DIE AUTORIN
@ Michelle D. Argyle
SARA RAASCH wusste schon mit fünf Jahren, dass sie für die Bücherwelt bestimmt ist. Während ihre Freunde Limonade verkauften, brachte sie handgezeichnete Bilderbücher an den Mann. Ihre Begeisterung für das geschriebene Wort verleitet sie immer noch
zu tollkühnen Aktionen. Schnee wie Asche, ihr Debütroman, schaffte es sofort auf die New-York-Times-Bestsellerliste.
Von der Autorin ist ebenfalls bei cbt erschienen:
Schnee wie Asche (Band 1)
Eis wie Feuer (Band 2)
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Sara Raasch
Frost wie
Schatten
Aus dem Amerikanischen
von Katja Hald
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2017
© 2016 by Sara Raasch
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »Frost like Night« bei Balzer + Bray,
an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Katja Hald
Lekorat: Catherine Beck
Karte: © 2015 Georg Behringer
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesgin, Bad Oeynhausen,
nach einer Vorlage von Erin Fitzsimmons
Jacket art © 2016 by Jeff Huang
he · Herstellung: ang
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-19151-1
V001
www.cbt-buecher.de
Für Doug und Mary Jo,
die bei Weitem nicht so anstrengend sind
wie Sir und Hannah.
Kapitel 1
Meira
Es ist falsch.
Verborgen in einem Torbogen, der in das Verlies des Donati-Palasts führt, spüre ich schon jetzt, wie sich Ventralli verändert. Finsternis breitet sich aus wie der Vorbote eines Gewitters. Doch statt bei meiner Handvoll Winterianern zu bleiben und zu kämpfen, habe ich sie zurückgelassen und folge dem Mann vor mir.
Dabei habe ich keine Ahnung, wer er in Wirklichkeit ist.
Falls einmal Wachen vor dem Verlies postiert waren, sind sie verschwunden. Wahrscheinlich wurden sie in dem Chaos, das Raelyns Machtübernahme ausgelöst hatte, abgezogen. Rechts und links von uns öffnen sich Räume, weit genug entfernt, damit die Menschen darin uns nicht bemerken, jedoch nah genug, um einen schnellen Blick hineinzuwerfen. Soldaten drängen Gruppen von Höflingen gegen die vergoldeten Wände, Bedienstete weinen. Am beängstigendsten sind jedoch die vielen Leute, die tatenlos danebenstehen, während die Soldaten mit Drohungen um sich werfen wie mit Messern. König Jesse sei abgesetzt, verkünden sie, und seine Frau Raelyn nun die Herrscherin über Ventralli, da sie die größere Macht besitze, eine Macht, die ihr König Angra von Frühling verliehen habe und die von nun an jeder nutzen konnte.
»Angra lebt?«
»Ist seine Magie stärker als die der Königlichen Magsignien?«
»Hat er deshalb überlebt?«
Die Fragen übertönen das Gebrüll der Soldaten und mischen sich mit dem dröhnenden Pochen meines Herzens.
»Die Königin von Ventralli hat den König mit Angras Hilfe entmachtet. Auch Cordell steht schon unter Angras Einfluss.« Mir stockt der Atem. »Herbst und Winter hat er unterworfen und den König von Sommer ermordet. Und dennoch zeigen die Menschen keine Angst, sondern scheinen eher erstaunt zu sein.«
Der Mann, dem ich folge – Rares, falls das sein richtiger Name ist –, dreht sich um und sieht mich an.
»In den drei Monaten, in denen Angra verschwunden war, hat er diese Machtübernahmen wahrscheinlich gründlich vorbereitet. Sein Vergeltungsschlag ist also gar nicht so überraschend, wie es scheint«, sagt er. »Und gerade Ihr wisst wohl am besten, wie leicht es ist, Menschen, die eigentlich Angst haben sollten, in Erstaunen zu versetzen.«
»Ich?« Ich schlucke. »Warum soll gerade ich das am besten wissen?«
»Wollt Ihr das wirklich jetzt mit mir diskutieren?« Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, wobei sich die Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Kinn über seine rechte Gesichtshälfte zieht, kräuselt. »Eigentlich hatte ich vor, uns zunächst aus der unmittelbaren Todesgefahr zu bringen …«
Schwerter krachen gegeneinander und das Brüllen eines Soldaten hallt den Gang herauf. Ohne meine Antwort abzuwarten, biegt Rares um die Ecke, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Ich sollte keinem mysteriösen Paislyaner hinterherlaufen. Ich sollte Mather helfen, die Winterianer aus dem Verlies zu befreien. Oder mir überlegen, wie ich mir mein Königreich von den Cordellianern zurückhole. Oder Ceridwen vor Raelyn retten. Oder eine Möglichkeit finden, um Theron aus den Klauen von Angras Verderben zu befreien.
Über all die Sorgen, die mich plagen, gerate ich ins Straucheln. Ich hatte immer den Verdacht, Angras Tod könnte eine List gewesen sein, aber ich hätte nie, nicht in meinen schrecklichsten Albträumen, damit gerechnet, er könnte stark genug sein, seine Magie auf Nicht-Magsignienträger zu übertragen.
Aber seine Macht ist verseucht durch das Verderben, das entstand, als die Magie noch nicht an die königlichen Abstammungslinien gebunden war.
