Zum Buch
Bei Tim Winton ist die Natur Australiens allgegenwärtig, und in seinen Erinnerungen erzählt er, wie diese enge Beziehung zur australischen Landschaft entstanden ist, wie sehr sie seine Gedanken, sein Schreiben und sein Leben prägt. Sein beeindruckendes, poetisches und intensives Buch ist auch ein Plädoyer für Achtsamkeit, für einen neuen Dialog mit der Natur.
Er ist auf Berge geklettert, hat in der Wüste gecampt, am Ningaloo Reef getaucht, ist auf den Wellen rund um seine Insel gesurft, allein, mit Freunden, mit der Familie. Und er hat dabei Schönheit und Schrecken seines Landes erlebt, hat den Rhythmus, die Gefahren, das eigenständige Wesen der Natur erfahren. Denn, trotz aller Konflikte zwischen der Wildnis und der menschlichen Zivilisation, trotz aller bereits manifesten Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel: Die Natur ist auch ohne den Menschen da. Tim Winton erzählt davon, wie gut es tun kann, sich bewusst zu machen, dass es immer etwas geben wird, das älter, größer, reicher und komplexer ist als wir, die Menschen. Die Gedankenwelt und der Erfahrungsschatz der Aborigines spielen in seinen Beobachtungen eine große Rolle, denn ihr ganz eigenes Verhältnis zur natürlichen Welt könnte uns allen, nicht nur in Australien, Mahnung wie Geschenk sein.
Zum Autor
TIM WINTON wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren und lebt auch heute mit seiner Familie dort. Er hat zahlreiche Romane, Sach- und Kinderbücher sowie ein Theaterstück veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die Shortlist des Man Booker Prize, und viermal erhielt er den Miles Franklin Award, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, fast alles wurde für Bühne, Radio oder Film adaptiert. Für »Inselleben« wurde er mit dem General Non-fiction Book of the Year Award 2016 ausgezeichnet.
Zum Übersetzer
KLAUS BERR, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München und Wales, ist der Übersetzer von u. a. Charles Chadwick, Michael Crichton, Lawrence Ferlinghetti, Noah Gordon und Will Self.
Tim Winton
INSELLEBEN
Mein Australien
Aus dem australischen Englisch
von Klaus Berr
Luchterhand
Für Hannah Rachel Bell
Geh heim, die Sonne versinkt; Schwimmer, geh heim
Judith Wright, »The Surfer«
Meine Inselheimat wartet auf mich
Neil Murray, »My Island Home«
I
County Offaly, 1988
Unter einem schwarzen Himmel, der uns bis zu den Ohren hängt, klettern mein Sohn und ich im eisigen, böigen Wind über den Zauntritt. Hagel prasselt schräg auf uns herab. Weder die Hecke noch die angrenzende Bruchsteinmauer bieten viel Schutz, deshalb stapfen wir rasch die lange, unebene Wiese hinauf zum Cottage und dem wartenden Feuer. Eben noch waren die schwarzen Schieferplatten und der weiße Kamin vor der Hügelkuppe deutlich sichtbar; jetzt ist alles außer der Grasnarbe vor unseren Füßen verdeckt von dem Gestöber, das den Hang herunterfegt. Ich hatte erwartet, dass sich mein Junge von den Eisnadeln und dem unvermittelt wüsten Nachmittag einschüchtern lässt, aber er wirkt wie verzaubert. Er ist fast vier Jahre alt. Der kurze, trübe Tag bringt endlich ein bisschen Aufregung. Seinen Knotenstock schwingend wie ein marodierender Freibeuter, patscht er in seinen orangen Gummistiefeln den Hügel hoch, und gemeinsam scheuchen wir unabsichtlich einen großen Hasen auf. Das Tier hatte sich ins klumpige Gras geduckt, und im ersten Augenblick kann es uns nur schreckenssteif anstarren. Dann rennt es davon. Es jagt den Abhang hinauf, von einem Grasbüschel zum nächsten. Wir schauen uns kurz an, der Junge und ich, dann rennen wir ihm mit Piratengeschrei hinterher.
