Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »My Sister’s Secret« bei Avon, a division of HarperCollins Publishers, London.
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Copyright © 2015 by Tracy Buchanan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Larissa Rabe
JB · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-19878-7
V002
www.blanvalet.de
Für Paul und Jessica,
meinen Bruder und meine Schwester
Prolog
Busby-on-Sea, Großbritannien
März 1977
Faith lag ganz still; der Regen benetzte ihr Gesicht und fiel auf die weiche Haut ihrer ausgestreckten Handflächen. Sie hörte Stimmen und Schritte, aber sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht rufen. Sie blickte zu den triefenden Ästen hoch. Wenn sie die Augen leicht zusammenkniff, war es fast so, als wäre sie unter Wasser und triebe unter einem überschwemmten Baum …
Wäre es nicht wunderbar, wenn sie den versunkenen Wald finden würden, nach dem sie und ihre Schwestern die Sommer über getaucht waren? Sie erinnerte sich, wie sie den beiden zum ersten Mal ihre selbst gemalte Landkarte gezeigt hatte. Drei Jahre war das jetzt her. Faith war damals sechzehn gewesen, so naiv, aber auch ungeheuer aufgeregt. Sie war den Strand hinuntergelaufen, die Steine breiteten sich vor ihr aus, der Himmel war von einem strahlenden Blau, sonnenheiß und diesig. Als sie ihre Schwestern entdeckte, wurde sie langsamer. Sie beobachtete sie gern, wenn sie so leise und ruhig waren. Ihre dreizehnjährige Schwester Charity, die Jüngste der drei, lag auf einem Handtuch, das Kinn der Sonne entgegengereckt, die Augen geschlossen, das wilde schwarze Haar ein Wust um ihren Kopf. Ihre sonnengebräunten Beine guckten aus verblichenen Jeansshorts, ihr Neckholdertop passte farblich zu den rot verbrannten Knien. Sie war im verwirrenden Alter zwischen Kindheit und Erwachsensein, an das sich Faith noch so gut erinnern konnte.
Hinter Charity, auf einem großen weißen Felsen, die bleichen Knie bis zur Brust hochgezogen, saß Hope. Nachdenklich blickte sie aufs Meer, wie es an den Strand schäumte, und kaute auf dem Ende ihres Stifts herum, den offenen Notizblock auf dem Schoß. In ihrem Badeanzug – ein alter von ihrer Mutter, dessen Grün-, Rot- und Blautöne ineinander verliefen – und der türkisfarbenen Badekappe, unter der sie ihr langes rotes Haar versteckte, wirkte sie eher wie dreißig als wie fünfzehn.
Faith beschleunigte ihre Schritte, und die Steine knirschten unter ihren nackten Füßen, aber den Grund für ihre Aufregung hielt sie hinter dem Rücken verborgen.
Hope blickte sich um, und ihr Gesicht leuchtete, als sie ihre ältere Schwester sah.
»Wie läuft es mit dem Gedicht?«, fragte Faith.
»Ich komme mit der Farbe des Meeres nicht weiter.« Eine Falte bildete sich auf ihrer blassen Stirn, als sie wieder aufs Meer hinausschaute. »Es hat heute eine ganz seltsame Farbe, nicht blau und auch nicht grau oder grün.«
»Bänder«, murmelte Charity faul, ohne die Augen zu öffnen. »Blaue, graue und grüne Bänder.«
Faith lächelte, als sie sich neben Charity setzte. Die Kieselsteine fühlten sich unter ihren nackten Waden warm an.
»Bänder. Das gefällt mir. Du bist doch nicht ganz nutzlos, Charity«, erklärte Hope und kritzelte auf ihrem Notizblock, während Charity ihr die Zunge rausstreckte.
»Ich muss euch beiden etwas zeigen«, sagte Faith.
Charity öffnete ein Auge und blinzelte zu ihrer Schwester hoch. »Bitte nicht noch einen Schnorchel. Für mich sehen sie ohnehin alle gleich aus.«
Faith lachte. »Nein, keinen Schnorchel, das versprech ich.« Sie sah ungeduldig zu Hope hinüber. »Komm schon, ich möchte es euch zusammen zeigen.«
Hope hob abwehrend die Hand. »Warte, ich muss noch eine Zeile schreiben.« Dann hörte sie auf zu kritzeln und schlug ihren Notizblock zu. »Fertig!« Sie kam zu ihnen herübergeklettert, zog ihre Badekappe aus und fuhr sich mit den Fingern durch das wellige rote Haar, das um ihre schmalen Schultern fiel.
»So«, sagte Faith, als Hope sich zu ihnen gesellt hatte. »Ihr wisst doch, dass wir die Welt bereisen werden, wenn ihr erst alt genug dafür seid, oder?«
Charity und Hope lächelten sich an. Faith dachte sich immer so lustige Abenteuer aus.
»Wie Daddy gesagt hat, können wir nicht jedes einzelne Land bereisen«, fuhr Faith fort. »Das würde ein Leben lang dauern. Wir müssen uns Schwerpunkte setzen.«
»Da stimme ich zu«, sagte Hope, während Charity nickte.
»Ich weiß jetzt, worauf wir uns konzentrieren.« Faith atmete tief durch, sah abwechselnd die eine Schwester und dann die andere an und zog das Schauspiel in die Länge.
»Komm schon, Faith, spann uns nicht auf die Folter«, sagte Charity erwartungsvoll.