Während Rares und ich uns von einem Korridor in den nächsten schleichen, sehe ich die Früchte von Angras Magie mit eigenen Augen. Das Ventralli des Lichts und der Farben, das wir bei unserer Ankunft vorgefunden hatten, ist verschwunden. Alles erinnert nun an die finsteren und trostlosen Straßen von Frühling. Soldaten marschieren mit verkniffenen Gesichtern vorüber, ihre Bewegungen hart und zackig. Höflinge mit großen, verängstigten Augen drängen sich zitternd in kleinen Gruppen, geflissentlich darauf bedacht, es den Eroberern recht zu machen.
Niemand kämpft. Niemand schreit nach Vergeltung oder unternimmt einen Versuch, sich gegen die Soldaten zu wehren.
Das alles ist Angras Werk – obwohl es aussieht, als musste er dazu nichts weiter tun, als seinen höhergestellten Untergebenen Kontrolle über die Magie zu geben. So wie Raelyn, die mit dieser Magie den Sommer-König getötet hatte. Die Menschen auf den Korridoren wirken benebelt, als stünden sie unter dem Einfluss einer fremden Macht oder hätten alle zu viel vom selben schlechten Wein getrunken.
Genau das will Angra. Er versucht, eine Welt der unbegrenzten Macht zu erschaffen, in der jeder besessen ist von einer Magie, die die Menschen mit ihren abgründigsten und dunkelsten Gefühlen überwältigt und so gefügig macht.
Wie kann ich ihn aufhalten? Wie kann ich alle …
Die Frage, die ich meiner Magie damals gestellt hatte, krallt sich in mein Bewusstsein und bringt mich zurück zu dem Moment, als ich mit Lekan und Conall durch die Straßen von Rintiero gerannt bin. Damals waren meine größten Sorgen, wie ich Ceridwen davon abhalten könnte, ihren Bruder zu töten, ob es mir gelingen würde, ein Bündnis mit Ventralli zu schließen, und wo ich den Orden der Lustraten und seine Schlüssel finden könnte, um zu verhindern, dass Cordell Zugang zum Magieschlund bekäme.
Wie kann ich alle retten? Diese Frage hatte ich mir damals gestellt und die Antwort brannte sich mir in die Seele: Indem ich meine Königliche Magsignie opfere und sie der Quelle der Magie zurückgebe.
Aber Winters Magsignie bin ich selbst – alles an mir. Und zu verdanken habe ich es meiner Mutter.
Rares zieht mich hinter eine Topfpflanze, gerade noch rechtzeitig, bevor aus einem Raum direkt vor uns ein Trupp Männer im Laufschritt kommt.
»Nicht jetzt«, flüstert er. Er sucht nach etwas in seinem Hemd und zieht einen Schlüssel an einer Kette hervor. Es ist derjenige, den er mir schon im Verlies gezeigt hatte – der letzte Schlüssel zum Magieschlund in der Tadil-Mine. »Ihr habt mich gefunden. Ihr habt den Orden der Lustraten gefunden – und ja, wir werden Euch helfen, Angra zu besiegen und all dem ein Ende zu setzen. Aber zuerst müssen wir lebend hier herauskommen.«
Seine Worte sind ein Trost, den ich dringend gebraucht habe – so dringend, dass ich mich erst, als er wieder auf den Korridor huscht, frage, woher er überhaupt wusste, was mich beschäftigte.
Es spielt keine Rolle. Entschlossen schlucke ich meine Zweifel hinunter. Ich werde es schaffen. Ich werde vom Orden der Lustraten lernen, so viel ich kann, und dieses Wissen einsetzen. Ich werde mich Angra im Kampf stellen und ihn und seine Magie vernichten. Oder ich nehme ihm die Schlüssel ab, gelange damit in den Magieschlund in Tadil und zerstöre ein für alle Mal sämtliche Magie auf die einzige Art, die ich kenne.
Ob so oder so, ich muss Angra und seine Magie vernichten. Aber Angra ist zu stark für mich. Ich brauche Hilfe, und nur der Orden der Lustraten kann mir zeigen, wie ich meine Magie unter Kontrolle bekomme und dadurch dieselbe unaufhaltsame Macht erlange wie Angra.
Rares führt mich in eine leere Küche mit schweren Holztischen und knisternden Feuerstellen. Überall steht Essen, das wohl Bedienstete zurückgelassen haben, die sich irgendwo vor dem blutigen Gemetzel der Machtübernahme verstecken. Er zieht einen Trinksack hervor und füllt ihn an einer Pumpe in der Ecke.
»Wer seid Ihr?«, gelingt es mir endlich zu fragen.
Er deutet auf einen Messerblock auf der Theke. »Bewaffnet Euch.«
»Mit Küchenmessern?«
»Eine Klinge ist eine Klinge«, entgegnet er unbeirrt. »Auch ein Küchenmesser schlägt blutige Wunden.«
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu und stecke mir ein paar Messer in den Gürtel. Auf meinem Rücken baumelt das leere Holster. Mein chakram ist noch im Ballsaal – steckt in Garrigans Brust.
Ich umklammere den Rand der Küchentheke.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, und als ich aufblicke, sieht Rares mir direkt in die Augen.
