Das Buch
Auf einer abgelegenen Bergstraße wird die völlig verstörte Laura Schrader aus den Trümmern eines Wagens geborgen. Im Kofferraum entdecken die Retter eine grausam entstellte Leiche. Als die Polizei den Psychologen Robert Winter hinzuzieht, wird dieser mit dem rätselhaftesten Fall seiner Karriere konfrontiert: Die Geschichte, die Laura Schrader ihm erzählt, klingt unglaublich. Doch irgendwo innerhalb dieses Wahnkonstrukts muss die Wahrheit verborgen sein. Je weiter Robert vordringt, desto mehr muss er erkennen, dass die Gefahr, vor der Laura Schrader warnt, weitaus erschreckender ist als jeder Wahn.
Der Autor
Wulf Dorn, Jahrgang 1969, arbeitete zwanzig Jahre in einer psychiatrischen Klinik, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem 2009 erschienenen Debütroman »Trigger« gelang ihm ein Sensationserfolg. Seitdem stehen seine Bücher auf internationalen Bestsellerlisten und haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den französischen »Prix Polar«.
WULF DORN
DIE
KINDER
THRILLER
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Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2017
Copyright © 2016 by Wulf Dorn
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Studio Botschaft, München, nach einem Motiv von Nele Schütz Design
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-19681-3
V002
www.heyne.de
Für David
Schwarzer. Stern.
Vorbemerkung des Autors
Die Hauptgeschichte dieses Romans ist frei erfunden, ebenso wie die Schauplätze und die Personen, denen wir im Folgenden begegnen werden.
Was die Zwischensequenzen betrifft, wäre ich froh, ebenfalls behaupten zu können, es handle sich um pure Fiktion, aber jede dieser Szenen hat einen wahren Hintergrund. Sie beruhen auf Ereignissen, die sich innerhalb des einen Jahres zugetragen haben, in dem ich diesen Roman geschrieben habe.
Zu Lucy Walkers Geschichte wurde ich durch eine Aufnahme der belgischen Fotografin An-Sofie Kesteleyn inspiriert. Dieses Foto ist ebenso beängstigend wie die in diesem Roman zitierten Schlagzeilen, von denen es (mit Ausnahme der letzten) jede einzelne wirklich gegeben hat. Erwähnenswert ist auch, dass diese Pressemeldungen aus einem Zeitraum von nur fünf Wochen stammen.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse in meinem Leben als Leser und Autor dunkler Geschichten ist, dass die Realität stets um ein Vielfaches grausamer ist als jede Fiktion.
»Der Ort ist hier, die Zeit ist jetzt, und die Reise in das Reich der Schatten, deren Zeuge wir nun werden, könnte unsere Reise sein.«
ROD SERLING
»The Twilight Zone«
»Ein Kind, das die Hoffnung verliert, ist das Gefährlichste. Es gibt viele schwierige Situationen im Kinderleben, aber nie darf es die Hoffnung verlieren.«
ALFRED ADLER
»Die Technik der Individualpsychologie«
»Children ’round the world
Put camel shit on the walls,
Making carpets on treadmills
Or garbage sorting.
And it’s no game.«
DAVID BOWIE
I. Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.
I.
Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.
Noch bevor der zweite Signalton für die Kurzmitteilung verstummt war, hatte sich Patrick Landers bereits das Handy gegriffen.
Endlich!
Doch statt Sus Foto erschien auf dem Display nur das Logo seines Mobilfunkanbieters. Die Nachricht darunter warb für extra günstige Herbsttarife.
»Verdammt!«
Er ließ das Telefon zurück auf den Beifahrersitz fallen. Vor ihm lag noch ein gutes Stück Fahrt, und der Himmel verdunkelte sich wie ein unheilvolles Omen. Er erhöhte das Tempo und sah in den Rückspiegel, als könne er dort die Gesichter zu den Stimmen sehen, die ihn in seinen Gedanken verfolgten.
