Catherine Rider
A Winter Romance
Aus dem Englischen von
Franka Reinhart
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1. Auflage 2017
© 2017 by Working Partners Ltd
With special thanks to James Noble.
© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Franka Reinhart
Lektorat: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München,
unter Verwendung mehrerer Motive von
© Shutterstock (Ilona Ignatova, Bucchi Francesco,
Kichigin, Elena Elisseeva, Elena Dijour, aprilante,
Hein Nouwens, Oxy_gen)
he · Herstellung: eS
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-20146-3
V001
www.cbt-buecher.de
1
Serena
Freitag, 21. Dezember
09:15 Uhr
So muss es sich anfühlen, wenn man tot ist!
Obwohl ich auf meinem Nachtflug aus New York ein bisschen schlafen konnte, kommt mir die Straße (oder auch Rue) im 7. Pariser Arrondissement, in der meine große Schwester Lara wohnt, wie eine verblasste Kopie ihrer selbst vor. Aber das kann auch an meinem Jetlag liegen. Oder am Dezembernebel, der so dicht ist, dass ich keine von den ganzen Sehenswürdigkeiten erkennen konnte, die mir Google Maps im Taxi angezeigt hat – nicht mal den Eiffelturm, nach dem ich mir nun wirklich den Kopf verrenkt habe!
Ich stolpere aus dem Taxi und muss aufpassen, dass ich nicht der Länge nach hinfalle. Das wäre natürlich ein ziemlich peinlicher Auftakt dieser Reise, zu der auch das Projekt Romantik gehören sollte, ein zweitägiges Familienevent. Leider musste Mom in letzter Minute einen Rückzieher machen, und Lara ignorierte – verpeilt wie immer – sämtliche Mailanfragen von mir, ob sie mich vom Flughafen abholen kann. Somit fühlte sich unser »Familienausflug« für den Anfang eher wie das genaue Gegenteil an.
Ich schaue nach links und rechts (mein steifer Nacken protestiert gegen die schnellen Bewegungen) und versuche so viel wie möglich von der Straße zu erkennen. Oder zumindest so viel, wie der Nebel zulässt. Eine Straße mit Kopfsteinpflaster schlängelt sich dahin. Die schwarze Markise eines Cafés hängt über dem Nebel wie ein Schmutzfleck.
Dann betrachte ich das Haus. Über die gesamte Fassade ziehen sich die Kabel der Weihnachtsbeleuchtung. Eingeschaltet ist das bestimmt wunderschön, aber bei Tageslicht wirkt es wie abgestorbener Efeu. Alles sieht hier irgendwie anders aus. Das Ziegelmauerwerk macht einen altertümlichen Eindruck, ist aber mit den Reihenhäusern in Brooklyn nicht zu vergleichen.
Die in den Nebel emporstrebenden schmiedeeisernen Gitter der Balkone kommen mir so … fremd vor. Mir wird klar, dass ich wirklich sehr weit weg von zu Hause bin. Die Haustür ist schwarz und mit einem silbernen Kranz geschmückt – was mich beunruhigt, denn Lara hatte gesagt, sie sei rot mit einem Stechpalmen-Kranz. Hoffentlich habe ich das Taxi nicht versehentlich zur falschen Adresse geschickt. Instinktiv greife ich nach meinem Handy, um sie noch einmal auf Google Maps zu kontrollieren (natürlich habe ich Daten-Roaming extra dazugebucht), doch das Telefon steckt in meiner linken Jackentasche, die gerade durch meinen Shopper verdeckt ist. Um an das Handy heranzukommen, müsste ich extra mein Gepäck absetzen – aber dazu bin ich gerade viel zu geschafft.
Tolle Idee, einen Nachtflug zu nehmen, Serena. Wirklich ganz, ganz clever.