»Wir sollten uns auf Unterwasserwälder konzentrieren!«, erklärte Faith. »Ich habe mir die Fotos von Mamas Exkursion nach Österreich angesehen, sie sind wunderschön!«
Charity wurde still. »Unterwasser-was?«
»Du hörst nie zu, wenn Mama uns von ihren Exkursionen erzählt«, sagte Hope und verdrehte die Augen.
»Das sind Wälder, die mit der Zeit versunken sind«, erklärte Faith.
»Als ich ihr erzählt habe, wohin Mama fährt, hat Mrs. Tate in der Schule ein Gedicht von einer walisischen Stadt vorgelesen, die versunken ist«, sagte Hope. »Bei Ebbe kann man immer noch die Überreste der Wälder sehen.« Sie blätterte in ihrem Notizblock, dann tippte sie mit dem Finger auf eine Seite. »Hier ist es. Wellen schlugen auf das Ufer, Donner im Gefolge, die Glocken von Cantre’r Gwaelod verstummten unter der Welle.«
»Dann sind diese Wälder so ähnlich wie Atlantis?«, fragte Charity.
»In gewisser Weise«, sagte Faith. »Aber es gibt keine Gebäude. Und solche Wälder findet man nicht nur im Meer, es gibt sie auch in Seen und Flüssen. In Österreich gibt es einen Wald, der nur im Sommer unter Wasser steht, wenn der Schnee schmilzt. Das Wasser flutet die Bäume, ja sogar eine Parkbank. Ich habe in der Bücherei ein Buch darüber gefunden und eine Karte von allen Wäldern gezeichnet, die darin aufgeführt sind.«
Faith zog hervor, was sie hinter ihrem Rücken verborgen hielt, und legte es auf das Handtuch. Es war eine große, sehr schön gezeichnete Weltkarte, auf der an verschiedenen Stellen kleine Bäume eingezeichnet waren. Ganz oben stand in Faiths schöner, geschwungener Handschrift: »Weltreise zu den Unterwasserwäldern«.
Die drei Schwestern beugten sich über die Karte, ihre Haare hingen darüber, brünett, rot und blond. Sie fuhren mit den Fingern über die Bäume, dann sahen sie sich an.
Charity lächelte. »Das ist vielleicht cool, Faith!«
Faith strahlte. »Nicht wahr? Ich kann auf der Reise Proben von den Bäumen nehmen. Bis dahin bin ich ohnehin Meeresbiologin.« Hope nickte, ihre grauen Augen leuchteten. »Und Charity, du kannst …«
»… nach jedem Tauchgang ein Sonnenbad nehmen?«, schlug Charity vor.
Die drei Mädchen lachten.
Das Knirschen von Steinen war zu hören. Sie schauten auf und sahen ihren Freund Niall näher kommen. Die obere Hälfte seines Taucheranzugs hing ihm um die Taille und zeigte seine gebräunte Brust. Auch sein Gesicht war sonnengebräunt, sodass seine blauen Augen noch lebendiger wirkten. Er schien in den Wochen, die sie sich nicht gesehen hatten, erwachsen geworden zu sein. Faith vermutete, dass er nicht mehr der lästige kleine Junge war, den sie vor vier Jahren an genau diesem Strand kennengelernt hatten. Er war immerhin fünfzehn, fast schon ein Mann.
Ihr fiel auf, dass Charity ihn verstohlen musterte, ihre Wangen waren gerötet. Natürlich war auch Charity Nialls Veränderung aufgefallen. Hope dagegen bemerkte sie nicht und verdrehte, wie immer wenn Niall auftauchte, die Augen.
»Komm, setz dich zu uns, Niall«, sagte Faith und winkte ihn heran. »Wir haben beschlossen, eine Weltreise zu den Unterwasserwäldern zu machen.«
Niall ging in die Hocke und sah auf die Karte. »Offenbar gibt es vor der Küste von Busby auch einen Unterwasserwald.«
Hope sah ihn verächtlich an.
»Ernsthaft. Ein Fischer hat während eines Sturms die Äste gesehen.«
»Das ist wohl kaum ein Beweis«, sagte Hope.
»Aber es ist zumindest etwas«, meinte Charity, sprang auf und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab, während sie auf das Meer hinaussah. »Ich würde ihn gerne mal sehen.«
Niall lächelte Charity an. Sie biss sich auf die Lippe und schaute weg. Hope warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Faith lächelte. Es war schön zu sehen, wie sie miteinander umgingen. Niall war ein guter Junge, trotz seiner schwierigen familiären Verhältnisse. Es war schließlich nicht sein Fehler, dass seine Eltern zu viel tranken und in der hässlichen Siedlung am anderen Ende von Busby lebten, oder?
Er zog einen Stift aus dem kleinen blauen Rucksack, den Faith immer mit sich herumtrug, und zeichnete auf der Karte schnell einen kleinen Baum bei Busby-on-Sea ein.
»Wenn wir ihn finden, ist das der erste Wald, den wir besuchen«, sagte er.
»Wir?«, erwiderte Hope.
»Ja, wer soll euch denn sonst beibringen, wie man ordentlich taucht?«
Die drei Schwestern sahen aufs Meer hinaus. Vor ihren Augen brachen sich die Wellen und zogen sich wieder zurück. Dann hob Niall Charity hoch, warf sie sich über die Schulter und rannte mit ihr ins Meer, während Faith lachte.
Die glückliche Erinnerung verschwand. Eine Träne lief Faith über die Wange. Ihr war so kalt, sie hatte solche Angst. Aber ihre Schwestern würden sie finden. Sie würden sehen, dass ihr Bett leer war, und nach ihr suchen. Dann würde sie ihnen genau erzählen, was in den vergangenen Wochen passiert war, und gemeinsam würden sie eine Lösung finden, weil sie das immer taten.