»… spricht kaum noch ein Wort …«
»… wie ein völlig anderer Mensch …«
»… hat sich plötzlich verändert …«
»… verhält sich merkwürdig, irgendwie … Wie soll ich sagen? Unheimlich. Ja, unheimlich!«
»Sie mögen mich für verrückt halten, Doktor, aber ich fürchte mich vor ihr.«
Und schließlich die Worte seines Doktorvaters: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Patrick. Ich bin ebenso ratlos wie du. In meinen zwanzig Berufsjahren ist mir so etwas noch nie untergekommen.«
Diese Worte wogen für Patrick am schwersten von allen. Gleich nach diesem Telefonat war er aufgebrochen, und seither bereute er, nicht schon viel früher losgefahren zu sein. Warum, zum Teufel, hatte er eine weitere Nacht verstreichen lassen?
Die Landstraße machte eine Linkskurve, vorbei an den heruntergekommenen Gebäuden einer längst aufgegebenen Molkerei, und dann endlich war der Pass ausgeschildert. Niemand kam ihm entgegen, und auch hinter ihm blieb die Straße leer. Seit er von der Autobahn abgefahren war und wenig später die Bundesstraße verlassen hatte, war er kaum noch einem anderen Fahrzeug begegnet, und seit einer knappen halben Stunde war er nun schon allein unterwegs. Das würde sich erst wieder zur Frühlingssaison ändern, wenn sich die Wohnmobile der Touristen über die schmale Strecke quälten, um in der abgelegenen Berggegend einen Wanderurlaub oder ein paar Tage beim Paragliding zu verbringen.
Falls dann überhaupt noch jemand hierherkommt.
Vor ihm verschwand nun auch das letzte Abendlicht unter der dicken schwarzen Wolkendecke, die nichts Gutes verhieß. Seit dem Nachmittag hatte der Wetterdienst vor orkanartigen Böen und starken Regenfällen in den höheren Lagen gewarnt. Ein Herbststurm konnte auf diesen engen, kurvenreichen Bergstraßen besonders gefährlich werden.
Doch noch mehr als das Wetter sorgte Patrick das, was ihn möglicherweise an seinem Ziel erwartete. Die Angst, er könnte mit seiner Vermutung richtigliegen, ließ ihm keine Ruhe mehr.
Vor Jahren hatte Su ihm ein T-Shirt mit dem Aufdruck Take it easy or easy takes you geschenkt. »Das passt zu dir«, hatte sie gesagt, und keiner, der Patrick auch nur ein wenig kannte, hätte ihr widersprochen. Patrick Landers war niemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ. Zwar hatte sich seither vieles verändert – Su und er waren nun schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen und das inzwischen abgetragene T-Shirt wartete längst in irgendeiner Ecke seines Schlafzimmerschranks auf die Altkleidersammlung –, aber der Spruch traf es immer noch. Je älter Patrick wurde, desto mehr. In den fünfunddreißig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass sich die meisten Dinge als harmloser erwiesen, als sie auf den ersten Blick schienen. Vorausgesetzt, man ging sie mit Bedacht und der nötigen Gelassenheit an.
Doch diesmal hatte er die Situation unterschätzt. Su hatte versprochen, sich bei ihm zu melden. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte sie ihre Versprechen stets gehalten. Aber nun waren schon drei Tage vergangen, ohne eine Nachricht von ihr. Kein Rückruf, keine SMS, nichts. Grund genug, ernsthaft besorgt zu sein und davon auszugehen, dass etwas passiert war. Etwas, das er vielleicht hätte verhindern können.
Verdammt, warum hatte er nur so lange gezögert? Statt nur etliche Male vergeblich bei ihr anzurufen und darauf zu warten, dass sie sich bei ihm meldete, hätte er sich längst schon auf den Weg machen sollen. Denn falls sich seine Vermutung bewahrheitete, die sich mehr und mehr in ihm ausgebreitet hatte und mittlerweile fast schon Gewissheit war, durfte er keine Zeit mehr verlieren.
