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Buch

Wahre Liebe, Familie, Rache, eine zweite Chance, Aufrichtigkeit … Albert Espinosas Roman erzählt berührend die schwierige Beziehung von Ekaitz zu seinem schwerkranken Vater, erzählt von Ekaitz’ Verzweiflung, nachdem seine Frau bei einem Unfall ums Leben kommt. Gekonnt, voller Empathie und Zuversicht schildert der Autor, was für Geschenke das Leben bereithält, wenn man glaubt, vermeintlich alles verloren zu haben.

Autor

Albert Espinosa, geboren 1973, ist Autor, Schauspieler, Film- und Theaterregisseur und lebt in Barcelona. Sein Erstling wurde weltweit in über 20 Sprachen übersetzt und in mehreren Ländern höchst erfolgreich als TV-Serie verfilmt. Seither hat Albert Espinosa diverse weitere Romane und Sachbücher veröffentlicht.

Von Albert Espinosa sind bei Goldmann außerdem erschienen

Club der roten Bänder

Glücksgeheimnisse aus der gelben Welt

Club der blauen Welt

Albert Espinosa

MEIN

LÄCHELN

IN DEINER

HAND

Geschichte einer Heimkehr

Roman

Aus dem Spanischen von Sonja Hagemann

Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Brújulas que buscan sonrisas perdidas bei Grijalbo & Rosa dels Vents, einem Imprint von Penguin Random House Grupo Editorial, S.A.U., Barcelona.

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V1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Oktober 2017

© 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2013 Albert Espinosa Puig

© 2013 Random House Mondadori, S. A., Travessera de Gràcia, 47-49, 08021 Barcelona

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, nach einer Vorlage von Penguin Random House Grupo Editorial/Manuel Esclapez

Coverillustration: © Llorenç Pons Moll

Lektorat: Judith Mark, Freiburg i. Br.

fm ∙ Herstellung: cf

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-20639-0
V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

1 Der faszinierende Junge, der beim Basteln die Zunge rausstreckte

2 Sommerdüfte einatmen, um den Winter zu überstehen

3 Geschlossene Fäuste, voll von offenem Lächeln

4 Die Lunge kitzeln

5 Ticks, die wir verschieben, damit sie uns nicht kontrollieren

6 Menschliche Kartoffelsäcke, die gehen, rauchen und Accessoires tragen

7 Tumm

8 Die Vormittage sind einfach, die Nachmittage schwierig, die Nächte unmöglich

9 Jede Familie hat die Feiglinge, die sie sich leisten kann

10 Wenn er kein guter Vater war, dann müssen wir auch keine guten Söhne sein

11 Leben, das du zurückbekommst

12 Adoptieren ist typisch Mutter

13 Archipele der Aufrichtigkeit

14 Vielleicht sollten wir unsere Schnuller einfach behalten

15 Kaum spürbare Zärtlichkeiten auf dicker Pferdehaut

16 Ich bin für sie geschwommen. Und ich werde für ihn schwimmen

17 Am schwierigsten ist die Rückkehr

18 Beulen, die für geteiltes Leben stehen

19 Es ist ja nicht so, als hätte ich dir nichts zu sagen, ich hab dir nur schon alles gesagt

Verfasst im Sommer 2012 in und auf

Menorca, Escala, Barcelona, Las Pungolas,

Buenos Aires, Paris, London,

Fuenlabrada, Córdoba und A Coruña

Um zu leben, muss man leben …

Das sollten wir nie vergessen.

A

Der faszinierende Junge, der beim Basteln die Zunge rausstreckte

Mein Vater war der faszinierende Junge, der beim Basteln die Zunge rausstreckte. Nein, er selbst hat mir das nie gesagt. Wir haben ja kaum miteinander geredet.

Ich weiß es, weil ich es in der Widmung eines Buches gelesen habe, das meine Großmutter ihm zum achten Geburtstag geschenkt hat. Und er schenkte es dann mir, als ich genauso alt wurde. Damals ließ er mich glauben, dass er es extra für mich gekauft hatte. Und ahnte dabei nicht, dass die Widmung seiner Mutter ihn verraten würde.