Keine Geheimnisse mehr, sagte sie sich.
Sie schloss die Augen.
1
Willow
Auf dem Ägäischen Meer, Griechenland
August 2016
Mein Freund Ajay meint, dass das Ägäische Meer nach Aegea, der Königin der Amazonen, benannt ist. Meine Tante Hope ist da anderer Meinung. Sie sagt, es hat seinen Namen nach einer berühmten Seeziege.
Ich weiß, welche Variante mir besser gefällt.
Bei Tauchgängen wie diesem hier stelle ich mir vor, ich wäre eine Kriegerin, eingehüllt in meine Taucherrüstung und bereit, den Kampf mit dem Meer aufzunehmen und seine Schätze zu Tage zu fördern. Auch jetzt fühle ich mich so, während unser Tauchboot über die Wellen tanzt, das Meer um uns ausgebreitet daliegt und die Insel Rhodos nur noch ein Schimmer Land hinter uns ist.
»Wir sind fast da«, sagt Ajay und lächelt mich an. Ohne ihn hätte ich mich nie auf diese Wrackbetauchung eingelassen. Dankbar lächle ich zurück.
Einer der anderen Taucher unseres Teams, ein Australier mit Namen Guy, der nur aus blonden Haaren und Muskeln zu bestehen scheint, geht frustriert auf und ab. »Wenn es nicht bald schneller geht, springe ich glatt vom Boot und schwimme hin.«
Der Rest der Crew lacht.
Ich habe noch nie mit Guy gearbeitet, aber ich kenne Taucher wie ihn: eine geballte Ladung Draufgängertum und Testosteron. Ich bin sicher, heute Abend erzählt er mir Geschichten, wie oft er beim Wracktauchen schon fast ums Leben gekommen wäre. In der Regel ein Zeichen, dass das Ego größer ist als das Können.
Ich werfe Ajay einen Wo-hast-du-den-denn-aufgetrieben?-Blick zu. Er antwortet lautlos: »Er ist gut.«
Abwarten.
»Hast du schon mal nach einem Kreuzfahrtschiff getaucht?«, fragt mich Guy.
»Nein«, antworte ich, stelle mich auf die Zehenspitzen und verdrehe mir fast den Hals, während ich nach dem Tauchplatz Ausschau halte.
»Willow hat mit mir nach dem russischen Tanker getaucht«, sagt Ajay.
Guy mustert mich von oben bis unten. »Echt? Ein ziemlich riskanter Bergungstauchgang. Aber gut bezahlt, stimmt’s?«
»Nicht schlecht«, murmele ich.
Das ist damals eine prima Sache gewesen. Ich musste die Zeit zwischen zwei Aufträgen in Brighton überbrücken und lebte von dem, was ich bei meinem letzten Auftrag auf einer Bohrplattform in der Nordsee verdient hatte. Den gesunkenen Tanker hatte ich in den Nachrichten gesehen und mich gefragt, ob die Tauchfirma, für die Ajay arbeitete, angeheuert würde, um ihn zu bergen. Es sah nach einem riskanten Tauchmanöver aus, viel schweres Gerät, das zu bergen war, und reichlich Gelegenheit, dass dieses Gerät der Crew auf den Kopf stürzte. Ich hatte nicht gezögert, als Ajay anrief und fragte, ob ich Zeit hätte mitzuarbeiten. Es war nicht nur der Job, es war auch Ajay. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden, als er mein Tauchlehrer gewesen war. Er ist ein guter Kerl – und er hat sich auch nach ein paar Bier zu viel nicht ein einziges Mal an mich rangemacht.
»Das hier dürfte auch riskant werden«, sagt Guy mit leuchtenden Augen. »Warum liegt das Schiff eigentlich seit zwanzig Jahren da unten?«
»Die Kreuzfahrtgesellschaft, der es gehört hat, ist pleitegegangen und konnte sich keine Bergung leisten«, ruft uns einer der anderen Taucher zu. »Und die griechischen Behörden auch nicht.«
»Wie ich gehört habe, ist jetzt ein geheimnisvoller Wohltäter aufgetaucht, der die Sache bezahlt«, sagt Ajay.
Ich sehe ihn an. »Wirklich? Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Das hab ich selbst erst heute Morgen erfahren. Foivos hat es mir erzählt«, sagt er und zeigt zu dem alten Griechen, der unser Schiff befehligt.
»Wie viele Tote gab es?«, fragt Guy.
»Hundertelf Menschen sind damals umgekommen«, sage ich.
»Eine Monsterwelle, stimmt’s?«, fragt Guy. »Ich bin im Atlantik nach einem Schiff getaucht, das auch von so einer Welle runtergezogen wurde. Das muss damals die Schlagzeile gewesen sein.«
»Das kann man wohl sagen.« Ich greife nach meiner Tarierweste und überprüfe alles.
»Der reiche Sack, dem das Schiff gehört hat, ist auch umgekommen, oder?«, fährt Guy fort. Ich sehe Ajay erneut an. Dieser Typ redet zu viel. »Mann, ich kann es kaum erwarten, da runterzukommen.«
Ajay wirft ihm einen strengen Blick zu. »Denk dran, dich nicht von deiner Begeisterung mitreißen zu lassen. Das ist sicherer.«
»Jepp, wenn du tot bist, ist es aus mit dem Tauchen«, sage ich.
»Du hast gar nicht erzählt, dass wir einen echten Witzbold dabeihaben«, sagt Guy zu Ajay. »War sie schon so schlimm, als du noch ihr Tauchlehrer warst?«
»Da war sie noch schlimmer«, meint Ajay und lächelt.