Was, wenn ich zu spät komme?
Er verscheuchte den Gedanken, der ihn wieder und wieder befiel wie ein lästiges Insekt, und rieb sich die brennenden Augen. Er war erschöpft von der langen Fahrt und einer unruhigen Nacht davor. Einer Nacht, in der er sich im Bett gewälzt hatte und von jenen Stimmen geplagt worden war, die ihn jetzt verfolgten.
»… hat sich plötzlich verändert …«
»… verhält sich merkwürdig …«
» … unheimlich!«
Er hätte jetzt viel für einen starken Kaffee gegeben. Außerdem näherte sich die Tankanzeige dem Reservebereich. Er konnte es noch bis zum Ziel schaffen, schätzte er, aber es würde knapp werden.
Schließlich siegte die Vernunft über die Ungeduld, und er hielt an einer Tankstelle, die mit einer großen Tafel an der Einfahrt darauf hinwies, dass sich die Nächste Tankstelle in 30 km Entfernung befand.
Die Tafel entpuppte sich jedoch als ein schlechter Scherz des Schicksals. Denn als er eilig ausstieg und den Zapfstutzen in die Tanköffnung steckte, zeigte die Zapfsäule keine Reaktion. Sie war abgeschaltet, ebenso wie die Lichter in dem abgelegenen Tankstellengebäude. Dann erst fiel ihm auf, dass auch im angrenzenden Wohnhaus alles dunkel war.
Wie um die Schilder, die für Täglich frische Croissants, Coffee to go und Gratis Reifencheck – Fragen Sie an der Kasse warben, Lügen zu strafen, klebte ein Zettel an der Eingangstür, auf den jemand in krakeliger Handschrift Vorübergehend geschlossen geschrieben hatte.
Für einen Augenblick blieb Patrick vor der Tür stehen. Etwas an dieser Nachricht irritierte ihn. Etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte und das sich wohl am ehesten als Intuition beschreiben ließ. Die Augen lassen sich täuschen, das Bauchgefühl nicht, hatte man ihm im Medizinstudium eingetrichtert – und das Leben hatte ihn gelehrt, dass dieser Satz nicht nur auf die medizinische Diagnostik zutraf.
Vielleicht lag es an der Art, wie dieser Zettel geschrieben worden war. Eilig hingekritzelt, als habe der Inhaber den Laden geradezu fluchtartig verlassen.
Der Wind wurde allmählich stärker und trug den Geruch von Regen vor sich her. Donner grollte, gewaltig und bedrohlich nah.
Patrick wandte sich von der merkwürdigen Notiz ab und eilte zu seinem Wagen zurück. Er hatte hier bereits viel zu viel Zeit verplempert. Er setzte zurück auf die Straße, wobei er seine Tankanzeige ignorierte, und fuhr weiter.
Bald darauf waren die verlassenen Gebäude mit den dunklen Fenstern aus seinem Rückspiegel verschwunden. Die Schar Fliegen, die sich gegen eines dieser Fenster drängte, hatte er nicht bemerkt.
Es waren nur noch wenige Kilometer bis zur Passstraße, als der Sturm schließlich losbrach. Die dunkle Wolkenwand hatte den Abendhimmel nun völlig verschlungen und hielt ihr finsteres Versprechen. Der Wind wuchs zum Getöse an und rüttelte so heftig an dem Mercedes, dass Patrick Mühe hatte, die Spur zu halten.
Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Mit jeder Sekunde wurden es mehr, bis schließlich ein wahrer Sturzbach niederging und die Straße durch die Wasserschleier kaum noch zu erkennen war.
Patrick blieb keine andere Wahl, als das Tempo zu verlangsamen. Fluchend schaltete er einen Gang zurück.
