Buch
Als auf einem Müllplatz eine mumifizierte Leiche gefunden wird, geht die Polizei von einem Scherz aus. Offenbar haben ein paar Spaßvögel die kauernde Mumie aus einem Museum entwendet. Doch nach dem Fund einer zweiten derartigen Leiche zeigt sich beim Röntgen, dass die Toten keineswegs antik sind. Ein perfider Killer muss Menschen gezwungen haben, durch die Aufnahme von Salzwasser den eigenen Körper auszutrocknen, bevor er ihnen die Organe entnahm und sie in einem aufwändigen Prozess wie peruanische Gottheiten inszenierte. Plötzlich ermittelt DC Callum MacGregor in der spektakulärsten Mordserie, die das schottische Oldcastle je gesehen hat.
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Stuart MacBride
Der Totenmacher
Thriller
Aus dem Englischen
von Andreas Jäger
Für Sue
– Beweisstück A –
1
Die Wände wispern mit Lippen aus zersplittertem Holz auf ihn ein. »Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten …«
Die Worte füllen den Raum, rollen und wirbeln umher und durch ihn hindurch, pulsierend und zerrend. »Sie werden dich anbeten.«
Warum?
Warum kann er nicht einfach sterben?
»Sie werden dich anbeten: Du wirst ein Gott sein.«
Fühlt es sich so an, ein Gott zu sein? Halbtot vor Durst und Schmerzen?
Jeder Muskel in seinem Bauch pocht von den dauernden Brechkrämpfen, jeder Atemzug schmeckt nach Galle.
Nach Galle und dem dunklen, fettigen Holzrauch, der das niedrige Zimmer mit seinen schmutzigen Holzwänden füllt.
»Sie werden dich anbeten: Du wirst ein Gott sein.«
Er lässt sich nach hinten fallen, die rostigen Glieder seiner Kette rasseln und klirren. Ein schweres Gewicht um seinen Hals. Schwerer noch dort, wo sie an der Wand angeschraubt ist. An der sprechenden Wand.
»Du wirst ein Gott sein.«
Er kann nicht einmal antworten, sein Mund ist trocken wie die Sahara, seine Zunge ein Ziegelstein, das Blut wummert in seinen Ohren. Bumm, bumm, bumm.
So ein Durst … Aber wenn er das faulige braune Wasser in dem Krug trinkt, wird ihm nur wieder schlecht.
»Ein Gott.«
Er dreht das Gesicht zur Wand. Findet einen stummen Spalt im Holz. Und späht hindurch in das andere Zimmer.
»Sie werden dich anbeten. Sie werden dich anbeten.«
Da drüben ist es hell; in dem Mix aus Licht und Schatten sieht er, wie sich jemand auf die Zehenspitzen stellt, um eine weitere Stange mit Fischen in das Gestell einzuhängen. Heringe, alle aufgeschlitzt und paarweise an den Schwänzen zusammengebunden. Ihre plattgedrückten Flanken sind wie Hände. Betende Hände.
Hilfe …
Er macht den Mund auf, aber der ist zu trocken, um auch nur ein Wort hervorzubringen. Zu verbrannt von der Galle.
»Sie werden dich anbeten.«
Warum kann er nicht einfach sterben?
Hoch oben, über den Stangen mit den betenden Fischen, streifen acht Fingerspitzen einen einzelnen Sonnenstrahl. Ganz leicht berühren sie seine scharfe Kante, als der Körper, zu dem sie gehören, im Halbdunkel pendelt, erfasst von dem Luftzug, der durch die offene Tür weht. Kopf nach unten – wie die Fische – mit baumelnden Armen. Die Haut dunkelbraun verfärbt wie altes Eichenholz.
»Du wirst ein Gott sein.«
Dann verschwindet die Person auf der anderen Seite. Kehrt nach einer Weile zurück mit einer Schubkarre voll mit Sägemehl und kleinen Holzstückchen. Kippt die Ladung in der Mitte des Raums auf den Boden, bückt sich, um sie anzuzünden. Richtet sich auf, als die ersten hellen Rauchfäden aufsteigen. Entfernt sich rückwärts und macht die Tür zu.
Jetzt ist das einzige Licht der schwache orange Schein des schwelenden Holzhaufens.
»Du wirst ein Gott sein.«
Er rutscht an der Wand herunter. Zu müde und zu durstig, um zu weinen. Zu müde, um irgendetwas anderes zu tun, als auf das Ende zu warten.
»Sie werden dich anbeten …«
Warum kann er nicht einfach sterben?
