Buch
Ein Hauch von Schnee liegt in der Luft, die Straßen und Häuser leuchten festlich, es duftet nach frisch gebackenen Plätzchen und Zimt – im »Winter Street Inn« auf Nantucket hat die schönste Zeit des Jahres begonnen. An Weihnachten kommt die Familie Quinn auf der Insel zusammen, um gemeinsam zu feiern. Nach turbulenten Zeiten steht dieses Jahr ein ganz besonderes Fest an, denn Kevin, Sohn von Familienoberhaupt Kelley und seiner Exfrau Margaret, wird an Heiligabend endlich seine Freundin Isabelle heiraten. Doch je näher der große Tag rückt, desto näher rückt auch ein Blizzard unbekannten Ausmaßes. Als er die Insel erreicht und Nantucket droht, unter Schneemassen begraben zu werden, steht die Hochzeit von Kevin und Isabelle auf dem Spiel. Doch manchmal braucht es einen Sturm, um Land zu sehen – noch kann keiner ahnen, dass der Sturm das größte Geschenk von allen bringen wird …
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Elin Hilderbrand
Winterhochzeit
Roman
Übersetzt
von Almuth Carstens
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Winter Storms« bei Little, Brown and Company in der Hachette Book Group, New York.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung November 2017
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Elin Hilderbrand
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
plainpicture/Thordis Rüggeberg
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
em · Herstellung: eS
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-20634-5
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meinen »kleinen« Bruder
Douglas Clarence Hilderbrand,
den Wettermann
FRÜHLING
MARGARET
Hier eine wenig bekannte Tatsache über Margaret Quinn: Sie mag manche Nachrichten lieber als andere. Ganz unten auf ihrer Liste stehen terroristische Angriffe, willkürliche Schießereien und … die Wahlen. Margaret muss tagtäglich gegen ihre Gleichgültigkeit ankämpfen. Sie hat mit den letzten drei Präsidenten auf vertrautem Fuß gestanden, und ihr vorherrschendes Gefühl für sie war nicht Ehrfurcht oder Bewunderung, sondern Mitleid. Präsident der Vereinigten Staaten zu sein ist der anstrengendste, undankbarste Job auf der Welt, und Margaret kann sich nicht erklären, warum ihn irgendjemand freiwillig anstreben sollte. Ende des Themas.
Margarets Lieblingsnachrichten betreffen – ist es zu glauben? – das Wetter. Dieses langweilige, prosaische, obligatorische Thema – ich habe sonst nichts zu sagen, also lass uns übers Wetter reden – ist Margarets Meinung nach ein fantastisches tägliches Phänomen, das leicht übersehen und als selbstverständlich genommen wird. Margaret liebt alle seine Ausprägungen: Orkane, Tornados, Schneestürme, Gewitter und – als größten Glücksfall – ein Erdbeben, gefolgt von einem Tsunami. Das mag sadistisch klingen, aber obwohl sie jedes Todesopfer betrauert, faszinieren sie die naturwissenschaftlichen Aspekte. Das Wetter ist eine physische Manifestation der Kraft der Erde. Außerdem gefällt es Margaret, dass es sich der Vorhersage entzieht. Meteorologen können sich annähern, doch Garantien gibt es nicht.
Die Welt, findet Margaret, ist voller Überraschungen.
Kelley Quinn, Margarets Exmann, hat Prostatakrebs. Er wurde kurz vor Weihnachten diagnostiziert, was einen traurigen Schatten auf die Feiertage warf. Margaret war versucht, sich im Sender freizunehmen, um Kelleys Versorgung zu organisieren, aber Mitzi, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt und jetzt dafür zuständig. Nach zwanzig Jahren kaum verhohlener Animosität haben Margaret und Mitzi zu einem friedlichen, an Freundschaft grenzenden Miteinander gefunden, und Margaret würde es gern dabei belassen. Also hat sie sich zurückgehalten. Alle ein, zwei Tage wird sie von ihrer Tochter Ava auf den neuesten Stand gebracht. Kelleys Krebs ist unter Kontrolle; er hat nicht gestreut. An fünf Tagen pro Woche muss er aufs Cape, um sich bestrahlen zu lassen. Meistens begleitet Mitzi ihn, obwohl sie kein Geheimnis daraus macht, dass sie die Bestrahlung aggressiv findet. Ihr wäre es lieber, wenn Kelley seinen Krebs ganzheitlich mit Kräutern, Grünkohl-Smoothies, Massagen, energetischen Heilmethoden und Schlaf therapieren würde.
Margaret beißt sich auf die Zunge.
Eins, das weiß sie, würde dafür sorgen, dass es sowohl Kelley als auch Mitzi besser geht, und zwar eine Nachricht von ihrem Sohn Bart, der seit Dezember 2014 in Afghanistan verschollen ist. Margaret überprüft jeden Morgen als Erstes ihren Computer auf Neuigkeiten vom Verteidigungsministerium. William Burke, ein Soldat aus Barts Zug, konnte fliehen, ist aber nach wie vor im Walter-Reed-Militärkrankenhaus in Bethesda. Er hat lebensbedrohliche Kopfverletzungen erlitten, daher verfügt das Ministerium über keine neuen Erkenntnisse über den Verbleib der restlichen Marines oder auch nur darüber, ob sie am Leben sind.
Doch die könnten sich bald ergeben, schätzt Margaret. Vorausgesetzt, der Junge schafft es.