»Ich heiße Rares. Das war nicht gelogen«, versichert er mir. »Rares Albescu von Paisly. Ich bin einer der Anführer des Ordens der Lustraten.«
Sein Blick wandert über meine Schulter zur Küchentür, die in den Palast führt. Schritte hallen wider, werden lauter. Wir werden fliehen müssen, bevor er mir mehr sagen kann.
»Ich werde Euch alles erklären«, verspricht er. »Aber erst, wenn wir in Sicherheit sind – in Paisly. Dorthin kann Angra uns nicht folgen.«
»Warum nicht?«, will ich wissen. »Was habt Ihr vor? Warum ist …?«
Rares unterbricht mich, indem er fest meine Schulter drückt. »Bitte, Eure Majestät. Meines Wissens ist Paisly der sicherste Ort für Euch, und ich verspreche Euch, sobald ich kann, werde ich Euch über alles unterrichten.«
»Meira«, verbessere ich ihn. Wenn ich hier schon mein Leben für unser aller Zukunft riskiere, möchte ich wenigsten so angesprochen werden, wie es mir gefällt.
Rares lächelt. »Meira.«
Wir gehen zu einer zweiten Küchentür, die in den Garten führt, und als Rares hindurchschlüpft, packt mich wieder mein schlechtes Gewissen. Aber wenn ich jenen, die ich zurücklasse, helfen will, muss ich mit ihm gehen. Der Orden der Lustraten ist meine beste Chance, Angra aufzuhalten. Dennoch habe ich das Gefühl, davonzulaufen.
Rares dreht sich noch einmal zu mir um. »Wenn du bleibst, kannst du nicht alle retten.«
Du kannst nicht alle retten. Das hatten mir andere auch schon gesagt. Allen voran Sir. Deine Sorge muss zuerst Winter gelten.
Ein heftiger Schmerz durchbohrt mich. Mather hatte mir von Alyssons Tod berichtet, aber was ist mit Sir? Hat er Cordells Angriff auf Jannuari überlebt? Und was ist mit Winter? In welchem Zustand befindet sich mein Königreich? Die Vorstellung, Sir könnte tot sein, quält mich. Er muss einfach am Leben sein, und wenn er es ist, wird er alles tun, um Winter zusammenzuhalten.
Rares Worte klingen mir in den Ohren. Erst jetzt verstehe ich Ihre eigentliche Bedeutung, und mir wird klar, in wie vielen Dingen er sich von Sir unterscheidet. Es sind nicht nur die größeren Augen, die dunklere Haut und die vom jahrelangen Kämpfen stärker vernarbten Hände. Ich habe in ihm etwas erkannt, das ich bei Sir immer vermisst habe. Rares hatte dem Satz drei Worte vorangestellt, die ihm eine ganz andere Bedeutung gaben.
Wenn du bleibst, kannst du nicht alle retten.
Rares konfrontiert mich nicht mit unumstößlichen Tatsachen, sondern stellt mich vor eine Entscheidung.
»Wer bist du?«, flüstere ich noch einmal.
Er lächelt. »Jemand, der lange auf dich gewartet hat, Liebes.«
Kurz nachdem wir das Palastgelände verlassen haben, zerreißt das Heulen eines Horns den grauen Dunst, der in der Luft liegt.
Mein Verschwinden war entdeckt worden. Das bedeutet, sie haben auch den im Verlies angeketteten Theron gefunden, und Mather und den Rest …
Nein. Mather würde niemals zulassen, dass irgendjemand in seiner Obhut etwas geschieht. Und zwar nicht, weil ich es ihm befohlen hatte, sondern allein, weil er es so gewohnt war. Auch wenn er den Thron verloren hat, ist er noch immer ein Anführer. Die Kinder des Taus sehen mit bedingungsloser Loyalität zu ihm auf, die sich nur jene verdienen, die zum Führen geboren sind …
Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der fähig ist, vollkommen unabhängig und eigenständig zu handeln.
Und was ist mit Theron?
Die Frage schießt mir durch den Kopf, während ich mit Rares aus der Stadt renne. Wir schlängeln uns zwischen den schiefen Mauern zweier strahlend schöner Gebäude hindurch und steuern auf den saftig grünen Wald zu, der im Norden an Rintiero grenzt.
Diese Frage. Das war nicht ich. Es klang fast, als ob …
Abrupt bleibe ich stehen. Rares läuft noch ein kleines Stück weiter, dann bemerkt er, dass ich stehen geblieben bin. Die Stimme in meinem Kopf lähmt mich und ich presse die Hände gegen meine Schläfen.
Ein schreckliches Schicksal, Teil derselben Magie zu sein, nicht wahr? Wenn Ihr doch nur stärker wärt.
Alles um mich her verschwimmt, bis ich vor meinem geistigen Auge nur noch Angras Gesicht sehe.
»Nein!«, schreie ich und krümme mich zusammen. Meine Knie schlagen auf der feuchten Erde auf. Angra konnte meine Gedanken hören, als ich mit ihm im Ballsaal des Donati-Palasts war. Aber nun ist er nirgendwo in meiner Nähe. Wie ist es ihm möglich, mit mir zu sprechen? In meinem Kopf? Ich muss ihn aufhalten …
Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt mich aufhalten, Hoheit? Meine Soldaten sind schon auf dem Weg zu Euch. Winter neigt sich seinem Ende zu. Frühlings Zeit ist gekommen.
Als Antwort kommt mir nur ein klägliches Warum? über die Lippen.