Während der Taxifahrt vom Flughafen Charles de Gaulle hatte ich überhaupt keine Sorge, im falschen Arrondissement zu landen – so ausgefallen heißen in Paris übrigens die Stadtteile. Gut möglich, dass das 7. eins der ausgefallensten ist, denn laut Reiseführer befinden sich dort der Eiffelturm, das Musée d’Orsay, noch ein paar andere Musées und die letzte Ruhestätte von Napoleon. Es liegt ziemlich zentral links der Seine und würde normalerweise wahrscheinlich mein Budget total sprengen, aber Lara arbeitet hier als Au-pair-Mädchen bei einer Familie. Damit hat mir Lara zum ersten Mal seit Menschengedenken etwas erleichtert.
Die Treppe vom Fußweg zur Haustür besteht aus sechs Steinstufen, die ich nicht nur meine Tragetasche, sondern außerdem einen zwanzig Kilo schweren Koffer hinaufhieven muss. (Das Gewicht kenne ich deshalb so genau, weil das die Obergrenze für aufzugebendes Gepäck war und ich zu Hause zweimal nachgewogen habe, bevor ich zum Flughafen John F. Kennedy aufgebrochen bin.) Nach einem achtstündigen Nachtflug kommen mir diese zwanzig Kilo allerdings eher vor wie zweihundert und die sechs Stufen fühlen sich an wie der Mount Everest.
Jetzt krieg dich mal wieder ein, Serena Fuentes!, denke ich und versuche, mich zu motivieren. Du bist schon mehrere Halbmarathons gelaufen! Da wirst du doch wohl diese zwanzig Kilo ein paar Stufen nach oben tragen können.
Und außerdem … denk dran, warum du hier bist.
Ich schüttele meine Hände aus und versuche sie zu entkrampfen. Dann drücke ich die Tragetasche fester gegen meine Rippen, umfasse den Griff meines exakt zwanzig Kilo schweren Koffers, beiße die Zähne zusammen und stoße ein Ächzen aus, das mir vor lauter Müdigkeit nicht einmal peinlich ist – obwohl auf dieser Rue ohnehin kein Mensch unterwegs ist.
Als ich den Mount Everest bezwungen habe, drücke ich auf die Klingel für Wohnung Nummer 15. Die Stimme, die sich über die Sprechanlage meldet, klingt abgehackt und redet Französisch ohne Punkt und Komma. Ich verstehe kein Wort. Trotzdem würde ich diese Stimme jederzeit und überall erkennen.
»Lara, ich bin’s«, informiere ich meine Schwester.
»Serena?«
Ich frage mich, ob sie gerade erst aufgewacht ist, denn sie klingt total überrascht. Sie hat doch nicht etwa ernsthaft vergessen, dass das Projekt Romantik trotzdem stattfindet?
Lara sagt, ich soll die Treppe nach oben nehmen. Na toll. Also schleppe ich meinen exakt zwanzig Kilo schweren Koffer hinauf in die vierte Etage, in die ich laut meiner Schwester kommen soll – natürlich gibt es keinen Aufzug, und selbstverständlich denkt Lara gar nicht daran, mir zu helfen. Ich schaue auf die Wohnungsnummern: 10, 11, 12 … Pro Etage sind es immer drei, Wohnung Nummer 15 ist eindeutig nicht dabei. Plötzlich fällt mir ein, dass das unterste Stockwerk hier nicht wie in Amerika erste Etage, sondern Erdgeschoss heißt, und mir wird klar, dass ich noch eine Treppe bewältigen muss.
Warum? Waaaruuum, ihr Europäer?
»Sag mal, wa… was machst du denn hier?« Lara steht in der Tür zu Wohnung Nummer 15 und erwartet mich. Normalerweise wäre ich erleichtert, sie zu sehen, wenn sie nicht so einen konfusen Eindruck machen würde. Sie trägt eine Jogginghose, und ihre Haare (sie hat eine prächtige Lockenmähne, während ich nur einen krausen Wuschelkopf abbekommen habe – schönen Dank auch, Genetik) sehen reichlich zerzaust aus, was meine Eben-erst-aufgewacht-Theorie bestätigt. Immerhin hat sie sich schon die Lippen geschminkt – wie immer in dem für sie typischen Knallrot. Ohne Lippenstift habe ich sie wahrscheinlich nicht mehr gesehen, seit sie auf die Highschool gekommen ist.