Die Wintermonate waren mild, eine willkommene Abwechslung zum letzten Jahr, und der Frühling beginnt pünktlich in der zweiten Märzhälfte. Es ist auch kein angetäuschter Frühling, sondern ein echter, wahrer, wie er in Bilderbüchern dargestellt wird – mit Kaninchenbabys, knospenden Bäumen, Kindern auf Schaukeln. Margarets Apartment bietet einen Blick auf den Central Park, und am ersten April zeigt er sich als üppiger grüner Teppich, gesprenkelt mit bunten Farbflecken – Tulpen, Narzissen, Hyazinthen, Schwertlilien. Modellboote flitzen über den Conservatory Pond. Nachts gießt es in Strömen, sodass die Stadt am Morgen, wenn Margaret aus dem Haus tritt und in den wartenden Wagen steigt, wie frisch geputzt aussieht und die Luft sich sauber anfühlt.
Es ist ein guter Frühling. Kelley wird gesund werden, sagt sich Margaret. Ihr Sohn Patrick soll am ersten Juni aus dem Gefängnis entlassen werden. Er hat bereits eine Handvoll Geldgeber hinter sich, mit denen er seine eigene kleine Investmentfirma eröffnen will. Margaret weiß nicht, wie er das aus dem Knast heraus geschafft hat. Er musste ihr versprechen, dass er nur noch legale Geschäfte machen wird.
Margarets Enkelin Genevieve wächst und gedeiht und verwandelt sich von Tag zu Tag. Sie kann jetzt schon aufrecht sitzen, und die Fortschritte der Technik ermöglichen es Margaret, zu winken und zu gurren und zu sehen, wie Genevieve lacht, wenn sie mit Kevin über FaceTime Videotelefonate führt. Kevin und Isabelle sind mit der Pension beschäftigt, die dank der milden Witterung seit Mitte März ausgebucht ist.
Was Margarets Welt aber so richtig rosa färbt, ist die Liebe. Dr. Drake Carroll hat sich vom gelegentlichen Liebhaber zu ihrem ständigen Begleiter, besten Freund und Verlobten entwickelt. Sie haben beide gelobt, sich Zeit dafür zu nehmen, dass ihre Beziehung wachsen kann. Margaret hat sich gefragt, ob es ihr wohl gelingen würde, dieses Versprechen zu halten, und dann hat sie sich gefragt, ob Drake das auch schaffen würde – aber inzwischen ist sie angenehm überrascht davon, wie organisch und natürlich es sich anfühlt, wieder Teil eines Paares zu sein. Unter der Woche übernachten sie bei Margaret, am Wochenende bei Drake. Sie gehen in Restaurants essen, die Margarets Assistentin Darcy, ein Genie im Aufspüren der ausgefallensten und besten Lokale der Stadt – Lion, Saxon and Parole, Jeffrey’s Grocery, Uncle Boons –, für sie aussucht. Sie sind dreimal im Theater gewesen und trainieren Seite an Seite im Fitness-Studio; sonntags bestellen sie sich vietnamesische Leckereien nach Hause und sehen sich alte Filme an. Drake schickt Margaret Blumen ins Büro; er schreibt mit Seife Ich liebe dich auf den Badezimmerspiegel. Margaret ist hin und weg. Wenn man verliebt ist, ist jeder Tag ein Geschenk, das ausgepackt werden will.
Margarets Tochter Ava möchte eine Reise mit ihr machen, nur zu zweit, bevor Margaret heiratet. Es soll ein Junggesellinnen-Ausflug werden, um das Ende von Margarets Freiheit zu feiern, meint Ava.
Margaret ist nur mäßig begeistert von der Idee. Das Letzte, was sie in ihrem Alter braucht, ist ein Junggesellinnen-Abschied. Sie erinnert sich an einen sehr alkohollastigen Abend vor fast vierzig Jahren, an dem sie mit ihren sechs Brautjungfern das West Village durchstreifte. Alison, die Anführerin des Unternehmens, bestand darauf, dass sie eine Bar aufsuchten, um dort akustische Gitarrenmusik zu hören, und verlangte des Weiteren, dass Margaret sich zu dem Sänger – einem niedlichen Typen mit schulterlangen Haaren und einem frechen Glitzern in den Augen – auf die Bühne gesellte und »American Pie« mitsang. Margaret beeindruckte das Publikum und die Band so sehr mit ihrer Stimme und ihren Textkenntnissen, dass man ihr wild applaudierte und der Sänger fragte, ob sie mit zu ihm kommen würde.
Nein, sagte Margaret, aufrichtig verwirrt. Ich bin diejenige, die heiratet.
Natürlich würde ein Ausflug mit Ava ganz anders ablaufen, doch in ihrem Alter lässt Margaret allein das Wort Junggesellin zusammenzucken.
Aber eine Tages, als sie gerade ihr Tempo auf dem Laufband beschleunigt, trifft sie eine Erkenntnis: Diese Reise, die Ava ihr vorschlägt, ist nicht für Margaret – sie ist für Ava.
Ihre Tochter braucht sie.
AVA
Mit Hilfe der Kreditkarte ihrer Mutter und Margarets Assistentin Darcy – die über einen unerklärlichen Reichtum an Allgemeinwissen verfügt, wenn man ihre Jugend bedenkt – bucht Ava auf Anguilla fünf Übernachtungen im Malliouhana in benachbarten Suiten mit Meerblick.
Sie muss Nantucket entkommen.
Ihr Liebesleben befindet sich im Ausnahmezustand.
