TOM
CLANCY
UND
GRANT BLACKWOOD
UNDER FIRE
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr
Zum Buch
Jack Ryan junior hält sich in Teheran auf, um den Iran unter seiner inzwischen gemäßigten Regierung zu erkunden. Er trifft dort einen alten Freund, der ihm eine rätselhafte Botschaft übermittelt und tags darauf spurlos verschwindet. Jack macht sich auf die Suche nach ihm und gerät immer mehr in ein Verwirrspiel zwischen CIA, MI6 und russischen Geheimdienstagenten. Die Spur führt in die Republik Dagestan. War sein Freund in die Umsturzpläne des Landes verstrickt, das sich aus der russischen Föderation lösen möchte? Und hat sich die Lage in dem Land wirklich so verschärft, dass ein Krieg unausweichlich wird?
Die Autoren
Tom Clancy hatte mit seinem ersten Thriller, Jagd auf Roter Oktober, auf Anhieb internationalen Erfolg. Der Meister des Techno-Thrillers stand seitdem mit allen seinen großen Büchern an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Tom Clancy starb im Oktober 2013.
Grant Blackwood ist ein amerikanischer Thrillerautor und diente in der United States Navy. Mit Tom Clancy hat er zuvor bereits Dead or Alive verfasst.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Under Fire
bei G.P. Putnam’s Sons, New York.
Redaktion: Werner Wahls
Copyright © 2015 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.; Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.; Jack Ryan Limited Partnerships
Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock (phiseksit,
Dmitriy Razinkov, ffly)
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-20538-6
V002
www.heyne.de
1
Teheran, Iran
Gehe sorgsam mit deiner Zeit um. Du kriegst sie nie mehr zurück.
Von allen Lektionen, die er von seinem Vater gelernt hatte, war diese bei Jack Ryan junior besonders gut hängen geblieben. Und das wollte etwas heißen, da er diesen Rat als Teenager bekommen hatte, zu einer Zeit also, wo er kaum etwas anderes als Mädchen und Football im Kopf gehabt hatte. Muss man sich bloß mal vorstellen, dachte Jack.
Jetzt gerade vertrieb er sich mit einer Runde »Beobachter beobachten« die Zeit, ein Spiel, das ihm John Clark beigebracht hatte. Jack war zum Mittagessen verabredet; seine Verabredung verspätete sich, womit er aber gerechnet hatte. Die Örtlichkeit machte das Spiel noch ein wenig interessanter: Das Chai Bar Café lag in einer ruhigen Nebenstraße von Teheran, im Garten einer renovierten historischen Stadtvilla. Die schmiedeeisernen kleinen Tische ringsum waren alle besetzt, größtenteils mit Paaren und kleinen Gruppen. Zwischen Topfpflanzen und herabhängenden Weinranken hindurch konnte er Teile einer in gedeckten Farben aufgetragenen Mauerbemalung, ein kunstvolles Blumenmuster, erkennen. Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach und warfen ein unregelmäßiges Fleckenmuster über den Garten. Der größte Teil der gedämpften Gespräche ringsum wurde arabisch oder persisch geführt, aber Jack fing auch immer wieder ein paar Brocken Französisch oder Italienisch auf.
Die Spielregeln für »Beobachter beobachten« waren recht einfach: Der Spieler befand sich im Feldeinsatz für Hendley Associates, auch Campus genannt. Er wurde beschattet. Aber von wem? Wie konnte man ein Augenpaar entdecken, das einem ein bisschen zu viel Aufmerksamkeit widmete, wenn man mit den Feinheiten des alltäglichen Umgangs der Iraner miteinander nicht vertraut war? Wie entdeckte man jemand, dessen Verhaltensweise ein bisschen vom normalen Verhalten der Umgebung abwich? Mit diesen Fragen im Kopf studierte Jack die Gesichter und die Körpersprache der anderen Gäste und versuchte zu unterscheiden, ob das Geplänkel zwischen den Paaren oder Gruppen an diesem oder jenem Tisch harmlos und normal oder eben irgendwie gekünstelt wirkte.
Nichts, dachte er, nachdem er die Situation eine Weile beobachtet hatte. Keiner der Gäste im Café löste bei ihm auch nur den geringsten Alarm aus. Im wirklichen Leben war das ein gutes Zeichen; für sein Spiel war es nicht so gut.
Wenn Hendley Associates, alias der Campus, tatsächlich das wäre, was die Firma zu sein vorgab, nämlich eine international agierende kommerzielle Finanzmaklerfirma, wäre Jacks Spiel nichts weiter gewesen als ein fantasievoller Zeitvertreib. Aber die wahren Ziele und die Mission des Campus gingen viel tiefer: Der Campus operierte in den grauesten Bereichen der Spionagewelt und der Terrorismusabwehr – ein inoffizieller Geheimdienst, der direkt dem Präsidenten der Vereinigten Staaten unterstellt war. Wenn man die CIA mit einer Bazooka vergleichen wollte, dann wäre der Campus vielleicht so etwas wie ein Stilett.
»Verzeihung, Sir. Wünschen Sie noch einen Kaffee?«
Jack blickte auf. Die Kellnerin war eine zierliche junge Frau Anfang zwanzig. Sie trug eine dunkel gerahmte Brille, und ihr Haar war vollständig von einem hellblauen Kopftuch verhüllt. Sie sprach Englisch mit schwerem Akzent.
Aber sie trug keinen Niqab. Vielleicht waren die gemäßigten Reformpläne des neuen iranischen Präsidenten Kamran Farahani doch mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Noch vor einem Jahr hätte man in einem Café wie diesem jederzeit mit einer Polizeirazzia rechnen müssen, denn die letzte Regierung hatte derartige Lokale als Brutstätten jugendlicher Subversion angesehen.
Jack blickte auf seine leere Tasse. Neben der Version von Kaffee, die hier ausgeschenkt wurde, wirkte sogar der Dark Roast im Starbucks wie ein wässriger Tee.
»Nein danke, zwei reichen mir. Mein Gast wird hoffentlich bald …«
Und wie auf ein Stichwort sah Jack über die Schulter der Kellnerin hinweg einen Mann mit wildem, schwarzem Lockenhaar in den Hof eilen, der sich suchend umblickte. Dieser Haarschopf war unverwechselbar.
»Da ist er auch schon«, sagte Jack zu der Kellnerin und winkte den Mann zu seinem Tisch. »Geben Sie uns noch ein paar Minuten, ja?«
»Selbstverständlich, Sir.«
Der Mann kam herbei; Jack schob den Stuhl zurück, dessen eiserne Füße über das Kopfsteinpflaster scharrten. Sie schüttelten sich die Hände, gefolgt von einer flüchtigen, aber herzlichen Umarmung, und setzten sich.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Jack.«
»Bin ich doch längst gewohnt. Lunch mit einem pünktlichen Seth Gregory? Nicht auszudenken.«
So war es schon auf der Highschool gewesen. Wenn ein Film am Abend um halb acht begann, musste man Seth auf 7.00 Uhr bestellen.