Für den faszinierenden Jungen, der beim Basteln die Zunge rausstreckt: Vergiss nie, dass du alles sein kannst, was du willst.

Schade, dass diese Widmung nicht mir galt. Seit jenem Tag habe ich nie wieder etwas verschenkt, das ich vorher selbst geschenkt bekommen hatte.

Kindheitstraumata, aus denen bestehen wir schließlich alle, aus Kindheitstraumata …

Als ich Vater nach vielen Jahren wieder begegnete, hatte ihn seine Krankheit bereits verändert. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, dass sie ihn verwandelt hatte. Es war mir ein Bedürfnis gewesen, ihn noch einmal zu sehen. Mit meinem großen Bruder konnten wir schon seit Jahren nicht mehr rechnen, außerdem hatte ich es Mutter vor ihrem Tod ja versprochen. »Ich werd mich um ihn kümmern. Versprochen. Ich werde für ihn da sein …«

Das war gelogen, ich wollte nun wirklich nicht für ihn sorgen. Aber wenn der Mensch gehen muss, der dich aufgezogen hat, dann versprichst du ihm einfach alles.

Vermutlich ist es nicht viel anders, wenn du zur Welt kommst. Dann verspricht dir die Person, die dich aufzieht und erzieht, auch tausend Sachen, die sich nicht erfüllen werden. Und schließlich musst du dann raus ins Leben. Und da verteidigt dich niemand, niemand erspart dir die Angriffe anderer. Noch nicht einmal die deiner eigenen Familie.

Eigentlich hatte ich meine Worte ja nie für eine echte Verpflichtung gehalten. Sie hatten doch nur der Frau gegolten, die mich großgezogen hatte. Ich dachte, dass ich dieses Versprechen nie erfüllen würde, weil Vater meine Rückkehr gar nicht verdient hatte. Aber als es dann so weit war, machte ich mich doch auf den Weg zurück zu ihm.

Mein Leben war seltsam. Oder so empfand ich es zumindest.

Kennt ihr das, wenn Tage und Nächte irgendwie ineinander übergehen?

Wenn man sich abends ins Bett legt und denkt, dass doch unmöglich schon wieder ein Tag verstrichen sein kann?

Das passierte mir einfach jeden Abend, jede Nacht. Und irgendwie war das gar kein Leben mehr, stattdessen nahm ich bloß noch wahr, wie rund um meinen Biorhythmus die Zeit verstrich. Sie verrann so schnell, dass ich den Eindruck hatte, der Tod müsse mich bald einholen.

Aber dann kam er doch nicht, es war bloß ein Gefühl gewesen. Mein Leben war nicht leicht, weil einfach viel zu viel in viel zu kurzer Zeit passiert war.

Es … es kam mir so vor, als würde ich gar nicht an den Ort gehören, an dem ich mich befand. Die Gepflogenheiten dort gefielen mir nicht, und ich hatte Lust auf etwas Neues.

Und mir war klar, dass ich dafür Zeit hatte. Manchmal entdeckte ich nämlich Fotos von mir, die ein paar Jahre alt waren und auf denen ich so jung und voller Tatendrang aussah. Dann erahnte ich, dass hinter diesen Augen ein Mensch steckte, der einfach alles schaffen konnte. Im wahren Leben empfand ich das allerdings nicht so. Da fühlte ich mich alt und hatte das Gefühl, dass meine Ziele in weiter Ferne lagen.

Beim Betrachten von Fotos begreift man eben, dass früher alles viel besser war, als man damals geglaubt hat.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass mich diese Überlegungen zu etwas Besonderem machten. Wahrscheinlich war ich auf dieselbe Art und Weise anders wie alle anderen auch.

Verunsichert ist im Leben doch jeder mal …

Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, in der ich aus beruflichen Gründen dauernd in Hotels übernachten musste. Jede Woche in vier oder fünf. Da kam ich mir dann wie ein Teil von ihnen vor und fand dieses Leben ziemlich bequem. Wenn man es sich in Hotelzimmern denn je wirklich bequem machen kann …

In Hotels ist alles so künstlich.

