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Konstantin Wecker

Der Klang der ungespielten Töne

Roman

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © Cara-foto/shutterstock

ISBN 978-3-641-20942-1
V001

www.gtvh.de

Vorwort

zur Neuauflage des Romans
Der Klang der ungespielten Töne

Michael Dangl

Von all den wundersamen Verwandlungen des Künstlers Konstantin Wecker ist die in den suchenden, irrenden und zuletzt findenden Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner vielleicht die wundersamste. Dass es eine Verwandlung ist, dass der Autor seiner Figur mehr geliehen hat als seine Berufung zur Musik, weiß jeder, der mit Weckers Welt und Vita durch seine anderen Bücher oder so manche Erzählung in Konzerten und Interviews vertraut ist. Das Elternhaus, der singende, schreibende und malende Vater, das gemeinsame Singen mit ihm, die Liebe zum Klavier und zum Melodienreichtum Puccinis sind äußerlich klar zu erkennende Deckungen oder Überlagerungen. Weniger offenkundig verhält es sich mit den späteren Lebenswegen von Autor und Figur, denn die, der konstantinische und der anselmhafte, gehen – scheinbar – diametral auseinander.

Waren es bei Wecker von Anfang an die eigene Stimme, die eigene Weltsicht in eigenen Gedichten und Liedern, mit der er sich sein Publikum gewann, gerät der junge Mann im Roman auf seinem Weg der Suche nach künstlerischer Orientierung in die Fänge einer geist- und seelenlosen Kommerzwelt, die Musik als Ware und den Künstler im besten Fall als Quotenbringer versteht. Dieser Welt hat sich Konstantin Wecker nie verschrieben, mit keiner Zeile und keiner Note seines umfangreichen Werks. So verschlungen seine Lebenswege manchmal auch waren, in seinen Gedichten und in seiner Musik hat er nie gelogen. Anselm lügt von einer gewissen Zeit an nur mehr so lange, bis der Künstler in ihm, zu Tode verletzt und verleugnet, vernichtet scheint: Anselm »kann« nicht mehr Klavier spielen, er hat den Zugang zu seinem künstlerischen Schatz verspielt mit falschen Tönen, falschen Idealen und einem falschen Leben.

Sein Schöpfer, der seit Jahrzehnten gegen Lügen und gesellschaftliche Deformationen ansingende, anschreibende Konstantin Wecker, spricht da über etwas, das er als Gefährdung aus eigener Erfahrung kennt. Er weiß sehr genau, worüber er schreibt, denn als Komponist so vieler Filmmusiken musste er der Filmwelt, die aus der Musik eine Industrie machen möchte oder gemacht hat, auf die Schliche kommen. Nur: Er wusste, wofür er zu kämpfen, was er zu verteidigen hatte, welchen Forderungen nachzukommen war – und welchen nicht. Wo er auftreten wollte – und wo nicht. Doch war das alles von vornherein festgelegt? Welche Faktoren genau sind es, die uns diesen einen Weg gehen und alle anderen links liegen lassen? »Denn mich führen auf meiner Reise / zum Verstehen viele Gleise«, heißt es in einem Wecker’schen Gedicht. In der Behauptung des nach außen erfolglosen, gescheiterten Hüttenbrenner (schön, dass durch diese Namensgebung die Welt Franz Schuberts mitklingt) zeigt Wecker uns (und sich?), »wie es auch hätte sein können«, wie es zum Teil vielleicht auch war – ohne dass gewisse leidvolle Verästelungen den Lebensbaum als ganzen am Blühen und Grünen hindern konnten. Der Rückzug, die Selbstisolation, das Geächtetwerden und eine Art von »Schuld« im gesellschaftlichen Sinn … es sind dunkle Bereiche seines eigenen Werdens, die der Schöpfer sein Geschöpf durchwandern lässt. Und »Auf der Suche nach dem Wunderbaren« (ein Liedtitel), das war der Wecker von klein auf, das ist er an seinem 70er, aus dessen Anlass dieses kostbare Buch wiederaufgelegt wird, und das wird er immer bleiben – obwohl man seinem »Suchen« manchmal, und in letzter Zeit immer öfter, Züge eines »Findens«, wenn nicht gar »Gefundenhabens« abzulesen meint. Allein die Figur des mystischen, charismatischen Philosophen und Musikvermittlers Karpoff, für die es kein reales Vorbild im Leben des Autors gibt, machen den Roman, abgesehen von seiner fulminanten Sprache, zu einem literarischen Glücksfall. Auch mit Karpoff blicken wir ja auf eine Weckerfacette, und eine, die nicht zum gängigen Bild des lebensfrohen, das pralle Leben liebenden Liedermachers gehört: der Stille. Der Meditative. Der Weise. Der Einsame. Der Mönchische. Der sich Verweigernde.