»Ja, ja, schon klar. Meine einzige Schwäche. Wenn man alle anderen nicht mitzählt … Wie ist der Kaffee?«
»Der Löffel bleibt drin stecken.«
»Dann wachsen dir endlich ein paar Haare auf der Brust.«
»Wie läuft’s denn so bei dir, Seth?«
»Wie geschmiert, Kumpel, wie geschmiert.«
Jack grinste. Das war schon immer Seths Standardantwort auf derartige Fragen gewesen. Übersetzung: Mir geht’s besser als die Polizei erlaubt.
»Freut mich zu hören.«
»War schon mal hier, ich weiß, was ich will. Das Ash-e Goje farangi – das ist ein Tomateneintopf mit Hackfleisch, Zwiebeln, Erbsen und Gewürzen –, einfach köstlich. Ah … immer noch kein Alkohol auf der Karte, sehe ich gerade.«
»Das dauert vielleicht noch ein bisschen. Farahani kann der alten Garde nicht zu schnell zu viel zumuten.«
Die Kellnerin kam zurück. Beide bestellten den Eintopf. »Und ein paar Barbari-Fladen«, fügte Seth hinzu. Die Kellnerin nahm ihnen die Speisekarten ab und verschwand.
Seth stützte die Ellbogen auf den Tisch und tätschelte Jacks Hand. »Na, Jack, gut siehst du aus! Hast mir gefehlt. Wie geht’s dir denn so?«
»Ging mir nie besser.«
»Echte Überraschung, dein Anruf.«
»Dachte, wir könnten mal zum Lunch gehen, wenn du nächstes Mal wieder in den Staaten bist. Ich hatte keine Ahnung, dass du dich in dieser Gegend herumtreibst.«
Seth zuckte die Achseln und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie geht’s der Familie? Olivia? Und El Presidente … Il Duce?«
»Allen geht’s gut.«
Jack musste unwillkürlich lächeln, nicht nur, weil Seth zu den wenigen Leuten gehörte, die Sally bei ihrem richtigen Namen nannten, oder weil er sich beharrlich weigerte, den korrekten Titel von Jacks Vater in den Mund zu nehmen, sondern weil die hektische und fast überschäumende Nachfrage typisch für Seth war. Sein Freund war nicht nur die Verkörperung eines geselligen Menschen, sondern litt auch an ADHS – wobei die Betonung auf dem zweiten Teil der Bezeichnung lag, der Hyperaktivitätsstörung. Die Störung hatte Seth in der Schule große Schwierigkeiten bereitet; Jack war so etwas wie sein inoffizieller Nachhilfelehrer gewesen.
Schon immer hatte Jack unter Seths geselliger Oberfläche eine latente Traurigkeit wahrgenommen. Obwohl er ihn seit ihrer gemeinsamen Zeit an der St. Matthew’s Academy kannte, hatte Jack immer gespürt, dass es etwas an Seth gab, was er nicht nur vor aller Welt, sondern sogar vor Jack verborgen hielt. Jack selbst hatte in St. Matthew’s nur wenige Freunde gefunden, denn die meisten seiner Kameraden gingen ihm aus dem Weg – entweder, weil sie ihn für den arroganten, verwöhnten Sprössling des damaligen CIA-Großkopfs Jack Ryan hielten, oder weil sie sich von den angeblich vornehmen Kreisen abschrecken ließen, in denen der »Spion-Sohn« verkehrte. Natürlich stimmte keines der beiden Szenarios, und Jack hatte sich während des ersten Jahrs in St. Matthew’s große Mühe gegeben, das auch zu beweisen, aber es hatte nicht viel genutzt. Nur Seth hatte Jack so akzeptiert, wie er war – ein schlaksiger Teenager, der wie alle anderen einfach nur seinen Weg ins Leben suchte. Wenn er sich jetzt an diese Zeit zurückerinnerte, war sich Jack bewusst, dass Seth ihn davor bewahrt hatte, sich in sich selbst zurückzuziehen und damit zu isolieren. Seth war es scheißegal, wer Jacks Vater war, wo er wohnte oder ob er bei großartigen Staatsbanketten neben den Kindern ausländischer Könige oder Staatsoberhäupter saß. Tatsächlich hatte Seth nach solchen Gelegenheiten meist nur wissen wollen, ob auch ein paar superscharfe Girls dabei gewesen waren, die Jack angebaggert und anschließend in einem supergeheimen Raum im CIA-Gebäude in Langley vernascht hatten.
Jack hatte immer bedauert, dass er Seth nie gesagt hatte, wie viel ihm diese Freundschaft bedeutete. Vielleicht ergab sich jetzt eine Gelegenheit dazu. Aber bevor er auch nur nach den richtigen Worten suchen konnte, machte Seth mit seiner Schnellfeuer-Befragung weiter. Manchmal fühlte sich Jack bei den Gesprächen mit Seth wie im Auge eines Tornados.
»Was geht bei Olivia ab?«
»Sally?« Jack lächelte. »Das weißt du noch gar nicht? Sie ist Astronautin geworden.«
»Was? Sehr witzig, Jack. Immer noch der alte Scherzkeks, der allen auf den Keks geht, wie?«
Jack lachte. »Mann, sagst du das immer noch? Einer deiner ältesten Sprüche, war nicht mal komisch, als wir noch fünfzehn waren.«
»Im Gegenteil, er war so was von komisch, du willst es nur nicht zugeben. Also: Sally?«
»Hat gerade ihre Zeit als Assistenzärztin im Johns Hopkins hinter sich.«
»Versagerin, deine Schwester. Und du? Immer noch bei dieser Firma … diesen Finanzhaien?«
»Hendley Associates, ja.«
»Genau. Und scheffelst tonnenweise Kohle?«
»Geht so«, antwortete Jack. Aber die wahre Antwort hätte ja lauten müssen. Zwar dienten die Investment- und Finanzmakler-Aktivitäten von Hendley Associates nur als Tarnung für den Campus, aber Jack und seine Kollegen agierten dennoch auch real auf den globalen Finanzmärkten und hatten tatsächlich Hunderte Millionen Dollar gemacht. Nur ein kleiner Bruchteil des Gewinns wurde für ihre Gehälter verwendet; der Rest diente der Finanzierung der verdeckt operierenden geheimdienstlichen Organisation.
Seth war noch nicht fertig. »Und wie geht’s …«
Jack lachte und hob abwehrend die Hände. »Das reicht, Seth. Du kannst einen wirklich fertigmachen. Jetzt bist du dran, erzähl mir mal ein bisschen von dir selbst.«
»Bin immer noch im Consultinggeschäft. Seit achtzehn Monaten hat mich Shell unter Vertrag. Bis vor acht Monaten war ich in Baku stationiert, dann schickten sie mich hierher.«
Nach der Highschool hatte sich Seth ein Gus-Archie-Stipendium für ein Studium an der Fakultät für Ingenieurwissenschaft der Universität Illinois in Urbana-Champaign verschaffen können. Und jetzt setzte er, offenbar mit Erfolg, seine Ausbildung in Big Money um.