Ich ignoriere sie erst einmal, befördere meinen Koffer in die Wohnung und marschiere schnurstracks in das helle, geräumige Wohnzimmer. Dort stelle ich den Koffer neben einem Sofa ab. »Ich brauch erst mal ’ne Minute«, sage ich, dann zeige ich auf eine der Türen, die vom Wohnzimmer abgehen. »Bad?«
»Ja«, antwortet sie. Sie macht den Eindruck, als ob sie sich wie in einem wirren Traum fühlt und darauf wartet, jeden Moment aufzuwachen.
Als ich aus dem Bad komme, gehe ich auf sie zu und lasse mich auf das hellbraune Sofa fallen. Es ist so weich und federnd, dass ich beinahe wieder hochschnelle. In der Ecke bemerke ich einen kleinen Weihnachtsbaum. Er ist mit schwarzen und goldenen Schleifen geschmückt. Sehr chic, sehr französisch. Ich reiße mich zusammen und schaue Lara vorwurfsvoll an. »Aaaaalso … Was ist los bei dir? Hast du vergessen, dein Handy auf Mails von deiner Schwester zu checken? Ist dir unser Plan entfallen, die Hochzeitsreise unserer Eltern nachzuvollziehen? Erinnerst du dich nicht mehr an das Projekt Romantik?«
»Natürlich erinnere ich mich …« Sie setzt sich auf die Armlehne des Sofas und sieht mich an, als ob ich die Verpeilte wäre. »Aber, ich meine … als Mom zu dieser Konferenz beordert wurde, bin ich halt davon ausgegangen, dass wir diese Paris-Sache abblasen und einfach getrennt nach London fliegen und uns dann Heiligabend mit Mom treffen.«
Offenbar hat der Jetlag nicht nur meinen Blick getrübt, sondern mir auch noch das Hirn vernebelt. Nur so kann ich mir erklären, wie ich auf die Idee komme, dass meine Schwester unseren sorgfältig ausgearbeiteten Plan vergessen hat – er besteht darin, alle Orte in Paris aufzusuchen, die unsere Eltern vor fünfundzwanzig Jahren in ihren Flitterwochen besucht haben. In die Vorbereitung dafür habe ich ein ganzes Wochenende gesteckt, obwohl ich die Zeit dringend zum Lernen für meine Abschlussprüfungen hätte brauchen können – die sind an der Columbia nämlich echt kein Spaß. Den genauen Ablauf hatte ich Lara gemailt und sie gefragt, was sie davon hält. Nicht dass ich je eine Antwort bekommen hätte.
O mein Gott. Langsam ergibt alles einen grausamen Sinn.
Ich starre sie immer noch an und hoffe, sie mit Fakten zu überzeugen. »Einspruch. Ich hab dir geschrieben, dass ich trotzdem nach Paris komme.«
»Wirklich? Wann denn?«
Ich richte mich kerzengerade auf, was gar nicht ganz einfach ist, denn das Sofa verschluckt mich förmlich, und ich bin so müde, dass ich mich nur schwer dagegen wehren kann. »In jeder Mail, die du diese Woche von mir bekommen hast. Dreimal hab ich dir mitgeteilt, wie sehr ich mich drauf freue, dich in Paris zu sehen. Ich hab dir die Flugnummer und meine genaue Ankunftszeit durchgegeben … und außerdem, wie viel Geld du für Verpflegung und Metrotickets einplanen sollst. Du musstest dich eigentlich um nichts weiter kümmern, als mich vom Flughafen abzuholen!«
»Ich dachte, die gesamte Reise wär gecancelt«, murmelt sie leise. »Ich … ich hatte echt viel um die Ohren. Dadurch habe ich nicht ganz so oft in meine Mails geschaut.«
Heißt also, du hast keine von meinen Nachrichten gelesen. »Auch wenn Mom nicht kann, können wir die Tour doch trotzdem machen und das Scrapbook gestalten, das wir ihr zu Silvester schenken wollen« – Ich erzähle ihr das alles, obwohl es genauso schon in meinen Mails stand, die sie offensichtlich nicht gelesen hat – »wenn wir alle zusammen in London ihren 25. Hochzeitstag feiern. Du weißt doch, dass Silvester immer besonders schwierig ist für Mom, seit …«
Ich beende den Satz nicht. Ich kann es einfach nicht. Schon seit zwei Jahren.
