Buch
Sauberkeit und Körperpflege bei Kindern sind wichtige Themen für Eltern. Doch wie viel Hygiene brauchen Kinder, um gesund aufzuwachsen? Die Mikrobiologen B. Brett Finlay und Marie-Claire Arrieta haben erforscht, dass zu viel Hygiene den Aufbau eines intakten Immunsystems hemmen und damit den Weg für eine Vielzahl chronischer Krankheiten wie Diabetes, Asthma und Fettleibigkeit ebnen kann. Der Schlüssel zu einer gesunden Entwicklung unserer Kinder liegt in einem ausgeglichenen Haushalt von Mikroben, den wir über unser Hygieneverhalten beeinflussen können. Ein wichtiges Lesebuch für alle Eltern!
Autoren
Prof. Dr. B. Brett Finlay ist Professor für Mikrobiologie an der University of British Columbia und forscht seit über dreißig Jahren zu den Auswirkungen von Mikroben auf unseren Körper. Er lebt mit seiner Familie in Vancouver, Kanada.
Dr. Marie-Claire Arrieta ist Mikrobiologin und Expertin für die Verbindung von Mikroben und dem menschlichen Immunsystem.
Dr. B. Brett Finlay
Dr. Marie-Claire Arrieta
Dreck ist gesund!
Warum zu viel Hygiene
Ihrem Kind schadet
Aus dem Amerikanischen
von Gaby van Dam
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Die US-amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Let them eat dirt« bei Algonquin Books, Chapel Hill, USA.
Zum Schutz ihrer Privatsphäre wurden die Namen einiger Personen, die in den Anekdoten genannt werden, geändert. Ferner basieren sämtliche vorgestellten Konzepte auf wissenschaftlichen Quellen. Wir sind allerdings keine Mediziner. Eltern und ihre Kinder sollten sich daher zunächst unbedingt an ihren Arzt wenden, bevor sie sich einer bestimmten Diät, Behandlung oder Therapie unterziehen. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe März 2018
Copyright © 2016 der Originalausgabe:
B. Brett Finlay, Phd, und Marie-Claire Arrieta, Phd.
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe:
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by arrangement with Algonquin Books of Chapel Hill,
a division of Workman Publishing Company, Inc., New York.
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Ruth Wiebusch
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
JE ∙ Herstellung: IH
ISBN 978-3-641-21077-9
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für unsere Kinder Jessica, Liam, Marisol und Emiliano, die uns dazu inspiriert haben, die Botschaft in die Welt zu tragen, dass Kinder mehr Dreck in ihrem Leben brauchen.
Inhalt
Vorwort
TEIL 1
MEHR MIKROBE ALS MENSCH
1. Kinder und Mikroorganismen: Eine magnetische Anziehungskraft
Mikroben: Tötet sie alle!
Die Rache der Mikroben
So sind Kinder eben
Mikroorganismen: Unsere unverzichtbaren kleinen Helfer
2. Ein neu entdecktes Organ: Das menschliche Mikrobiom
Unsichtbares Leben
Kontaminationen vermeiden um jeden Preis
Mikroorganismen: Partner der Evolution
Der Mensch, ein wandelnder Haufen Mikroorganismen
Schulung der Immunzellen
Unsere Mikroben versorgen, damit sie uns versorgen
TEIL 2
BABYS UND IHRE MIKROBEN GROSSZIEHEN
3. Schwangerschaft: Für zwei essen? Versuchen Sie, für Billionen zu essen!
Das Mikrobiom in der Schwangerschaft
Das vaginale Mikrobiom
Der Stress, das Baby und die Mikroorganismen
Infektionen und Antibiotika: Können wir dem in der Schwangerschaft entgehen?
Über den sinnvollen Umgang mit Antibiotika
B-Streptokokken abwenden
Haben Bakterien auf uns einen vorgeburtlichen Einfluss?
Dos and Don’ts
4. Geburt: Willkommen in der Welt der Mikroorganismen
Die besten Pläne
Kaiserschnittepidemie
Eine schmutzige Geburt ist eine gute Geburt
Hoffnung »säen« für die Zukunft
Antibiotika während der Geburt
Frühchen
Dos and Don’ts
5. Muttermilch: Flüssiges Gold
Zu jung geboren
Die Fütterung der Billionen
Stillen: Nicht so einfach, wie es scheint
Wenn Stillen keine Option ist
Stillen nach Kaiserschnitt
Dos and Don’ts
6. Feste Nahrung: Reichhaltigere Kost für die Mikroben
Mit neuen Speisen kommen neue Mikroorganismen
Der Segen der Vielfalt
Wann, was und wie viel?
Riskante Kost
Dos and Don’ts
7. Antibiotika: Flächenbombardierung des Mikrobioms
Das Antibiotikum-Paradox
Wundermittel des 20. Jahrhunderts
Widerstand ist zwecklos
»Mama, mein Ohr tut weh!«
Gar nicht so wunderbare Wundermittel
Probiotika zu Antibiotika – ein Widerspruch?
Dos and Don’ts
8. Haustiere: Die besten Freunde der Mikroben
Liebe auf den ersten Schleck
Aus der Wildnis auf die Couch
Keine Angst vor Hundesabber!