Während des Winters und bis in den Frühling hinein hat sie es nicht geschafft, sich zwischen Nathaniel und Scott zu entscheiden, und sich deshalb mit beiden getroffen. Ist es irgendjemandem auf Gottes grüner Erde jemals gelungen, mit zwei Männern gleichzeitig zusammen zu sein? Wirklich? Und wenn das auf einer Insel passiert, die dreizehn Meilen lang und vier Meilen breit ist? Eines Abends, als Ava mit Scott bei einem romantischen Dinner im Company of the Cauldron saß, spazierte draußen Nathaniel vorbei, sah Ava und fing an, wie ein Verrückter zu winken. Dann machte er sich daran, direkt vor dem Fenster, wo Ava ihn gut im Blick hatte, ein längeres Telefonat zu führen. Ava wollte, dass Nathaniel weiterging, damit sie ihr Essen mit Scott in Ruhe genießen konnte, aber sie hätte auch zu gern gewusst, mit wem Nathaniel sprach. Er schien dabei sehr viel zu lachen. Ein andermal, als Ava mit Nathaniel im Cisco Brewers einen Winter Shredder trank und den Four Easy Payments lauschte, kam Scott mit Roxanne Oliveria alias Ms Ohhhhh herein, die aufgrund ihres Knöchelbruchs im Dezember immer noch leicht hinkte.
»Hi, Ava«, sagte Scott.
»Oh, hallo, Ava«, sagte Roxanne.
Ava nippte an ihrem Shredder und sagte nichts. Nathaniel hob eine Hand und sagte in triumphierendem Tonfall: »Hey, Scotty, alter Junge.« Roxanne wiederum lächelte Ava auf eine Weise an, mit der sie sich zur Siegerin erklärte, dann bat sie die Band, »Brown-Eyed Girl« zu spielen, was Ava übertrieben und offensichtlich fand. Sie stieß Nathaniel unter dem Tisch an, und obwohl er mit Sicherheit gern geblieben und dafür gesorgt hätte, dass Scott sich unwohl fühlte, fragte er nach der Rechnung.
Ava hat Nathaniel und Scott erzählt, dass sie sich mit ihnen beiden trifft, und klargestellt, dass es ihnen freisteht, auch andere Frauen zu daten. Nathaniel behauptet, er interessiere sich für niemanden außer Ava. Das ist eine wirkungsvolle Strategie, besonders deswegen, weil es Ava in der Vergangenheit oft schwergefallen ist, Nathaniel zu vertrauen, und sie gelegentlich an seiner Hingabe gezweifelt hat. Wenn Ava mit Scott ausgeht, schaut Nathaniel entweder mit seinen Kollegen in der Bar vorbei, oder er bleibt zu Hause und liest Harlan-Coben-Romane; bevor er sich schlafen legt, schreibt er Ava immer eine SMS. Wenn Ava mit Nathaniel ausgeht, trifft Scott sich mit Roxanne. Das ist ebenfalls eine wirkungsvolle Strategie. Ava hatte den Verdacht, dass Roxanne sich an Scott heranmachen wollte, aber nie geglaubt, dass Scott darauf eingehen würde. Wenn Ava in der Schule ist, sieht sie Roxanne manchmal in einer ihrer tief ausgeschnittenen Blusen, einem engen Bleistiftrock und mit absurd hohen Keilabsätzen aus dem Schulleiterbüro kommen. Roxanne unterrichtet Englisch in der Highschool – zwei Gebäude entfernt –, und es gibt keinen Grund dafür, dass sie sich in der Grundschule aufhält außer dem, dass sie sich über Scotts Schreibtisch beugen und ihre langen Haare in ihr Dekolleté fallen lassen will. Ava findet es unglaublich, dass der Rektor Roxanne noch nie auf ihre aufreizende Kleidung angesprochen hat und dass Roxanne nach wie vor hochhackige Schuhe trägt, obwohl sie sich auf dem Kopfsteinpflaster der Federal Street den Knöchel gebrochen hat. Avas wahres Problem jedoch ist ihre Eifersucht. Sie ist wahnsinnig eifersüchtig auf Roxanne. Roxanne ist wunderschön und verführerisch; in den Keilabsätzen sehen ihre Waden fantastisch aus. Außerdem hat Roxanne Scott anscheinend ihre verletzliche Seite gezeigt, etwas, dem Scott nicht widerstehen kann. Roxanne hat drei geplatzte Verlobungen hinter sich – Verlobter Nummer eins war schwul, Verlobter Nummer zwei ging fremd, und Verlobter Nummer drei starb während eines Urlaubs in San Diego bei einem Surfunfall. Nach Roxannes Verlust ihres dritten Verlobten ist Ava unfähig, sie zu hassen. Scott hat ihr anvertraut, dass Roxanne immer noch einen Therapeuten aufsucht, um mit Gunners Tod fertigzuwerden, und dass sie in den seltsamsten Momenten in Tränen ausbricht – bei orangeroten Sonnenuntergängen, wenn sie Maiglöckchen riecht, oder wenn sie »Last Nite« von den Strokes hört.
Sowohl Nathaniel als auch Scott haben sich während Barts fortwährender Abwesenheit und Kelleys Krankheit um Ava gekümmert und sie unterstützt. Nathaniel ist besser im Machen – er ist derjenige, der Kelley und Mitzi nach der Bestrahlung von der Fähre oder vom Flughafen abholt; er ist derjenige, der jeden Morgen früh aufsteht und auf der Website des Verteidigungsministeriums nachsieht, ob William Burke gesundheitliche Fortschritte gemacht hat oder weitere Soldaten aus Barts Zug fliehen konnten. Scott ist besser im Reden – er fragt Ava, wie es ihr mit der Krankheit ihres Vaters geht (nach außen zeigt sie sich zwar optimistisch, hat in Wahrheit aber schreckliche Befürchtungen) und mit Barts Verschwinden (nach außen zeigt sie sich optimistisch, besonders Kelley und Mitzi gegenüber, hat in Wahrheit aber schreckliche Befürchtungen).
Gemeinsam sind Nathaniel und Scott der perfekte Partner. Ava würde am liebsten für immer mit beiden zusammenleben oder mit ihnen abwechselnd für jeweils eine Woche verheiratet sein. Da dieser Brauch in westlichen Kulturen aber nicht akzeptabel ist, wird Ava sich entscheiden müssen, und das kann sie nicht.