– Körper des unbedeutenderen Gottes –
Dann sprang das kleine Mädchen mit dem Eidechsenschwanz mit einem wuusch! in die Luft. »Ich hab’s!«, kreischte sie. »Aus den ganzen Haaren und Barthaaren können wir einen riesengroßen Kuchen machen!«
Ichabod sah sie finster an. »Was für eine abscheuliche Idee«, sagte er, denn das war es. »Niemand will einen Kuchen essen, der aus Haaren gemacht ist.«
»Jaa, aber die Haare des Giganticus Mauloratticus sind zauberkräftig, und sie schmecken nach allem, was du magst auf der Welt! Weingummi und Würstchen, Bohnen in Tomatensoße und Schokokekse, Vanillecreme und Schinken.« Sie packte einen großen Ballen Haare und schob sie Ichabod in den Mund. »Siehst du?«
Aber Ichabod fand, dass sie nur nach Haaren schmeckten. Das kleine Mädchen war eindeutig verrückt …
R. M. Travis,
Die erstaunlichen Abenteuer des Ichabod Smith (1985)
And if some motherf*cker gonna call the police?
I’m-a grab my nine-mill and I’m-a make him deceased.
Donny »$ick Dawg« McRoberts
»Don’t Mess with the $ick Dawg«
© Bob’s Speed Trap Records (2016)
2
»POLIZEI! BLEIBST DU WOHL STEHEN, DU KLEINER MISTKERL?!«
Aber das war nicht ganz richtig, oder? Ainsley Dugdale war kein kleiner Mistkerl – er war ein verdammt großer, dicker, fetter Kleiderschrank von einem Mistkerl, wie er da die Manson Avenue runterrannte und mit den langen Affenarmen schlenkerte, während seine kurzen Beine auf Hochtouren arbeiteten, dass der Schal nur so im Wind flatterte und seine glänzende Platte im Morgensonnenschein auf und ab wippte.
Callum biss die Zähne zusammen und preschte hinterher.
Warum blieben die Kerle nie stehen, wenn sie dazu aufgefordert wurden? Fast konnte man den Verdacht haben, dass sie gar nicht festgenommen werden wollten.
Gedrungene graue städtische Häuser flogen links und rechts vorbei, flechtenbewachsene Dachpfannen und Rauputzfassaden. Die Vorgärten von Unkraut überwuchert. Mehr ausrangierte Sofas und Waschmaschinen als Gartenzwerge und Vogelhäuschen.
Zwei Kinder kurvten auf ihren Fahrrädern herum, fuhren gemächlich Achter auf dem Asphalt. Der kleine Junge hatte abstehende Ohren und eine platte Affennase und hinterließ beim Fahren Rauchkringel aus der Selbstgedrehten in seinem Mundwinkel. Das kleine Mädchen hatte blonde Ringellöckchen und gepiercte Ohren und schüttete extra starken Cider aus einer Dose in sich hinein, während sie freihändig radelte. Beide trugen ausgebeulte Jeans, Turnschuhe und Trainingsjacken und hatten als individuelle Note ihre Baseballcaps richtig herum aufgesetzt.
Rapmusik plärrte aus einem Mobiltelefon. »Cops can’t take me, cos I’m strong like an oak tree, / Fast like the grand prix, / I’m-a still fly free …«
Das kleine Mädchen nahm die Dose in die andere Hand und reckte den Mittelfinger zum Gruß, als Callum vorbeipeste. »HE, PIGGY, ICH HAB DEINE ALTE GEPOPPT, EY!«
Ihr kleiner Freund machte Pavianlaute. »UH! UH! UH! PIGGY, PIGGY, PIGGY!«
Beide sahen keinen Tag älter aus als sieben.
Die Freuden des finstersten Kingsmeath.
Dugdale schlitterte am Ende der Straße um die Ecke. Fast wäre er aus der Kurve geflogen – er knallte gegen einen rostigen Renault, rappelte sich wieder auf und rannte weiter den Berg hinauf.
»LAUF, PIGGY, LAUF!« Little Miss Cider tauchte neben ihm auf. Sie hatte sich auf die Pedale gestellt, um nicht abgehängt zu werden, und radelte grinsend neben Callum her. »NA LOS DOCH, PIGGY, GIB GUMMI!«
Ihr Pavian-Freund schloss auf der anderen Seite auf. »FETTER PIGGY, FAULER PIGGY!«
»Verpisst euch, ihr kleinen Scheißer …« Callum flitzte um die Ecke in die nächste Straße mit schäbigen Reihenhäusern. Niedrige Gartenmauern umschlossen kleine Rechtecke voller Disteln und Löwenzahn. Hier und da ein rostiger alter Pkw mit Backsteinen anstelle von Rädern, an den Wänden verbogene Metallhalterungen, wo einmal Satellitenschüsseln gehangen hatten.