»Gefällt mir eigentlich ganz gut hier in Teheran. Zu meinem Apartment sind es von hier aus nur ungefähr fünfzehn Minuten zu Fuß. Super-Wohnung.«
»Worauf bist du spezialisiert?«
»Ich habe größtenteils mit Ölförderanlagen und Raffinerien zu tun. Netter Job. Die meiste Zeit verbringe ich in Zentralasien.«
»Brenzlige Gegend«, kommentierte Jack. Vor allem die beiden »Stans«, aus denen der Emir, alias Saif Rahman Yasin, stammte, dachte Jack.
Dass er mit dazu beitragen konnte, diesen Hundesohn zu schnappen, hatte ihm nicht nur immense Befriedigung verschafft, sondern war auch Jacks erster Ausflug in die Welt der Feldoperationen gewesen.
Seth fuhr fort: »Wir erhalten ein gutes Training und jede Menge Sicherheitsleistungen, wenn wir sie brauchen – Blackwater-Typen, die meisten waren früher bei den Special Forces. Nette Burschen. Würde sie aber nicht gern auf dem falschen Fuß erwischen.«
Das würde wohl kein Schurke, der jemals Besuch von den Navy SEALs oder der Army Delta Force erhalten hat, dachte Jack.
»Na, wie ist es, kannst du einem alten Freund nicht ein paar Tipps für eine clevere Investition geben?«, fragte Jack.
»Nein«, gab Seth zurück. »Du würdest sie sowieso nicht befolgen, wie ich dich kenne. Du drehst keine krummen Dinger, Jack, und das weißt du auch.«
Jack zuckte die Achseln. »Das mag wohl stimmen. Außerdem habe ich einen gesunden Respekt vor unserer Börsenaufsicht.«
Die Kellnerin brachte die Gerichte; eine Weile aßen sie schweigend. Jack hielt sich dabei an Seths Anweisungen – kleine Stücke Barbari-Fladen wurden in den Eintopf getunkt und dann gegessen. Es schmeckte köstlich und war sehr sättigend.
»Hat mir sehr leidgetan, als ich von deinem Vater gehört habe«, sagte Jack.
»Ja. Ich hab deine Beileidskarte bekommen, danke. Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich benachrichtigt habe.«
»Wie wird deine Mutter damit fertig?«
»Ist ja jetzt schon drei Jahre her. Aber wenn man sie sieht, könnte man denken, er sei erst letzte Woche gestorben.«
»Verständlich.« Seths Vater Paul war unerwartet an einem Schlaganfall gestorben. Seths Mutter hatte ihn tot in seinem Arbeitszimmer aufgefunden; anscheinend hatte sie sich noch immer nicht von dem Schock erholt.
»Ja, Mann, ich habe keine Ahnung, wie ich ihr helfen kann«, gestand Seth bedrückt. »Meine Schwester Bethany – du erinnerst dich noch an sie? – wohnt in Georgia, nur eine Autostunde Richtung Norden. Sie hat Mutter zum Arzt gebracht, der ihr dann irgendein Medikament verschrieb – Lamictal heißt es, glaube ich.«
»Hm.« Jack nickte. »Wird gegen Stimmungsschwankungen und depressive Störungen eingesetzt.« Er hatte eigentlich erwartet, dass Seth in seiner sprunghaften Art das Thema wechseln würde, und war daher überrascht, dass sein Freund so bereitwillig von diesen eher familiären Angelegenheiten erzählte. »Wie lange nimmt sie es schon?«
»Seit ein paar Wochen.«
»Na, dann wird es wohl bald zu wirken anfangen.«
Seth grinste. »Hat schon sein Gutes, zwei Ärztinnen in der Familie zu haben, stimmt’s?«
»Jep. Wissens-Osmose, nehme ich an.«
Seth tunkte ein Fladenstück in den Tomateneintopf und schob es in den Mund. »Hm … Und was führt dich nach Teheran?«
»Markterkundung. Die iranischen Märkte öffnen sich allmählich wieder. Wenn Farahani seinen Reformkurs beibehält, wird es hier bald einen Riesenboom geben. Und Hendley will darauf vorbereitet sein.«
Das stimmte zwar und war teilweise auch der Grund für Jacks Iranreise, dennoch war er hauptsächlich hier, um geheimdienstliche Informationen zu sammeln. Zwar bekam man auch einen guten Einblick, indem man die vielen neuen Medienkanäle durchforstete, die wie Pilze aus dem Boden schossen, aber es gab dennoch keinen Ersatz für das, was John Clark, Hendleys neu ernannter Operationsleiter, »Mark One Eyeball Inspection« nannte. Das sei ein Navy-Begriff, hatte Clark erklärt: »Selbst sehen, Fußarbeit auf der Straße, mit Leuten reden. Immer noch das beste Werkzeug im Arsenal des Spions.« Bisher hatte Jack nichts in Erfahrung gebracht, das darauf hindeutete, dass der neue Präsident etwas anderes war, als er zu sein vorgab – der erste wirklich gemäßigte Präsident, der seit der Revolution von 1979 ins Amt gekommen war. Aber über die Frage, wie lange er durchhalten würde, konnte man nur spekulieren.
Jack wollte auch Seths Meinung hören. »Du bist schon eine Weile hier im Land. Wie ist deine Einschätzung?«
»Himmel, Jack, ich hab keine Ahnung. Ich kam nach der Wahl zum ersten Mal in den Iran. Aber eins kann ich dir sagen: Alle waren immer sehr höflich zu mir. Die alten Graubärte schauen mich manchmal ein wenig böse an, aber das war’s auch schon. Niemand hat mich bisher ›imperialistischen Satan‹ genannt, wenn dir das was sagt.«
Sagt mir was, dachte Jack. Ajatollah Khomeini hatte die Vereinigten Staaten einmal als »Großen Satan« bezeichnet. Bevor der jetzige Präsident Farahani an die Macht kam, hätte sich ein »Betreuer« an Seth angehängt, sobald er sich nur auf die Straße wagte. Und das wäre sogar noch das Best-Case-Szenario gewesen. Aber man hörte auch keine Berichte mehr über Polizeischikane gegenüber der Bevölkerung im Stil der SAVAK, der gefürchteten Geheimpolizei des Schahs. Dass Seth – ausgerechnet ein Amerikaner! – unbehelligt auf die Straße gehen konnte, war ein Zeichen, dass das iranische Volk bei Farahanis Reformen mitzog.
Wunder über Wunder, dachte Jack.
Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde, tranken dabei ein halbes Dutzend Tassen Pfefferminztee, der aus einem silbernen Samowar von der Größe einer Regentonne stammte, bis Seth schließlich auf die Uhr blickte. »Verdammt. Ich muss los, Jack, sorry.«
Er stand auf. Auch Jack erhob sich und streckte ihm die Hand hin. Seth schüttelte sie herzlich und tat dabei etwas, was er höchst selten tat: Er hielt Jacks Blick fest. »Hat wirklich gutgetan, dich wiederzusehen, Kumpel. Und das meine ich aufrichtig.«
»Ja, fand ich auch, Seth.« Jack zögerte. »Ist alles okay bei dir?«
»Ja, sicher, warum fragst du? Hör mal, mein Apartment ist nur ungefähr eine Viertelstunde von hier entfernt.« Seth nannte ihm die Adresse. »Liegt direkt am Niavaran-Park. Wenn du wieder mal nach Teheran kommst und ein Bett brauchst, kannst du es gern benutzen. Nimm einfach den Schlüssel. Im Tiefkühlfach findest du Steaks.«
»Danke, Mann, das ist wirklich …«
»Gute Reise, Jack.«
Seth wandte sich abrupt um und verschwand durch den von Weinreben überwachsenen Torbogen. Eine junge, attraktive Frau, die hinter dem Torbogen gestanden hatte, konnte nur knapp zurückweichen, aber Seth schien sie nicht einmal zu bemerken.
Welcher Schlüssel, wunderte sich Jack. Er setzte sich wieder und griff nach der Tasse. Direkt daneben lag ein Schlüssel aus Bronze.
»Was zum Teufel war das denn?«, murmelte er verblüfft vor sich hin.
Edinburgh, Schottland
Um den Job vorzubereiten, hielt sich Helen schon seit ein paar Tagen in Schottland auf, im Gegensatz zu den drei anderen Mitgliedern ihres Teams, die gerade erst eingetroffen waren. Sie hatte sich daher schon ein wenig an den dichten Verkehr gewöhnt, der hier herrschte. Lichter blinkten überall, und lautes Stimmengewirr drang durch die halb geöffneten Fenster des Wagens.
Jegor bremste scharf ab, als ein junges Paar, offensichtlich betrunken, direkt vor dem Ford Transit auf die Straße taumelte. Der Wagen neigte sich tief nach vorn und kam heftig schaukelnd gerade noch rechtzeitig zum Stillstand. Die Frau zeigte Jegor beide Mittelfinger und schrie: »Wanker!«
Helen sah, wie wütend Jegor war, aber er biss die Zähne zusammen und gab keine Antwort, sondern wartete, bis die beiden auf der anderen Straßenseite waren. Dann fuhr er langsam weiter. Auf beiden Seiten schlurften oder taumelten ähnlich betrunkene Jugendliche die Gehwege entlang. Auf Helens Seite flog die Tür eines Pubs auf; eine Gruppe von Betrunkenen drängelte auf den Gehweg hinaus, begleitet von laut pulsierender Tanzmusik.
»Was ist ein Wanker?«, fragte Jegor, der die sprachlichen Feinheiten der britischen Gosse noch nicht kannte.
Helen unterdrückte ein Grinsen. Jemand, der dringend eine Freundin braucht, dachte sie. Laut sagte sie: »Erklär ich dir ein anderes Mal.«
»Das ist der reine Wahnsinn hier. Was sind diese … Läden?«
»Pubs und Bars«, antwortete Helen.
»Alle?«
»Viele. Aber das ist nur in diesem Bezirk so. Wir sind hier in der Rose Street. Bei den Studenten die beliebteste Pub-Straße.«
»Dann sind die Leute hier Studenten von der Universität?«
»Die meisten.«
»Wie können sie dann am Morgen wieder weitermachen?«, fragte Jegor. »Müssen sie nicht zu Vorlesungen und Seminaren und so?«
Helen musste lächeln. Jegor war ein Pragmatiker; dass das Verhalten der Studenten unmoralisch war, interessierte ihn weniger als die Frage, ob sie trotz des Alkoholkonsums ihr Studium ordnungsgemäß fortsetzen konnten.
»Kaffee, nehme ich an, und andere Aufputschmittel«, meinte sie mit einem Achselzucken.
Roma und Olik, die beiden anderen Teammitglieder auf dem Rücksitz, pressten die Gesichter fest gegen die Seitenfenster und starrten mit großen Augen in die für sie fremde Welt hinaus. Dort, wo sie herkamen, würde man ins Gefängnis wandern, wenn man sich in der Öffentlichkeit so aufführte. Oder noch härter bestraft werden.
Roma und Olik waren in einer sehr beschützten Umgebung aufgewachsen, dachte Helen, aber natürlich waren sie Männer. Ihr Staunen war vermutlich zum größten Teil dem Meer von nackter weiblicher Haut zuzuschreiben, das vor ihren Augen vorbeiwogte. Ganz zu schweigen von den Intimitäten, die viele Paare mitten auf der Straße austauschten. Knutschen nannte man das wohl. Zu Hause bekam man solche Vertraulichkeiten niemals zu sehen; sie fanden grundsätzlich nur im Schlafzimmer eines Ehepaares statt.
Olik beugte sich über die Mittelkonsole zwischen den Vordersitzen und fragte: »Hast du nicht gesagt, dass das eine wichtige Schule ist?«
»Es ist eine der angesehensten Universitäten der Welt«, antwortete Helen.
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. »Wie kommt man da rein?«
Helen lachte. Jegor sagte grinsend: »Krieg dich nur wieder ein, Olik.«
Aber Roma murrte. »Huren, nichts als Huren. Jede Einzelne. Sie gehören ausgepeitscht.«
Romas Kommentar überraschte Helen nicht. Von den drei Männern in Helens Team war Roma der Einzige, der Probleme damit hatte, sich ihrer Führung unterzuordnen. Roma war erst in letzter Sekunde ins Team gekommen, sie hielt ihn für einen fanatischen Eiferer. Aber der Job hier musste ohne Leidenschaft erledigt werden, und das war es, was Roma nicht begriff. Sie beschloss, den Mann immer im Auge zu behalten; früher oder später würde sie ihn in die Schranken weisen müssen.
Sie fuhren noch ein paar Augenblicke weiter und bogen dann in die Castle Street ein. Hier waren vereinzelt Cafés zu finden, die großen Kaffeehausketten angehörten und sich eher an ein stilleres Publikum richteten, das dem »Fleischmarkt« nichts abgewinnen konnte, wie Helen wusste. Ist Fleischmarkt jetzt der richtige Ausdruck, fragte sie sich. Sie nahm sich vor, das Wort nachzuschlagen. Sie musste unter allen Umständen vermeiden aufzufallen, nur weil sie solche Wörter nicht kannte.
»Mein Kontakt sagt, ihr Lieblingspub sei The Little Stable«, sagte sie.