Sie braucht eine Auszeit mit der klügsten Frau, die sie kennt.
Gibt es Kümmernisse, die ein Fünf-Sterne-Hotel in der Karibik nicht beheben kann? Das Malliouhana liegt inmitten üppiger, makellos gepflegter Parkanlagen, in denen völlige Stille herrscht, sieht man vom Gurgeln eines Wasserfalls und dem Vogelgezwitscher einmal ab. Zum Wellnessbereich gelangt man über einen kurvenreichen Ziegelsteinweg, zum Fitnesscenter über einen anderen. Die Lobby ist mit ihrem Marmorfußboden, den Deckenventilatoren aus Rattan und den anmutig geschwungenen Bögen, die den weiten Ausblick auf das türkisblaue Meer rahmen, marokkanisch inspiriert. Außerdem entzücken Ava die beiden nebeneinandergelegenen Suiten – Himmelbetten mit wunderschöner Bettwäsche und Stapeln fluffiger weißer Kissen, riesige Badewannen, Champagner in der Minibar und ein leuchtend orangeroter Hängesessel auf dem Balkon.
Wer braucht Nathaniel? Wer braucht Scott? Hier muss Ava sich nur zwischen dem Roman von Jane Green und dem von Anita Shreve entscheiden, zwischen dem Infinity Pool des Hotels und einer der drei einsamen Strandbuchten, zwischen Rumpunsch und einem Glas eiskalten Rosé.
Am ersten Morgen joggt Ava eine weiße Sandsichel entlang, Meads Bay genannt, biegt dann am Hotel Viceroy landeinwärts ab und läuft noch eine Meile die Straße entlang. Unterwegs passiert sie einen Mann in ihrem Alter oder etwas älter, der ein Nantucket-T-Shirt und eine Kappe von Cisco Brewers trägt. Ava verzieht das Gesicht – es gibt kein Entkommen! Nantucket ist überall, sogar hier auf Anguilla! Sie schenkt dem Mann ein lahmes Winken und steigert dann ihr Tempo.
Margaret ist ins Fitnesscenter gegangen, und sie treffen sich zum Frühstück um zehn Uhr im Freiluftrestaurant, beide noch in Sportkleidung. Am Büfett belädt Ava ihren Teller mit Ananas, Papaya und Mango, während Margaret sich auf den französischen Käse, den Schinken, die Salami, die Pastete und die warmen Croissants stürzt. Die Frau kann essen, was sie will, und nimmt kein Gramm zu.
Ava sieht den Mann im Nantucket-T-Shirt mit einem wesentlich älteren Herrn, wahrscheinlich seinem Vater oder Onkel oder Chef, ebenfalls im Restaurant sitzen. Margaret bemerkt sein T-Shirt und sagt zu ihm: »Oh, meine Tochter lebt auf Nantucket!«
»Nicht, Mom«, sagt Ava, doch es ist natürlich zu spät. Der Mann nimmt seine Kappe ab und steht auf.
»Sie sind Margaret Quinn«, sagt er.
Ava schließt die Augen. Sie liebt es, wie ihre Mutter durchs Leben geht wie ein normaler Mensch und ihr anscheinend nicht klar ist, dass jede einzelne Seele in Amerika – auf der ganzen Welt praktisch – in ihr die Hauptnachrichtensprecherin der CBS Evening News erkennt.
Margaret antwortet nicht. Stattdessen stupst sie Ava an. »Das ist Ava«, sagt sie. »Sie unterrichtet Musik an der Nantucket Elementary School. Ihr Vater – mein Exmann – ist Besitzer und Betreiber des Winter Street Inn.«
»Mom, das interessiert ihn nicht«, sagt Ava.
»Doch, tut es«, sagt der Mann. »Ich bin Potter Lyons, und das hier ist mein Großvater, der auch Potter Lyons heißt, aber alle nennen ihn Gibby.« Potter lächelt Ava an. »Ich liebe Nantucket mehr als jeden anderen Ort auf Erden. Ich fahre jeden August zur Regattawoche hin. Segeln Sie?«
»Wir haben sie ins Segelcamp gesteckt, als sie sieben war«, sagt Margaret. »Aber da war ein Rüpel auf ihrem Boot, und sie hat sich geweigert, noch mal daran teilzunehmen. Seitdem ist sie nicht mehr gesegelt.« Margaret legt sich nachdenklich einen Finger auf die Lippen und wendet sich Ava zu. »Bis auf den einen Sommer, als du beim Opera House Cup mitgesegelt bist.«
Mom, das interessiert ihn nicht, denkt Ava. Er gibt sich nur interessiert, weil es Margaret Quinn ist, die da redet, und sie ein Talent dafür hat, die banalen Details aus Avas Jugend wie weltbewegende Neuigkeiten klingen zu lassen.
Ava lächelt Potter und Gibby an. »Stimmt«, sagt sie. »Der Rüpel hieß Alex, und 2009 bin ich auf der Shamrock beim Opera House Cup mitgesegelt.«
»Hier unten am Strand vermieten sie Jollen«, sagt Potter. »Kein Vergleich mit der Shamrock, aber vielleicht hätten Sie Lust auf einen Törn? Ich würde gern mit Ihnen rausfahren.«
Ava starrt auf ihren mit Obst beladenen Teller. Ihr Gesicht hat höchstwahrscheinlich die Farbe der Papaya.
»War nett, Sie kennen zu lernen«, sagt sie und steuert ihre Mutter durchs Restaurant zu dem am weitesten von Potter und Gibby entfernten Tisch.
»Ich glaube, er mag dich!«, flüstert Margaret.