Während er die Serpentinen hochfuhr und mühsam versuchte, etwas durch den Wasserfall auf seiner Windschutzscheibe zu erkennen, musste er immer wieder an den handgeschriebenen Zettel denken. An diese seltsame, beunruhigende Intuition. Als gäbe es einen Zusammenhang zwischen seinen Befürchtungen und der verlassenen Tankstelle.
Das war natürlich Unsinn. Er redete sich das nur ein, weil er müde, überspannt und aufgewühlt war. Bei Erschöpfung und in Stresssituationen konnte man durchaus paranoid werden.
Obwohl die Wischanlage jetzt auf höchster Stufe lief und die Scheibenwischer hektisch hin und her zuckten, vermochten sie kaum noch etwas gegen die Wassermassen auszurichten. Ausgerechnet jetzt, wo die Straße anstieg und zunehmend kurviger wurde.
Ungeduldig hieb er auf das Lenkrad, nur um sich gleich darauf wieder zur Ordnung zu rufen. Er musste dem Drang widerstehen, aufs Gaspedal zu treten und die nächste Kurve schneller zu nehmen. Bei solchem Wetter überhaupt auf dieser Strecke unterwegs zu sein, war schon gefährlich genug. Er sah kaum etwas vor sich. Hinter jeder Biegung konnte rutschiges Herbstlaub lauern. Oder Geröll, das der Sturm von den Felshängen gelöst hatte.
Er rieb sich wieder die Augen und warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Er war weiterhin allein unterwegs. Im Dämmerlicht der Armaturenbeleuchtung sahen seine Augen wie die eines Hauptdarstellers in einem Horrorfilm aus. Wie Dr. Jekyll, nachdem er sich in Mr. Hyde verwandelt hatte.
Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er bald den Scheitel der Passstraße erreicht haben würde. Er war zwar schon seit Jahren nicht mehr in dieser Gegend gewesen, aber er erinnerte sich an die Aussichtsplattform, die einen weiten Blick ins Tal bot. Sicherlich nicht bei diesem Regen und auch nicht bei Nacht, aber er wusste, dass es von dort aus nur noch eine knappe halbe Stunde dauern würde. Sobald er angekommen war, würde er zuerst …
Ein einzelnes grelles Licht verwandelte die regennasse Windschutzscheibe in ein blendendes Lichtermeer. Patrick schoss das Wort Motorrad! durch den Kopf.
Er trat so heftig auf die Bremse, dass er für einen Moment glaubte, er werde ins Schleudern geraten. Doch nach einem kurzen Stück kam der Mercedes wie befohlen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Einen Augenblick lang fürchtete Patrick, dass ihn der Fahrer dennoch rammen würde. Erst nach einer weiteren Schrecksekunde begriff er, dass sich das Licht nicht bewegte.
Geblendet kniff er die Augen zusammen, um etwas durch die hell erleuchtete Regenflut und die hektisch hin und her zuckenden Scheibenwischer zu erkennen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Er hatte sich getäuscht. Soweit er erkennen konnte, war das da vor ihm am linken Straßenrand kein Motorrad. Es war ein Wagen, an dem nur noch ein Scheinwerfer funktionierte. Der Fahrer musste in der scharfen Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren haben.
»Auch das noch!«
Patrick stellte den Motor ab und schaltete die Warnblinkanlage ein, auch wenn es an dieser Stelle nicht viel Sinn hatte. Die Kurven schlängelten sich hier so eng, dass man kaum weiter als fünfzig Meter sehen konnte. Er würde die Unfallstelle mit zwei Warndreiecken absichern müssen. Doch da ihm seit einer halben Ewigkeit kein anderes Fahrzeug begegnet war, beschloss er, die Regeln zu missachten und zuerst nach dem verunglückten Fahrer zu sehen. Möglicherweise saßen ja auch mehrere Leute in dem Wagen.
Er nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und steckte sein Handy ein. Dann streifte er die Kapuze seiner Windjacke über und stieg aus.