»Das hab ich gehört«, sage ich.
Ajay sieht mich zerknirscht an. »Tut mir leid, Willow.«
»Es wird dir erst richtig leidtun, wenn ich dir heute Abend beim Kickern das Fell über die Ohren ziehe.«
Alle lachen. Das habe ich in den letzten Jahren bei meiner Arbeit als Taucherin gelernt: Sag’s ihnen, wenn sie zu weit gegangen sind, und dann wechsle in eine leichtere Tonart und Schwamm drüber. Es gibt nur wenige Profitaucher, jeder kennt jeden, und es ist schwierig, seinen Platz zu finden, vor allem als Frau. Ich habe es trotzdem geschafft, ich habe sogar ein paar gute Freunde gefunden, meine »Sippe«, wie ich sie nenne.
Guy fängt meinen Blick auf und wirft mir ein sexy Lächeln zu, seine blonden Haare hängen ihm in die Augen. Ich ignoriere ihn. Ajay findet, dass ich zu wählerisch bin, was Männer angeht, und alle mit meinem Vater vergleiche. Aber es ist auch nicht leicht: Jedes Mal, wenn ein Mann mich ansieht, muss ich daran denken, wie mein Vater meine Mutter angesehen hat, als sie jung waren.
Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die, wie wir alle in unserem großen Garten sitzen. Ich habe beobachtet, wie meine Eltern sich unter der Weide, nach der ich benannt bin, angeschaut haben. Dann hat mein Vater gemerkt, dass ich sie beobachte, hat mich in die Arme genommen und mir gesagt, wie sehr er mich liebt.
Ich habe diese Sommertage im Cottage geliebt. Diese Erinnerung an meine Eltern geistert noch heute in meinem Kopf herum.
Als die Boje, die den Standort des Schiffes markiert, in Sicht kommt, verstummen wir alle. Ich atme tief durch.
Endlich sind wir da.
Ich konzentriere mich auf die übliche Routine, um ruhiger zu werden, ziehe die Schultergurte an meiner Tarierweste herunter, sodass sie fest sitzt. Dann hilft Ajay mir, meine Druckluftflasche anzuziehen. Ich checke den Tauchcomputer am Handgelenk und drücke auf die kleinen Knöpfe um das große Ziffernblatt, um alle Messwerte einzustellen. Dann lege ich meinen Tauchgurt an und greife nach meinen Flossen, bevor ich zum Bootsrand gehe und auf die ruhige See hinunterschaue. Das Schiff liegt zu meinen Füßen, genau hier. Ich drücke auf den Knopf, um meine Tarierweste aufzupumpen, und spüre, wie sie sich um meine Brust herum ausdehnt. Gewöhnlich erzittere ich bei diesem Gefühl vor Aufregung: Zeit, hineinzuspringen und mit dem Meer zu ringen. Doch plötzlich empfinde ich Beklommenheit bis hin zum Widerwillen.
Ajay drückt meine Schulter und sieht mir in die Augen. »Alles klar?«
»Sie kommt allein zurecht«, sagt Guy. »Du hast selbst gesagt, dass sie schon nach übleren Wracks getaucht ist.«
»Das hier ist was anderes«, sagt Ajay.
Guy nickt. »Tja, ich schätze, dass seit der Rettungsaktion niemand mehr hier getaucht ist, macht die Sache riskanter.«
»Das ist es nicht«, sage ich und sehe ihn an. »Der reiche Sack, dem das Schiff gehört hat, war mein Vater.«
Er sieht mich geschockt an. »Ist nicht wahr!«
Der Rest der Mannschaft schweigt, während sie mich beobachten. Ich wünsche mir das hier schon so lange. Seit ich mit achtzehn meine ersten Taucherscheine hatte, habe ich mich mit den griechischen Behörden herumgestritten, dass sie mich nach dem Schiff tauchen lassen.
Und jetzt bin ich hier.
Ich drehe mich wieder zum Meer um. Es ist ruhig und blaugrün, es lockt mich hineinzuspringen. Doch ich weiß, wie trügerisch es sein kann, wie es sich von einem Moment zum anderen in eine tödliche Falle verwandeln kann, genau wie damals bei meinen Eltern.
»Bist du bereit?«, fragt Ajay neben mir, während sich die restliche Mannschaft aufstellt.
Ich atme tief durch, beschwöre den Geist der Amazonenkönigin herauf und nehme den Schnorchel in den Mund.
Jetzt!
Ich springe, bevor ich es mir anders überlegen kann, und das warme salzige Wasser spritzt mir ins Gesicht. Meine Tarierweste lässt mich kurz auf und ab hüpfen, dann reduziere ich langsam die Luft, und die Gewichte um meine Taille ziehen mich nach unten.
Das Geräusch des Bootsmotors, das Kreischen der Vögel am Himmel, die sich kräuselnde See, all das verschwindet, während ich hinabtauche. Um mich herum herrscht tiefe Stille, diese ganz besondere Lautlosigkeit, die es nur unter Wasser gibt.
Die Farbe des Wassers ändert sich von Aquamarin zu Grün und dann zu einem trüben Schwarz, je tiefer ich komme. Die Wärme nimmt ab, und alles scheint sich zu verlangsamen.
Haben Mum und Dad sich so gefühlt, als das Meer sie verschlungen hat? Ich versuche, sie mir vorzustellen. Als ich meine Mum zum letzten Mal gesehen habe, war ich so müde, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Warum war ich damals bloß so müde? Wenn ich nur noch ein paar Minuten länger wach geblieben wäre, hätte ich mehr als nur diese paar Erinnerungsfragmente: das Rot von Mums Lippenstift, ihr schiefer Zahn. Wenn ich wacher gewesen wäre, hätte ich sie festhalten und ihr sagen können, dass sie nicht gehen soll, ich hätte schreien und betteln können.