Ich hatte ihm die Frage schon einmal gestellt, inmitten des Blutbads im Ballsaal von Donati, neben dem Kopf des Sommer-Königs und den Leichen von Garrigan und Noam. Doch Angra hat mir nicht mehr verraten als den Grund, aus dem er danach trachtet, Winters Minen zu zerstören. Er fürchtet, die reine Magie der Magsignien könnte dem Verderben entgegenwirken, und setzt nun alles daran, diese Bedrohung aus der Welt zu schaffen. Deshalb hatte er Winter über einen so langen Zeitraum immer wieder angegriffen und sich jedem, der versucht hatte, den Magieschlund zu öffnen, entgegengestellt.
Während sein Gesicht meinen Verstand vollständig beherrscht, stelle ich ihm die eine Frage noch mal. Aber sie ist nicht mehr als ein Wimmern in der Dunkelheit.
Warum tut Ihr das …?
Ich musste mit ansehen, wie meine Freunde in diesem Krieg getötet wurden. Ich musste mit ansehen, wie mein Königreich brannte. Und nun laufe ich wieder um mein Leben. Dabei habe ich in all den Jahren nie verstanden, warum. Was will er?
Den Kopf mit beiden Händen fest umklammert, spüre ich, wie sich Finger auf meine Hände legen.
Ich öffne die Augen. Magie fließt durch meine Glieder, kühl und rein, und meine Angst wird zu einer Art Schockzustand.
Rares pumpt Magie in meinen Körper.
Sein Gesicht verzerrt sich, Schweißperlen treten ihm auf die Stirn. »Kämpfe gegen ihn an!«
Ich weiß, dass ich mich Rares’ Magie nicht beugen muss – mich ihr nicht beugen sollte. Doch jede Faser in mir will es. Angst und Panik rollen sich in mir zusammen wie eine Peitsche, drohen mein Innerstes mit einem Hieb zu zerreißen.
Kämpfe! Ich zwinge mich, mich jeder Hilfe, die Rares mir anbietet, zu öffnen.
Ein heftiger Stoß wirft mich nach hinten und ich krache rücklings auf den Boden. An meinen Kleidern kleben Blätter, und mein Kopf fühlt sich an, als hätte in meinem Schädel jemand eine Glocke geschlagen.
Dann erkenne ich Rares wieder, dessen Lippen meinen Namen formen.
»Du …«, meine ich zu sagen. »Was hast du …«
Ein stechender Schmerz lodert hinter meinen Augen, und ich muss mich sehr zusammenreißen, um mich nicht auf den matschigen Boden zu übergeben. Wieder legt Rares seine Hand auf meine und durch einen Schleier der Qual, der alles in ein pulsierendes Rot taucht, sehe ich ihn an.
Ruh dich aus, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Aber es ist nicht Angra. Es ist Rares. Er ist in meinem Kopf. Ruh dich aus. Vertrau mir.
Dir vertrauen? Was hast du getan? Du hast mir überhaupt nichts erklärt!
Obwohl ich dagegen ankämpfe, hüllt mich die Bewusstlosigkeit ein wie die verlockenden Düfte eines fröhlichen Fests, und die wiegenden Bewegungen, als Rares mich hochhebt und im Laufschritt durch den Wald trägt, nehme ich nur noch wie im Nebel wahr.
Du bist Sir ähnlicher, als ich dachte, ist mein letzter Gedanke, bevor alles in Dunkelheit versinkt.
Kapitel 2
Mather
Sie ist weg.
Mather bündelte seine Panik, konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Riegel. Kreischend gab er nach. Die Zellentür öffnete sich. Als Erster stürzte mit erhobenen Fäusten Phil in die Freiheit und der Rest der Taus folgte ihm. Doch bevor Mather ihnen Befehle gab, sprengte er auch noch den Riegel der benachbarten Zellentür und befreite Dendera, Nessa und Conall. Die Hilferufe aus Therons Zelle würden jede Minute Soldaten auf den Plan rufen – und Meira war weg.
»Wir müssen hier raus«, sagte Mather an niemanden gerichtet. Doch als er sich der Treppe zuwandte, zögerte er. Wenn sie auf der Treppe irgendwelchen Soldaten begegneten, würden sie garantiert wieder im Verlies landen. Gab es noch einen anderen Weg nach draußen?
Phil trat auf ihn zu. »Wir könnten uns aufteilen. Ein paar von uns nehmen die Treppe, der Rest geht tiefer ins Verlies und findet heraus, ob es noch einen anderen Weg …«
»Oder ihr folgt einfach mir«, ertönte eine Stimme.
Mather, der aufgrund der Ereignisse des Tages extrem angespannt war, machte einen Satz und griff nach seinem Schwert. Aber bevor man ihn ins Verlies hinuntergeführt hatte, hatte man ihm die Waffen abgenommen, und so blieb ihm lediglich Cordells Königliche Magsignie. Als seine Finger über den Edelstein auf dem Dolchgriff strichen und er sich daran erinnerte, wie Theron ihn achtlos weggeworfen hatte, wanderte einer seiner Mundwinkel nach oben. Ein Teil von ihm verspürte große Lust, Cordells hübsche Magsignie mit Blut zu überziehen.