»Stable – wie ein Stall für Pferde?«, fragte Olik.
»Eher wie ein Stall für Studenten«, antwortete Helen. »Das ist es, Jegor, das Lokal dort vorne links.«
»Schon gesehen. Olik, Roma, schaut genau hin, ob ihr Auto irgendwo geparkt ist. Ein roter Mini Cooper mit weißen Streifen auf der Motorhaube.«
»Wie kann sie sich so ein Auto leisten?«, wollte Roma wissen.
Ein Geschenk von Daddy, dachte Helen, behielt es aber für sich. »Das braucht uns nicht zu interessieren. Haltet einfach die Augen offen.«
Jegor fuhr langsamer. Kurz darauf begann hinter dem Transit ein ungeduldiges Hupkonzert.
»Fahr ein bisschen schneller, Jegor«, befahl Helen.
Er drückte stärker auf das Gaspedal, aber nicht sehr. Auf keinen Fall durften sie jetzt in eine Polizeikontrolle geraten.
»Langsam … ich glaube, wir sind gerade an ihrem Auto vorbeigefahren«, meldete Olik ein paar Sekunden später. »Steht auf der rechten Seite.«
Helen blickte in den Seitenspiegel. »Ja, das ist es. Fahr weiter, Jegor.«
Jegor gab Gas und bog in die Frederick Street ein, wo er eine Parkbucht fand. Er schob die Automatik in Parkposition, schaltete den Motor aus und warf einen Blick auf die Uhr. »Und was jetzt?«
»Jetzt warten wir«, antwortete Helen.
Jetzt kommt der Job endlich ins Rollen.
2
Parsian Azadi Hotel, Teheran
Jack schreckte aus dem Schlaf hoch und setzte sich aufrecht. Nur jemand an der Tür, Jack, entspann dich. Sosehr ihm die Feldeinsätze zusagten, vor allem die Momente, in denen der Adrenalinspiegel in die Höhe schoss, so sehr hasste er es, dass dabei das Unterbewusstsein ständig in Alarmbereitschaft war und beim geringsten Anlass von null auf hundert schoss.
Er atmete tief aus, rollte die Schultern, massierte den Nacken. Mit Hotelkissen stand er meistens auf dem Kriegsfuß.
Es klopfte noch einmal, ein höfliches, aber beharrliches Klopfen. Jack blickte zur Uhr auf dem Nachttisch: 6.00 Uhr morgens. Er rollte sich aus dem Bett, warf den Bademantel über und ging zur Tür.
»Wer ist da?«
Keine Antwort, aber erneutes Klopfen.
»Wer ist da?«, wiederholte er, ein wenig lauter. Es gab keinen Türspion. War das nicht Sicherheitsvorschrift? Zumindest in den Staaten war es das, oder nicht?
»Mr. Jack Ryan?« Eine Männerstimme, dem Akzent nach Engländer.
Jack gab keine Antwort.
»Mr. Ryan, mein Name ist Raymond Wellesley. Kann ich Sie kurz sprechen? Dauert nur ein paar Minuten.«
»Worum geht’s, Mr. Wellesley?«
»Um Ihren Freund Seth Gregory.«
Das ließ Jack aufhorchen.
Wellesley fuhr fort: »Wir sollten die Angelegenheit besser unter vier Augen besprechen.«
Entspann dich, Jack. Wenn es irgendwie zufällig über Nacht einen Staatsstreich gegeben hätte, könnten die Typen vor der Tür durchaus zur SAVAK gehören – wenn der gefürchtete Geheimdienst des Schahs plötzlich wieder aus der Versenkung aufgetaucht wäre. In diesem Fall wäre er ohnehin geliefert, ob er nun die Tür öffnete oder nicht. Aber solche Besucher hätten wohl nicht so höflich angeklopft.
Jack schob den Sicherheitsriegel zurück und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein mittelgroßer Mann mittleren Alters mit braunem, schütterem Haar. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, dunkelblau, britischer Schnitt. Savile Row, schätzte Jack.
»Mr. Jack Ryan, richtig?«
»Ja. Kommen Sie rein.«
Wellesley trat ein und schlenderte durch Jacks Suite zur Sitzlandschaft vor der Balkonfensterfront. Vorsichtig ließ er sich in einen Clubsessel sinken und blickte sich kritisch um, als wollte er die Sauberkeit des Zimmers begutachten.
Jack schloss die Tür, blieb aber vor der Sitzgruppe stehen.
»Bitte verzeihen Sie die frühe Störung«, sagte Wellesley. »Aber die Sache ist ziemlich dringend, fürchte ich. Ach so, tut mir leid … vielleicht sollte ich mich erst mal ausweisen?«
»Ja, das sollten Sie«, sagte Jack. Irgendetwas sagte ihm, dass Wellesley ihm eine nichtssagende Visitenkarte übergeben würde.
Er täuschte sich nicht. Auf der Karte stand:
RAYMOND L. WELLESLEY
FOREIGN & COMMONWEALTH OFFICE
KING CHARLES STREET
LONDON SW 1A 2AH
UNITED KINGDOM
RLW@FCO.GOV.UK
+44 20 7946 0690
Zwar sollte die britische Botschaft in Teheran erst in einigen Monaten wiedereröffnet werden, aber Jack hatte ohnehin nicht den Eindruck, dass ihm Wellesley seine Adresse in Teheran verraten würde. Die Visitenkarte sagte Jack daher rein gar nichts; sie bestärkte ihn nur in der Vermutung, dass der Mann wahrscheinlich kein Mitarbeiter des FCO war.
Jack schob die Karte in die Tasche des Bademantels. »Sie erwähnten Seth Gregory. Ist alles okay mit ihm?«
»Seltsames Wort, okay. Lässt jede denkbare Interpretation zu, nicht wahr?«
Wellesleys Akzent war nicht einfach nur britisch, wie Jack jetzt erkannte, sondern das, was er für Received Pronunciation hielt – die britische Standardsprache, oft auch BBC-Englisch genannt. Keine regionale Zuordnung möglich, vollkommen neutral. Ein Akzent, den Jack während der ersten Amtszeit seines Vaters bei unzähligen Begegnungen mit britischen Diplomaten im Weißen Haus kennengelernt hatte. BBC-Englisch war auch der Standardakzent unter höherrangigen Personen im Secret Intelligence Service, dem SIS, eine »Old Boy«-Tradition, die unter früheren Schülern teurer Internate gepflegt wurde und sich seit dem Ersten Weltkrieg nicht groß verändert hatte.
Wellesley fuhr fort: »Ob bei Mr. Gregory alles ›okay‹ ist? Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie mir das sagen könnten.«
Jack spürte, dass sein Herzschlag kurz aussetzte. Was zum Henker soll das heißen?