Und Dad. Ich erinnere mich noch immer an das Gefühl seiner sanften Finger auf meiner Stirn, als er mir wenige Tage zuvor den Pony aus den Augen geschoben hat. An den Geruch seines Zitrusaftershaves, als er sich zu mir hinuntergebeugt hat, um mir noch einen Kuss zu geben. Vielleicht hätte er den Stapellauf des Schiffes verschoben, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Tante Hope hat gesagt, er wäre wie Wachs in meinen Händen gewesen. Einer der reichsten Geschäftsleute des Landes, den seine Tochter um den kleinen Finger wickeln konnte. Hätte eine verzweifelte Bitte von mir, doch zu bleiben, ausgereicht?
Wie anders dann alles gekommen wäre!
Vor mir sehe ich die gelben Taucherflossen der anderen. Das Wasser wird klarer, und Ajay erscheint, seine langen Beine wirbeln wie Schilfrohre. Er hebt den Daumen, und ich tue es ihm gleich.
Zuerst kann ich das Schiff nicht sehen, es ist so dunkel hier unten. Doch dann rückt es in mein Blickfeld. Ich greife nach der Taschenlampe an meinem Handgelenk und leuchte vor mir her. Das Schiff ist riesig, es streckt sich auf dem Meeresboden aus wie ein weißer gestrandeter Wal. Das halbe Oberdeck steckt im Meeresboden, und die Seite des Schiffes mit dem darauf prangenden Namen – Haven Deluxe – neigt sich zu mir hin. Was einmal geschwommen ist, liegt jetzt unter Wasser, Holz und Metall sind eins mit dem Meeresgrund geworden, wie das Schiff hier in der trüben See auf der Seite liegt. Meine Tante Hope sagt, dass das Schiff tot ist, ein Unterwassersarg. Aber mir kommt es noch immer lebendig vor, als könnte es jeden Moment zum Leben erwachen und alle Erinnerungen an die letzte Nacht im Leben meiner Eltern erzählen.
Ich starre das Schiff an und empfinde eine unerträgliche Traurigkeit. Zum ersten Mal habe ich es auf der Broschüre gesehen. Obwohl ich erst sieben war, konnte ich die Aufregung meines Vaters spüren. Endlich war das Kreuzfahrtschiff, von dem er immer geträumt hatte, fertig für die Jungfernfahrt. Er hat mir die Broschüre vorgelesen, als wäre es Die kleine Raupe Nimmersatt.
Das Foto von der Broschüre sah ich das nächste Mal zusammen mit Bildern von dem Schiff, wie es auf dem Meeresboden lag, in der Woche nachdem es gesunken war. Ich war bei meiner Tante Hope in dem windschiefen Rauputzhaus in Busby-on-Sea, in dem sie und Mum aufgewachsen sind. Der Anruf kam mitten in der Nacht.
»Sie sind tot«, hatte Tante Hope gesagt und mich in der Dunkelheit angesehen.
Ich habe ihr das nie ganz vergeben. Sie sind tot.
Ich war nicht fähig, das richtig zu verarbeiten, ich war noch so jung. Ich erinnere mich, dass ich in mein Zimmer gerannt bin, die Tür hinter mir zugeschlagen und immer wieder »Nein« gesagt habe. Meine Tante ist nicht gekommen, um mich zu trösten. Stattdessen ist sie nach draußen gegangen, hat sich an den Strand gekniet und mit den Fäusten auf die Wellen eingeschlagen, als wollte sie das Meer dafür bestrafen, dass es ihr die Schwester genommen hatte.
Die Erinnerungen schwinden. Ich darf mich nicht in ihnen verlieren, ich muss mich konzentrieren.
Ich schwimme weiter auf das Schiff zu und versuche, meine Trauer zu unterdrücken. Nach einer Weile sehe ich das Loch in der Schiffsseite, das die Rettungstaucher vor vielen Jahren gemacht haben müssen. Das Licht unserer Lampen verbindet sich miteinander, um das Gelände vor uns auszuleuchten. Das Loch ist zerklüftet und gerade groß genug, dass zwei Menschen gleichzeitig hindurchschwimmen können.
Will ich wirklich dort hinein?
Ich halte einen Moment inne, treibe im Wasser und starre das Schiff an. Dann schlage ich kräftig mit den Beinen und schwimme auf das Loch zu. Guy will mir folgen, doch Ajay hält ihn zurück. Ich weiß warum: Ich muss als Erste hinein. Mein Herz zieht sich zusammen.
Danke, Ajay.
Ich schlüpfe durch das Loch, und vor mir liegt der einstmals prächtige Speisesaal des Schiffes, nur noch ein unheimlicher Schatten seiner selbst. Einen Moment fällt es mir schwer zu atmen, ich kämpfe, damit ich die Luft bekomme, die aus dem Tank auf meinem Rücken gepumpt wird. Er fühlt sich plötzlich sehr schwer an, und mir ist schwindelig.
Ich versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, während ich mich umsehe. Die restlichen Taucher schlüpfen hinter mir in den Saal und verteilen sich, die Kameras griffbereit, um Fotos zu machen, damit wir später abschätzen können, was getan werden muss. Einige Taucher haben große Netze dabei, um interessante Gegenstände mit nach oben zu nehmen. Aber ich lasse meine Kamera am Gürtel. Ich muss das hier mit eigenen Augen sehen, nicht durch eine Kameralinse.