Dos and Don’ts
9. Lebensweise: Mikrobendefizit-Syndrom
Hunger nach Natur
Zu sauber
Sauberkeit – Fragen und Antworten
TEIL 3
KOLLATERALSCHADEN
10. Adipositas: Die Menschheit wird schwerer
Körpergewicht und das Mikrobiom
Fette Mäuse
Von Mäusen und Menschen
Die optimale Ernährung des Mikrobioms
Antibiotika und kindliches Übergewicht
Mangelernährung
Magersucht (Anorexia nervosa)
Dos and Don’ts
11. Diabetes: Mikroben lieben Süßkram
Eine Krankheit auf dem Vormarsch
Überzuckerte Schwangerschaft
Fingerpieks und Insulinpumpen
Die typisch westliche Ernährung: Ein allzu süßes Leben
Dos and Don’ts
12. Darmerkrankungen: Feuer im Bauch!
Der Darm: Ein hochempfindlicher, neun Meter langer Schlauch
Zum Schreien
Ein paar Gedanken zu Gluten: Mikroben und Zöliakie
Reizdarmsyndrom
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED)
Dos and Don’ts
13. Asthma und Allergien: Mikroorganismen erleichtern uns das Atmen
Asthma – eine Last
Suche nach den »Übeltätern«
Aus dem Darm in die Lunge
Allergien und auch noch Ekzeme?
Dos and Don’ts
14. Das Bauchgefühl: Das Mikrobiom und das Gehirn
Von unten nach oben denken
Die Mikroben sind schuld!
Mikroorganismen und unsere Stimmungslagen
Stress, Depressionen und Ängste
Autismus-Spektrum-Störungen
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Der Weg zu besserer Hirngesundheit
Dos and Don’ts
15. Impfen hilft!
Das gar-nicht-so-magische Königreich
Ein elterliches Dilemma
Impfen und das Mikrobiom – gibt es einen Zusammenhang?
Dos and Don’ts
16. Mikroorganismen in Tablettenform
Die Zukunft
Das Mikrobiom verstehen
Analyse Ihres Mikrobioms
Jenseits der Gene: Mikrobielle Metaboliten
Präbiotika
Zurück in die Zukunft: Stuhltransplantationen
Wiederbesiedlung des Darms
Blick in die Kristallkugel
Individuelle Diäten
Dos and Don’ts
Danksagung
Ausgewählte Quellen
Sachregister
Vorwort
Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder. Das Problem ist, dass es keine perfekte Anleitung gibt, wie man sie großziehen sollte, geschweige denn überhaupt eine »beste« Methode existiert. Wir lesen Bücher und Artikel, sprechen mit Freunden und versuchen uns daran zu erinnern (oder zu vergessen!), wie unsere Eltern es gemacht haben. Wir, B. Brett Finlay und Marie-Claire Arrieta, haben beide Kinder und haben uns ebenso durch den Erziehungsprozess gekämpft oder gemogelt wie alle anderen auch. Gleichzeitig sind wir aber auch Wissenschaftler, die seit vielen Jahren mit Mikroorganismen arbeiten. Und so war es nur logisch, dass wir uns fragten, wie diese omnipräsenten Mikroben nun eigentlich die Entwicklung unserer Kinder beeinflussen.
Wir haben uns zunächst mit krankheitserregenden Mikroorganismen befasst, die wir ebenso fürchteten wie die meisten Menschen. Dann erregten all die anderen Mikroben unsere Aufmerksamkeit, die in und auf uns leben – unser »Mikrobiom«. Mit fortgesetztem Studium des menschlichen Mikrobioms wurde uns klar, dass es vor allem auf die Exposition mit Mikroben in der Kindheit ankommt. Gleichzeitig ist die Kindheit dank unseres modernen Lebensstils so hygienisch wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Und das hat schwerwiegende Konsequenzen für unser Mikrobiom – und unsere lebenslange Gesundheit.
Die Idee zu diesem Buch entstand, weil Forschungen in unserem Labor – wie auch von zahlreichen anderen Wissenschaftlern – belegen, dass Mikroorganismen in der Tat die kindliche Gesundheit beeinflussen. Am meisten überrascht hat uns, wie früh dieser Einfluss einsetzt: Die ersten hundert Lebenstage sind entscheidend.
Verschiedene weitere Faktoren überzeugten uns schließlich, dieses Buch zu schreiben. Claire hat selbst kleine Kinder, und die Eltern um sie herum zeigten großes Interesse am Konzept der Mikroben und deren Auswirkungen auf die Kleinen. Sooft wir anderen Eltern von unserer Arbeit erzählt haben, wurden wir mit Fragen bestürmt: Muss ich die Flaschen jedes Mal sterilisieren? Welche Seife soll ich verwenden? Uns fiel auf, dass der Wissensdurst zum Thema Mikroben enorm ist … und dass eine Menge Falschinformationen kursieren.