Und dann sieht mich meine Schwester mit ihrem typischen Lara-Blick an, wie er in unserer Familie heißt: große Augen und das Gesicht erstarrt, als wäre ihr Hirn ein Computer mit vierundachtzig offenen Websites, die alle versuchen, etwas herunterzuladen und teilweise durch Adware blockiert werden. Diesen Blick setzt sie immer dann auf, wenn sie genau weiß, dass sie etwas verbockt hat. Sie murmelt, dass es ihr wirklich leidtäte. »Ich dachte, du wolltest mich nur dran erinnern, ein Weihnachtsgeschenk für Mom zu besorgen.«
»Und? Hast du wenigstens das hingekriegt?« Die Frage rutscht mir einfach heraus. Ich kenne Lara gut genug und weiß bei diesem Blick genau, dass sie sich selbst schon genügend Vorwürfe macht, weil sie so verpeilt ist. Da ist es unnötig, alles noch schlimmer zu machen. Aber heute Morgen kann ich nicht anders, schließlich stecken mir 5832 Reisekilometer in den Knochen – mit einem Koffer, der so schwer ist wie ein Drittel von mir!
»Ich wollte mich darum kümmern, wenn wir in Madrid sind.«
Vor lauter Jetlag schaffe ich es nicht einmal, sie mit offenem Mund anzustarren. »Madrid? Wovon redest du? Wir wollen doch nicht nach Madrid!«
Sie macht ein verlegenes Gesicht. »Na ja, ich … meinte auch nicht uns beide.«
Erst jetzt fällt mir auf, dass nicht nur ihre Haare wirr aussehen, sondern auch ihr Lippenstift leicht verschmiert ist und schon die ganze Zeit ein fremdes Parfum durch die Wohnung weht. Lara hat offenkundig … Besuch.
Ich sehe mich um, ob er vielleicht mucksmäuschenstill in einer Ecke steht, doch er scheint sich in einem anderen Zimmer zu verstecken. Wenn ich nur wüsste, wie man auf Französisch sagt: »Komm raus und zeig dich!«
Als Nächstes bemerke ich … weitere Koffer. Nicht so groß wie meiner, dafür aber drei Stück. Sie stehen rings um den schicken Couchtisch in der Mitte des Zimmers.