Verblasste Gemälde des Gartens Eden kleiden die Wände aus, eine große Treppe führt gewunden zu einem vergoldeten Balkon. Nicht weit von mir liegt ein großer Kronleuchter auf der Seite, seine zertrümmerten Kristalle glitzern im Licht unserer Lampen. Zu meiner Rechten türmen sich mit goldenen Blättern verzierte Tische und Stühle. Und in der Mitte ein Panoramafenster, zersplittert und mit Seemoos bedeckt, es war einmal im Boden des Speisesaals eingelassen.
Überlebende haben erzählt, dass die erste Welle das Schiff traf, als gerade das Dessert serviert wurde.
Ich stelle mir vor, wie um mich herum alles zum Leben erwacht, genau wie in meinen Albträumen: Tische und Stühle richten sich auf, das Silberbesteck klirrt auf seinem Platz, die Glasscherben setzen sich zu großen Weingläsern zusammen. Ich komme an einem kaputten Klavier vorbei und kann den leisen, beschwingten Rhythmus der Musik fast hören, die im Hintergrund erklingt, das Lachen und Reden um mich herum.
Vielleicht würde Mum in ihrem langen schwarzen Kleid an einem dieser Tische sitzen, die silberne Handtasche, die ich ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt habe, auf dem Schoß. Dad würde seinen schicken Smoking tragen, das blonde Haar wäre ihm in die Stirn gerutscht. Er würde Mum etwas zuflüstern, und sie würde darüber lachen, während sie sich mit ihren Champagnergläsern zuprosten. Es war ein wichtiger Abend für sie, der Stapellauf von Dads Schiff. In den letzten Monaten hatte er immer bis in den frühen Morgen gearbeitet. Mum hatte oft auf ihn gewartet, und manchmal habe ich sie beobachtet, ohne dass sie es gemerkt hat: wie sie sich in ihrem seidenen Nachthemd auf dem Sofa zusammengerollt und gelesen hat, die Brille auf der Nasenspitze. Wie sich der Schlüssel im Schloss gedreht hat und sie strahlte, wenn Dad hereingekommen ist und sie herumgewirbelt hat. Wie sie beide gelacht haben.
Und ein paar Abende später waren sie hier, genau in diesem Speisesaal.
Doch dann bricht alles wieder auseinander, die Stühle zersplittern, die Tische fallen um, Gläser und Besteck zerbrechen, und meine Eltern verblassen, bis ich wieder zurück in der trüben Tiefe dieses Seesargs bin, noch immer eine Waise, noch immer allein.
Es ist schwerer, als ich gedacht habe. Ich habe mir diesen Tauchgang so lange gewünscht, dass ich völlig aus den Augen verloren habe, was er bedeutet: Ich bin hier, im Bauch des Schiffs, in dem meine Eltern umgekommen sind.
Ich sehe das Gelb von Ajays Taucherflossen. Er filmt alles, damit wir später einschätzen können, was an Arbeit nötig ist. Er schwebt einen Gang hinunter, der von dem Speisesaal wegführt, und ich folge ihm. Einige Bilder an den Wänden sind noch da, darunter das einer Frau in den Fünfzigern, mit schwarzen Haaren und durchdringenden blauen Augen. Meine Großmutter väterlicherseits. Sie ist gestorben, bevor ich geboren wurde, genau wie meine anderen Großeltern. Ich lasse meine Finger über die Leinwand gleiten, und unter meinen Fingerspitzen blubbert es.
Weiter hinten sehe ich die Überreste einer Bar, umgestürzte Stühle. Zu meiner Rechten erscheint eine große Empore, die zum Terrassendeck führt.
Plötzlich ertönt ein lautes Knarren. Ajay und ich halten inne, seine Gliedmaßen treiben im Wasser, sie verschwinden fast im Dunst. Ein Bild fällt von der Wand und kommt auf mich zugehüpft. Ich stoße es weg.
Erneut ertönt ein Knarren.
Ajay bewegt die Hand von einer Seite zur anderen, das Tauchersignal, dass etwas nicht stimmt und wir wieder auftauchen müssen. Das ist meine erste Chance, den Ort zu sehen, an dem meine Eltern gestorben sind – und nach noch nicht einmal fünf Minuten soll ich schon wieder umkehren?
Ich schüttele den Kopf. Er greift nach meinem Arm, und wir sehen uns durch unsere Masken an. Meine Augen bitten ihn, mir mehr Zeit zu geben, doch er schüttelt den Kopf und zeigt nach oben.
In der Ferne treten die anderen Taucher den Rückweg an. Ich würde am liebsten meinen Schnorchel ausziehen und schreien. Stattdessen folge ich Ajay aus dem Schiff hinaus.
Bevor ich auftauche, schaue ich noch einmal zurück und sage meinen Eltern leise Auf Wiedersehen.
An diesem Abend gehe ich ins Restaurant des großen Strandhotels, in dem wir auf Rhodos untergebracht sind. Einige Leute drehen sich um und starren mich an, als ich an ihnen vorbeigehe. Vermutlich wirke ich deplatziert hier unter den Touristen, eine einsame Wölfin, wie Ajay mich nennt, blasse Haut, Tattoos und schwarzes kurzes Haar. Wie die Leute wohl erst gucken werden, wenn die ganzen anderen Taucher kommen.
Ajay und Guy sind schon da, sie sitzen in einer ruhigen Ecke und haben ihr Bier fast ausgetrunken. Ich lasse mich auf den Stuhl gegenüber von Ajay fallen und kann meine Enttäuschung nicht verbergen.