Jetzt erst erkannte er das volle Ausmaß des Unfalls. Die vordere Hälfte des Audis sah aus, als wäre sie in eine Presse geraten. Der Wagen musste zuerst von der rechten Spur abgekommen und mit der Fahrerseite an der Felswand entlanggeschrammt sein. Davon zeugten etliche tiefe Dellen und dass auf dieser Seite kaum noch etwas von der silbernen Lackierung übrig geblieben war. Danach musste der Fahrer den Fehler begangen haben, das Steuer herumzureißen. Die steinerne Straßenbegrenzung hatte die Schleuderfahrt schließlich beendet und die Beifahrerseite eingedrückt wie eine leere Bierdose.
Patrick starrte auf die Motorhaube, die sich halb aufgestellt hatte, was ihr das Aussehen eines hässlichen schiefen Grinsens verlieh. Er atmete die kalte Abendluft ein, roch ausgelaufenes Benzin und machte sich auf einen schlimmen Anblick gefasst. Dann lief er zu dem Wagen, wobei er mit einer Hand seine Kapuze festhielt, die ihm der Wind vom Kopf zu reißen drohte.
Unter seinen Schuhen knirschte Glas auf dem Asphalt. Bis auf die Windschutzscheibe, die wie ein gefaltetes Mosaik ins Innere des Wagens hing, waren alle Scheiben zersprungen. So sah Patrick noch ehe er ankam, dass eine Frau auf dem Fahrersitz saß. Ihr Kopf hing auf der rechten Schulter, und das lange blonde Haar verdeckte ihr Gesicht.
»Hallo?«, rief er ihr durch das Tosen des Sturmwinds zu, bekam aber keine Antwort.
Patrick trat näher und sah ins Wageninnere. Er atmete erleichtert auf, als er im Strahl der Taschenlampe sah, dass sich ihre Brust hob und senkte. Schwach, aber gleichmäßig. Außer der Frau befand sich niemand im Wagen.
»Hallo, können Sie mich hören?«
Die Frau reagierte nicht. Sie war bewusstlos, und Patrick fragte sich, wie viel Zeit seit dem Unfall vergangen sein mochte. Trotz der Kälte und des Regens stieg von der zerbeulten Front des Audis kein Dampf auf. Der Motor musste schon länger erkaltet sein.
Patrick sah, dass ihr Oberkörper mit getrocknetem Blut bedeckt war. Inwieweit auch ihre Beine Verletzungen aufwiesen, konnte er nicht erkennen. Der Airbag bedeckte ihren Unterleib wie ein schlaffes Tuch.
Er rüttelte an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Kein Wunder, Rahmen und Karosserie waren völlig verzogen.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und betätigte die Kurzwahl für den Notruf. Dabei musste er mehrmals auf das regennasse Display tippen, ehe es auf die Berührung reagierte.
Der Mitarbeiter der Rettungsleitstelle, der sich nach dem zweiten Freizeichen meldete, hatte eine junge und besänftigende Stimme. Als Patrick ihm jedoch die ungefähre Lage des Unfallorts zu erklären versuchte, klang er zunehmend nervöser. Er schien weder eine Ahnung zu haben, wo genau sich dieser Pass befand, noch welches Krankenhaus das nächstliegende war. Wahrscheinlich werde die Bergwacht einen Rettungshelikopter schicken müssen, sagte er schließlich. Das könne ein wenig dauern, aber selbstverständlich werde man sich beeilen.
»Bitte bleiben Sie am Unfallort«, sagte der Mann, und nun klang er wieder routiniert. »Ist die Straße bereits abgesichert?«
Patrick erklärte ihm, dass er sich gleich im Anschluss an ihr Gespräch darum kümmern werde, als sich die Frau im Wagen plötzlich bewegte. Sie musste seine Stimme gehört haben und war aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht.