Das Tischchen im Zimmer, an dem man ja doch nie etwas schreiben wird.

Die Briefumschläge mit dem Logo des Hotels, die du nie abschicken wirst, die nie ihre schwarze Mappe verlassen werden.

Die Döschen mit bunten Kosmetikprodukten, die du nicht benutzt, die aber trotzdem irgendwie in deinem Koffer landen. Und dann zu Hause bei dir im Badezimmer … und ein paar Jahre später schließlich im Müll … ungeöffnet. Diese bunten Döschen haben wirklich einen seltsamen Lebenszyklus. Obwohl er dem mancher Menschen ähneln mag …

In einem dieser Hotels ist mir vor etlichen Jahren etwas wirklich Verblüffendes passiert.

Als ich ins Bett ging, lag auf dem Kopfkissen ein Zettel mit einer goldenen Handschrift auf schwarzem Papier. Der Text war ein Zitat von Voltaire.

Wer glaubt, dass Geld alles kann, wird irgendwann alles für Geld tun. Dabei ist nur wirklich reich, wer seine Wünsche zu beschränken weiß.

Ich war begeistert davon, dass mich hier statt der üblichen Pralinen oder Fragebogen zum Hotel ein nächtlicher Denkanstoß auf dem Kissen erwartete.

Auch die riesige goldene Schrift fand ich toll … komplett in Großbuchstaben und ohne jeden Fehler. Ich las das Zitat immer wieder, bis ich schließlich friedlich einschlummerte.

Dabei war mir natürlich klar, dass man diesen Spruch nicht speziell für mich dort liegen gelassen hatte. Es handelte sich um eine ganz allgemeine Textstelle, durch die sich jeder angesprochen und gerührt fühlen konnte.

Deshalb weiß ich auch nicht so genau, warum ich am nächsten Morgen unbedingt den Urheber des Kärtchens ausfindig machen wollte.

Ich erkundigte mich an der Rezeption, und nachdem dort ein Geldschein den Besitzer gewechselt hatte, kam ich schnell an die gewünschte Information. Das Zitat stammte vom Nachtportier, der etwa 65 Jahre alt war und ein glückliches Lächeln auf den Lippen trug.

Er erzählte mir, dass er bereits seit 30 Jahren Sätze auf Kopfkissen hinterließ. Jeden Tag ein Zitat von den ganz Großen …

Außer am Sonntag, da erlaubte er sich, sich selbst zu zitieren. Er wurde rot, als er das sagte.

Als ich ihn nach dem Grund fragte, erklärte er mir, dass die Menschen in diesen stressigen Zeiten abends manchmal ohne jede Reflexion schlafen gingen. Und das sollte nicht so sein. Deshalb würde er etwas dagegen tun, solange er über dieses Hotel wachte.

Wieder errötete er. Er war offenbar nicht daran gewöhnt, über sich selbst zu reden, und noch viel weniger daran, dass man ihm auch zuhörte.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und ich würde auch die Nacht zum Montag im Hotel verbringen. Gespannt wartete ich auf den Einbruch der Dunkelheit. Als ich abends in mein Zimmer zurückkehrte, freute ich mich schon darauf, das Zitat des Nachtportiers zu lesen. Und da lag es wirklich exakt in der Mitte des Kissens, in goldenen Lettern auf schwarzem Grund.

Nun hatte ich also den Sonntagsgedanken des Portiers vor mir, seine ganz persönlichen Überlegungen, die er hier im Hotel mit den ihm unbekannten Gästen teilte.

Ich überprüfte den Inhalt der Minibar – viele kleine Fläschchen, aber die immerhin wurden ja in Hotels meist genussvoll geleert – und beschloss, mir einen Gin Tonic zu gönnen. Ich griff ohne hinzusehen nach dem Kärtchen, und nahm es zusammen mit meinem Drink mit hinaus auf den kleinen Balkon. Als Nächstes holte ich mir eine Zigarette, rauchte sie, ohne den Qualm einzuatmen, und labte mich an der Lektüre.