»So ein Scheiß«, sagt Guy.
»Das kann man wohl sagen«, antworte ich und versuche, den Ober auf mich aufmerksam zu machen, ich brauche auch ganz dringend ein Bier.
»Du musst noch klein gewesen sein, als deine Leute umgekommen sind. Hattest du Familie, die dich aufgenommen hat?«
Ich nicke. »Meine Tante.«
Die erste Woche nach dem Tod meiner Eltern habe ich mir vorgestellt, sie würden wohlbehalten zurückkehren. Dann ist meine Tante eines Morgens zu mir gekommen, ihre Tasche über die Schulter geworfen. »Nun«, hat sie gesagt, »sehen wir uns mal deine neue Schule an.«
In dem Moment habe ich begriffen, dass meine Eltern wirklich tot waren und dass mein wundervolles Leben mit ihnen gestorben war. Wellen der Trauer überspülten mich, und die Leere des Lebens, das nun vor mir lag, schien sich vor mir aufzutun. Ich sehnte mich nach dem großen Cottage außerhalb von Busby-on-Sea, in dem ich aufgewachsen war. Ich sehnte mich nach meinem schönen Zimmer mit seinen aquamarinblauen Wänden. Ich sehnte mich nach meinem Hund Tommy, doch Tante Hope hatte sich geweigert, ihn zu nehmen. Ich verabscheute dieses heruntergekommene, alte Küstenstädtchen mit seiner seelenlosen Schule und der seltsamen obdachlosen Frau mit ihrem Einkaufswagen voller Schuhe.
Ich brach in Tränen aus, und meine Tante musste den Besuch in der Schule verschieben, ich war völlig außer mir.
Das Einzige, was mir durch diese ersten Monate half, war die Vorstellung, das graue Meer vor dem Haus meiner Tante wäre das Ägäische Meer. Ich stellte mir vor, ich würde tauchen und meine Eltern in Sicherheit bringen. Es dauerte nicht lange, bis ich meine Tante bat, mit mir schwimmen zu gehen. Widerwillig stimmte sie zu und saß mit ihrem Notizbuch und einem Bleistift in der Hand auf einem Felsen, während sie zusah, wie ich mir im flachen Wasser selbst das Schwimmen beibrachte. Gelegentlich blickte sie auf und rief mir ein paar halbherzige Ratschläge zu. »Stoß fester mit den Beinen, Willow!« oder »So nicht, du siehst aus wie ein Nashorn!«
»Hast du wegen deiner Leute mit dem Tauchen angefangen?«, fragt Guy.
Ich nicke, während ich ein Bier bestelle. »Wenn die Rettungstaucher damals schneller unten gewesen wären, hätten sie vielleicht mehr Passagiere retten können. Ich glaube, ich wollte einfach sehen, ob ich es besser kann.«
»Warum machst du kein Rettungstauchen?«
»Das hab ich zuerst auch gemacht, aber es hat mir nicht gereicht. Deshalb habe ich bei Ajay eine Ausbildung zur Berufstaucherin gemacht.«
»Und wie bist du zum Tauchen gekommen?«, fragt Guy Ajay.
»Ich habe nach dem Wald im See bei meinem Geburtsort getaucht. Ich denke, das ist mir unter die Haut gegangen. Und du?«, fragt er Guy.
Guy lächelt. »Ich bin am Meer groß geworden.«
Als der Ober mit meinem Bier kommt, trinke ich einen Schluck und genieße, wie schön kühl es ist. Wir schweigen und blicken aufs Meer hinaus. Auf einem nahen Berghang liegen weiße Häuser verstreut, Touristen gehen die Stufen zu ein paar antiken Ruinen hinauf, die von der untergehenden Sonne in warmes Licht getaucht werden. Dahinter rührt sich das Meer und lässt seine Muskeln spielen, bereit für eine weitere Nacht.
Ajay neigt seine Flasche in meine Richtung. »Darauf, dass das Meer uns unter die Haut geht«, sagt er.
Ich stoße mit ihm an. »Auf die verlorenen Seelen«, sage ich.
Als ich am nächsten Morgen erwache, gewöhnen sich meine Augen nur langsam an das grelle Licht, das in mein Hotelzimmer fällt. Ich höre ein Klingeln und kann nicht genau ausmachen, woher es kommt.
»Dein Telefon«, sagt Guy und reicht es mir. Er liegt nackt in meinem Bett, den Arm über dem Kopf, um die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen.
Ich nehme das Telefon und sehe, dass es Ajay ist, also zwinge ich mich aufzustehen und greife nach dem Schreibtisch, als mir kurz schwarz vor Augen wird. Ich drücke das Telefon ans Ohr.
»Ajay?«, sage ich, während ich aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel und auf das klare Meer blinzle. Hinter mir erhebt sich Guy und trottet ins Bad.
»Ich hab mir die Sachen angesehen, die ein paar Taucher aus dem Wrack mitgebracht haben«, sagt er.
»Sie haben es geschafft, was mit raufzubringen?«
»Nur ein paar Dinge. Ich glaube, ich habe hier etwas, das deiner Mutter gehört haben könnte.«
Mein Herz beginnt zu rasen. »Ich bin in einer halben Stunde da.«
Achtundzwanzig Minuten später stehe ich in einem großen Lagerhaus im Haupthafen von Rhodos und sehe mir die Sachen aus dem Schiff an, die auf einem Tisch ausgebreitet sind. Vor mir liegt eine mit Silberfäden durchwirkte Tasche, deren Riemen aus Satin sind, mit silbernen Blättern darauf. Das Meer und die Zeit haben sie angegriffen, doch sie sieht noch aus wie die Tasche, die ich auf den Fotos gesehen habe, die Tasche, die ich zusammen mit Dad für Mum zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag gekauft habe, nur wenige Monate vor ihrem Tod.