»Was ist denn hier los?«
Lara klemmt sich die Haare hinter die Ohren, verschränkt die Arme und schaut zu Boden. »Das ist ein totales Desaster, verdammt.«
»Du fährst echt nach Madrid? Was willst du denn da?«
Und dann kommt plötzlich der GRUND, warum Lara keine Zeit hatte, meine Mails zu lesen, aus einem der anderen Zimmer geschlendert. Es ist ein langer und (natürlich) bildschöner Typ, obwohl er nur ein Trikot irgendeiner französischen Fußballmannschaft trägt. Hohe Wangenknochen, sonnenverwöhnte Haut und wellige dunkle Haare, die zwar ein bisschen lang sind, aber trotzdem perfekt sitzen und ihm nicht ins Gesicht fallen. Er ist ein Lara-Lover wie aus dem Bilderbuch. Lächelnd nickt er mir zu und murmelt dann etwas auf Französisch zu Lara. Sie murmelt zurück und sagt mehrmals: »Tout va bien.«
Daraufhin schaut mich der Typ an, kommt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. »Bonjour.«
Wir begrüßen uns, wobei ich hoffe, dass er auf die Doppelküsschen-Masche verzichtet, denn die geht mir selbst dann auf die Nerven, wenn ich ausgeruht bin. (Zuerst die rechte Wange? Oder doch die linke? Na super, voll das Missverständnis und jetzt hast du meine Nase im Mund.) Ich bin so sauer auf Lara, dass ich nicht mit »Bonjour« antworte, sondern im breitesten amerikanischen Slang zu ihm sage: »Hey, what’s up?« – Ich schaffe es sogar, einen leicht näselnden Südstaatler-Ton zu imitieren, obwohl ich noch nie südlicher gekommen bin als bis Philadelphia.
Er verzieht einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, das ebenso gut ein arrogantes Grinsen sein könnte. »Wirr ’aben Konfusion, oui?«
Lara starrt immer noch auf den Teppich. »Serena, das ist Henri. Henri, das ist meine kleine Schwester Serena. Sie kommt direkt aus New York.«
Henri zieht nun auch noch den anderen Mundwinkel hoch – okay, arrogant ist er also nicht –, nickt und sieht wieder Lara an. Er sagt etwas Französisches zu ihr und Lara antwortet, ebenfalls auf Französisch. Dann macht Henri noch eine Bemerkung in seiner Muttersprache, und ich frage mich, ob ich vielleicht einfach in die Küche gehen und mir einen Kaffee machen kann. Da sehe ich, wie Henri ihr beruhigend den Arm streichelt. Dabei sieht er meine Schwester so sanft und zärtlich an, dass mir sofort klar ist, wie heillos verliebt er in sie ist. Ich frage mich – nicht zum ersten Mal –, wie sie eigentlich mit ihrem Studium klarkommt, wenn sie jede Woche eine neue Affäre hat.
Dann ermahne ich mich jedoch, nicht verärgert zu sein, wenn sich zwei Leute so gernhaben, nur weil mir das noch nie passiert ist – nicht mal ansatzweise.
»Hey«, unterbreche ich ihre fremdsprachige Unterhaltung und setze mich auf. »Jetzt mal Klartext – ohne Untertitel. Was geht hier eigentlich ab?«
Lara sieht mich an, hebt leicht die Hände und fährt sich dann nervös durch die Haare. »Wenn das Studium wieder anfängt, können wir uns fast einen ganzen Monat nicht sehen, deshalb hat Henri übers Wochenende für uns einen Flug nach Madrid gebucht. Ich wollte von dort aus nach London fliegen.«
Wow. Lara verreist mit einem Typen? So was macht sie sonst nie. Das ist ihr eigentlich viel zu verbindlich.
Henri zuckt theatralisch die Schultern, was eher galant als gallisch aussieht. »Sie ist deine Schwesterr. Wir können nach Madrid fliegen auch in Januarr. Die Stadt geht nischt weg, non? Es iist okay, tout va bien.«
Lara verzieht gequält das Gesicht, und ich sehe ihr an, dass es nicht nur mit dem Chaos zu tun hat, das sie durch ihre verpeilte Art ausgelöst hat. Sie möchte unbedingt nach Madrid, und wenn ich es mir richtig überlege, war sie von unserer Aktion nie so richtig begeistert. Vielleicht liegt es daran, dass wir dabei über Dad reden würden, den Lara von sich aus niemals erwähnt.
Auch wenn meine Schwester in der Tat manchmal ziemlich verpeilt ist, frage ich mich nun besorgt, ob ich diesmal etwas Entscheidendes nicht mitbekommen habe.