Vielfach sind auch die Wege, die das Buch seit seinem ersten Erscheinen genommen hat. Aus der Dramatisierung, zu der mich Konstantin Wecker ermutigt hat, wurde später ein Filmdrehbuch und, jüngste meiner Metamorphosen des »Klang« – Romans, die Konzertfassung für drei Sprecher, Cello und Orchester, eine erste Begegnung auf der Bühne zwischen ihm, dem Autor, und mir, dem Bearbeiter und Darsteller des Anselm, in der Uraufführung im Staatstheater am Gärtnerplatz, München.

Konstantin Wecker, der wann immer es ging, gegen Unrecht und Menschenverachtung aufgeschrien und uns damit so viel Mut gemacht hat, lässt im »Klang der ungespielten Töne« tief in seine Künstlerseele blicken, zeigt uns Verletzlichkeiten, Abgründe, Ängste, und macht uns auch damit vor allem wieder eines: Mut. Denn was muss es bedeuten, wie Anselm die Welt der Töne, des Lärms, der Geschwätzigkeit und damit auch jeglichen Ehrgeizes hinter sich gelassen und dafür die Welt der Stille, der Absichtslosigkeit und Spiritualität betreten zu haben? »Es sind nicht immer die Lauten stark«, hat Konstantin Wecker oft am Ende eines Konzerts ganz vorne an der Rampe, ohne Mikrophon, in sein Publikum und in dessen Herzen hinein gesungen. Wir müssen uns, um einen berühmten Schlusssatz zu variieren, wir müssen uns den leisen, bei sich angekommenen Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner als einen starken, zu seinen Schwächen stehenden glücklichen Menschen vorstellen.

Und das wünschen wir auch seinem geistigen Vater, der, nachdem er uns mit so vielen Melodien, Gedichten und Klängen beschenkt hat, in diesem Roman mit einem neuen Reichtum überrascht: dem Ende der Lieder, dem Verstummen des Worts und dem wundersamen, un-erhörten Klang der ungespielten Töne.

Michael Dangl, Juni 2017

Meiner Mutter und dem Andenken meines Vaters

»Wir müssen damit rechnen, dass unsere Lieder eines Tages ein Ende nehmen. Vielleicht kommt auch für den größten Künstler einmal der Moment, in dem er nicht mehr Kunst machen will oder muss. Und vielleicht schätzen wir gerade dann sein Schaffen noch höher ein; weil es diesen Augenblick gegeben hat, in dem er über sein Werk hinausgelangt ist.«

Arvo Part

»Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich. Es ist das Mystische.«

Ludwig Wittgenstein

»Was bleibt von der Kunst? Wir als Geänderte bleiben.«

Robert Musil

Ich habe mich verloren und doch alles gewonnen.

Nun, da ich mich all dessen entledigen konnte, womit und wofür ich mein Leben lang gelärmt habe, hier, mitten im Trubel der Stadt, begegne ich der Stille.

Als hätte ich nie zuvor einen wirklichen Ton vernommen, höre ich.

Schwingungen, die wie Worte donnern, Wellen, die zu Räumen werden, jetzt endlich lausche ich den Dingen zu und ihrem unwiderstehlichen Klang.

Dem Klang einer nicht abgespülten Kaffeetasse zum Beispiel. Kein Missklang, wie man vermuten könnte, sondern ein zierlicher D-Dur-Akkord, ein hingehauchtes Dankeschön, wofür auch immer sich diese Tasse bedanken möchte.

Oder dem Gezwitscher zerstreuten Salzes auf dem Tischchen neben der Spüle, dem gelangweilten Gemurmel verschütteten Rotweins neben dem Bett – es ist ein Klingen in den Dingen und eine zarte Höflichkeit, die ich bei den Menschen oft vermisste.

Ich höre aus dem Fenster, und mir wird schwindelig ob der verzweifelten Gesänge der Menschen, Tiere und Häuser. Hinter der angestrengten Fröhlichkeit lauert ein ostinates Klagen. Schmerzensschreie verbergen sich hinter den scheinbar fröhlichen Rhythmen, die einem aus den Eingeweiden der Stadt entgegenquellen.