Und wenn die, die sterben, eine Wahrheit entdeckt haben … eine Wahrheit über Liebe, Freundschaft, über sich selbst … und wir die Unwissenden sind?

Vielleicht ist das ja der Sinn des Lebens: Wir alle wissen unterschiedliche Dinge nicht, bis wir eines Tages verschwinden. Und dann erlaubt uns die Wahrheit, zu gehen. Könnte es nicht so sein?

5. November

A.

Als ich aus dem Hotel auszog, kam dieses Zitat mit. Am nächsten Morgen war A., der Portier, leider nicht da, aber ich hatte längst beschlossen, dass ich in dieses Hotel nur noch sonntags zurückkehren würde.

Ich weiß schon, dass dieser Satz nicht viel mit meinem Vater zu tun hatte, aber ausgerechnet am Morgen eines 5. November viele Jahre später war mein Vater sehr krank, und ich beschloss, mein Elternhaus zu besuchen.

Und dieses Zitat kam mit. Es war Freitag, als ich vom Auto aus das Haus unserer Familie und den See daneben wiedersah.

Ich kehrte nicht allein zurück … und mein persönlicher Ballast wog dabei ganz schön schwer.

Sommerdüfte einatmen, um den Winter zu überstehen

So kehrte ich also an den Ort zurück, an dem ich aufgewachsen war. Für mich verhieß die Rückkehr nach Hause allerdings nichts Gutes, und bei Veränderungen kommen ja immer widersprüchliche Gefühle hoch. Mir war das zwar nicht klar, aber ich sehnte mich in diesem Moment nach einem Gefühl, brauchte unbedingt eine Emotion. Allerdings wusste ich das noch nicht.

Es war kalt an jenem Morgen des 5. November, als ich an dem riesigen Haus ankam. Es gehörte Vaters Familie bereits seit vier Generationen, was übrigens auch der Staub in allen Zimmern bewies.

Dort hatte ich meine Kindheit verbracht, meine schönsten Jahre und auch die schlimmsten. Oder so ist es mir zumindest in Erinnerung geblieben …

Als ich das Auto parkte, stand Vater draußen auf der Veranda, als hätte er mich erwartet.

Er behielt mich im Auge, während ich die Wagentür öffnete. Bis ich dann endlich einen Fuß auf diesen Boden setzte, verstrich jedoch einiges an Zeit. Ich war mir einfach nicht sicher, ob dieser Besuch wirklich eine gute Idee gewesen war. Deshalb hatte ich auch nichts mitgebracht, kein Gepäck, keine persönlichen Gegenstände; ich hatte meine ganze Welt hinter mir zurückgelassen.

All mein Besitz befand sich in einigen Kilometern Entfernung.

Ich wollte es von dieser ersten Begegnung abhängig machen, ob ich mein Versprechen, mich um meinen Vater zu kümmern, wirklich halten würde … Vater beobachtete mich noch immer, wobei sich in seinem Gesicht keinerlei Emotionen spiegelten. Er schaute einfach nur von der Veranda her zu mir rüber.

Einen schlimmeren Empfang hätte ich mir kaum vorstellen können. Wahrscheinlich machte ihm meine Rückkehr auch keine Freude, aber er war sich vermutlich dessen bewusst, dass er mich brauchte.

Mein Vater war sehr krank, und das wusste er auch. Vermutlich akzeptierte er meine Rückkehr deshalb, weil sich nicht einmal die Todgeweihten nach Einsamkeit sehnen.

Die Krankenschwester, die ihn während der letzten Jahre gepflegt hatte, stand ein paar Schritte hinter ihm. Als ich nun einen Fuß auf seine Erde setzte, machte er einen kleinen Schritt nach hinten, und die Krankenschwester kam näher.

Zunächst einmal entschuldigte sie sich dafür, dass sie sich nicht länger um meinen Vater kümmern konnte. Sie musste gehen, weil ihre Familie sie brauchte.

Vermutlich fällt die Entscheidung nicht schwer, wenn man zwischen seinem eigen Fleisch und Blut und einem Wildfremden wählen muss. In meinem Fall war die Sache aber nicht so klar … Auf dem Weg vom Auto zur Veranda informierte mich die Schwester und gab mir Tipps – Namen von Medikamenten, Einnahmezeiten und ein kleines Heftchen, in dem sie alles notiert hatte.