Brett ist mit Jane, einer Spezialistin für pädiatrische Infektionskrankheiten, verheiratet. Sie hat uns beständig mit Artikeln und Erkenntnissen zum Thema Mikroorganismen und deren Wirkungsweisen auf den kindlichen Organismus versorgt. Weil dieses Forschungsgebiet ziemlich neu ist, gibt es kaum Quellen, die Eltern zurate ziehen können. Und, Hand auf’s Herz, wissenschaftliche Artikel sind meist nicht nur äußerst trocken und langweilig geschrieben, sie strotzen außerdem nur so vor unverständlichen Fachbegriffen. Dank einiger der renommiertesten Forscher weltweit verfügen wir inzwischen über eine Menge Informationen, die wir als wesentlich für die täglichen Erziehungsentscheidungen erachten. Deswegen möchten wir diese in einem gut verständlichen Ratgeber zusammenfassen, um sie damit ganz normalen Eltern zugänglich zu machen.
Wir wollen zunächst erklären, was Mikroben eigentlich sind. Danach erkunden wir, wie sich das Mikrobiom einer Frau während der Schwangerschaft verändert und wie dies das Leben ihres Kindes bestimmt. Anschließend befassen wir uns mit dem Geburtsvorgang, dem Stillen, fester Nahrung und den ersten Jahren, alles aus mikrobieller Sicht. Der Mittelteil dieses Buches behandelt Themen der Lebensweise: Soll ich mir ein Haustier anschaffen? Was mache ich mit einem heruntergefallenen Schnuller? Und es geht um den Einsatz von Antibiotika. Die nächsten Kapitel sind bestimmten Krankheiten gewidmet, die sich in unserer Gesellschaft rasant ausbreiten. Welchen Einfluss hat das Mikrobiom darauf? Es geht um Adipositas, Asthma, Diabetes, Darmerkrankungen, Verhaltens- und psychische Störungen wie Autismus sowie eine ganze Reihe von Krankheiten, von denen wir noch vor fünf Jahren nicht einmal ahnten, dass Mikroorganismen hier eine Rolle spielen. Ihnen als Leser steht es selbstverständlich frei, bestimmte Kapitel, die Ihnen persönlich als wenig relevant erscheinen, zu überblättern. Indes enthält jedes dieser Kapitel umfassende Informationen, sodass Sie alles über die Prozesse im Rahmen dieser gesundheitlichen Probleme erfahren. Unserer Ansicht nach ist besonders der Abschnitt über die Darm-Hirn-Achse (Kapitel 14) von Belang. Hier klären wir, welchen Einfluss Mikroorganismen auf das Gehirn und psychische Erkrankungen ausüben können. Wir beschließen das Buch mit einer Diskussion um Impfstoffe und einen Blick auf das, was wir uns in den nächsten Jahren von neuen Therapien und medizinischen Behandlungen versprechen. Sämtliche Kapitel enden mit einigen Dos und Don’ts – wobei es sich keineswegs um umfassende medizinische Ratschläge, sondern vielmehr um Vorschläge handelt, die auf gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren.
Was wir beim Recherchieren und Schreiben gelernt haben, ist, welch tragende Bedeutung diesen Kleinstlebewesen für die gesunde Entwicklung unserer Kinder zukommt. Selbst wir, die wir seit Jahren wissenschaftlich in diesem Bereich tätig sind, waren davon schlichtweg überwältigt! Ohne Zweifel werden diese wie auch zukünftige Erkenntnisse wesentlich beeinflussen, wie wir in Zukunft über die Erziehung unserer Kinder denken.
B. Brett Finlay und Marie-Claire Arrieta
TEIL 1
MEHR MIKROBE ALS MENSCH
1. KINDER UND MIKROORGANISMEN: EINE MAGNETISCHE ANZIEHUNGSKRAFT
Mikroben: Tötet sie alle!
Mikroben sind die kleinsten Lebewesen der Welt. Sie umfassen Bakterien, Viren, Protozoen und andere Organismen, die man nur mithilfe eines Mikroskops sehen kann. Mikroben sind zudem die ältesten und erfolgreichsten Lebensformen auf unserem Planeten, die sich lange vor den Pflanzen und Tieren entwickelt haben (Pflanzen und Tiere sind genau genommen aus Bakterien hervorgegangen). Wiewohl für das bloße Auge unsichtbar, sind sie von zentraler Bedeutung für das Leben auf dieser Erde. Es gibt erstaunliche 5 × 10³⁰ (das ist eine 5, gefolgt von 30 Nullen!) Bakterien auf der Welt (im Vergleich dazu umfasst das Universum »nur« 7 × 10²¹ Sterne). Gemeinsam wiegen diese Mikroben mehr als sämtliche Pflanzen und Tiere unseres Planeten zusammen. Sie vermögen unter rauesten und unwirtlichsten Bedingungen zu überleben, ob in den antarktischen Trockentälern oder den kochenden Thermalquellen am Grunde der Ozeane – selbst im Atommüll gedeihen sie. Sämtliche Lebensformen sind in komplexer, dabei meist harmonischer Weise von Mikroorganismen besiedelt, weshalb die Phobie vor Keimen zu den unsinnigsten menschlichen Ängsten überhaupt gehört. Wenn Sie nicht gerade in einer sterilen Blase ohne Kontakt zur Außenwelt leben, gibt es kein Entrinnen – wir leben in einer Welt, die vollständig übertüncht ist von Mikroben. Auf jede einzelne Körperzelle kommen zehn Bakterienzellen, die uns bevölkern. Auf jedes Gen in unserem Körper kommen hundertfünfzig bakterielle Gene. Die Frage ist also: Bevölkern sie uns oder ist in Wahrheit das Gegenteil der Fall?