Behutsam strecke ich die Hand aus und öffne die Tasche … und da steht es, eingraviert in eine angelaufene Silberplatte auf der Innenseite:
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag,
Mummy!
Alles Liebe, Willow X
Ich drücke die Tasche an die Brust und bin so aufgewühlt, dass ich kaum Luft bekomme. Ich erinnere mich noch, wie ich es kaum erwarten konnte, Mum diese Tasche zu geben. Dad hatte in unserem wunderbaren Garten das Frühstück vorbereitet, und ich saß ungeduldig am Tisch, die sorgfältig eingepackte Tasche auf dem Schoß, und wartete, dass Mum endlich kam. Sie hat sich riesig gefreut, als sie sie ausgepackt hat.
Ich schaue in die Tasche und bin nicht überrascht, dass sie leer ist. Ich frage mich, was sie an jenem Abend wohl darin hatte. Ihren roten Lippenstift, ein Parfümfläschchen – ihren Rosenduft. Vielleicht einen Kamm?
Ich ziehe den kleinen Reißverschluss auf und fasse vorsichtig in das Nebenfach. Da ist etwas.
Eine Halskette.
Ich hole sie heraus. Sie ist rostig und beschädigt, doch der Anhänger ist noch intakt. Es ist ein Symbol, ein Halbkreis mit einem Goldschnörkel.
»War das in der Tasche?«, fragt Ajay, als er mir über die Schulter blickt.
Ich nicke. »Aber ich erkenne das Symbol nicht.«
»Sieht aus wie zwei Buchstaben, ein C und ein N. Hieß deine Mutter nicht Charity?«
Ich runzle die Stirn. »Ja, aber mein Vater hieß Dan.«
Ajay zuckt mit den Schultern. »Vielleicht sind es ja gar keine Buchstaben.« Jemand ruft nach ihm. Er legt mir die Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Danke, dass du mich angerufen hast. Ich bin froh, dass wir die Tasche gefunden haben.«
Er lächelt. »Ich auch.«
Als er geht, starre ich die Halskette an. Sie ist auf keinem der Fotos, die ich von Mum habe, und diese Fotos habe ich mir weiß Gott oft genug angesehen, um das mit Sicherheit zu wissen.
Ich hole mein Handy heraus und wähle die Nummer meiner Tante. Es klingelt mehrmals, bevor sie sich meldet.
»Willow?«, fragt sie knapp.
»Hi. Bist du im Cottage?«, frage ich.
»Ja.« Sie hält inne. »Und, wie ist es gelaufen?«
»Nicht besonders. Das Schiff ist instabil, wir mussten die Bergung abbrechen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich noch mal Gelegenheit haben werde, danach zu tauchen, es ist einfach zu gefährlich.«
»Gut. Es ist besser, es ruhen zu lassen.«
Ich unterdrücke ein Seufzen. Wir haben uns gestritten, als ich ihr erzählt habe, ich würde Teil der Tauchmannschaft sein, die das Schiff bergen sollte. Sie hatte die romantische Vorstellung, das würde die Ruhe der toten Passagiere stören, obwohl doch alle Leichen schon vor langer Zeit geborgen wurden.
»Aber wir haben ein paar Dinge gefunden«, sage ich und werfe einen Blick auf die Halskette, »einschließlich der silbernen Tasche, die ich Mum zum Geburtstag geschenkt habe.«
Meine Tante schweigt einen Moment. Ich höre nur ihren Atem, ruhig und langsam. »Das ist gut«, sagt sie schließlich mit gepresster Stimme. »Die würde ich gerne sehen, wenn du zurück bist.«
»Ich bringe sie mit. In der Tasche war eine Kette, die ich nicht kenne.«
»Sie hatte viel Schmuck.«
»Aber diese Kette ist ungewöhnlich. Ajay meint, es könnten zwei ineinander verschlungene Initialen darauf sein, ein C und ein N.« Meine Tante schweigt erneut. Dieses Schweigen spricht Bände. »Hast du diese Kette vielleicht mal an ihr gesehen?«
»Nein, nie.«
»Warum sagst du dann nichts?«
»Das hat keinen bestimmten Grund.« Sie lügt. Ich kann immer hören, wenn sie lügt, ihre Stimme steigt dann eine Oktave an. »Wenn das Tauchen jetzt abgesagt ist, heißt das, du kommst und bringst mit mir zusammen das Cottage auf Vordermann?«
Ich stelle mir vor, dass ich zum ersten Mal seit zwanzig Jahren das Cottage meiner Eltern betreten werde. »Es könnte sein, dass ich noch ein paar Tage hierbleibe.«
»Komm mir nicht mit Entschuldigungen. Es könnte die letzte Gelegenheit sein.«
Ich habe versucht, die Tatsache zu verdrängen: Nach vielen Jahren habe ich endlich zugestimmt, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, zum Verkauf anzubieten. Ich habe keinen Fuß mehr hineingesetzt, seit meine Eltern gestorben sind. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn meine Tante gleich nach dem Tod meiner Eltern mit mir dort hingefahren wäre, wie ich das gewollt hatte. Aber sie hatte gemeint, es würde mich nur aufwühlen. Und je mehr Monate und Jahre vergingen, desto schmerzhafter wurde der Gedanke, dorthin zurückzukehren.
Ich werfe einen Blick auf die Halskette. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.