Laut sagte er: »Beantworten Sie doch erst einmal meine Frage, Mr. Wellesley.«
»Soweit wir wissen, ist Ihr Freund am Leben und es geht ihm gut. Sie haben sich gestern zum Lunch mit ihm getroffen, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Worüber haben Sie beim Lunch gesprochen?«
»Wie sehr ich mich über einen Besuch vom FCO im Morgengrauen freuen würde. Und schon sind Sie da.«
»Ich empfehle Ihnen, meine Frage ernst zu nehmen, Mr. Ryan. Wir betrachten dies als höfliches Entgegenkommen, das wir nicht jedem gewähren würden.«
Die Botschaft war klar, oder jedenfalls glaubte Jack zu wissen, wie sie gemeint war: Wenn er nicht der Jack Ryan wäre, würde dieses Gespräch vermutlich weniger herzlich verlaufen.
Jack ging um einen Clubsessel herum und setzte sich Wellesley gegenüber.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte er.
»Nein danke, ich kann nicht lange bleiben.«
»Mr. Wellesley, Seth ist ein Freund von mir. Wir kennen uns seit der Highschool. Ich bin geschäftlich hier und habe mich mit ihm zum Lunch verabredet. Ein bisschen plaudern, uns auf den neuesten Stand bringen.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Familie, alte Zeiten, Irans neue Regierung und ein bisschen über die Arbeit.«
»Was macht er beruflich?«
»Er ist Ingenieur bei Shell.«
»Das hat er Ihnen erzählt?«
»Ja, das ist es, was er mir gesagt hat. Haben Sie einen Grund, etwas anderes zu vermuten?«
»Darüber kann ich nicht sprechen.«
»Warum suchen Sie nach ihm?«
»Auch darüber darf ich nichts sagen. Aber wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns helfen würden, ihn zu finden.«
»Aufrichtigkeit wäre mir lieber als Dankbarkeit«, sagte Jack kühl. »Geben Sie mir eine bessere Vorstellung davon, was hier eigentlich vorgeht, dann schaue ich, was ich tun kann.«
Raymond Wellesley schürzte nachdenklich die Lippen und starrte ein paar Sekunden lang ins Leere. »Na gut. Aber nicht hier. Hätten Sie heute Nachmittag Zeit?«
Will er damit andeuten, dass mein Zimmer verwanzt ist?, fragte sich Jack. Das kam ihm unwahrscheinlich vor, aber das hieß nicht viel: Er hatte schon frühzeitig gelernt, das Mögliche nicht mit dem Wahrscheinlichen zu verwechseln.
»Das kann ich einrichten.«
Wellesley stand auf und zog eine weitere Visitenkarte aus der Brusttasche des Jacketts. Mit einem silbernen Kugelschreiber schrieb er etwas auf die Rückseite der Karte und reichte sie Jack.
»Wir treffen uns dort um vierzehn Uhr.«
Wie ihm Ding Chavez, Hendleys Leitender Außenagent, unermüdlich eingetrichtert hatte, kam Jack eine Stunde früher an der angegebenen Adresse an. Er stieg aus dem Taxi und machte sich mit der näheren Umgebung vertraut. Man musste immer vorher eine Exit-Strategie auskundschaften – oder, um in Dings Jargon zu sprechen, den er von den Special Forces mitgebracht hatte, einen GTFO – Get the Fuck Out.
Er befand sich hier im vornehmen Zaferānieh-Bezirk im Norden Teherans. Jack hatte sich im Internet über den Stadtteil informiert; demnach wohnten hier vor allem reiche Iraner und Millionäre aus dem Ausland. Alleebäume säumten die Straßen, hinter den Gehwegen reihten sich die Fassaden von Apartmenthäusern im Pahlavi-Stil, der sich in den Sechzigerjahren verbreitet hatte, eine Mischung aus traditionellen persischen und modernen europäischen Elementen.
Es hatte leicht zu regnen begonnen, und Jack war froh, dass er dem Rat der Concierge im Hotel gefolgt war und einen Schirm mitgenommen hatte. Die meisten der wenigen Passanten waren Europäer in lässigen Sportjacken und -hosen, die ihm höflich-nichtssagend zulächelten. Die Einheimischen waren beiderlei Geschlechts; die Frauen trugen keine Kopftücher, manche Männer nickten ihm einfach nur zu. Niemand lächelte; sie verhielten sich weder freundlich noch unfreundlich. Ein gutes Zeichen, fand Jack. Er hatte seine Kleidung absichtlich so gewählt, dass er nicht auffiel.
Zehn Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt ging er zur Adresse zurück, ein Apartmenthaus mit Granitsäulen an der Straßenseite und sauber getrimmten Hecken. Er stieg die Stufen zum fliesenbelegten Eingangsfoyer hinauf und entdeckte dort eine Gegensprechanlage. Nachdem er auf den mit VII gekennzeichneten Knopf gedrückt hatte, meldete sich eine Stimme: »Kommen Sie herauf, Mr. Ryan.«
War das nur gut geraten oder Weitblick, dachte Jack. Nehmen wir mal an, es war Weitblick.
Die innere Tür des Foyers summte leise. Jack schob sie auf und folgte einem Teppichläufer zum Lift, einem altmodischen Fahrstuhl mit Schiebegitter, der ihn zum siebten Stock hinaufbrachte. Als er die Kabinentür öffnete, ging direkt gegenüber eine Wohnungstür auf.
Raymond Wellesley stand im Türrahmen. »Den Pünktlichen belohnt das Leben«, sagte er. »Ganz nach meinem Geschmack. Kommen Sie rein.«
Jack folgte Wellesley in den kurzen Flur, der in ein geräumiges Wohnzimmer führte. Hätte Jack den Raum beschreiben müssen, wäre ihm nur das Wort »grau« eingefallen: die gesamte Möblierung und Dekoration waren weder britisch noch persisch, weder völlig farblos noch lebhaft. Die perfekte sichere Wohnung, die man sofort wieder vergessen würde, wahrscheinlich samt Möbeln gemietet, dachte Jack.
Er blieb an der Tür stehen und blickte sich um. Links führten zwei weitere Flure ab, vermutlich zu den Schlafzimmern, rechts befand sich eine Nische mit einer Minibar. Vor den Fenstern standen eine Couch und zwei Ohrensessel, daneben stand ein zweiter Mann. Er war mittelgroß, hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar und einen Vollbart. Sein Gesicht war tief gebräunt, als würde er mehr Zeit im Freien als in einem Büro verbringen.
Wellesley stellte ihn vor. »Jack, ich darf Sie mit Matthew Spellman bekannt machen.«
Spellman kam um die Couch herum und streckte Jack die Hand entgegen. »Matt genügt.«
»Jack Ryan.«
»Kaffee, Mr. Ryan?«, fragte Wellesley.
»Gern, danke.«
Sie setzten sich. Jack wählte einen der Ohrensessel, Spellman setzte sich auf die Couch gegenüber. Wellesley goss Jack eine Tasse Kaffee aus einer Kanne ein, die auf dem niedrigen Couchtisch zwischen ihnen stand, und setzte sich dann neben Spellman auf die Couch.