Ich habe noch nie gut zwei Dinge gleichzeitig tun können, deswegen hörte ich kaum zu.

Und jetzt fiel es mir schon schwer genug, meinen Vater anzusehen. Er beobachtete mich weiterhin aus der Ferne, stand beinahe im Rahmen der Haustür, fast in ihrem Schatten.

Es kam mir so vor, als würde sein Gesicht immer mehr Erstaunen ausdrücken, je leiser die Stimme der Pflegerin wurde.

Als wir am Fuß der Verandatreppe ankamen, schien die Frau mir alles Wichtige gesagt zu haben. Deshalb trat sie jetzt ein paar Schritte zur Seite, um uns etwas Privatsphäre zu geben.

Ich war nur noch ein paar Meter von Vater entfernt, nicht mehr als die sechs Stufen, die zur Verandatür hinaufführten.

Und jetzt musste ich mit ihm reden … in Erfahrung bringen, was er von mir wollte und was ich ihm zu bieten hatte.

Ich hätte mich ihm schon lange stellen sollen.

Als ich die Treppe hinaufstieg, entfernte sich die Krankenschwester noch etwas weiter. Mein Vater schaute mich an, sagte aber nichts. Dann ging er in den ersten Stock hinauf, wo sich auch mein Zimmer befand, und ich folgte ihm.

Plötzlich erschien es mir bedeutsamer als erwartet, diese Treppe hinaufzusteigen, die früher mal Dreh- und Angelpunkt meiner kleinen Welt gewesen war.

Ich war doch aus diesem Haus fortgegangen, um Vater nie wiederzusehen, und vor allem, um es im Leben zu etwas zu bringen. Und beides war mir bis jetzt gelungen. Aber während all dieser Jahre hatte ich auch das Gefühl gehabt, dass mich meine persönlichen Ziele weit von meinen Wurzeln weggeführt hatten … so weit weg von diesem Zuhause.

Und zurückzukommen fand ich ganz schrecklich. Meiner Meinung nach ergab dieser Weg zurück keinen Sinn, und ich war ja auch nur hier, weil mir der Verlust eines Elternteils Worte in den Mund gelegt hatte.

Jede einzelne Stufe auf dem Weg in den ersten Stock stellte ein weiteres Argument gegen meine Entscheidung dar.

Und dann erreichte ich schließlich das Zimmer, das jahrelang meins gewesen war. Den Türknauf zierte meine Initiale, ein riesiges E, das ich vor Jahren mal in der Weihnachtszeit dort hineingeritzt hatte. Vater stand jetzt direkt daneben, aber nicht er drehte den Knauf, sondern ich selbst.

Als ich die Tür öffnete, erfüllte mich Melancholie, weil dem Zimmer immer noch der Geruch meiner Kindheit anhaftete. Ich fand es unglaublich, dass er nicht verflogen war. Mir kam es so vor, als sei der Raum hermetisch verriegelt worden, damit ich eines Tages hier ankommen, die Tür öffnen und den alten Duft wieder in mich aufnehmen konnte.

Ich kannte doch inzwischen zig Wohnungen, Hotels und Dachterrassen, aber so ein Geruch war mir seit meiner Kindheit nie wieder untergekommen.

Der musste wohl einzigartig sein … wahrscheinlich war dazu das Zusammenspiel von jedem einzelnen Möbelstück, jedem Buch und Spielzeug nötig.

Selbst mit sechs oder sieben Gegenständen aus dem Zimmer hätte ich diesen Geruch so nirgendwo anders heraufbeschwören können. Tief sog ich diese ganz persönliche und magische Luft in mich ein.

Meine Frau hatte immer gesagt, dass man unwiederholbare Momente tief einatmen muss.

Sie sog Erinnerungen in sich auf.

Vor allem Sommerdüfte, die sie für den Winter aufbewahrte, wie sie mir erklärte.