Und erst der Tonfall der geschwätzigen Leute!

Klänge, die man wechselt wie das Gesicht, je nach dem Gegenüber und der Wichtigkeit der Lügen eingefärbt, kaum ein warmer Ton, nur grell getünchte Stimmfarben, hektisch oszillierende Obertöne, alles so unglaubwürdig, so vergänglich.

Wie unvergänglich ist dagegen ein ehrlich in die Welt gestelltes Wort, ein unverhülltes Leid.

Und so höre ich endlich hinter den Laut, und weil ich höre, sehe ich, und weil ich sehe, weiß ich mich verbunden mit allem, was tönt.

Meiner Mutter wäre es fast gelungen, derart zu hören. Sie, die alles mit dem Herzen zu verstehen suchte, hatte immer schon ein tiefes, inneres Hören, mit dem sie die Welt zu erfassen hoffte. Obwohl sie selbst kaum einen wirklich wohlklingenden Ton zu singen vermochte, war ihr ein wunderbares Gespür für die menschliche Stimme eigen, ein Gespür, das sie dann unbesiegbar und für immer in die Arme meines Vaters treiben sollte.

Valentina Brandstätter war die Tochter eines gestrengen und moralisch untadeligen Oberregierungsrates, der sein autoritäres Wesen einmal im Monat der holden Kunst zuliebe hintanstellte – als Bratscher im Quartett der höheren Beamten der bayerischen Landesregierung.

Doch seine Liebe zur Kunst war nicht mächtig genug, das feste Gefüge seiner Vorstellungen von den gesellschaftlichen Pflichten einer Regierungsratstochter zu erschüttern. Demzufolge bereiteten ihm die Versuche meiner Mutter, die Enge der Höheren-Töchter-Klavierlektionen mit ihrem fulminanten Talent zu sprengen, schlaflose Nächte.

Aber große Begabungen bahnen sich bekanntlich ihren Weg, und Valentina hätten auch Legionen verbeamteter Kunstliebhaber nicht aufhalten können.

Sie stürzte sich in Bartók und Ravel, anstatt sich an Clementi-Sonatinen zu delektieren, und Großvaters Widerstand beschränkte sich, spätestens nach dem umjubelten Auftritt seiner zwölfjährigen Tochter in einem der Kantine der Landesregierung angeschlossenen Konzertsaal, auf einige spitze Bemerkungen.

Ob sie eine wirklich große Pianistin geworden wäre, wage ich allerdings nicht zu beurteilen.

Das männlich Burschikose, das ihrem Aussehen und vor allem ihrem jedermann vorauseilenden Gang eine so unverwechselbare Note gab, bestimmte nämlich auch ihren Anschlag und beschränkte so die Ausdrucksvielfalt ihrer Interpretation. Es schien fast, als versuche sie mit jedem Ton den Vorstellungen ihres Vaters zu entfliehen. Nichts Mädchenhaftes sollte ihrem Klavierspiel anhaften, nichts Verzärteltes, und damit verbannte sie eben auch jede Zartheit aus ihren musikalischen Auslegungen und verschloss ihr Inneres vor den Menschen und sogar vor der Musik.

Schon bald hätte ein einfühlsamer Lehrer eine Verbindung zwischen ihrem liebevollen Wesen und ihrer aggressiven Energie im Klavierspiel schaffen müssen, denn diese barbarische Wildheit, die dem Wunderkind gut anstand und begeistert vom Publikum aufgenommen wurde, hätte der erwachsenen Virtuosin berechtigterweise Kritik eingetragen.

So weit allerdings sollte es nicht kommen. Knapp achtzehn Jahre alt, opferte sie ihre Karriere dem samtenen Timbre meines Vaters und ein wenig wohl auch seinen feinen Gesichtszügen, in denen einige Damen damals die angeblich überirdische Schönheit des verblichenen Leinwandgottes Rodolfo Valentino widergespiegelt sahen.

Ich habe nie von ihr gehört, dass sie diese Entscheidung bereut hätte.

Trotzdem scheint sich in ihrem Unterbewusstsein etwas festgesetzt zu haben, was dann einige wenige Male umso überraschender und unverblümter zum Ausbruch kam.

Unvergessen bleibt mir jener frisch verschneite Dezembernachmittag, als ich, nach langem Klavierüben schon recht genervt, den ersten Satz von Brahms F-Moll-Sonate zugegebenermaßen schluderig und lustlos anspielte.