Die Frau, die in der Mitte des Gangs aufgetaucht war, faltet die Hände über dem Rock eines langen, silbernen Gewands. Es sah fast wie eine Rüstung aus. Ein Teil des Gesichts war unter einer passenden, ebenfalls silbernen Maske verborgen, und beim Sprechen hob sie gebieterisch das Kinn.
»Vorausgesetzt natürlich, ihr wollt am Leben bleiben«, sagte sie.
»Ihr seid eine Ventrallianerin«, entgegnete Mather und baute sich vor ihr auf. »Warum sollten wir Euch trauen?«
»Ich fürchte, euch bleibt nichts anderes übrig«, spottete die Frau.
Mather wollte gerade etwas entgegnen, da kniff Dendera die Augen zusammen und stieß laut hervor: »Ihr seid Herzogin Brigitte, die Mutter des Königs. Ich habe Euch mit Raelyn gesehen!«
Brigitte verdrehte die Augen. »Glaubt ihr, ich würde mich freiwillig an diesem schmutzigen Ort aufhalten, wenn ich mit ihrem Staatsstreich einverstanden wäre?« Sie rümpfte die Nase. »Noch dazu allein? Selbstverständlich könnte ich euch jetzt alles ausführlich erklären, aber es wäre sicher unkomplizierter, ihr würdet mir einfach folgen. Wie gesagt, im Grunde ist es mir gleichgültig, ob ihr überlebt oder sterbt. Ich glaube allerdings, ihr könnt mir noch von Nutzen sein. Also trefft eure Entscheidung. Aber schnell.«
Am oberen Ende der Treppe zum Verlies rüttelte jemand an einer Tür. Sie mussten Therons Rufen gehört haben.
Erschrocken taumelte Mather in Brigittes Richtung. Diese interpretierte das wohl als Einverständnis und machte auf dem Absatz kehrt. Mit wehendem Gewand eilte sie den Gang entlang. Mather und der Rest der Gruppe folgten ihr, ohne weitere Fragen zu stellen. Was blieb ihnen auch übrig? Er musste hier raus – zu Meira. Er musste sicher sein, dass es ihr gut ging und der Mann, mit dem sie gegangen war, nicht Teil einer von Angras Fallen war. Es hatte schon so viele böse Überraschungen gegeben – Cordell hatte sich gegen Winter gewandt, Theron gegen Meira, und die Königin von Ventralli hatte einen Staatsstreich inszeniert. War der Mann, dem Meira gefolgt war, vertrauenswürdig? Dazu kam, dass Winter immer noch von Cordell kontrolliert wurde und sie ihr Königreich unmöglich befreien konnten, solange sie Angras Gefangene waren.
Brigitte bückte sich und verschwand nach rechts in eine Zelle. Mather hielt kurz inne, aber nur bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wenn die alte Hexe sie in einen Hinterhalt lockte …
Doch am hinteren Ende der Zelle öffnete sich knarrend eine mit Stein verkleidete Tür, die sich geschlossen nahtlos in die Wand einfügte.
»Macht die Tür hinter euch zu«, rief Brigitte, bevor sie durch die Öffnung verschwand.
»Hollis«, zischte Mather. »Du machst das Schlusslicht. Sei auf der Hut.«
Hollis blieb in der Zelle stehen, um die anderen vorbeizulassen, während Mather, dessen Muskeln vor aufgestauter Kampfbereitschaft zitterten, Brigitte folgte. Der Stein verschluckte nahezu jedes Geräusch, nur das Klicken der Absätze der Herzogin war zu hören. Es ging nach oben – Treppen. Er sprintete ihr hinterher in der Hoffnung, etwas Abstand zwischen sich und die Gruppe zu bringen. Sollte es sich um eine Falle handeln, hätte er noch Zeit, die anderen zu warnen, und sie könnten rechtzeitig den Rückzug antreten.
Nun, da er an diesem engen, dunklen Ort allein war, begann seine Entschlossenheit jedoch zu bröckeln. Alles war so schnell gegangen – der Mann, Meiras unerwartetes Vertrauen zu ihm, ihre inständige Bitte an Mather, alle zu befreien. Und er hatte es ihr versprochen. Aber eigentlich nur, weil er sie seit Monaten nicht mehr so gesehen hatte. Sie war wie das Auge eines Sturms gewesen – furchterregend, strahlend und unerbittlich.
Die Treppe endete in einem Gang, der zu einer weiteren Treppe führte und an deren Ende Brigittes Schritte plötzlich verhielten. Ein schwaches metallenes Klirren war zu hören – Schlüssel. Mather hielt sich ein paar Schritte im Hintergrund und wappnete sich gegen Soldaten, Pfeile … Angra.
Blind starrte er auf seine Hände, die sich in der Dunkelheit immer wieder zu Fäusten ballten. Er selbst hatte Angra getötet. Er hatte die Magsignie des irren Königs in Abril zerstört und gesehen, wie sich sein Körper in Luft aufgelöst hatte.
Aber was war tatsächlich mit ihm geschehen?
Brigitte öffnete die Tür. Mather zwang sich, die Augen offen zu halten, bis sie sich an das grellgelbe Licht gewöhnt hatten und er ein Stück in den Raum dahinter sehen konnte. Ein scharlachroter Teppich, ein kurzer Tisch, blaue Wände. Keine Soldaten, soweit er erkennen konnte.
Brigitte trat ein und Mather folgte ihr.
»Großmama!«, ertönte der begeisterte Ruf eines Kinds.