Vielleicht hatte sie auch nur geschlafen, schoss es Patrick durch den Kopf. Wenn sie hier wirklich schon eine Weile festgehangen hatte, wäre das durchaus möglich. Man musste schließlich nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, oder?
»Gut, machen Sie das«, hörte er den Mann sagen, der irgendwo im warmen, trockenen Callcenter der Rettungsleitstelle saß, während Patrick eiskalter Herbstregen und Sturmwind um die Ohren pfiffen. »Aber seien Sie vorsichtig und bringen Sie sich nicht in …«
Mehr nahm Patrick nicht wahr, denn nun hatte ihm die Frau den Kopf zugewandt, und er sah ihr Gesicht.
»Du lieber Himmel, das gibt’s doch nicht!«, stieß er hervor und ließ die Hand mit dem Telefon sinken. »Laura?«
Sie bewegte die Lippen und murmelte etwas, doch ihre Stimme war zu schwach, als dass er sie im Tosen des Sturms hätte hören können. Ihre rechte Gesichtshälfte war blutverkrustet und ihre blonden Strähnen klebten in einer trocknenden Platzwunde. Darunter hatte die Blutung ein rotbraunes Netz auf Schläfe und Wange hinterlassen. Schock und Kälte hatten ihr einen gelblichen Teint verliehen, was sie wie eine Leiche aussehen ließ.
Hastig schob Patrick das Handy in die Hosentasche und unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Fahrertür zu öffnen.
»Laura, kannst du mich hören?« Er beugte sich dichter zu ihr, bewegte eine Hand vor ihrem Gesicht. »Laura!«
Ihre Augen zuckten suchend umher, wie bei jemandem, der aus einem besonders intensiven Traum geweckt worden war und sich erst wieder in der Realität orientieren musste. Dann bemerkte sie seine Hand und schließlich ihn.
»Pat-rick?«
Ihre Stimme war nur ein Hauchen, aber sie hatte ihn erkannt. Ein gutes Zeichen.
»Bleib ganz ruhig. Hilfe ist unterwegs. Hast du Schmerzen?«
Sie bewegte wieder die Lippen, bekam aber kein Wort heraus. Dann sank ihr Kopf auf die Nackenstütze zurück, ihre Augenlider begannen zu flattern.
»Nicht einschlafen, Laura! Du musst wach bleiben! Der Notarzt wird gleich hier sein.« Obwohl er nun derart schrie, dass sich seine Stimme überschlug, war er sich nicht sicher, ob sie ihn verstand. »Ich werde jetzt kurz weggehen und die Straße absichern, hörst du? Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie hatte die Augen geschlossen, und es sah so aus, als sei sie wieder ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich hatte sie eine Gehirnerschütterung und viel Blut verloren.
Patrick entschied, dass es keinen Sinn hatte, sie zu untersuchen, solange sie in dem Wagen eingeklemmt war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Rettungswagen zu warten. Oder auf den Helikopter. Falls man sie hier im Nirgendwo fand.
Er biss sich auf die Unterlippe und spürte, dass er am ganzen Leib zitterte und das nicht nur der Kälte wegen. Seine Nerven lagen völlig blank, und ihm lief die Zeit davon.
Reiß dich zusammen! Du bist Arzt, also verhalte dich auch wie einer!
Er musste einen klaren Gedanken fassen, wie es jetzt weitergehen sollte. Er konnte Laura hier nicht allein lassen, aber er durfte auch nicht länger warten. Wenn Su etwas zugestoßen war …
Er stutzte. Hatte Laura sich etwa deshalb allein auf den Weg gemacht? Hatte sie Su zurückgelassen, weil …
»Sie mögen mich für verrückt halten, Doktor, aber ich fürchte mich vor ihr.«
Er schüttelte sich, um den Gedanken zu verscheuchen, dann lief er zurück zu seinem Mercedes. Er holte das Warndreieck aus dem Kofferraum und rannte durch den Regen, bis er das Ende der Kurve erreicht hatte. Nachdem er das Dreieck mitten auf der Fahrbahn platziert hatte, hastete er zurück zu Laura.