Ich war gerade mal zwölf Jahre alt und wollte raus zum Schlittenfahren, die Schneeballschlacht vor meinem Fenster war durchaus inspirierender als die für Kinderhände viel zu weiten Akkorde des schwermütigen Hamburgers, als Mutter, schrecklich schön wie Nemesis, ins Zimmer stürzte, mir die Hände von den Tasten riss und mich anbrüllte:

»Dass du mir nie mehr wieder, nie mehr wieder in deinem ganzen Leben so die Musik beschmutzt. Jeder Takt ist einzig. Jeder Augenblick des Klavierspielens ist heilig.«

Sie war zornesrot im Gesicht und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Angst vor ihr.

Natürlich hatte sie mich schon öfter angeschrien, manchmal sogar geohrfeigt, aber dieser ungewohnt pathetische, ihr so gar nicht angemessene Ausbruch – und das spürte ich trotz meiner Jugend ganz genau – hatte etwas Existenzielles. Das war der Aufschrei der Künstlerin, die ihr Künstlertum um ihrer Liebe willen unterdrückt hatte.

Warum nur?

Vater war nicht der Mann, der Unterordnung forderte, im Gegenteil, er erfreute sich an selbstständigen Menschen mehr als an Heuchlern, die er meistens im ersten Moment durchschaute. Er hätte der Karriere seiner Frau bestimmt nicht im Weg gestanden.

Es war allein ihre Entscheidung gewesen und ich vermute, dass sie damit die Angst vor dem eigenen künstlerischen Versagen in ein Opfergewand hüllte. Sie war nicht bereit, sich ihren eigenen, hohen Ansprüchen zu stellen. Sie wollte sich ihrer eigenen Kritik nicht aussetzen und entschied sich stattdessen für Vaters Gesang und dafür, unter ihren Schülern auf den zu warten, der den Weg vollenden würde, den sie weiterzugehen nicht gewagt hatte.

Als sich meine Eltern kurz nach Kriegsende auf ihrer ersten und zugleich letzten Reise durch Italien befanden, machten sie auch in Palermo Halt, wo Ferruccio Tagliavini im Teatro Massimo mit Puccinis Tosca gastierte. Für meine, mit mir im fünften Monat schwangere Mutter, die wie mein Vater Tagliavini glühend verehrte, muss dieses Erlebnis ihrer einzigen gemeinsamen Reise so unvergesslich gewesen sein, dass von Stund an feststand, ihr Sohn müsse wie der Tenor der Oper heißen: Cavaradossi.

Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner – der Name hat Gewicht und dementsprechend schwer trägt man an ihm. Erst wenige Jahre vor seinem Tod gestand mir Vater seine geheime Liebe zu Anselm Feuerbach, diesem außergewöhnlichen Talent, dem zu voller Größe sich aufzurichten es nicht gegeben war. Mein Vater sah Parallelen in ihrer beider Geschichte und fühlte sich ihm dadurch verbunden. So wenigstens erklärte er mir meinen deutschen Vornamen, wiewohl er natürlich als strahlender Tenor und geradezu fanatischer Liebhaber speziell des Verismo nichts gegen den von Mutter propagierten italienischen Part meines Namens einzuwenden hatte.

Inwieweit bei der Auswahl des Vornamens die Namensgleichheit mit dem Komponisten und Schubertfreund Hüttenbrenner Pate gestanden haben mag, kann ich nicht sagen. Vater erwähnte ihn nur ein einziges Mal:

»Da komponiert der brave Mann nun sein Leben lang und müht sich redlich und am Ende bleibt er nur im Gedächtnis, weil der Schubert ihm seine Unvollendete hat zukommen lassen. Man muss ein geniales Werk gar nicht mal selbst geschrieben haben, um Weltruhm zu erlangen. Es genügt anscheinend, es nur eine Zeit lang aufzubewahren. Als hätten die Meisterwerke ihr eigenes, vom Verfasser völlig unabhängiges Leben.«