»NICHT SCHLAPPMACHEN, PIGGY!«
Der Abstand schmolz dahin. Dugdale mochte einen beeindruckenden Sprintstart hingelegt haben, aber über die lange Distanz war er nicht annähernd so gut – schwer schnaufend und keuchend schleppte er sich zum Munro Place hinauf. Und wurde mit jedem Schritt langsamer.
»Uh! UH! UH!«
Er kam oben an, Callum keine drei Meter hinter ihm.
Die Straße fiel ab zu einer schmuddeligen Reihe von Bäumen und einer noch schmuddeligeren Reihe von Häusern, doch Dugdale blieb nicht stehen, um die Aussicht zu genießen. Mit gesenktem Kopf rannte er weiter und nahm bergab wieder ein wenig Tempo auf.
Die Kinder radelten freihändig neben ihm her. Little Miss Cider nahm noch einen Schluck aus ihrer Dose. »LAUF, GLATZKOPF, SONST SCHNAPPT PIGGY DICH!«
Ein letzter Sprint. Callum beschleunigte. »ICH SAG’S DIR NICHT NOCH EINMAL!«
Dugdale warf einen kurzen Blick über die Schulter – kleine Augen inmitten von schwarzen Ringen, eine Nase, die aussah, als sei sie schon mindestens ein Dutzend Mal gebrochen worden, die Unterlippe von einer Narbe zweigeteilt. Er fluchte, dann legte er noch mal einen Zahn zu.
»NIX DA!«
»UH! UH! UH!«
Näher. Noch vier Meter. Drei. Zwei.
Und Attacke …
Callum sprang, die Arme nach vorne gereckt wie ein Rugbyspieler.
Seine Schulter erwischte Dugdale knapp oberhalb der Hüfte, er schlang die Arme um die Oberschenkel des massigen Mistkerls, hielt sie fest umklammert, als sie beide zu Boden krachten und übereinanderrollten. Ächzen, Flüche, ein Gewirr von Armen und Beinen. Dann kollidierte etwas von der Größe eines Kleinbusses mit Callums Gesicht.
Jetzt schmeckte alles nach heißen Batterien.
Noch ein Faustschlag. »LASS MICH LOS!«
Callum fuhr einen Ellbogen aus und traf auf etwas Festes.
»UH! UH! UH!«
»KÄMPFEN, PIGGY, KÄMPFEN!«
Dann rammte der Gehsteig seinen Hinterkopf, und eine Faust krachte in seine Magengrube. Feuer brauste durch seinen Rumpf, begleitet vom Lärm von tausend Weckern, die alle gleichzeitig läuteten.
Er landete einen Schwinger und schlug Dugdales gebrochene Nase endgültig zu Brei.
»Gahhhhh!« Dugdale bäumte sich auf, Blut strömte ihm über die Oberlippe. Er schlug blindlings aus, die Augen zugekniffen, und die gewaltige Faust verfehlte ihr Ziel so knapp, dass sie die Haare über Callums Ohr streifte.
Abstand. Verschaff dir Abstand.
Ein großer schwarzer Mercedes glitt vorbei. Aus den hinteren Fenstern wehte der schwitzig-süße Geruch nach Marihuana, und das tiefe Bmm-tschhhhh, bmm-tschhhhh, bmm-tschhhhh eines Hip-Hop-Basses ließ die Luft erzittern. Der Wagen hielt mitten auf der Straße, von wo die Insassen einen guten Blick auf die Prügelei hatten. Aber stieg vielleicht jemand aus, um zu helfen? Vergiss es.
»KILL IHN, PIGGY, MACH IHN ALLE!«
»UH! UH! UH!«
Callum robbte rückwärts an einen rostigen VW heran und zog seine Handschellen hervor. »Ainsley Dugdale, ich nehme Sie fest gemäß Abschnitt vierzehn des Criminal Procedure – Scotland – Act von 1995 …«
»KÄMPFEN! KÄMPFEN! KÄMPFEN!« Die Kids kamen näher, versperrten mit ihren Rädern den Gehweg und bildeten eine improvisierte Kampfarena zwischen dem VW und einer Gartenmauer. »NA LOS DOCH – KILL IHN!«
»Klappe halten!« Und wieder zu Dugdale: »… weil ich Sie verdächtige, eine mit Haft bewehrte Straftat begangen zu haben, nämlich die …«
»UH! UH! UH!«
»GAAAAH!« Dugdale machte einen Satz, doch es war nicht Callum, auf den er sich stürzte. Er packte das kleine Mädchen an der Kehle und zerrte sie vom Rad.