Meine Frau mochte die Kälte nicht und erzählte mir, dass ein Teil ihres Gehirns sich an den Sommerdüften festhielt, um den Winter zu bekämpfen. Deshalb berührte sie mich immer im Nacken, wenn uns etwas Gutes passierte, und sagte: »Atme ein, tief einatmen!«

Wie sehr mir meine Frau fehlte. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, während ich im Kino gesessen hatte. Ich hatte wie immer das Handy ausgemacht, um mal die Welt hinter mir zu lassen.

Als ich wieder rauskam, schaltete ich das Mobiltelefon ein und entdeckte 23 Anrufe in Abwesenheit. Natürlich befürchtete ich sofort das Schlimmste und wählte voller Angst die Nummer der Mailbox.

Leider wusste ich schon seit Jahren, dass der Tod ziemlich hartnäckig ist, wenn er sich erst einmal gemeldet hat.

Das Auto meiner Frau war gegen eine Leitplanke geknallt, dann quer über drei Fahrspuren geschleudert worden, gegen die Leitplanke auf der anderen Seite geprallt und wieder über die drei Fahrspuren geschlittert.

Jenen Straßenabschnitt kann ich seitdem nicht mehr befahren und mache die wildesten Umwege, um ihn zu vermeiden.

Damals hörte ich mehrere andere Nachrichten ab, bevor dann die entscheidende kam. Der Anrufer wollte keine Informationen preisgeben und nur persönlich mit mir sprechen.

Ich stand direkt im Eingang des Kinos, wo über mir Poster sechs Frühlingsfilme ankündigten. Um mich herum strömten Leute herbei, die auf der Suche nach Emotionen waren oder der Langeweile entfliehen wollten.

Für diese Jahreszeit hatte man die Klimaanlage des Kinos viel zu hoch eingestellt, deshalb war mein halber Körper völlig durchgefroren – die Hälfte, die sich noch im Gebäude befand.

Nach vier anderen Nachrichten ertönte dann diese neutrale Stimme, ganz ähnlich denjenigen, die einen sonst zum Wechsel des Handyanbieters überreden wollen: »Kommen Sie bitte ins Hospital Miramar. Ihre Frau ist lebensgefährlich verletzt. Sie hatte …«

An dieser Stelle wurde die Nachricht unterbrochen, und es erklang nur noch Stille.

Aber meine Welt war bereits explodiert, deshalb sank ich in die Hocke, während die Angst über mich hinwegrollte.

Niemand schien sich zu fragen, was denn mit mir los war. Der Schmerz anderer Menschen führt in der Öffentlichkeit wohl nur zu Befremden.

Keine Ahnung, wie lange ich reglos dahockte. Es war, als ob mein Gehirn sich neu hochfahren würde, in der Hoffnung, dass in Wirklichkeit gar nichts passiert war. Irgendwann beschloss ich, mich in Gang zu setzen. Hier konnte ich nicht bleiben, jetzt hieß es handeln. Darum griff ich nach dem Handy und rief meine Frau an. Als Erstes musste ich mich einfach bei ihr melden.

Denn vielleicht war ja alles gelogen. Ich hatte mal gehört, dass man im Internet leicht an die Daten von Menschen kommen konnte, die irgendwelche Eintrittskarten online gekauft hatten. Dann riefen Kriminelle diese Leute an und lockten sie mit einer erfundenen Geschichte an ein Ende der Stadt, während sie ihnen am anderen Ende die Wohnung ausräumten.

Ja, bestimmt war es so, versuchte ich mir selbst einzureden, obwohl das doch gar keinen Sinn ergab.

Nachdem ich gewählt hatte, klingelte das Telefon meiner Frau auch, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Dreimal, viermal. Aber sie ging nicht ran, also legte ich wieder auf.

Und dann erschien auf einmal eine unglaublich lange Nummer auf dem Display, genauso lang wie die der Anrufe in Abwesenheit. Die Ziffern schienen allerdings anders zu sein. Es klingelte drei- oder viermal, bis ich endlich ranging. Und dann hörte ich am anderen Ende jemanden atmen.