Nein, denkt Ava. Er mag dich.
Um die Mittagszeit stoßen sie in einem Lokal namens Blanchards wieder auf Potter und Gibby. Das Blanchards ist eine Bar am Strand, und Ava ist begeistert von ihrer Entdeckung. Sie und Margaret treten barfuß an die Theke und bestellen ein Sandwich mit gegrillter Goldmakrele und einem Tartar aus geräucherter Tomate, eine Portion Garnelen-Tacos und zweimal Krautsalat. Und wenn sie schon dabei sind – zwei Passionsfrucht-Daiquiris.
Ava ist so angetan von der Strandbar, dass sie ein Foto von der Speisekarte macht und es an Kevin schickt, mit dem Text: Das könntet ihr auch zu Hause aufziehen! Quinns’ on the Beach! Kevin und Isabelle leiten die Pension, aber Kevin hält Ausschau nach einem zweiten geschäftlichen Standbein. Das wär’s, denkt Ava. Isabelle ist eine fantastische Köchin und hätte sicher schnell raus, wie das Tomatentartar zubereitet wird.
Avas Träumerei wird von Potter und Gibby unterbrochen. »Sie haben unser Geheimnis gelüftet«, sagt Potter. »Wir haben hier schon sechs Tage hintereinander gegessen.«
»Setz ochbitns«, sagt Margaret. Ava legt ihrer Mutter eine Hand auf den Arm. Das Letzte, was Margaret braucht, ist ein Foto von sich mit dem Mund voller Garnelen-Taco. Damit landet sie garantiert in der Us Weekly: »Stars – wie du und ich!« (Und sprechen mit vollem Mund!) Außerdem befürchtet Ava, dass Margaret versucht hat, Setzen Sie sich doch bitte zu uns zu sagen.
»Wir sind fast fertig«, sagt sie, obwohl sie erst zwei Bissen von ihrem himmlischen Sandwich gegessen hat.
»Hey, sollen wir nachher segeln gehen?«, fragt Potter.
Ava schaut zu ihm auf. Er trägt orangerote Boardshorts und ein weißes Polohemd. Er hat ein bisschen Grau in seinen dunklen Haaren, und seine Augen wirken sehr blau, vermutlich dank seiner Bräune. Er ist viel zu attraktiv für sie. Er muss es auf sie abgesehen haben, weil sie Margaret Quinns Tochter ist.
»Mal sehen«, sagt sie.
Die blauen Augen leuchten auf. »Prima!«, sagt er.
Als er und Gibby sich entfernen, sagt Margaret: »Es wäre dumm von dir, nicht mitzufahren.«
»Mom«, sagt Ava. »Es gibt jetzt schon zu viele Männer in meinem Leben.«
»Manchmal benötigt man eine neue Perspektive«, sagt Margaret. »Geh mit ihm segeln. Du musst ihn ja nicht gleich heiraten.«
Ava beschließt, die Tatsache zu ignorieren, dass Potter so gut aussieht, und mit ihm segeln zu gehen. Was als Erstes passiert, ist, dass der Wind Potter seine Cisco-Brewers-Kappe vom Kopf reißt, und bevor einer von ihnen reagieren kann, tanzt sie davon in Richtung Horizont.
»Meine Lieblingsmütze!«, sagt Potter.
»Keine Angst«, sagt Ava. »Ich besorge Ihnen eine neue.«
Potter Lyons ist sechsunddreißig und geschieden und hat einen fünfjährigen Sohn, der auch Potter Lyons heißt (obwohl er PJ genannt wird) und mit seiner Mutter in Palo Alto, Kalifornien, lebt. Potter hat einen Doktor in amerikanischer Literatur und lehrt Englisch an der Columbia University. Seine Dissertation hat er über Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer geschrieben, und er unterrichtet den beliebtesten Kurs des Fachbereichs: »Der nautische Roman: Von der Odyssee bis zu Spartina«. Er wohnt in einer Vierzimmerwohnung auf der Upper West Side nur zehn Blocks nördlich von Margaret und besitzt ein Segelboot, die Cassandra, die auf dem Hudson liegt.
»War Cassandra Ihre Frau?«, fragt Ava.
»Meine Großmutter«, sagt er.
Potter erzählt ihr, dass seine Eltern bei einem Verkehrsunfall umkamen, als er in der Highschool war, und dass seine Großeltern – Gibby und Cassandra – seine Erziehung übernahmen.
»Meine Großmutter ist vor ein paar Monaten gestorben«, sagt Potter. »Deshalb habe ich diese Reise für Gibby geplant. Er musste mal raus.«
»Das tut mir sehr leid«, sagt Ava.
»Jetzt habe ich aber genug über mich geredet«, meint Potter grinsend. »Was halten Sie von mir?«
Ava lacht. Sie findet ihn charmant und intelligent, und es gefällt ihr gut, dass er mit seinem Großvater Urlaub macht.
»Das war ein Witz«, sagt er. »Ich möchte was über Ava hören.«
»Dafür müssten wir nach Kuba und zurück segeln«, sagt sie.
»Ich mag komplizierte Frauen«, sagt er. »Fangen Sie doch einfach damit an, dass Sie mir eine Frage beantworten: Sind Sie single?«
»Nein«, sagt sie. »Ich habe zwei feste Freunde.« Es ist ihr peinlich, wie absurd das klingt. »Ich liebe sie beide. Ich kann mich nicht zwischen ihnen entscheiden.«
»Sie wissen ja wohl, was das bedeutet«, sagt Potter.
»Was denn?«
Er zwinkert ihr zu.
Als Ava und Potter das Boot zurück auf den Strand ziehen, hat Ava eine neue Perspektive gewonnen: Es gibt überall Männer – nett und intelligent und erfolgreich und ungebunden. Sie ist in ihrer Auswahl nicht auf Nathaniel und Scott beschränkt.