Sie befanden sich in einem mit Mahagonimöbeln ausgestatten Schlafgemach – ein Tisch mit Stühlen, ein breites Bett, ein paar zwischen raumhohen Wandteppichen aufgestellte Schränke. Hinter einem der Wandteppiche verbarg sich die Tür, durch die sie gekommen waren. Aber der Raum hatte noch zwei weitere, nicht verborgene Türen, die geschlossen waren.
Brigitte war die Mutter von Jesse Donati, dem König von Ventralli. Mather hatte gesehen, wie dieser schwache König zuerst fuchsteufelswild und dann doch wieder schwach wurde, während seine Frau die Macht über sein Königreich an sich riss. Und nun saß ebendieser König auf einem gepolsterten Sessel vor ihm. Er hatte ein Kind auf dem Schoß, und ein zweites hing an seinem Arm, als wäre er ein Schutzschild, hinter dem es sich verstecken konnte.
Ein drittes Kind, kaum älter, wackelte auf sie zu. »Großmama«, sagte das Mädchen noch einmal, während ihm die Tränen über die mit Spitzen besetzte Maske kullerten.
Brigitte strich dem Mädchen über die dunklen Locken, dann warf sie Mather über die Schulter einen Blick zu. »Ich werde euch helfen, hier herauszukommen, und ihr werdet dafür meinen Sohn und meine Enkelkinder mitnehmen.«
Der Ventralli-König erhob sich, und sofort klammerte sich die Tochter, die sich hinter ihm versteckt hatte, an sein Bein. Der Junge, den er im Arm hielt und der nicht älter als ein Jahr sein konnte, starrte Mather unter seiner kleinen grünen Maske mit großen, ruhigen Augen an.
Phil stellte sich neben Mather, während sich der Rest der Taus um sie versammelte. Dank des geheimen Kampftrainings in Jannuari kannte er jeden von ihnen in- und auswendig. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Trace’ Finger nervös über seiner leeren Messerscheide zuckten, Eli grimmig die Zähne aufeinanderpresste, mit einem Blick so finster wie die Nacht, Kiefer sich alles beobachtend im Hintergrund hielt, jederzeit bereit, ihm zu Hilfe zu kommen, und Hollis und Feige sich schweigend rechts und links der Gruppe postiert hatten.
Es waren Dendera, Conall und Nessa, die Mather im Auge behalten musste. Dendera hatte ihre Arme um Nessa gelegt, sodass Conall die Hände freihatte. Wachsam, mit hartem, grauem Gesicht stand er da. Sein Bruder war genauso unerwartet gestorben wie Alysson.
Mather wandte sich von ihm ab. Er wollte dem Kummer, der in ihm aufstieg, keinen Raum geben. Hoffentlich würde sich Conall ebenfalls beherrschen können.
»Mutter …«, begann Jesse, dessen Überraschung auch die Maske nicht verbergen konnte. »Wer sind …?«
»Gilt unsere Abmachung?«, wollte Brigitte von Mather wissen.
Mathers Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ihr bringt uns in Sicherheit?« Er hatte so gut wie keine Erfahrung mit Kindern, aber selbst er konnte sich vorstellen, dass es nahezu unmöglich war, sie unbemerkt aus dem Palast zu bringen.
Einer aus der Gruppe trat einen Schritt vor. Mather hätte erwartet, dass es Dendera war – sie kannte sich von allen mit Kindern am besten aus –, aber als er sich umdrehte, riss er überrascht die Augen auf.
Es war Nessa, die Brigitte fest in die Augen sah und erklärte: »Selbstverständlich gilt unsere Abmachung.«
Mather war kurz davor gewesen, dasselbe zu sagen.
Egal, wie riskant es war, sie würden keine wehrlosen Kinder hier zurücklassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Nessa sich vor das älteste Mädchen kniete, verblüffte Mather.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Nessa. Und das ist mein Bruder Conall.«
Als seine Schwester mit dem Finger auf ihn zeigte, klappte Conall der Kiefer nach unten. Dennoch gelang ihm eine kleine Verbeugung vor der Prinzessin.
»Melania«, stellte sich das Mädchen vor, wobei ihr das i etwas unbeholfen über die Zunge rutschte.
Dafür, dass in Nessas Augen noch immer Entsetzen stand, schenkte sie Melania ein unglaublich sanftes Lächeln. »Also Melania, was hältst du davon, mit uns auf eine Abenteuerreise zu gehen?«
Melania sah zu ihrer Großmutter. Die Härte in Brigittes Gesicht wich einem Lächeln, woraufhin Melania ihre kleinen Finger in Nessas ausgestreckte Hand legte.
Dann ging alles ganz schnell. Während Brigitte Decken und ein paar wenige andere Dinge für unterwegs aus den Schränken holte, überredeten Dendera und zu aller Überraschung Hollis die anderen Kinder, ebenfalls mit auf »Abenteuerreise« zu kommen.
Der Raum schwirrte vor Geschäftigkeit. Nur der König von Ventralli stand reglos vor seinem Stuhl. Er hatte seinen Sohn nicht mehr auf dem Arm – der klammerte sich inzwischen an Hollis – und starrte mit zusammengepressten Kiefern wild entschlossen zu Boden.
»Ich muss zu ihr«, stieß er plötzlich hervor und sprach damit aus, was sich wie ein Mantra in Mathers Kopf festgesetzt hatte.