»Ach wisst ihr was?«, beschließe ich spontan. »Fliegt ihr mal.«
»Bist du sicher?« Lara sieht immer noch ganz mitgenommen aus, und es geht mir schon ein bisschen nahe, dass sie so ein schlechtes Gewissen hat wegen ihrer Reise, obwohl es nicht zu übersehen ist, wie viel lieber sie nach Madrid möchte.
»Ja, bin ich. Aber denk unbedingt dran, ein ganz tolles Geschenk für Mom zu besorgen!«
Lara umarmt mich – dankbar und erleichtert, so viel ist sicher. »Vielen Dank, Serena. Du bist die Beste!«
Das muss sie mir nun nicht extra sagen. »Unsinn – nein, bin ich nicht. Und außerdem kann ich jetzt wenigstens in deinem Zimmer schlafen und muss nicht auf dem Sofa übernachten.«
Ich lache, doch sie bleibt ernst. Stattdessen setzt sie wieder ihren Lara-Blick auf. »Puh. Also, das Ding ist, dass die Familie, bei der ich hier arbeite, Weihnachten in Zürich verbringt. Während sie weg sind, wird hier alles grundgereinigt. Ich hab versprochen, dass die Wohnung komplett leer ist, wenn die Reinigungsfirma kommt. Und das ist heute.«
Ich seufze auf und sehe kurz an die Decke, während sie mir die Hand auf den Arm legt. »Es geht doch nur um eine Nacht. Kannst du dir vielleicht ein Hotel suchen?«
Eine ganze Reihe von Zahlen schießen mir durch den Kopf, als ich versuche, im Budget, das ich nach Moms Absage noch einmal anpassen musste, ein Hotelzimmer in Paris unterzubringen. 1 Stunde würde es mindestens dauern, bis ich ein Hotel gefunden habe, dann noch einmal 30 bis 45 Minuten, um in dieses Hotel zu kommen und mein Gepäck (20 Kilo) dort abzustellen, nachdem ich mindestens 90 Euro bezahlt habe (wahrscheinlich sogar mehr, wenn ich Wert auf saubere Bettwäsche und ungezieferfreies Ambiente lege) …
»Ich weiß nicht so genau, ob ich mir das leisten kann.«
Ratlos dreht sie sich wieder zu Henri um. »Klar. Vielleicht sollte ich doch lieber hierbleiben …«
Aber Henri lächelt nur und zieht sein Handy aus der hinteren Hosentasche. »Kein Problemm. Isch ’abe Idee.« Dann wählt er eine Nummer und führt ein turboschnelles, extrem-französisches Gespräch mit irgendwem. Nach weniger als zwei Minuten dann: voila (sagt er, nicht ich):
»Es iist okay. Du schläfst mit unsere Freund, Jean-Luc.«
Ich starre ihn an. »Wie bitte?«
Lara schlägt die Hände vors Gesicht und ihre Schultern beben vor Lachen. »So meint er das nicht! Er will damit sagen, dass du bei Jean-Luc im Wohnheim übernachten kannst. Sein Mitbewohner ist über die Feiertage verreist und du hast ein Zimmer ganz für dich allein. Das ist doch super.«
»Ähm, ich soll mich echt bei ’nem fremden Franzosen einquartieren? Also, nichts für ungut, Henri.«
Henri grinst uns beide an, wirkt von unserem rasanten Englisch aber genauso überfordert wie ich vorhin mit dem ganzen Französisch.
»Jean-Luc ist schon ein bisschen speziell«, sagt Lara, steht vom Sofa auf, hockt sich neben den Couchtisch und fängt an, den darauf liegenden Stapel mit Werbepost und Zeitschriften durchzublättern. »Aber echt nett, wenn man ihn ein bisschen kennt.« Den zweiten Teil des Satzes murmelt sie leise vor sich hin.