Sosehr ich nun versuche, meine persönliche Geschichte ohne Sentimentalität zu entschlüsseln, sosehr verbarg sich meines Vaters Herkunft vor ihm selbst. Er erfand sich nämlich so viele zärtliche Geschichten darum, dass er sie irgendwann selbst glauben wollte und nicht mehr bereit war, sich den vermutlich ziemlich nüchternen Tatsachen zu stellen. Er muss ein ziemlich ungewolltes, ungeliebtes Kind gewesen sein, und die Sehnsucht nach der Liebe der Mutter versuchte er bis ins hohe Alter mit immer neuen Affären zu stillen, bei denen nicht der Wunsch nach sexueller Abwechslung die Triebfeder war, sondern das Verlangen, geliebt und bestätigt zu werden. Immer wieder aufs Neue romantische Situationen zu inszenieren, in denen die Rollen bis ins kleinste Detail festgelegt waren, erschien ihm reizvoller als körperliche Nähe, und es lässt sich unschwer ein Zusammenhang zwischen dieser Romanzensucht und seiner leidenschaftlichen Hingabe an die italienische Oper erkennen.

Meine Mutter ertrug die damit verbundenen Demütigungen wie ein Psychoanalytiker und ordnete diese narzisstische Störung sachlich und ohne moralisches Lamento einer dysfunktionalen Familienstruktur zu. Wenigstens versuchte sie mir das einmal so zu erklären, und wie sehr ich mich auch über ihr Fachwissen wunderte, so wenig war ich bereit zu glauben, dass diese Kränkungen spurlos an ihr vorübergingen.

Abgesehen von seiner allzu männlichen Schwäche war Vater ein liebenswerter und bewunderungswürdiger Mann. Er sang und malte, solfeggierte und skizzierte und war nie wirklich interessiert daran, an ein Ziel zu gelangen. Sein Leben war ein ständiges Üben und Ausprobieren, den schönen Künsten und der Bewunderung für große Künstler geweiht. Sollte ich ihm da verübeln, dass er mit schönen Frauen immer wieder seinem geliebten Botticelli nahe sein wollte? Wie könnte gerade ich nicht verstehen, dass er sich mit jeder neuen Eroberung endlich dort wähnte, wo ihm der Erfolg als Sänger stets versagt war – auf der Bühne, als Herzog »La donna è mobile« schmetternd, als Rudolf das eiskalte Händchen wärmend?

Als ich ihm einmal nach Art der Jugend respektlos vorwarf, zu altmodisch zu malen, antwortete er lachend, ohne auch nur ein bisschen gekränkt zu sein:

»Mich treibt es nicht in die dunkelsten Kammern meiner Seele, wie dich. Ich bin ein Handwerker, der die Natur nicht neu erschaffen will, sondern sie abzubilden versucht.«

Das konnte mir damals nicht gefallen.

Künstlerleben bedeutete für mich Schicksal und Auftrag, Verpflichtung zum Leiden, Verzicht und Opfer und vor allem: diese Gesinnung auch mit großer Geste der Welt zu offenbaren.

Vaters locker genialisch hingeworfene Skizzen wagten sich erst am Ende seines Schaffens in Neuland.

Als hätte ihm Zeit seines Lebens weder Feuerbach noch Botticelli, sondern ausschließlich Turner über die Schulter geblickt, versuchte er, das Licht in seine Gemälde zu bannen. Licht, das sich in Seen spiegelt, in Baumkronen bricht, auf Mooswegen sammelt, in Schluchten verschwindet. Erst kurz vor seinem Tod versuchte er, auf alle Gegenstände zu verzichten, die uns das Licht sichtbar machen, also Licht nicht als Reflexion einzufangen, sondern es dadurch neu zu erschaffen, dass es von sich heraus zu leuchten beginnt.

Er spielte nicht mehr mit den Farben, sondern nur noch mit der Idee von Farbe, so dass sich seine ungeschaffenen Bilder erst im Auge des Betrachters vollenden konnten. Und da er nie auf wirklich weiße Leinwand malte, sondern meistens Pappkartons oder irgendwelche Bretter, die er sich von Baustellen mitnahm, transparent grundierte, war dieses gemalte Nichts sehr lebendig und von großer Anziehungskraft.

Langsam beginne ich zu erkennen, wie sein letzter Weg zu meinem wird. Auch mich hindert manchmal die Musik so sehr am Hören, dass ich nur noch still dem lauschen kann, was in mir schon immer klingt. Und muss nicht alle Musik, die wir zum Klingen bringen, erst aus der Stille erfahren werden?

Das Ende der Musik und der Beginn des wahrhaftigen Hörens.

Schon seit geraumer Zeit versuche ich, Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner, Tönen zu lauschen, die nicht zu hören sind.

Meine Frau konnte mich als Erste nicht mehr ertragen.