Im Mutterleib ist die Umgebung eines Babys noch größtenteils steril, doch mit dem Moment seiner Geburt empfängt es eine Riesenladung Mikroorganismen, hauptsächlich von seiner Mutter – ein kostbares erstes Geburtstagsgeschenk! Innerhalb von Sekunden ist das Baby über und über bedeckt von Mikroben, die es von den ersten Oberflächen, mit denen es in Kontakt kommt, erhält. Vaginal geborene Kinder treffen auf vaginale und fäkale Mikroben, während Säuglinge, die per Kaiserschnitt entbunden werden, Mikroben von der Haut der Mütter aufnehmen. Ebenso sind Babys, die zu Hause geboren werden, völlig anderen Mikroorganismen ausgesetzt als im Krankenhaus.
Doch warum ist das wichtig? Bis vor Kurzem maß dem niemand eine besondere Bedeutung bei. Man hielt Mikroorganismen – insbesondere im Zusammenhang mit Babys – lediglich für eine Bedrohung und bemühte sich, diese fernzuhalten. Das ist keineswegs verwunderlich: Im vergangenen Jahrhundert haben wir die Vorteile medizinischen Fortschritts erlebt, dank dem sich die Zahl und das Ausmaß der Infektionen, die wir im Leben durchmachen, deutlich verringert hat. Dazu gehören Antibiotika, Virostatika, Impfstoffe, gechlortes Wasser, Pasteurisierung, Sterilisierung, pathogenfreie Nahrung und selbst das gute alte Händewaschen. In der Vergangenheit haben wir danach gestrebt, Mikroorganismen loszuwerden – frei nach dem Motto »Nur tote Mikroben sind gute Mikroben«.
Diese Strategie hat uns außergewöhnlich gute Dienste erwiesen. Heutzutage stirbt in den entwickelten Ländern kaum noch jemand an mikrobiellen Infektionen. Vor gerade einmal 100 Jahren erlagen noch 75 Millionen Menschen innerhalb von zwei Jahren dem H1N1-Influenzavirus, besser bekannt als Spanische Grippe. Wir sind inzwischen so effizient in der Infektionsbekämpfung, dass allein das Auftreten eines gefährlichen Stammes von Escherichia Coli (genannt E. coli) in einer Ladung Rindfleisch oder Listeria monocytogenes in Spinat massive Rückrufaktionen und Exportverbote auslöst, begleitet von medialer Hysterie. Mikroben machen uns allen Angst, und das zu Recht, denn ein paar davon sind wirklich gefährlich. Deswegen gehen wir davon aus – abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen wie in Joghurt oder Bier –, dass allein die Präsenz von Mikroben eine Speise für den menschlichen Gebrauch abwertet. Das Adjektiv »antimikrobiell« ist Verkaufsargument für Seifen, Hautlotionen, Reinigungsmittel, Konservierungsstoffe, Kunststoffprodukte, ja selbst für Textilien. Indes wissen wir nur von lediglich etwa 100 Mikrobenarten, dass sie nachweislich menschliche Krankheiten auslösen. Die übergroße Mehrheit der Tausenden von Mikroorganismen, die uns bevölkern, verursachen keinerlei Probleme, sondern scheinen uns zum Teil sogar äußerst nützlich zu sein.
Auf den ersten Blick hat sich der Kampf gegen die Mikroben, gepaart mit dem medizinischen Fortschritt, tatsächlich für uns ausgezahlt. Noch 1915 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei ungefähr 50 Jahren, also etwa 30 Jahre weniger als heutzutage! Aus evolutionärer Sicht haben wir daher nichts anderes als das große Los gezogen. Doch zu welchem Preis?
Die Rache der Mikroben
Die Prävalenz, also die Häufigkeit von Infektionskrankheiten ist seit dem Aufkommen von Antibiotika, Impfstoffen und Sterilisierungstechniken stark rückläufig. Indes haben sich chronische nichtinfektiöse Krankheiten und Störungen in den entwickelten Nationen explosionsartig ausgebreitet. Weil sie in den Industrienationen aufgrund von Veränderungen des Immunsystems immer weiter Fuß fassen können, hören und lesen wir viel darüber in den Nachrichten. Konkret handelt es sich dabei um Leiden wie Diabetes, Allergien, Asthma, Reizdarmsyndrom, Autoimmunerkrankungen, Autismus, bestimmte Formen von Krebs und sogar Adipositas. Die Häufigkeit ihres Auftretens hat sich teilweise alle zehn Jahre verdoppelt. Und sie scheinen immer früher aufzutreten, oft sogar schon in der Kindheit. Das sind unsere neuen Epidemien, unsere heutige Form der Beulenpest. (In Entwicklungsländern sind diese Leiden deutlich seltener. Hier stellen Infektionskrankheiten und frühe Kindersterblichkeit die größten Probleme dar.) Die meisten von uns dürften mindestens einen Menschen kennen, der an einer dieser chronischen Erkrankungen leidet. Forscher weltweit sind bemüht, die Faktoren, die diese Leiden verursachen, zu identifizieren. Wir wissen mittlerweile, dass allen zwar eine genetische Komponente zugrunde liegt, sie sich jedoch nicht allein dadurch erklären lassen. Unsere Gene haben sich in den letzten Jahren schlicht nicht derart verändert – was für unsere Umwelt so sicherlich nicht gilt!