Potter zum Beispiel gefällt ihr sehr.
»Sollen wir uns später auf einen Drink treffen?«, fragt sie.
»Heute ist unser letzter Abend«, sagt Potter. »Ich glaube, den sollte ich mit Gibby verbringen.«
»Oh«, sagt Ava. »In Ordnung.« Sie fühlt sich ein bisschen … getroffen. Wie kann das sein? Sie ist nur ungefähr eine Stunde mit dem Mann zusammen gewesen. Hat sie etwas gesagt, das er abstoßend fand? Womöglich die Sache mit den zwei festen Freunden.
Sie eilt zurück zum Infinity Pool, wo sie Margaret, die Augen halb geschlossen, auf ihrer Liege vorfindet. Ava ist sehr stolz auf ihre Mutter. Sie arbeitet nur frühmorgens eine Stunde lang an ihrem Laptop, und sie ruft Drake jeden Abend vorm Zubettgehen an. Margaret ist immer diszipliniert, und das gilt auf dieser Reise auch für die Konsequenz, mit der sie sich entspannt.
»Wie war der Törn?«, fragt sie jetzt. »Hilfreich?«
»Irgendwie schon«, sagt Ava.
Am Abend wandern sie den Strand entlang zu einem Restaurant namens Straw Hat, wo die Kronleuchter alle aus Strohhüten bestehen. Es ist das Charmanteste, was Ava je gesehen hat, obwohl sie sich fragt, wann die Hüte Feuer fangen werden.
Ava trinkt während des Essens zu viel und fängt an zu weinen. »Woher wusstest du, dass Dad der Richtige war?«, will sie von Margaret wissen. »Dass er derjenige war, den du heiraten wolltest?«
»Ich war jung und verliebt«, entgegnet Margaret. »Ich habe nicht groß darüber nachgedacht. Als er mich gefragt hat, habe ich natürlich ja gesagt. Kelley war toll. Das ist er immer noch. Wir wünschten uns beide dasselbe. Wir wünschten uns Karrieren in New York, ein Brownstone auf der Upper East Side, drei oder vier Kinder. Und stell dir vor – unsere Wünsche gingen alle in Erfüllung, aber wir konnten nicht damit umgehen. Einer von uns musste nachgeben, Zugeständnisse machen, und das war am Ende dein Vater.« Margaret trinkt einen Schluck Wein. »Eine bessere Frage wäre, wie ich mich für Drake entschieden habe, denn da war ich mir lange unsicher. Aber dann wurde mir klar, dass alle Eheschließungen ein Sprung ins Ungewisse sind. Man liebt so sehr, wie man kann, man versucht, immer zuerst an den anderen zu denken, und man hofft das Beste.«
»Was bedeutet es, dass ich mich nicht zwischen ihnen entscheiden kann?«, fragt Ava. »Ich mag sie beide genau gleich gern, nur aus unterschiedlichen Gründen.«
Margaret lächelt. »Ich glaube, es bedeutet, dass du dir deine Optionen offenhalten solltest.«
Ava und Margaret beschließen, an der Bar des Hotels noch einen Absacker zu trinken – und da sitzt Potter, allein.
»Eigentlich«, sagt Margaret, »sollte ich jetzt Drake anrufen. Er hat morgen ganz früh eine Operation.«
»Dann gehe ich auch nach oben«, sagt Ava. »Ich habe keine Lust, hier allein rumzuhocken.« Aber in diesem Moment entdeckt Potter sie und winkt zur Begrüßung. Oder er winkt sie zu sich, das kann Ava nicht erkennen.
»Dann gute Nacht«, sagt Margaret. »Bis morgen früh, Schätzchen.«
Ava sieht, wie ihre Mutter die Bar verlässt, und wäre ihr fast nach draußen gefolgt, doch in der nächsten Sekunde setzt sie sich auf einen Hocker neben Potter und bestellt ein Glas Sauvignon blanc.
»Schreiben Sie das auf mein Zimmer«, sagt Potter zum Barkeeper und lächelt Ava an. »Ich habe gehofft, dass ich Sie hier treffe. Gibby ist schon zu Bett gegangen.«
Avas Herz ist ein Kolibri.
»Wollen wir einen Strandspaziergang machen?«, fragt Potter. »Es ist so ein schöner Abend.«
Ava sieht nichts Schlimmes an einem Spaziergang. Ein Halbmond scheint aufs Wasser, und Klaviermusik aus einem anderen Hotel wird bis auf den Sand getragen. Sie beschließen, zum Viceroy und wieder zurück zu laufen; das müsste Ava genug Zeit geben, ihr Dilemma zu schildern. Sie erzählt Potter alles: dass sie zwei Jahre lang mit Nathaniel zusammen war, in denen er sie als selbstverständlich nahm, dass er vorletztes Weihnachten allein wegfuhr und vielleicht mit seiner ehemaligen Freundin geschlafen hat oder auch nicht – Ava war nie mutig genug, ihn danach zu fragen – und sie in dieser Zeit mit Scott zusammengekommen ist, dem Konrektor der Schule, an der sie unterrichtet. Sie hatte immer gewusst, dass Scott sie mochte, ihn aber nie sexy oder begehrenswert gefunden, bis … bis er sich beinahe für eine andere Frau entschied. Danach war sie ein Jahr lang mit Scott glücklich, während Nathaniel praktischerweise auf Martha’s Vineyard arbeitete, und dann kehrte Nathaniel, wie der Zufall so spielt, genau an dem Tag nach Nantucket zurück, an dem Scott auf dieser merkwürdigen Hilfsmission für eine scharfe Lehrerkollegin war, die sich den Knöchel gebrochen hatte. Das war im Dezember, berichtet Ava, und seitdem trifft sie sich mit beiden, ohne Heimlichtuerei. Ihre beste Freundin Shelby glaubt, dass sie den Traum jeder Frau lebt, doch Ava fühlt sich permanent zerrissen. Sie würde sich gern vollständig fühlen.