Unsicher, wie er darauf reagieren sollte, nahm sich Mather einen Dolch für seine Ausrüstung. Keiner sagte etwas. »Eure Gemahlin macht gemeinsame Sache mit Angra«, entgegnete er zögernd. »Wenn Ihr sie befreit …«
»Raelyn ist mir völlig egal«, knurrte der König. Etwas an seinen Worten ließ Brigitte, die am anderen Ende des Raums gerade eine Decke zusammenfaltete, innehalten.
»Oh, nein. Du wirst dich nicht töten lassen, für diese …«
»Diese was?« Der König drehte sich abrupt zu seiner Mutter um. »Du hast sie in den letzten Jahren vieles genannt. Nutzlos, gefährlich … eine Hure. Aber nun ist ja offensichtlich Raelyn diejenige, auf die diese Beschreibung zutrifft. Also wage nicht, mich daran zu hindern, Ceridwen hinterherzugehen.«
Als er zu Ende gesprochen hatte, war es im Raum mucksmäuschenstill. Die Erwähnung von Ceridwens Name erinnerte Mather an Meiras Abschiedsworte. Sie hatte ihm aufgetragen, Ceridwen zu retten. Warum sorgte sich der Ventralli-König ebenfalls um die Prinzessin von Sommer?
Ein kurzer Blick in das Gesicht des Königs genügte Mather, um zu wissen, warum.
Brigitte kniff die Lippen zusammen und schwieg. Ihr Sohn nahm die grüne Maske ab und richtete sie auf sie wie eine Waffe.
»Ich werde mich nicht in Sicherheit bringen. Nicht, bevor ich diese Maske zerbrochen und Ceridwen gerettet habe.«
Mather runzelte die Stirn. »Warum die Maske zerbrechen?«
Ohne zu zögern, als hätte er sich diese Erklärung schon unzählige Male im Kopf zurechtgelegt, antwortete Jesse: »Die Maske in Gegenwart eines Menschen zu zerbrechen, den man zurückweist, gilt als Zeichen für die endgültige Trennung. Als Zeichen dafür, dass man den Rest seines Lebens mit dem anderen nichts mehr zu tun haben möchte. Es stört einen nicht, sein wahres Gesicht zu zeigen, denn wenn man jemanden nie mehr wiedersieht, wird jedes Geheimnis bedeutungslos.«
Mather nickte. Im Grunde war es ihm egal, was der König tat. Aber wenn er vorhatte, seiner Frau gegenüberzutreten und Ceridwen zu retten, würde Mather sich ihm anschließen. Immerhin konnte er so auch eine der Aufgaben erfüllen, die Meira ihm aufgetragen hatte.
»Seht zu, dass ihr flieht, solange ihr noch könnt«, befahl Mather seiner Gruppe. »Ich selbst werde den König aus dem Palast begleiten. Ich habe da noch etwas zu erledigen.«
»Du verlässt uns auch?«, fragte Kiefer wütend.
Phil sah Mather tief in die Augen. Dann erklärte er: »Er folgt unserer Königin.«
Mather senkte den Kopf. Er rechnete mit weiterem Protest, aber da war nichts als Schweigen. Selbst Kiefer sagte nichts mehr. Allen war bewusst, in welch ernster Situation sich Meira befand. Sie hatte sich einem Mann anvertraut, den keiner von ihnen kannte. Womöglich kämpfte sie in diesem Moment um ihr Leben …
Mather war froh, als Dendera für ihn das Wort ergriff. »Hol sie zurück. Wir anderen«, sie wies auf die Taus, Nessa und Conall, »werden die Kinder in Sicherheit bringen.«
Und dann? Mather schob die Frage beiseite. Er kannte die Antwort nur zu gut. Danach würden sie sich Cordells Machtübernahme in Winter und allen anderen Übeln, die Angra in der Welt anrichtete, stellen müssen. Meira zurückzuholen, bedeutete auch, sie all diesen Konflikten auszusetzen.
Aber sie war die Königin. Sie war seine Königin. Und wie immer sie sich bezüglich Winters Haltung in dem Krieg, der sich hier zusammenbraute, auch entschied, er würde ihren Befehlen gehorchen – und sie nie wieder in einem Kampf allein lassen.
Dendera wandte sich an Brigitte. »Wie kommen wir aus dem Palast?«
Es kostete Brigitte sichtlich Kraft, den Blick von ihrem Sohn abzuwenden. Als sie es endlich tat, strich sie mit den Fingern über ihre Maske, als wollte sie sichergehen, dass sie noch an ihrem Platz war. »Es gibt hier noch einen zweiten Geheimgang«, sagte sie und ging auf einen anderen Wandteppich zu.
Dendera wollte ihr gerade folgen, als Nessa ihr die Hand auf den Arm legte.
»Und wohin sollen wir gehen?«, flüsterte sie, während Melania sich an sie klammerte und das Gesicht in ihren Röcken vergrub. Sie straffte die Schultern. »Winter ist nicht mehr sicher.«
»Einen Tagesritt von der Stelle, wo der Langstone auf den Südlichen Eldrige-Wald trifft, gibt es ein Flüchtlingslager der Sommerianer«, schlug Jesse vor. »Dort werdet ihr sicher sein.«
»Gut«, sagte Dendera. »Wir stehlen uns ein paar Pferde, vielleicht auch einen Wagen oder ein Boot, und treffen euch dann dort.« Sie sah Mather scharf an, und ihm war klar, dass es sich nicht um einen Vorschlag handelte. Er würde es in dieses Lager schaffen – mit Meira.