Nur das, dieses beschwerliche Atmen, aber ich wusste, dass es zu meiner Frau gehörte. Ihre Atmung hätte ich überall wiedererkannt. Ich hatte meine Frau voller Lust atmen hören, mit Husten und während einer Geburt. Ich hatte sie bereits bei so vielen Gelegenheiten atmen hören – an meiner Seite, durch Türen und Gegensprechanlagen hindurch, wenn sie mich anschrie oder »Ich liebe dich« sagte.

Und deshalb erkannte ich ihren Atem, auch wenn ich ihn so noch nie gehört hatte, im Augenblick des Erlöschens.

»Hallo, mein Schatz«, stieß meine Frau abgehackt hervor.

Und da wusste ich, dass es stimmte.

»Wo bist du? Wo bist du? Wo?«, fragte ich, während ich in Richtung Auto loslief.

In meiner Erinnerung kommt es mir so vor, als wäre ich seit meiner Kindheit nicht mehr mit solcher Verzweiflung gerannt. So dringend war schon seit vielen Jahren nichts mehr gewesen.

Und dann wusste ich plötzlich nicht mehr genau, wo ich überhaupt geparkt hatte. Weil ich oft in dieses Kino ging, wirbelte mein Gehirn plötzlich alle möglichen Parkplätze aus der Vergangenheit durcheinander.

»Du kommst nicht mehr rechtzeitig. Tut mir leid. Es tut mir so leid.« Und dann versagte ihr die Stimme. Ihre Atmung setzte aus.

Sofort ertönte dann eine neue Atmung, die ich nicht kannte, sie klang nach Krankenschwester oder Arzt. Diese andere Stimme wollte mir gern ihr Mitgefühl ausdrücken, aber das war jetzt nicht der richtige Moment. Deshalb legte ich einfach auf.

Sie war tot. Das konnte doch nicht sein. Und dann noch dieses »Tut mir leid«. Warum tat es ihr denn leid? Automatisch musste ich an die beiden Kleinen denken … sollte ich die heute abholen oder sie? Wer war an diesem Tag dran?

Ich wusste nicht, worauf sich dieses »Tut mir leid« bezog. Auf ihren Tod, auf den Unfall oder vielleicht darauf, dass sie mich mit den Mädchen allein ließ? Oder vielleicht auf etwas anderes, was ich zu befürchten begann – dass nämlich die Zwillinge bei ihr gewesen waren?

mir

»Du bist der beste Regieassistent, das ist klar, deshalb brauche ich deine Hilfe. Ich vertraue dir.«

Ich war noch nie Regieassistent gewesen.

Er hatte noch nie meine Hilfe gebraucht.

Und er hatte mir auch noch nie vertraut.

Drei Lügen in einer einzigen Äußerung.

Das war nicht er, da spielte ihm die Alzheimerkrankheit einen Streich.

Er kam zu mir rüber.

Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Morgen ist Samstag, lass uns da den Drehort suchen. Stell mein übliches Team zusammen und organisier uns ein Auto. Wir treffen uns morgen früh um acht am See. Bei der Arbeit erwarte ich Pünktlichkeit, Professionalität und Intelligenz, Lösungen und Respekt. Kann ich das von dir erwarten?«

Einen Moment herrschte Stille, und seine Hand lag schwer auf meiner Schulter, während er mich ansah. Es dauerte, bis ich ein Wort herausbekam. Aber dann sagte ich schließlich: »Ja, Sie können auf mich zählen. Keine Sorge, ich werde um acht Uhr dort sein.«

Keine Ahnung, warum ich mitspielte. Ich weiß nicht, warum ich mich darauf einließ, aber er drückte mir nur die Schulter und wandte sich dann ab. Ich glaube, so viel Körperkontakt hatten wir noch nie zuvor gehabt, und es schien sogar fast ein wenig Zärtlichkeit in der Geste gelegen zu haben.

Mir war die Berührung unangenehm gewesen, zugleich hatte sie jedoch so etwas wie Glück in mir ausgelöst.

Wahrscheinlich hatte ich deshalb beschlossen, mich auf Vaters Spiel einzulassen. Vielleicht brauchte ich das ja.