Die Ciderdose fiel ihr aus der Hand und knallte aufs Pflaster, ein Schwall schaumiger, uringelber Flüssigkeit schoss hervor. »Urghh …« Die Augen weit aufgerissen, umklammerte sie Dugdales Unterarm mit beiden Händen, während sie mit den Beinen strampelte und in die Luft trat.
Ach du Scheiße. Und dabei war es doch bis zu diesem Moment so gut gelaufen.
»Nein, nein, nein!« Callum rappelte sich auf. »Das reicht jetzt. Lass das Mädchen los!«
Ihr kleiner Kumpel warf seine Selbstgedrehte nach Dugdale. Sie zerplatzte in einem kleinen Funkenregen an seiner Brust. »LASS SIE LOS, DU DRECKIGER PÄDO!«
»Komm schon, Dugdale … Ainsley. Du willst doch wohl nicht einem Kind wehtun, oder?« Die Hände ausgestreckt, Handflächen nach oben, schön auf Nummer sicher. »So einer bist du doch nicht, oder?«
»PÄDO! PÄDO! PÄDO!«
Callum sah den Jungen an und zischte durch die Zähne: »Das ist nicht sehr hilfreich!«
Dugdale streckte die freie Hand aus. »Geld.«
»Komm schon, Ainsley, lass das Mädchen los und …«
»HER MIT DEINEM GELD!« Er schüttelte das Mädchen, und ihre Beine schlenkerten wild, während ihr Gesicht eine dunklere braunrote Färbung annahm. »NA LOS!«
»Okay, okay. Wenn du sie dafür Luft holen lässt.« Callum fischte sein ramponiertes altes Portemonnaie aus der Tasche. Das, bei dem schon das zerschlissene Futter hervorschaute. Er nahm den letzten Zehner und einen zerknitterten Fünfer heraus. »Da.« Er legte das Geld auf den Boden.
»Ist das alles?« Dugdale starrte die zwei mickrigen Scheine finster an. »HER MIT DEM REST, SONST BRECH ICH IHR DAS GENICK!«
Pavian-Boys Spottgesang wurde leiser und erstarb. »Pädo …?«
Die Tritte wurden schwächer, ihre Nike-Turnschuhe zuckten kaum noch.
Ihr kleiner Freund schniefte, zog den Ärmel unter der Nase durch. »Bitte, Mister. Tun Sie meiner Schwester nichts …«
»Mehr Geld hab ich nicht, okay? Jetzt lass das Mädchen los.«
Dugdale knurrte, dann warf er das Mädchen Callum zu.
Er bückte sich nach den fünfzehn Pfund, während Callum die zerfledderte Brieftasche fallen ließ, um den kleinen Körper aufzufangen, bevor er auf den Gehsteig klatschte. Und das war der Moment, als alles plötzlich auf Zeitlupe umschaltete.
Die zerfledderte Brieftasche hüpfte vom Pflaster auf und kullerte davon, das aufgerissene Futter flatternd wie eine Fahne.
»Aaaagghhh …« Das Mädchen sog gierig Luft in die Lunge, beide Hände um ihren Hals gelegt – als ob Dugdale sie noch nicht genug gewürgt hätte und sie es jetzt selbst mal versuchen wollte.
Aber Dugdale hob nicht das Geld auf. Stattdessen stürzte er sich auf Callum und das kleine Mädchen und schleuderte sie beide gegen den VW, mit solcher Wucht, dass der Wagen auf seiner Federung schaukelte.
Eine Faust traf Callum in die Rippen. Wieder ein Gewirr von Armen und Beinen. Ein Stück Himmel blitzte auf, dann Beton, dann rostiges Metall, dann wieder Himmel.
Und dann – zack – lief alles wieder in normalem Tempo.
Blitzschnell zog Callum das Pfefferspray aus seiner Jackentasche. Das kleine Mädchen wand sich zwischen ihnen heraus und bohrte Callum dabei ihre Turnschuhe in den Oberschenkel. Callum schnippte den Deckel auf, drückte mit dem Daumen auf den Knopf und sprühte eine Ladung stinkiger scharfer Pfefferbrühe in die Richtung von Dugdales Gesicht.
Und verfehlte es.
Dugdale war da zielsicherer. Er rammte eine Hand in Callums Schritt, packte zu und drückte mit aller Kraft.