Vor etwa 25 Jahren hat ein wissenschaftlicher Artikel eines Londoner Epidemiologen sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dr. David Strachan sprach darin die Vermutung aus, dass eine zu geringe Exposition mit Bakterien und Parasiten, insbesondere in der Kindheit, die Ursache für die rasante Ausbreitung allergischer Erkrankungen sein könnte. Denn das, so vermutete er, könne die angemessene Entwicklung des Immunsystems verhindern. Dieses Konzept wurde später als »Hygiene-Hypothese« bezeichnet. Eine wachsende Zahl von Studien geht heute der Frage nach, ob sich die Entwicklung verschiedenster Krankheiten, also nicht nur Allergien, mithilfe dieser Hypothese erklären lässt. Inzwischen gibt es reichlich handfeste Beweise (die wir uns in den kommenden Kapiteln näher ansehen werden), die Dr. Strachans Vermutung als grundsätzlich richtig einstufen. Unklar bleibt allerdings, welche Faktoren genau verantwortlich für diesen Mangel an Mikroben sind. Dr. Strachan zog den Schluss, dass kleinere Familien, bessere Ausstattung der Haushalte und höhere Standards der persönlichen Reinlichkeit zu einem verringerten Kontakt mit Mikroorganismen beitragen. Das ist mit Sicherheit richtig, doch bringt unser moderner Lebensstil viele weitere Veränderungen mit sich, die unsere mikrobielle Exposition ungleich stärker beeinflussen.
Eine dieser Veränderungen ist der häufig übermäßige, mitunter sogar exzessive Gebrauch von Antibiotika – Substanzen, die dazu geschaffen sind, bakterielle Mikroben ohne Unterschied zu töten. Als eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Entdeckung des zwanzigsten Jahrhunderts, markiert die Entdeckung der Antibiotika einen Wendepunkt in der modernen Medizin. Vor dem Aufkommen dieser Präparate endete eine Ansteckung mit bakterieller Meningitis für 90 Prozent der Kinder mit dem Tod. Heute werden fast alle Kinder, wenn man sie rechtzeitig behandelt, wieder gesund. Mittlerweile sind Antibiotika aber zu einer allzu gängigen Medikation geworden. Allein in den Jahren 2000 bis 2010 ist die weltweite Anwendung von Antibiotika um 36 Prozent angestiegen – ein Phänomen, das der Kurve des Wirtschaftswachstums in Ländern wie Russland, Brasilien, Indien und China zu folgen scheint. Besorgniserregend an diesen Zahlen ist, dass Antibiotika vor allem dann eingesetzt werden, wenn virale Influenzainfektionen vorliegen. Mit Antibiotika ist ihnen aber keineswegs beizukommen, denn Antibiotika töten Bakterien, keine Viren!
In der Viehzucht werden Antibiotika zum Teil zur Wachstumsförderung eingesetzt. Wird es Rindern, Schweinen oder anderen Nutztieren in niedrigen Dosen verabreicht, so bewirkt es erhebliche Gewichtszunahmen und beschert dem Landwirt somit höhere Fleischerträge pro Tier. Diese Praxis ist seit 2006 in Europa verboten, in Nordamerika allerdings immer noch legal. Es scheint, dass der übermäßige Einsatz von Antibiotika bei Menschen und insbesondere bei Kindern unbeabsichtigt ebenso wirkt wie bei den Nutztieren: Sie nehmen deutlich zu. Im Rahmen einer kürzlich in den USA durchgeführten Studie mit 65000 Kindern zeigte sich, dass mehr als 70 Prozent bereits im Alter von zwei Jahren mit Antibiotika behandelt worden waren. Mit fünf Jahren hatten sie im Schnitt elf Antibiotikatherapien hinter sich. Jene Kinder, die innerhalb der ersten beiden Lebensjahre viermal oder häufiger mit Antibiotika behandelt worden waren, hatten ein um zehn Prozent höheres Risiko, irgendwann an Adipositas zu erkranken. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Epidemiologen der staatlichen Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) im Rahmen einer anderen Studie. In US-Bundesstaaten, in denen im Schnitt mehr Antibiotika eingesetzt werden, liegt auch das Adipositasrisiko höher.