»Wow«, sagt Potter.
»Ich habe zu viel geredet«, sagt Ava. Sie sind fast am Viceroy; Zeit umzukehren. Potter würde wahrscheinlich am liebsten flüchten.
»Überhaupt nicht«, sagt er und greift nach ihrer Hand. Hat er Ava nicht zugehört? Sie ist zwischen zwei Männern hin- und hergerissen … und trotzdem hält Potter jetzt ihre Hand. Seine Hand ist groß und warm und kräftig – eher wie Scotts Hand als wie Nathaniels, obwohl andererseits auch gar nicht –, und sie zu halten, fühlt sich gut an, wie eine neue Perspektive.
»Warum haben Sie und Ihre Frau sich getrennt?«, fragt Ava.
»Wir sind beide Akademiker«, sagt Potter. »Sie ist auf Shakespeare spezialisiert, ein Gebiet, auf dem sich viele tummeln und wo die Konkurrenz daher groß ist. Trish bekam eine Stelle mit Aussicht auf eine Professur in Stanford angeboten, und ich hatte bereits eine an der Columbia, aber da ich dort schon länger arbeitete, war mein Gehalt fast doppelt so hoch wie ihrs. PJ war damals zwei Jahre alt und hing sehr an seiner Mutter, also ging er mit. Irgendwie dachten wir beide, eine Fernbeziehung würde klappen, aber das tat sie bei uns nicht. Trish hat sich in einen ihrer Assistenten verliebt.«
»Oh«, sagt Ava. »Autsch.«
»Er ist Brite«, sagt Potter. »Sie steht auf den Akzent.«
Sie haben ihr Hotel beinahe wieder erreicht, aber Ava will nicht, dass der Spaziergang schon zu Ende ist. »Schauen Sie mal, da ist unsere Jolle!«, sagt sie.
»Haben Sie Lust, sich kurz hinzusetzen?«, fragt Potter.
Er küsst Ava, als sie sich auf den Bug der Jolle setzt, nur einmal, eine Erkundungsmission, so scheint es, dann küssen sie sich wieder. Und wieder.
Potter löst sich von ihr. »Wenn du das nächste Mal nach New York kommst, würde ich dich gern sehen«, sagt er. »Oder im Sommer auf Nantucket. Darf ich dir meine Nummer geben?«
»Ja«, sagt Ava. »Und deine Adresse. Dann schicke ich dir eine neue Kappe.«
JENNIFER
Sie nimmt Ausfahrt 5 auf der Route 3 Richtung Süden, biegt auf den Parkplatz des Mayflower Deli ein und wartet. Um Viertel nach zwölf kommt der schwarze Pickup und hält neben ihr. Jennifer holt den Umschlag mit Bargeld aus ihrer Handtasche, steigt aus dem Wagen und sieht sich dabei auf dem Platz nach Polizisten in Uniform oder womöglich auch in Zivil um. Ganz beiläufig tritt sie an den Fahrersitz des Pickups. Sie reicht Norah den Umschlag, und Norah gibt Jennifer ein Aspirin-Fläschchen, das fünfzig Oxycodon enthält.
»Wann kommt Paddy raus?«, fragt Norah.
»Am ersten Juni«, sagt Jennifer.
Norahs Gesichtsausdruck ist mitfühlend, und Jennifer beurteilt ihre ehemalige Schwägerin jetzt milder. Sie kann schon lange keine moralische Überlegenheit mehr beanspruchen. Leider ist Norah inzwischen einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben – ihre Dealerin. Jennifer hatte nach Weihnachten mit dem Oxy aufhören wollen, doch dann war sie mit den stillen, kalten Wochen im Januar konfrontiert, und der Februar brachte den Valentinstag, an dem ihr Ehemann immer noch eingesperrt war. Dann kam der März mit seinem erstaunlich schönen Wetter. Ganz Boston schwelgte in Frühlingsgefühlen. Die Straßencafés waren voll; Liebespaare hielten Händchen und machten es sich mit Decken auf dem Boston Common bequem. Jennifer sah sie durchs Fenster ihres Stadthauses in der Beacon Street. Der Anblick deprimierte sie. Im April verreiste Jennifer mit den Jungen – nach San Francisco zu ihrer Mutter. Es war unmöglich, ohne pharmazeutische Hilfe eine gesamte Woche mit Beverly zu verbringen. Jetzt, im Mai, kauft sie nach wie vor Drogen von Norah. Und die ganze Zeit über versucht sie, drei Söhnen eine gute Mutter zu sein und sich als Innenausstatterin zu behaupten. Heute liegen im Kofferraum ihres Volvos zwei große blau-weiße Porzellanvasen aus der Kangxi-Epoche, die pro Stück über fünfundzwanzig Riesen wert und für eine Kundin in Duxbury gedacht sind.