Oh Gott …
Doch als Callum den Mund aufmachte, um zu schreien, kam nur ein ersticktes Keuchen heraus – seine Augen weiteten sich, während sämtliche kleinen und großen Schmerzen in seinem Körper sich verflüchtigten, alle ersetzt durch die Atombombenexplosion in seinem Hodensack. Sie schoss durch seinen Bauch, runter in seine Beine, rauf in seinen Brustkorb, eine Schockwelle, die sich von Ground Zero ausbreitete, während Dugdale seine Handvoll drehte wie einen rostigen Türknauf.
Oh verdammt …
Dugdale ließ los, doch der Atomkrieg tobte weiter.
Nein …
Das Wasser stieg Callum in die Augen und ließ alles wie durch einen Weichzeichner erscheinen, doch der Schmerz war nach wie vor gestochen scharf. Er hob die Hand mit dem Pfefferspray und schwenkte sie in einem Bogen, während er den Knopf gedrückt hielt.
Jemand schrie vor Schmerz.
Dann schlurfende Schritte.
Argh …
Dann Gepolter wie von einem sehr kräftigen Mann, der über ein umgefallenes Fahrrad stolperte.
Ein dumpfes Donk, wie wenn eine Wassermelone vom Couchtisch fiel.
Oh, tat das weh …
»SCHEISS-PÄDO!« Noch mehr dumpfe Schläge.
»Komm, lasst ihn in Ruhe!«
Donk, donk, donk. »SCHEISS-PÄDO-WICHSER-GLATZE!«
Au …
»Willow, komm! Bevor er wieder aufsteht!«
Ein Geräusch, wie wenn jemand ausspuckte.
»Schnapp dir das Geld, Benny. Nein, du Spast, den Geldbeutel auch!«
Dann Turnschuhe auf Beton, das Klappern von Fahrrädern, die hochgezogen wurden, und dann das Surren von Reifen, das in der Ferne verhallte.
Ein letztes Mal der Spottgesang: »PIGGY, PIGGY, PIGGY!«
Dann das Geräusch des großen schwarzen Mercedes, der davonfuhr, nachdem die kostenlose Darbietung beendet war.
Und dann Stille.
Callum mühte sich fluchend und keuchend auf die Knie hoch und hielt sich mit einer Hand die lädierten Weichteile.
Mist, verdammter … Das ist doch zum … uuuaahh …
Tief durchatmen.
Nee. Hilft auch nicht.
Er rieb sich mit einer Hand über die tränenden Augen.
Dugdale lag auf dem Bauch, die eine Hand hinter dem Rücken, die andere lag schlaff im Rinnstein. Sein Gesicht sah aus, als ob jemand mit einem Aufsitzmäher drübergefahren wäre.
Callum schleppte sich zu ihm hin und legte ihm die Handschellen an. »Du bist festgenommen.«
Au …
»Diese kleinen Monster …« Dass sie sich nicht bei ihm bedankt hatte – geschenkt. Nein, das konnte man heutzutage wirklich nicht mehr erwarten, er hatte ihr doch nur das Leben gerettet, da war ja nun wirklich nichts dabei – aber hatten sie unbedingt seine verdammte Brieftasche mitnehmen müssen?
Dugdale zuckte und stöhnte, die Augen immer noch geschlossen, die zertrümmerte Nase blutverkrustet. Ein breiter roter Streifen zog sich über sein Gesicht – dort, wo das Pfefferspray seine nicht gerade dezente Spur hinterlassen hatte, war alles geschwollen und wund. Die Beule an seinem Kopf sah nicht minder beeindruckend aus, und dabei war sie noch gar nicht ausgewachsen – schon jetzt hatte sie die Größe und Farbe einer kleinen Aubergine. Wahrscheinlich würde ihm der Schädel ganz gewaltig brummen, wenn er endlich wieder zu sich kam. Vielleicht hatte er auch eine Gehirnerschütterung.
Gut. Geschah ihm nur recht.
Callum zog sein Handy aus der Tasche und blieb dabei so stehen, wie er war – weit vorgebeugt, eine Hand auf das Knie gestützt, um sich auf den Beinen zu halten, während er wählte.
Es läutete dreimal, dann meldete sich eine Frauenstimme. Sie klang verzagt und besorgt. »Hallo?«
»Elaine, ich bin’s.«
»Callum? Bist du okay? Du klingst nicht okay. Ist alles okay?«
Er biss die Zähne zusammen, als ein Nachbeben seine Leistenregion erschütterte. »Nein. Kannst du die Bank anrufen? Du musst meine EC-Karte und die Kreditkarte sperren lassen. Die sind mir geklaut worden.«
Ein Seufzer. »Oh, Callum, nicht das Portemonnaie von deinem Vater …«
»Lass das, bitte. Es wird schlimm genug, wenn McAdams erst hier ist, da musst du nicht jetzt schon mit dem Theater anfangen.«
Schweigen.