Diese Studien belegen nicht, dass Antibiotika direkt Adipositas auslösen. Aber hier wie in der Nutztierhaltung scheint man einen Zusammenhang beobachten zu können. Das hat Forscher veranlasst, das Ganze näher zu betrachten. Dabei fanden sie Verblüffendes heraus: Überträgt man Mäusen, die in keimfreier Umgebung gehalten wurden, Darmbakterien von adipösen Artgenossen, so werden diese ebenfalls adipös! Wir wissen, dass mehrere Faktoren die Entstehung von Fettleibigkeit begünstigen: genetische Veranlagung, fett- und kohlenhydratreiche Ernährung sowie mangelnde Bewegung. Doch Bakterien – kann das wirklich wahr sein? Auch die größten Fanatiker in der Mikrobiologie, also jene, die Bakterien tendenziell für den Nabel der Welt halten, waren skeptisch. Ähnliche Experimente wurden wiederholt, und die Beweislage ist ziemlich überzeugend: Ob bestimmte Bakterien in frühester Kindheit vorhanden sind oder fehlen, beeinflusst unser späteres Körpergewicht. Noch besorgniserregender sind die weiteren Forschungsarbeiten, die zeigen, dass eine Veränderung der Bakteriengemeinschaft, die unseren Körper bevölkert, nicht nur Gewichtszunahme und Adipositas auszulösen vermag, sondern überdies zahlreiche andere chronische Leiden, von denen wir bisher nicht einmal ahnten, dass Mikroben dabei eine Rolle spielen.
Nehmen wir als Beispiel Asthma und Allergien. Wir sind alle Zeugen der rasant steigenden Zahl von Kindern, die daran leiden. Noch vor einer Generation waren Kinder, die ihre Asthmainhalatoren mit in die Schule brachten, eher eine Seltenheit. Heutzutage sind etwa zehn Prozent der deutschen und sogar 21 Prozent der australischen Kinder von Asthma betroffen. Erdnussallergien? Auch das war früher eine Seltenheit. Heute handelt es sich um ein derart weit verbreitetes und schwerwiegendes Problem, dass es inzwischen sogar erdnussfreie Schulen und Flughäfen gibt. Wie schon bei der Adipositasforschung gilt es inzwischen als erwiesen, dass ein Zusammenhang zwischen Antibiotikabehandlungen in der Kindheit und einem höheren Erkrankungsrisiko für Asthma und Allergien besteht.
Die Forscher unseres Labors an der University of British Columbia fanden dieses Konzept überaus interessant und beschlossen, ein simples Experiment durchzuführen. Mäusebabys, denen Antibiotika verabreicht wurden, waren ebenso wie Menschen anfälliger für Asthma. Wurde ihnen jedoch dasselbe Antibiotikum gegeben, wenn sie bereits entwöhnt und nicht mehr in der Obhut ihrer Mütter waren, hatte dies keinerlei Auswirkungen auf die Asthmaanfälligkeit – ein wahrlich faszinierendes Ergebnis. Es scheint also ein kritisches Zeitfenster in der frühen Kindheit zu geben, in dem Antibiotika die Entwicklung von Asthma begünstigen. Bei oraler Gabe tötet das von uns verwendete Präparat, Vancomycin, ausschließlich im Darm befindliche Bakterien und gelangt nicht ins Blut, in die Lunge oder in andere Organe. Das weist darauf hin, dass die durch das Antibiotikum herbeigeführte Veränderung der Darmflora die Intensität von Asthma verstärkt, einer Erkrankung der Lunge! Dieses Experiment führte, ebenso wie die verschiedener anderer Labore, zu folgendem Resultat: Kommt es zu einer Modifikation, also Veränderung der Mikroben, die in der frühen Lebensphase unseren Körper besiedeln, so kann das drastische negative Folgen auf die spätere Gesundheit haben. Es ist daher unbedingt erforderlich, ebenjene Umweltfaktoren zu identifizieren, die in die frühkindliche mikrobielle Gemeinschaft eingreifen.
Einer dieser Faktoren wurde entdeckt, als man Kinder, die auf Bauernhöfen aufwuchsen, mit Stadtkindern verglich. Mehrere Studien belegen übereinstimmend, dass Kinder in landwirtschaftlichen Umgebungen seltener Asthma entwickeln, selbst dann, wenn sie familiär vorbelastet sind. Langsam beginnt man zu verstehen, warum das so ist: Auf Bauernhöfen haben Kinder häufiger Kontakt zu Tieren, verbringen mehr Zeit draußen und kommen häufiger mit Schmutz (und Kot!) in Berührung, alles Dinge, von denen wir wissen, dass sie das Immunsystem stimulieren. Das Immunsystem wird wesentlich in den ersten Lebensjahren ausgebildet und trainiert. Asthma, das durch ein hyperaktives Immunsystem charakterisiert ist, scheint sich mit höherer Wahrscheinlichkeit bei solchen Kindern zu entwickeln, die diesen Immunstimulanzien in geringerem Maße ausgesetzt sind. Das Immunsystem verfügt dann nicht über sämtliche Werkzeuge, um sich angemessen ausbilden zu können. Indem wir die Umgebung unserer Kinder allzu sauber halten, kann ihr Immunsystem nicht mehr heranreifen, wie es das seit Jahrmillionen getan hat: mithilfe von Unmengen Mikroben.
Unsere Vorfahren kamen in ihrem Leben fortwährend und massiv mit Mikroorganismen aus Umwelt, Speisen, Wasser, Kot und vielen anderen Quellen in Berührung. Sehen Sie sich im Gegensatz dazu unser heutiges Leben an, in dem das Fleisch auf sterilen Styroporplatten, eingeschweißt in Plastikfolie, verkauft wird. Auch unser Wasser wird behandelt und verarbeitet, bis es so gut wie keine Mikroorganismen mehr enthält.