Dendera drehte sich mit der Prinzessin auf dem Arm dem König zu, der sich mit einem Kuss auf die Stirn endgültig von seiner Tochter verabschiedete. Schnell, als traue er sich nicht zu, es noch länger zu ertragen, küsste er auch noch die andere Tochter und seinen Sohn. Als er sich wegdrehte, standen Tränen in seinen blutunterlaufenen Augen. Schmerz zeichnete seine Gesichtszüge – aber auch Entschlossenheit.
Der König sah Brigitte an, aber die wandte sich an Mather. »Geht denselben Weg zurück, den wir gekommen sind«, erklärte sie ihm. »Wenn ihr euch auf dem zweiten Treppenabsatz nach links wendet, findet ihr dort eine Tür, die in die große Eingangshalle führt.«
»Danke«, sagte Mather, und Dendera, Nessa und Conall setzten sich sofort in Richtung des zweiten Gangs in Bewegung. Hollis hatte den Prinz von Ventralli auf dem Arm. Sowohl ihm als auch Feige war anzusehen, dass sie Dendera ohne Widerspruch folgen würden. Der Rest der Taus schien noch unentschlossen und warf Mather unsichere Blicke zu. Hätte er dieses Mal nicht noch schneller vorankommen müssen als auf der Reise von Winter hierher, hätte er sie sofort mitgenommen. Doch auch die Kinder benötigten allen Schutz, den sie bekommen konnten, und Dendera war die Einzige, die je wirklich gekämpft hatte – auch wenn Conall eine tödliche Entschlossenheit an den Tag legte, wie Mather sie noch bei keinem Soldaten gesehen hatte.
Mather zögerte. Mit seinen Taus fühlte er sich stärker. Vollständiger.
Doch dann zerschlug Hollis die Unsicherheit mit dem Schwur, den sie bei ihren geheimen Übungseinheiten geleistet hatten. »Wir lassen uns nicht besiegen«, knurrte er.
Mather lächelte. »Wir lassen uns nicht besiegen.«
Hollis und Feige setzten sich in Bewegung, Eli folgte ihnen und zog seinen Bruder mit sich. Auch Kiefer riss sich los und verschwand mit finsterem Gesicht und hängenden Schultern in dem neuen Gang.
Trace zögerte. Er sog scharf die Luft ein, als hätte er noch eine Frage, doch dann zuckte er nur die Schultern. »Wer als Erster im Lager ist«, verabschiedete er sich mit einem herausfordernden Grinsen.
Nur Phil blieb wie angewurzelt stehen.
»Geh«, befahl ihm Mather. »Die anderen brauchen dich.«
Phil hob eine Augenbraue. »Tut mir leid, Nicht-Mehr-König, aber mich wirst du so leicht nicht los.«
»Ich meine es ernst, Phil.«
Doch Phil sah ihn auf eine Art an, die jeden weiteren Protest zunichtemachte. »Wir stecken da gemeinsam drin. Wir alle. Und wenn wir uns trennen müssen, geht keiner allein.«
Feige, die hinter Hollis eigentlich schon verschwunden war, steckte noch einmal den Kopf ins Zimmer. »Und auch keine.«
Phil lächelte. »Und auch keine. Das heißt, ich komme mit dir.«
Sein ansteckendes Grinsen strahlte Zuversicht aus.
Mather spürte, wie er weich wurde.
Im Grunde war er froh, nicht allein zu sein.
Mit einem dumpfen Schlag schloss sich die Tür zum Gang, und Mather blieb mit Jesse, Phil und Brigitte zurück.
Brigitte ließ sich auf einem Stuhl nieder und spitzte die faltigen Lippen. Während Mather schon auf den Gang zueilte, durch den sie gekommen waren, und Phil winkte, ihm zu folgen, ging Jesse noch einmal zu seiner Mutter. Mather wartete.
»Danke«, sagte Jesse.
Brigitte zuckte die Schultern. »Geh jetzt. Raelyn wird bald merken, dass ich euch in meine Gemächer gebracht habe.«
Die Finger des Königs schlossen sich um die Schulter seiner Mutter und drückten sie sanft. Endlich sah sie ihn mit tränenverschleierten Augen an und ihr versteinertes Gesicht wurde weich.
»Geht«, flüsterte sie. »Mir geht es gut.«
Mit einem Kloß im Hals und brennenden Augen wandte sich Mather zum Gehen.
Jesse drängte sich an ihm vorbei in den Gang.
Brigitte zog ihr Gewand zurecht und richtete den Blick auf die Tür, durch die zweifellos jeden Moment Raelyn hereinstürzen würde, um sich genauso erbarmungslos an ihr zu rächen wie am Sommer-König. Mather hatte von diesem Kampf nur das Ende gesehen – wie sie dem König das Genick brach –, doch das war ihm Beweis genug, dass Raelyn auch gegenüber Brigitte keine Gnade zeigen würde.
Mather duckte sich in den Treppenabgang und zog die Tür hinter sich zu. Mit einem leisen Klicken fiel sie ins Schloss.
Nun gab es kein Zurück mehr. Für niemanden.