Ja doch, toll gemacht, Callum. Saubere Arbeit. Immer nett und verständnisvoll.
Er atmete tief durch. »Entschuldige, es ist … Ich habe nicht gerade den allerbesten Tag.«
»Ich bin nicht dein Feind, Callum. Ich weiß, dass du es nicht leicht gehabt hast.«
Die Untertreibung des Jahres. »Ich kriege nur bissige Bemerkungen, gemeine Seitenhiebe und so einen Scheiß zu hören. Drei volle Wochen lang nichts als …«
»Aber es ist besser so, vergiss das nicht. Denk an Peanut, ja?«
Peanut.
Er schloss die Augen. Versuchte so zu klingen, als ob er es wirklich meinte: »Ja.«
»Wir brauchen das Geld, Callum. Wir brauchen das Mutterschaftsgeld, um …«
»Ja, sicher. Ich weiß. Es ist nur …« Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Egal. Wird schon noch werden.«
»Und wir wissen es wirklich zu schätzen, ich und Peanut.« Eine Pause. »Apropos Peanut, weißt du, worauf er gerade total Lust hätte? Auf Nutella. Und eingelegte Dillgurken. Keine Essiggurken, ich meine die großen Gurken aus dem polnischen Feinkostladen in Castle Hill. Ach ja, und ein paar Zwiebelbrötchen.«
»Mein Geldbeutel ist geklaut worden, Elaine. Ich …«
»Ich habe nicht darum gebeten, schwanger zu werden, Callum.« Ein erstickter Laut kam aus dem Telefon, eine Art Zwischending zwischen einem Schnauben und einem Seufzer. »Entschuldige. Ich wollte nicht … Manchmal brauche ich einfach ein bisschen Unterstützung, um mit alldem fertigzuwerden.«
Unterstützung? Im Ernst?
»Wie kommst du darauf, dass ich dich nicht unterstütze? Ich habe die Hand gehoben, oder nicht? Ich hab es auf meine Kappe genommen, obwohl ich gar nichts damit zu tun …«
»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid. Es …« Wieder ein Seufzer. »Mach dir keinen Kopf wegen dem Nutella und so, das sind nur Schwangerschaftsgelüste. Ich kann mit dem vorliebnehmen, was hier noch so rumliegt.«
Er humpelte zur Gartenmauer und ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht darauf nieder. Atmete noch einmal tief durch, rieb sich die Augen. »Entschuldige bitte, Elaine. Es hat nichts mit dir zu tun, es … Wie gesagt, ich habe einfach einen furchtbaren Tag.«
»Es wird besser. Das versprech ich dir. Ich liebe dich, okay?«
»Ja, das wird es, ich weiß.« Es musste, denn noch schlimmer konnte es unmöglich werden.
»Liebst du mich und Peanut auch?«
»Natürlich.«
Ein blitzblanker roter Mitsubishi Shogun hielt am Straßenrand. Das Fenster des riesigen SUV wurde heruntergelassen, während Callum sich in die Senkrechte hievte. Sein zerknitterter Anzug und sein zerknitterter Körper spiegelten sich in der glänzenden Showroom-Lackierung.
»Muss Schluss machen.« Er legte auf und steckte das Telefon wieder ein.
»Constable Unfähig.« Ein schmales, faltiges Gesicht blickte ihn finster durch das offene Autofenster an, der angegraute Knebelbart gerahmt von Hängebacken, die ihm einen enttäuschten Ausdruck verliehen. Der Kinnwärmer bestand fast nur aus Stoppeln, die zu der schütteren, graumelierten Behaarung auf dem eiförmigen Schädel passten. »Trügen mich meine alten Augen, oder haben Sie tatsächlich Dugdale gefasst?«
Callum stand schwankend auf und trat näher, eine Hand an seinen lädierten Hoden, während er sich mit der anderen am Dach des Shogun abstützte. »Haha, sehr witzig.« Wieder schwappte eine Welle von glühenden Glasscherben durch ihn hindurch, und er verzog das Gesicht. »Er ist schon ein paar Minuten bewusstlos. Wollen Sie ihn gleich ins Krankenhaus fahren, oder riskieren wir den Bereitschaftsarzt?«
Bitte sag Krankenhaus, bitte sag Krankenhaus. Da würde er vielleicht eine nette Schwester finden, die einen Eisbeutel und ein paar freundliche Worte für sein übel zugerichtetes Gemächt hatte.