Später am Feuer stellt er seine heiße Schokolade ab und schaut zu den Schnappschüssen von Zuhause, die wir an die Wand geheftet haben. All die sonnengegerbten Gesichter, Freunde und Familie. Hässliche Fischerhüte und nackte Oberkörper. Hunde in Pick-ups. Der endlose, leere Raum hinter den Leuten, der hohe Himmel und der offene Horizont. Lange verweilt er bei den verträumten, weißen Stränden und den gesprenkelten Kalksteinriffen bei Ebbe, Dünen wie gemeißelt im Sonnenuntergang.
»Ist das echt?«, fragt er, die Wangen rosig, die Haare zerzaust vom Handtuch.
»Natürlich«, antworte ich überrascht. »Erinnerst du dich nicht mehr? Schau. Da ist Granma. Und dort ist Shaz.«
Aber er streicht mit dem Finger über den Himmel und das Meer hinter unseren Lieben, als wäre die Wirklichkeit, die er einmal kannte, so fern, so anders als hier, wo wir jetzt sind, dass sie unglaubwürdig erscheint.
»Das ist unser Zuhause«, sage ich. »Weißt du noch? Das ist Australien.«
Es ist erst ein Jahr her, aber das ist ein großer Teil seines noch kurzen Lebens, und schon hat unser Zuhause phantastische Züge angenommen. Davor waren wir in Paris, was großartig war, auch wenn es nur aus harten Oberflächen und klar getrennten Räumen bestand. Es gab wunderliche Tunnel, Pflastersteine und geschwungene Wände, winzige Autos und rasende U-Bahnen, aber so viele offene Flächen waren verbarrikadiert und eingezäunt, und für ihn war es schwer, andere Kinder kennenzulernen. Die bürgerlichen Kinder in der Nachbarschaft wurden in Wagen geschnallt und von Au-pair-Mädchen geschoben oder zu Fuß in Horden von blaffenden Lehrern vorangescheucht. An den Wochenenden wurden die Sprösslinge in Cafés vorgeführt und zur Schau gestellt wie Mode-Accessoires, als Nachweis des guten Geschmacks und der ausgezeichneten gallischen Gene ihrer Eltern. Im Haus mochten diese Kinder urbane Oberschicht sein, draußen aber sahen sie aus wie Vasallen. In Paris war es illegal, auf dem Rasen zu spielen. Die einzigen ungeplanten sozialen Begegnungen fanden in der Schlange vor dem Karussell auf dem Marktplatz des Viertels statt oder im begrenzten Raum eines weiß bekiesten Spielplatzes, der eingepfercht war wie ein Viehhof. Kinder, die sich nicht kannten, beäugten einander aus der Entfernung.
In vielerlei Hinsicht war Paris eine angenehme Stadt. Wohin man schaute, war Schönheit. Wir hatten zuvor noch nie in einer Wohnung gelebt, und dass wir uns mit den Geräuschen und Gerüchen anderer so dicht über und neben uns herumschlagen mussten, war merkwürdig und aufregend. Doch als der Winter einsetzte und die Brunnen zu kandierten Kaskaden gefroren und wir gezwungen waren, drinnen zu bleiben, staute sich in unserem kleinen Jungen etwas an, das wir nicht ignorieren konnten. Ich spürte sie in mir selbst, diese nagende Erregung, verstand sie aber erst Monate später, als wir in einem irischen Hagelsturm wie zwei Verrückte einen Hügel hinaufrannten. Eine Weile hatte ich angenommen, unser aller wachsende Gereiztheit sei das Resultat kultureller Erschöpfung – die permanente Verwunderung über örtliche Sitten und Gebräuche –, die wahren Ursachen jedoch waren körperliche Einschränkung und das Fehlen von Wildheit.
Während der große Sturm über uns tobte, kam meine Frau ins Zimmer und setzte sich ans Feuer. Sie strich unserem Sohn durch die Haare und schaute mich fragend an. Es war, als hätte sie den Stimmungsumschwung sofort bemerkt.
»Wenn wir nach Hause kommen«, verkündete der Junge, »besorgen wir uns einen Hund. In einem Pick-up.«
Als er dann später oben in seinem Dachzimmer schlief, redeten wir noch lange darüber. Wir wussten, wonach er sich eigentlich sehnte, war nicht wirklich ein Haustier oder das Auto, in dem es sitzen konnte, sondern wofür beides stand – sein australisches Leben. Und die wilden, leeren Räume, die es ermöglichten.