Sie saß noch immer bewegungslos und mit geschlossenen Augen da. Er fühlte ihren Puls, der erhöht war, aber gleichmäßig ging. Ihre Lider flatterten wie bei einem unruhigen Traum.
Um die obere Kurve zu sichern, brauchte er das Warndreieck aus ihrem Wagen. Zum Glück hatte das Heck den Unfall deutlich besser überstanden als die Front. Doch auch die Heckklappe hatte sich verkantet und ließ sich nicht mit bloßen Händen öffnen. Nach mehrmaligem Rütteln und Reißen gab Patrick es auf. Er lief erneut zu seinem Wagen und holte den Radschlüssel aus seinem Kofferraum.
Der Wind zerrte an seinen Kleidern, er war bis auf die Haut durchnässt. Vor Kälte konnte er seine Finger kaum noch spüren.
Nach einigem Hebeln und Stemmen sprang die Heckklappe schließlich auf. Augenblicklich schlug ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen, der ihm trotz des Windes den Atem raubte. Patrick wich so erschrocken davor zurück, dass ihm der Radschlüssel aus der Hand glitt und klirrend auf die Straße schlug.
Keuchend hielt er sich die Hand vor Mund und Nase und blinzelte. Im Dunkeln war nicht zu erkennen, was da vor ihm im Kofferraum lag, aber dieser Gestank nach Verwesung und Exkrementen war überwältigend.
Er würgte, trat noch einen Schritt zurück und zog die Taschenlampe wieder aus seiner Jacke. Das Schlimmste befürchtend, schaltete er sie ein – und versteinerte.
Entsetzt blickte er in weit aufgerissene Augen, die auch ihn anzusehen schienen. Ein gebrochener Blick, ängstlich, erstaunt und wütend zugleich. Dann sah er den offenen Schädel. Das Gelbgrau eines freiliegenden Gehirns, das nie wieder denken, nie wieder fühlen würde. Das nur noch tote Masse war.
Er taumelte rückwärts, stolperte und fiel hin. Die Taschenlampe prallte dicht neben ihm auf den Asphalt und erlosch.
Patricks Magen zog sich zusammen, und er übergab sich. Er bemerkte nicht einmal, wie ihm das Erbrochene über Jacke und Hose rann.
Nach einer Weile ließen der Krampf und das Würgen schließlich nach. Wie ein Betrunkener stemmte er sich hoch und schleppte sich schwankend und mit zitternden Knien an dem Autowrack entlang.
Als er bei Laura ankam, hatte sie die Augen wieder geöffnet. Sie sah ihn an, Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Es … tut mir … leid … ich … wollte … nicht …«
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber er verstand sie, und ein Schaudern durchlief ihn.
»Ist Su noch dort?«, fragte er mit rauer Stimme. Er hielt sich am Wagendach fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Antworte mir, Laura, ich muss es wissen! Ist Su noch dort?«
Seine Knie fühlten sich so weich an, dass er glaubte, er würde jeden Moment in sich zusammensacken.
Lauras Augen weiteten sich entsetzt.
»Geh nicht … da hin!«, stieß sie hervor. Diesmal sprach sie lauter, was sie sichtlich anstrengte. »Du darfst nicht … Ich …«
Dann verließen sie ihre Kräfte. Ihre Augen verdrehten sich nach oben, dass das Weiße zu sehen war, nur um ihn gleich darauf wieder anzusehen. Sie kämpfte gegen eine neue Ohnmacht an, um ihn zu warnen.
Patrick stieß sich vom Wagendach ab und taumelte auf den Mercedes zu. Hinter sich hörte er Laura schreien.
Er stieg in seinen Wagen, schlug die Tür zu und raste mit heulendem Motor durch den Sturm davon.