»Meinst du denn, du brauchst dann noch welche?«, fragt Norah. Sie haben sich unausgesprochen darauf verständigt, dass ihre jetzige Beziehung nach Patricks Entlassung zu Ende sein wird. Norah scheint sich das bestätigen lassen zu wollen. Ahnt sie womöglich, dass Jennifer mittlerweile süchtig ist? Na ja, es existiert offensichtlich eine gewisse Abhängigkeit, aber ist die von Dauer? Jennifer redet sich ein, dass sie keine Tabletten mehr brauchen wird, sobald Patrick wieder zu Hause ist, arbeiten geht, Geld verdient, ihr mit den Jungs hilft und neben ihr im Bett liegt. Patricks Anwesenheit wird ihre Droge sein. Höchstwahrscheinlich ist Norah nur um ihr eigenes Wohl besorgt. Ihr Lebensstandard hat sich durch ihre neue Tätigkeit mit Sicherheit verbessert; vermutlich beliefert sie die Hälfte der Hausfrauen zwischen Mashpee und Mansfield mit Tabletten. Ihr Erscheinungsbild hat sich verändert. Sie hat angefangen – unheimlich oder schmeichelhaft? –, sich dem von Jennifer anzunähern, indem sie Eileen Fisher trägt. Norah Vale, früher immer in Jeans und Leder, ist jetzt in Seide und Leinen gekleidet. Und ihre Ohrringe, erkennt Jennifer, sind von Jessica Hicks. Wow. Wenn es so weitergeht, ist Jennifer vielleicht bald Norahs Innenausstatterin. Der Gedanke ist gar nicht so abwegig.
Okay, denkt sie, nun aber los!
»Ich muss flitzen«, sagt sie. »Ich habe zwei chinesische Vasen bei mir, die darauf warten, ihre neuen Eltern kennen zu lernen.«
»Das war’s dann also?«, fragt Norah und wirft einen Blick auf das Deli. »Du willst wohl nicht kurz rein und ein Sandwich essen?«
Jennifer ist gerührt, aber auch bestürzt, vor allem über ihre eigene Angst und ihr Bedauern. Jetzt, da ihre Verbindung nichts mehr mit der Familie Quinn zu tun hat, hat sie eine gewisse Zuneigung zu Norah entwickelt und wird ihre wöchentlichen Treffen irgendwie vermissen.
»Wenn ich das nächste Mal auf der Insel bin, rufe ich dich an«, sagt Jennifer.
Norah zieht ein langes Gesicht. Sie weiß ebenso gut wie Jennifer, dass diese nie anrufen wird. »Okay«, sagt Norah. »Bis bald dann.«
KELLEY
In der Woche nach seiner letzten Bestrahlung kehrt Kelley erneut ins Mass. General zurück, um durch ein MRT überprüfen zu lassen, ob er noch Krebs hat. Nach einer spannungsgeladenen fünftägigen Wartezeit ruft Dr. Cherith – ein ehemaliger Kommilitone von Margarets Verlobtem Dr. Drake Carroll, wie sich herausstellt – Kelley an, um ihm mitzuteilen, dass er anscheinend aus dem Schneider ist.
»Der Krebs ist verschwunden«, sagt Dr. Cherith. »Natürlich gibt es keine Garantie. Aber fürs Erste haben Sie ihn besiegt.«
Nachdem Kelley aufgelegt hat, macht er einen tiefen Yoga-Atemzug und atmet dann zu einem Om aus, wie Mitzi es ihm beigebracht hat. Dank an Mutter Erde, Dank an Gott im Himmel. Er hat die Krankheit besiegt. Leicht war es nicht; Prostatakrebs ist nicht gerade glamourös. Kelley hat über einen Monat in Windeln für Erwachsene verbracht, eine Tatsache, die er gern möglichst schnell vergessen würde. Und die Bestrahlung hat ihn erschöpft. Zum Glück hatte Mitzi George verlassen und war zu ihm zurückgekehrt. Sie übernahm die völlige Kontrolle über seine Ernährung und traf alle Entscheidungen. Sie brachte Kelley jeden Morgen Frühstück ans Bett – Acai Bowls mit Obst und Samen und Nüssen aus biologischem Anbau – und las ihm jeden Abend vor. Sie haben die ersten drei Harry-Potter-Bände geschafft, Bücher, die Kelley schon lange hatte lesen wollen – er liebte Fantasy-Romane –, doch als sie erschienen, waren seine Kinder schon zu alt für sie und seine Enkel noch nicht alt genug. Mitzi hat eine wundervolle Lesestimme – klar und ausdrucksstark –, und an einer Stelle wandte Kelley sich zu ihr und fragte: »Hast du jemals eine Karriere in Funk oder Fernsehen in Betracht gezogen?«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich bin Mitzi, Kelley. Nicht Margaret.«
»Das weiß ich«, sagte Kelley, obwohl er erkannte, dass er für einen Moment durcheinandergeraten war. Das war eine Nebenwirkung der Bestrahlung: geistige Verwirrtheit. Kelley hatte so intensive Träume, dass er sie manchmal für real hielt. In seinem lebhaftesten trat das US-Militär in Kontakt mit Angehörigen der afghanischen Rebellengruppe Beleh, die Bart und seine Kameraden gefangen genommen hatte, und fragte, was sie im Austausch für die Soldaten akzeptieren würden. Sie forderten Leonardo DiCaprio und hundert Dutzend Schokoladenkekse. Die Transaktion ging vonstatten, und Bart kam heil und gesund nach Hause, unversehrt bis auf das Tattoo eines Sterns auf seiner Wange. Mitzi schrie – das Gesicht ihres Babys! –, Kelley dagegen schloss seinen Sohn einfach in die Arme, küsste den Stern und dachte: Ich lasse ihn nie wieder los.
Das hat Kelley getan und ist siegreich daraus hervorgegangen!
Bald wird er allen die Neuigkeit mitteilen. Doch zuerst will Kelley die Nantucket Pharmacy in der Main Street aufsuchen und sich an der Essenstheke das Schinken-mit-Gewürzgurke-Sandwich und ein Schokoladenfrappé bestellen. Von genau so einem Lunch hat er wegen Mitzis vegetarischer Diät monatelang nur träumen können.
Wenn Kelley nie wieder ein Blatt Grünkohl sieht, wird auch das noch zu früh sein.