Jack hob die Tasse zu einer Art Toast. »Auf die anglo-amerikanische Zusammenarbeit.«
»Hoffen wir’s«, antwortete Wellesley.
Schon beim ersten Zusammentreffen hatte Jack vermutet, dass Wellesley zum SIS gehörte, dem britischen Secret Intelligence Service; in Spellman vermutete er jedoch einen CIA-Agenten. Was immer Seth getan hatte, er hatte es jedenfalls geschafft, die Aufmerksamkeit – oder gar den Verdacht – zweier mächtiger Geheimdienste zu erregen. Jack wäre nur allzu gern ein wenig härter aufgetreten, um Antworten auf seine Fragen zu fordern, wusste aber, dass ihm das nicht viel bringen würde; noch nicht. Außerdem würde er durch aggressives Verhalten ihr Interesse an ihm nur noch weiter anstacheln. Es war wohl besser, sich vorerst der Vorgehensweise seiner Gastgeber anzupassen.
»Um Missverständnisse auszuräumen«, begann Spellman. »Wir wissen, wer Sie sind.«
»Und wer bin ich?«
»Der Sohn von Präsident Ryan.«
»Spielt das denn hier eine Rolle?«
»Bitte, Mr. Ryan«, sagte Wellesley. »Wir sind keine Gangster. Weshalb sind Sie hier im Iran?«
»Markterkundung. Ich arbeite für Hendley Associates. Wir bieten …«
»Wir wissen, was Hendley macht. Also noch mal: Warum sind Sie hier im Iran?«
»Das hab ich Ihnen doch gesagt! Markterkundung. Präsident Farahanis gemäßigte Politik könnte das Land für ausländische Investoren interessant machen. Und wenn das eintritt, wollen wir einen Schritt voraus sein.«
»Klingt vernünftig. Verdammt, vielleicht sollte ich mir von Ihnen ein paar Anlagetipps geben lassen«, sagte Spellman lachend.
»Wie lange planen Sie in Teheran zu bleiben?« Jetzt war wieder Wellesley dran.
Guter Cop, böser Cop, dachte Jack. Hollywood hatte daraus zwar ein reichlich abgegriffenes Klischee gemacht, aber es war trotzdem eine erprobte und erfolgreiche Technik. Spellman und Wellesley führten ihm eine abgemilderte Version vor – der leutselige Cop und der leicht gereizte britische Bobby.
»Ist noch offen«, antwortete er.
»Wie gut kennen Sie Seth Gregory?«, fuhr Wellesley fort.
»Wir sind gute Freunde, schon seit der Highschool.«
»Wann hatten Sie zuletzt Kontakt?«, fragte Spellman.
Sie pflügen absichtlich das gepflügte Feld noch mal um, dachte Jack. »Gestern, beim Lunch. Aber das wissen Sie bereits.«
Wellesley schüttelte leicht den Kopf. »Davor, meint er.«
Die Befragung ging noch zehn Minuten so weiter. Wellesley wollte immer mehr über die Art der Beziehung zwischen Jack und Seth wissen. Er spielte gewissermaßen von einer Grundlinie aus und suchte immer wieder nach widersprüchlichen oder nicht stimmigen Antworten. Spellman hingegen schwieg meistens, von ein paar humorvollen Bemerkungen abgesehen, die er nur ins Gespräch warf, um Jack bei Laune zu halten. Ansonsten nippte er seinen Kaffee und studierte Jacks Gesicht.
Schließlich fragte er: »Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
»Waren Sie schon in seinem Apartment?«
»Natürlich«, antwortete Wellesley. »Sie auch?«
»Ich weiß nicht mal, wo es ist.«
»Pardis Condos, in der Nähe des Niayesh Expressway.«
Jacks Erinnerung an den Stadtplan Teherans war noch recht lückenhaft. Trotzdem war ihm klar, dass die Niayesh-Stadtautobahn meilenweit vom Niavaran-Park entfernt war, wo sich, wie Seth behauptet hatte, sein Apartment befand. Was zum Teufel ging hier vor?
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, ich war noch nie dort.«
»Aber ich, nach unserem Gespräch heute Morgen«, sagte Wellesley. »Er ist nicht dort. Tatsächlich sieht es so aus, als wäre er schon seit einiger Zeit nicht mehr dort gewesen.«
»Er ist beruflich viel unterwegs.«
»Auch das wissen wir«, sagte Wellesley, jetzt in leicht gereiztem Ton.
Seine Verärgerung kam Jack echt vor. Vielleicht war das ein Punkt, an dem Jack später den Hebel ansetzen konnte.
»Haben Sie sich gestern mit ihm auch über seine Arbeit unterhalten?«, fragte Spellman.
»Nur beiläufig. Er arbeitet für Shell.«
Jack beobachtete ihre Gesichter genau, aber beide schauten nur ausdruckslos zurück. Schließlich sagte er: »Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie von mir hören wollen. Sie beide wissen offenbar viel mehr als ich über das, was mit Seth los ist. Wollen Sie mir nicht endlich erklären, was hier vor sich geht? Geben Sie mir wenigstens einen Hinweis!«
Wellesley stieß einen langen Seufzer aus. Spellman stellte die Tasse auf den Couchtisch und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet. »Wir glauben, dass sich Seth in Schwierigkeiten manövriert hat. Wir wollen ihm helfen.«
»Hören Sie, ich weiß nicht mal, wer Sie sind, aber ich habe genug von John le Carré gelesen, um mir ein paar Dinge zusammenreimen zu können. Sie müssen mir nicht all ihre Geheimnisse verraten, aber wenn Seth in Schwierigkeiten steckt, muss ich wissen, was los ist.«
»Nein, müssen Sie nicht«, antwortete Wellesley. »Ich schlage vor, Sie …«
Spellman hob die Hand und schnitt damit seinem Kollegen das Wort ab. »Warte mal einen Moment, Raymond. Okay, Jack, das ist nur fair. Ich hänge mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster. Aber schlagen Sie mir nicht den Kopf ab, okay? Ich habe Frau und Kinder.« Er grinste Jack ein bisschen einfältig an.
Jack stellte fest, dass er Spellman bis zu einem gewissen Grad mochte – was dieser vermutlich beabsichtigt hatte.