So sind Kinder eben
Als ihr erstes Kind im Vorschulalter war, zog unsere Freundin Julia auf eine Schweine- und Geflügelfarm mit Freilandhaltung. Sie hatte daher den direkten Vergleich, wie unterschiedlich Kinder in der Stadt und auf dem Bauernhof aufwachsen. Immer schon naturverbunden, sorgte sie auch damals, als sie noch in der Stadt lebte, dafür, dass ihr ältester Sohn, Jedd, möglichst viel draußen spielte. Sie gingen in Parks und auf Spielplätze, wo sie Jedd ermunterte, sich schmutzig zu machen, in Sandkästen zu spielen und in Schlammpfützen – sie erlaubte ihm sogar, sich Gegenstände (von ungefährlicher Größe) in den Mund zu stecken, beispielsweise größere Steine oder Blätter. Ihr naturverbundenes Wesen, so dachte sie, würde ihnen die Umstellung auf das Landleben erleichtern, was in gewisser Weise auch zutraf. Doch nichts bereitete sie auf das Verhalten vor, das ihre Kinder auf dem Bauernhof an den Tag legten. Nachdem ihr zweites Baby geboren war, packte sie es sich jeden Morgen auf den Rücken, um so im Hühnerstall die Eier einzusammeln. Jedd, der den Tieren zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet war, jagte nun die Hühner und tollte mit ihnen herum, probierte ihr Futter und kam mit den frischen Eiern in Berührung. Ein paar Mal erwischte sie ihn sogar, wie er auf etwas herumkaute, das er vom Boden aufgehoben hatte. Jeder, der schon einen Hühnerstall betreten hat, weiß, was da so alles liegt. Es ist daher ziemlich sicher, dass Jedd zumindest hin und wieder die Hinterlassenschaften von Hühnern probiert hat. Natürlich flippte Julia anfangs aus, doch es ist schwierig, einen Fünfjährigen dazu zu bringen, sich nicht dreckig zu machen, wenn man selbst viel zu tun hat und obendrein auf ein zweites Kind achten muss. Nachdem sie gemerkt hatte, dass die neu entdeckten geschmacklichen Vorlieben Jedd nicht krank machten, entspannte Julia sich ein wenig. Heute ist Jedd acht Jahre alt und damit betraut, jeden Morgen die Eier einzusammeln. Frisch gelegte Eier sind häufig verunreinigt und er trägt dabei keine Handschuhe. Er wäscht sich danach die Hände, aber es ist unmöglich, dass es nicht zumindest Spuren von Kot immer wieder in seinen Mund schaffen.
Julias zweites Kind, Jacob, wurde auf dem Bauernhof geboren und wuchs auch dort auf. Wie schon sein großer Bruder hatte er nie Hemmungen, sich schmutzig zu machen. Einmal fand sie ihn, knietief in einer Senkgrube voller Abfälle aus der Schweinezucht stehend, wo er hingebungsvoll spielte. Mit vierzehn Monaten schluckte er eine Handvoll Schweinemist, noch bevor seine Mutter, die zu ihm hinstürzte, ihn daran hindern konnte. Ihre anfängliche Sorge, ihre Kinder könnten sich durch all den Dreck Krankheiten zuziehen, stellte sich als unbegründet heraus – sie blieben gesund.
Heute, mit dem dritten Baby in der Rückentrage, verzieht Julia nicht einmal mehr das Gesicht, wenn sie ihren beiden Älteren bei dem zusieht, was alle Bauernhofkinder tun: sich sehr, sehr schmutzig machen. Tagtäglich kommen sie mit Dreck, Kot, Federn und wer weiß was nach Hause. Es gilt die Regel, dass Gummistiefel draußen ausgezogen werden, doch hin und wieder kommt es unweigerlich vor, dass dreckige Stiefel bis auf den Wohnzimmerteppich gelangen. Julia achtet darauf, dass sich alle vor dem Essen die Hände waschen, und es wird fast täglich gebadet (die Farbe des Badewassers erinnert sie immer wieder daran, warum es obligatorisch ist, wirklich jeden Tag zu baden).
Selbst wenn Stadtkinder sehr viel draußen spielen, werden sie selten derart schmutzig. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Bauernhofkinder (und ihre Mikroben) sehr deutlich von Stadtkindern. Wir wollen nicht dazu raten, dass unsere Kinder mit Tierkot spielen sollten, da sie davon krank werden können. Doch Bauernhöfe bieten generell ein mikrobenreiches Umfeld, das erwiesenermaßen günstig für die Entwicklung unseres Immunsystems ist. Es ähnelt sehr der Art und Weise, wie wir früher gelebt haben, etwas, das sich erst seit ein paar Generationen deutlich verändert hat.