Ich weiß ja nicht, wie viel Zeit ich ihrer Ansicht nach mit ihm verbringen soll – immerhin habe ich eine Agenda einzuhalten und bin jetzt schon im Rückstand. Wahrscheinlich werde ich mit diesem »Jean-Luc«-Spezi nicht mehr als ein paar Worte wechseln.
»Außerdem«, fügt Lara noch hinzu, »ist er zur Hälfte Amerikaner. Er spricht also wirklich gut Englisch. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Hier …« Sie schreibt etwas auf einen Linienplan der Pariser Metro und drückt ihn mir in die Hand. »… damit müsstest du dich zurechtfinden.«
Ich nehme ihn entgegen und wundere mich insgeheim, denn eigentlich müsste meine Schwester genau wissen, dass ich drei von diesen Metroplänen dabeihabe (nur ein einziger als Ersatz wäre für mich zu viel an Improvisation).
»Oben hab ich dir Jean-Lucs Nummer hingeschrieben.«
Umgehend tippe ich die Nummer in mein Handy, um sie außerdem elektronisch zu sichern. In diesem Moment wird mir klar, dass ich damit offenbar »zugestimmt« habe, bei einem Jungen zu übernachten, der zur Hälfte Amerikaner, wirklich nett, aber auch ein bisschen speziell ist. Das ist zwar nicht ganz ideal, aber im Moment sehe ich wenig andere Möglichkeiten. »Gut«, sage ich schulterzuckend. »Wahrscheinlich werd ich ihn eh kaum sehen. Ich hab ja nicht vor, die ganze Zeit im Wohnheim zu hocken.«
Lara sieht mich wieder an – immer noch verwirrt, aber auch ein bisschen skeptisch und besorgt. »Willst du wirklich ganz allein Paris erkunden?«
Ich muss kurz den Blick abwenden, denn Lara kneift jetzt die Augen genauso zusammen, wie es unser Vater immer getan hat, wenn er sich Sorgen um mich machte. Zum Beispiel dann, wenn ich nicht zugeben wollte, dass mich irgendetwas bedrückt. Ich sehe sie wieder an und hoffe, meiner Stimme ist nichts anzuhören.
»Doch. Muss ich ja.«
Lara kommt auf mich zu und nimmt mich fest in den Arm – erst zum zweiten Mal, seit ich angekommen bin. Das letzte Mal ist schon mindestens fünf Minuten her, womit sie weit unter ihrem sonstigen Durchschnitt liegt. Sie lässt wieder ein bisschen locker, hält aber immer noch meine Hände fest und sieht mich mit feuchten Augen eindringlich an.
»Mayonnaise?«, fragt sie. Als wir klein waren, hassten wir beide Mayonnaise abgrundtief und schworen uns deshalb, ein ganzes Glas davon zu essen, falls wir je eine Zusage brechen sollten. Obwohl wir längst erwachsen sind und Mayo gar nicht mehr so schlimm finden, ist es immer noch unser schwesterlicher Code für: Versprochen.
Ich nicke nur, denn diesmal würde mich meine Stimme ganz bestimmt verraten.
Henri räuspert sich und sagt etwas auf Französisch. Lara antwortet auf Englisch: »Ich weiß, ich weiß.« An mich gewandt fügt sie hinzu: »Wir müssen bald los, wenn wir unseren Zug schaffen wollen.«
Wieder nicke ich und traue meiner Stimme langsam wieder über den Weg: »Verstehe.« Noch eine kurze Umarmung, dann nehme ich meinen exakt 20 Kilo schweren Koffer und schleppe ihn aus der Wohnung.
Als ich schon an der Treppe bin, ruft mir Lara hinterher:
»Hey, Schwesterlein, vielleicht sollte Henri dir lieber deinen Koffer tragen.«
Ich will gerade sagen, dass ich es schon schaffe, als meine Muskeln nachgeben und meine Hand sich verkrampft. Ich kann nichts weiter tun als zuzusehen, wie 20 Kilo Gepäck die Treppe hinunterpurzeln.
Sacre bleu!