»Ich versuche mich zu beherrschen, Matt.«
»Wir haben seit ungefähr einem Jahr eine Operation laufen. Seth hat sie für uns geleitet, aber sie hat nichts mit dem Iran zu tun. Es geht um etwas anderes. Nachdem Sie sich mit ihm getroffen hatten, waren wir hier mit ihm verabredet. Er sollte uns über die neuesten Entwicklungen informieren. Als er nicht auftauchte, checkten wir sein Apartment. Dort hat er sich seit einiger Zeit nicht mehr blicken lassen. Der Hausmeister sagte, er habe schon seit fast einem Monat Seths Briefkasten geleert.« Spellman zögerte und warf Wellesley einen fragenden Blick zu, der ihm knapp zunickte. »Und er hat ein wenig Geld mitgenommen – oder genauer: unsere operativen Finanzmittel. Wir glauben, dass er das Land verlassen hat.«
Verdammt, dachte Jack. Spellman spielte ihm nichts vor; Seth befand sich offenbar in großen Schwierigkeiten. War sein alter Highschool-Kumpel wirklich, was er zu sein vorgab? Zu viele Fragen.
Fast hätte er vergessen, die nächstliegende Frage zu stellen, die Frage, die sie garantiert nicht beantworten würden, die aber ein ahnungsloser Zivilist mit Sicherheit stellen würde: »Sie haben von einer ›Operation‹ geredet – was meinen Sie damit? Welche Art von Operation? Und wozu?«
Spellman schenkte ihm noch einmal sein entwaffnendes Lächeln. »Tut mir leid, aber das darf ich Ihnen nicht sagen. Im Moment muss es reichen, wenn ich sage, dass wir zu den Good Guys gehören.«
»Sie machen wohl Witze, wie? Das kann doch nicht wahr sein!«
»Das ist absolut wahr, Mr. Ryan«, versicherte Wellesley. »Sie werden zugeben müssen, dass es für Ihren Freund unter den gegebenen Umständen nicht sehr gut aussieht. Aber natürlich kann das alles auch ein riesiges Missverständnis sein …«
»Falsche Schlussfolgerungen«, warf Spellman ein.
»… und deshalb ist es sehr wichtig, dass wir Mr. Gregory finden.«
»He, klar, das hab ich schon verstanden!«, sagte Jack. »Aber ich habe nichts als seine Handynummer und eine E-Mail-Adresse, und ich denke mal, dass Sie die auch schon haben.«
»Wie lauten sie?«, fragte Spellman und überprüfte die Angaben, die Jack ihm diktierte. »Ja, die haben wir.«
»Ich glaube nicht, dass Seth das ist, was Sie vermuten. Ein Verräter, Spion.«
»Leute können sich ändern«, antwortete Spellman.
»Das ist jedenfalls nicht der Seth, den ich kenne.«
»Den Spruch mit dem Apfelbaum kennen Sie doch, nehme ich an?«, fragte Wellesley.
»Was? Dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, meinen Sie? Was zum Teufel soll das nun wieder heißen? Meinen Sie damit etwa Seths Dad? Der arbeitete im Landwirtschaftsministerium, um Himmels willen!«
»Jaja, natürlich«, winkte Wellesley verächtlich ab.
Jack stand abrupt auf. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Wenn ich etwas von ihm höre, werde ich ihm sagen, dass er Sie kontaktieren soll. Aber fürs Protokoll: Ich glaube, Sie irren sich.«
Auch Spellman und Wellesley erhoben sich. Der Amerikaner sagte: »Warten Sie, Jack …«
»Nein. Wir sind hier fertig.« Jack ging zur Tür.
Wellesley rief ihm nach: »Mr. Ryan.«
Jack drehte sich um.
»Wenn Sie uns belogen haben oder wenn Sie versuchen, Ihren Freund hinter unserem Rücken zu kontaktieren, werden wir davon erfahren. Und wenn das passiert, wird Ihnen auch Ihr Herr Vater nicht viel helfen können.«
»Drohen Sie mir?«
Genau das war es, was der SIS-Mann gerade getan hatte, wie Jack vollkommen klar war, und er war nicht einmal sonderlich überrascht, wenn er bedachte, was Seth vorgeworfen wurde. Aber die natürliche Reaktion der öffentlichen Person Jack Ryan junior, Präsidentensohn und erfolgreicher Finanzanalytiker, würde selbstverständlich eine Mischung aus Wut und Furcht sein. Gib ihnen, was sie erwarten, Jack.
»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Seth und ich haben uns zum Lunch getroffen. Dauer ungefähr eine Stunde. Ende der Geschichte.«
Spellman hob beide Hände in gespielter Ergebenheit und kam um die Couch herum. »He, Jack, wahrscheinlich haben Sie recht. Wir müssen ihn einfach erst mal finden, das ist alles. Sie sind sein Freund und wollen ihn vermutlich in Schutz nehmen. Mir geht es ähnlich. Aber Sie wollen ganz sicher nicht in diese Sache hineingezogen werden. Rufen Sie uns einfach an, wenn Sie etwas von ihm hören. Oder schicken Sie eine kurze Mail an die Adresse auf Raymonds Karte. Aber versuchen Sie nicht selbst, ihn aufzuspüren, Jack, okay?«
Raymond Wellesley nickte. »Ein sehr guter Ratschlag, wirklich.«
Als Jack wieder auf die Straße trat, atmete er erst einmal kräftig durch, bevor er sich auf den Rückweg machte. Unterwegs versuchte er, die Informationen zu verarbeiten, die er soeben bekommen hatte. Die frische Frühlingsluft half, sie strich angenehm kühl über sein Gesicht.
Verdammter Mist, dachte er. Kann nicht sein. Unmöglich. Passt überhaupt nicht zu Seth. Spellmans Warnung, sich nicht in die Sache hineinziehen zu lassen, hatte Jack schon fast wieder vergessen. Seth nicht helfen? Undenkbar. Die Frage war vielmehr: Wo zum Henker sollte er zu suchen anfangen?
James Jesus Angleton, der CIA-Spionjäger im Kalten Krieg, mochte ein Spinner oder vielleicht sogar richtig wahnsinnig gewesen sein, hatte es aber völlig richtig erkannt, als er behauptete, die bekannte Zeile von T. S. Eliot über die »Wilderness of Mirrors« lasse sich treffend auf die Welt der Geheimdienste und Spionage anwenden, mit all ihren Vorspiegelungen, Verdrehungen und Fehlinformationen. Die Tatsache, dass sich Jack tatsächlich noch an Eliots Gedicht »Gerontion« erinnerte, war womöglich seiner katholischen Schulerziehung zuzuschreiben … oder ihr vorzuwerfen.
Jacks nächster Gedankengang über die Begegnung hätte sogar einem Angleton alle Ehre gemacht: Sind Raymond Wellesley und Matthew Spellman überhaupt die, für die sie sich ausgeben? Und wenn nicht, wer sind sie dann? Und wenn ja, was …
Stopp, befahl er sich. Solche Fragenspiralen führten höchstens dazu, dass er wie Alice im Wunderland in das nächstbeste Kaninchenloch stürzte und sich in fantastischen Spekulationen verirrte. Er brauchte Fakten. Und er brauchte eine Grundlage, auf der er aufbauen konnte.
Erstens: Stelle fest, mit wem du es zu tun hast.
Zweitens: Finde Seth, bevor Wellesley und Spellman ihn aufspüren.