DS McAdams zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin schockiert, Callum. Hatte er nicht genug Schmiergeld für Sie dabei?«
»Sie können mich mal, Sarge.« Er nahm für einen Moment die Hand vom Schritt, um die Straße hinunterzuzeigen, zuckte zusammen und legte sie wieder schützend um seine schmerzenden Eier. »Zwei Kinder haben mir den Geldbeutel geklaut. Wir müssen ihnen nach.«
»Darf ich raten? Der Grund, warum Sie sich so vor Schmerzen krümmen: Sie sind der Kralle begegnet!« Er hielt eine Hand hoch, die Finger zu fiesen Haken gekrümmt, und zerquetschte damit einen imaginären Hodensack. »Dugdales Krallentrick. Ein Griff, ein Druck, großer Schmerz. Macht harte Kerls weich.«
Callum starrte ihn an. »Sie – haben – meinen – Geldbeutel.«
McAdams’ Stirn glättete sich, und er grinste. »Ein edles Haiku. Das ist etwas sehr Schönes. Sie Kunstbanause.« Er zählte tatsächlich die Silben an den Fingern ab, während er redete.
»Zu Ihrer Information, Sarge, ich habe nie im Leben Bestechungsgeld angenommen. Okay? Nicht einen einzigen verdammten Penny. Keine Vergünstigungen, keine kleinen Geschenke, nichts. Ihr könnt mir also alle den Buckel runterrutschen.« Er humpelte zur hinteren Tür und zog sie auf. »Also, helfen Sie mir jetzt, Dugdale ins Auto zu schaffen, oder nicht?«
»Das ist das Problem mit eurer Generation: keinerlei Sinn für Poesie. Keine Bildung, keine Klasse, kein Rückgrat.«
»Danke für nichts.« Er bückte sich. Zuckte zusammen und biss die Zähne zusammen. Dann schleifte er Dugdales gewaltigen, schweren Hintern über den Gehsteig und hievte ihn auf den Rücksitz.
»Wehe, er blutet mir auf meine neuen Polster. Hab sie gerade erst reinigen lassen.«
»Dumm gelaufen.« Ein wenig Gerangel und Geschiebe, ein Ruck, und Dugdale lag mehr oder weniger in der stabilen Seitenlage. Also, abgesehen davon, dass seine Hände hinter dem Rücken in Handschellen steckten. Aber wenigstens würde er jetzt wahrscheinlich nicht an seiner eigenen Zunge ersticken. Oder an seinem Erbrochenen.
Obwohl, wenn er Detective Sergeant McAdams seinen funkelnagelneuen SUV vollkotzte, wäre das immerhin etwas. Vorausgesetzt, McAdams ließ Callum hinterher nicht die Schweinerei aufwischen. Was er natürlich tun würde.
Arschloch.
Callum knallte die Tür zu, humpelte um den Wagen herum zur Beifahrerseite und bugsierte sich auf den Sitz. Er beugte sich vor, bis seine Stirn auf dem Armaturenbrett ruhte. »Au …«
»Anschnallen.« Der Wagen glitt vom Bordstein weg.
Callum schloss die Augen. »Ich glaube, sie sind nach rechts in die Grant Street eingebogen. Wenn Sie sich beeilen, können wir sie noch erwischen: Ein kleiner Junge in Jeans und einer blauen Trainingsjacke und ein kleines Mädchen in Jeans und roter Jacke. Sechs oder sieben Jahre alt. Beide auf Fahrrädern.«
»Sie haben sich von kleinen Kindern ausrauben lassen?« Ein heiseres Lachen erfüllte den Innenraum. »Das ist ja selbst für Ihre Verhältnisse erbärmlich.«
»Sie entwischen uns!«
»Wir jagen nicht hinter kleinen Kindern her, Constable. Ich habe viel Wichtigeres zu tun, als Ihre Missgeschicke zu bereinigen.«
»Das reicht. Halten Sie sofort an.« Callum richtete den Oberkörper auf und fletschte die Zähne. »Na los doch. Nur Sie und ich. Ich habe Dugdale die Scheiße aus dem Leib geprügelt, und mit Ihnen werd ich auch noch fertig.«
»Ach, jetzt seien Sie mal nicht so kindisch.«
»Ich mach keine Witze. Anhalten, sag ich.«
»Im Ernst, DC MacGregor? Meinen Sie nicht, dass Sie so schon genug Ärger haben? Wie wird das aussehen, wenn Sie einen Vorgesetzten angreifen, der unheilbar krebskrank ist? Denken Sie lieber noch mal drüber nach.« Der Wagen machte einen Satz und holperte ein wenig, dann schwenkte er nach links und fuhr bergab weiter in Richtung Montrose Road. »Und wenn Ihnen die harmlosen Neckereien unter Kollegen zu viel werden, können Sie jederzeit zu Mutter ins Büro gehen und ihr Ihre Kündigung auf den Tisch legen. Damit würden Sie uns allen einen Gefallen tun.« Er bremste vor der Abzweigung. »Aber bis dahin versuchen Sie sich wie ein richtiger Polizeibeamter zu benehmen.«
