallen und rannte los, sprang über Leichen und Munitionskisten, verbogene Bazookas und gefechtsunfähige Maschinengewehre hinweg, vorbei an unserem Lieutenant, der Blut und Zähne auf seinen Mantel spuckte, und dann tauchte plötzlich ein Junge über mir am Grabenrand auf, ein Chinese in Stoffschuhen und Watteuniform, höchstens siebzehn Jahre alt, mit einem schmalen, gelben, von Kälte und Frost gezeichneten Gesicht. Ich erinnere mich noch daran, dass ich meine Arme ausstreckte, um Kopf und Brustkorb vor den Kugeln zu schützen. Doch das erwies sich als unnötig, denn der Bursche war ein derart schlechter Schütze, dass er nur meine Beine und die auch nur unterhalb der Knie erwischte. Wie Eiszapfen durchbohrten die Kugeln meine Glieder, und ich stürzte zu Boden, als hätte mir ein Clown in einer Slapstick-Nummer gegen die Schienbeine getreten.
An dieser Stelle endete mein durch Jack Daniel’s und sexuelle Erschöpfung bedingter Ausflug nach Korea. Ich wachte um halb sieben auf, schwitzend und mit einem dicken Schädel. Eine halbe Stunde lang saß ich in der gekachelten Dusche, ließ kaltes Wasser auf mich herabregnen und kaute auf einer nicht angezündeten Zigarre herum. Die weißen Dellen in meinen Schienbeinen fühlten sich unter dem Druck meines Daumens an wie Gummi.