Callums Hände ballten sich zu Fäusten, so fest, dass seine Knöchel schmerzten. »Ich schwöre bei Gott …«
»Jetzt schnallen Sie sich an und versuchen Sie die nächste Viertelstunde mal keine Dummheiten von sich zu geben. Ich lass mir von Ihnen nicht meine bemerkenswert gute Laune verderben.« Er schaltete das Radio ein, und stumpfsinnige Popmusik plätscherte aus den Lautsprechern. »Sehen Sie mal, Constable Unfähig, manchmal gibt das Leben einem Zitronen, und manchmal gibt es einem Wodka. Heute ist ein Wodka-Tag.«
Das geistlose Gedudel trudelte aus, und eine verrauchte Frauenstimme ließ sich vernehmen. »Hmm, bin mir selbst nicht so sicher, was ich davon halten soll. Sie hören Midmorning Madness auf Castlewave FM mit mir, Annette Peterson, und mein heutiger ganz spezieller Gast ist die Autorin und Moderatorin Emma Travis-Wilkes.«
McAdams legte sich eine Hand auf das Herz wie bei einem Treueeid. »Heute ist ein Kaviar-Tag.«
»Freut mich, dass ich hier sein darf, Annette.«
»Ein Champagner-und-Erdbeeren-Tag.«
»Emma, ein kleines Vögelchen hat mir verraten, dass Sie ein Buch über Ihren Vater schreiben. Er ist natürlich der Schöpfer von Russel, das Zauberkaninchen, Ichabod Smith und Imeldas Wundersamer Mülleimer, aber am bekanntesten ist er wahrscheinlich für den Kinderbuchklassiker Öffnet die Särge.«
»Ein Schokolade-und-Nippelklammern …«
»Ja, ist ja gut! Ich hab’s kapiert: Alles ist einfach super.« Callum veränderte seine Sitzposition, was die Schmerzen in seinen Hoden wieder anfachte. »Einer von uns hat eine Faust in die Eier gekriegt.«
»Das ist richtig. Er hat so vielen Menschen Freude bereitet, und jetzt, wo er … Nun ja, die Alzheimer-Krankheit ist eine grausame Herrin. Aber es war ein echtes Privileg, wieder im Pool seines Lebens schwimmen zu dürfen.«
»Pah …« McAdams schürzte die Oberlippe. »Hören Sie sich bloß dieses hochgestochene Geschwafel an. Bloß weil sie einen berühmten Papa hat, darf sie ihr Buch im Radio anpreisen. Was ist mit meinem Buch? Wo bleibt mein Interview?«
»Und es ist wunderbar zu sehen, wie diese Erinnerungen sein Gesicht zum Leuchten bringen; es ist, als wäre er tatsächlich wieder dort.«
»Klischee. Und übrigens, falls sein Gesicht nicht tatsächlich strahlt wie eine Glühbirne, ist das eine Hyperbel, du Möchtegern-Sappho.«
Callum warf ihm einen finsteren Seitenblick zu. »Wir hätten nie für diesen Kurs in kreativem Schreiben zusammenlegen sollen.«
McAdams grinste zurück. »Mein Herz: kreativ. Die Seele voll Poesie: das ist Göttlichkeit.«
»Wunderbare Sache. So, jetzt wollen wir mal ein bisschen anständige Musik hören, wie wär’s? Hier ist eine der Bands, die an diesem Wochenende beim Tartantula auftreten: Catnip Jane mit ›Once Upon a Time in Dundee‹.«
Ein Banjo und ein Cello begannen einen düsteren Walzer zu spielen, unterlegt von einem stampfenden Rhythmus, während McAdams wieder anfuhr und nach links anstatt nach rechts abbog.
Alter Trottel.
Callum seufzte. »Sie fahren in die falsche Richtung.« Er wies über den angeschwollenen grauen Fluss hinweg, vorbei an den Docks und dem Industriegebiet, auf den massigen Granitkeil von Castle Hill. »Das Präsidium ist in der Richtung. Wir müssen Dugdale einchecken und ärztlich versorgen lassen.«
»Ach was, der hält schon noch ein Weilchen.« Das skelettartige Grinsen war noch breiter geworden. »Heute ist ein Wodka-Tag, schon vergessen? Wir, mein unfähiger kleiner Freund, haben endlich auch mal einen Mord abgekriegt!«