Fast alle Kinder haben etwas mit Jedd und Jacob gemeinsam: Sie werden magisch angezogen von Dreck und lieben es, sich schmutzig zu machen und auf allem Möglichen herumzulutschen. Wie kommt das? Unser natürliches Verhalten in der frühen Kindheit entspricht definitiv dem Versuch, uns maximal mit Mikroorganismen zu konfrontieren: Babys sind beim Stillen in direktem Kontakt zur Haut der Mutter, sie stecken sich ständig die Fäuste, Füße oder andere erreichbare Objekte in den Mund. Krabbelkinder und solche, die gerade erst laufen gelernt haben, sind mit den Händen dauernd auf dem Boden, um sie anschließend in den Mund zu schieben. Es sieht häufig so aus, als warteten sie nur auf den einen unbeobachteten Moment, um dann den schmutzigsten Gegenstand, den sie zu fassen bekommen, in den vor Spucke triefenden Mund zu nehmen. Wir fragen uns daher: Werden Kinder instinktiv von Mikroben angezogen?
Ältere Kinder buddeln in der Erde, zupfen Würmer heraus, rollen sich über den Boden, fangen Frösche und Schlangen. Vielleicht ist dieses natürliche Verhalten dazu gedacht, sich mit noch mehr Mikroben zu besiedeln. Kinder lecken meist, ohne zu zögern, alles und jedes ab. Erwartungsgemäß erleiden sie häufiger Infektionen als Erwachsene. Ihr staubsaugerartiges Verhalten stellt sicher, dass sie die mikrobielle Welt probieren und somit ihr Immunsystem dahingehend trainieren, dass es darauf reagiert. Kommen sie mit einem krankheitserregenden Mikroorganismus, auch Pathogen genannt, in Berührung, so macht ihr Immunsystem dieses ausfindig, reagiert darauf in Form einer Erkrankung, um sich dieses anschließend so gut wie möglich einzuprägen, damit der Körper beim nächsten Kontakt eine Erkrankung abwenden kann. Wenn das Immunsystem auf eine harmlose Mikrobe trifft – und die große Mehrzahl der Mikroben sind harmlos –, wird diese identifiziert und in der Folge, über eine Reihe von Mechanismen, die die Wissenschaft noch nicht komplett versteht, entweder ignoriert oder toleriert. Wenn also die kindliche Lebensweise den Zugang zu diesen »Trainingseinheiten« erschwert, kann das Immunsystem nicht vollständig heranreifen und lernen, wie es angemessen auf Pathogene reagieren oder harmlose Mikroben tolerieren kann. Mit der Konsequenz, dass das Immunsystem im späteren Leben möglicherweise zu heftig auf solche harmlosen Mikroben reagiert. Das wiederum kann in verschiedenen Organen zu Entzündungsreaktionen führen. Und daraus entstehen die sogenannten »Zivilisationskrankheiten« wie Asthma und Adipositas, die heutzutage so verbreitet sind.
Mikroorganismen: Unsere unverzichtbaren kleinen Helfer
Mikroben helfen uns nicht nur dabei, unser Immunsystem zu entwickeln. Sie sind außerdem mit für die Verdauung unserer Nahrung zuständig und zerkleinern unter anderem Ballaststoffe und komplexe Proteine in leichter zu verwertende Teile. Überdies versorgen sie uns mit den essenziellen Vitaminen B und K, indem sie diese bilden, etwas, das unser eigener Stoffwechsel nicht vermag. Ohne das Vitamin K der Mikroorganismen könnte beispielsweise unser Blut nicht gerinnen.
Gute Bakterien und andere nützliche Mikroorganismen unterstützen uns zudem bei der Bekämpfung krankheitserregender Mikroben. Aus Experimenten, die wir in unserem Labor durchgeführt haben, wissen wir, dass Infektionen, ausgelöst durch Salmonellen (das sind Bakterien, die Durchfall auslösen), weitaus schlimmer ausfallen, wenn vor dem tatsächlichen Ausbruch der Erkrankung Antibiotika gegeben wurden. Ebenso kennen viele Menschen aus eigener Erfahrung die Nebenwirkungen einer ausgedehnten Antibiotikabehandlung: Bauchkrämpfe und wässriger Durchfall. Die Mikroorganismen, die uns besiedeln, befinden sich in einem Gleichgewicht, das uns zahlreiche Vorteile beschert. Das alles im Austausch gegen einen kleinen Anteil der von uns täglich verzehrten Kalorien und einen warmen, dunklen Wohnort sowie etwas Flüssigkeit.
Doch Veränderungen, die mit unserem modernen Lebensstil einhergehen, verändern dieses Gleichgewicht, insbesondere während eines kritischen Zeitfensters in unserer frühen Kindheit. In vielen Industrienationen kommen etwa 30 Prozent aller Babys per Kaiserschnitt auf die Welt. Antibiotika werden sehr viel häufiger verwendet, und dank einer hohen Durchimpfungsrate erleiden nur sehr wenige Kinder ernsthafte Infektionen. Selbstverständlich liegt es uns fern, von irgendeinem dieser Aspekte abzuraten, doch unser Ziel ist es, Eltern wie auch zukünftige Eltern, Großeltern und Erzieher über die potenziell lebensverändernden Entscheidungen zu unterrichten, die wir tagtäglich bei der Erziehung unserer Kinder treffen.
Wir sind selbst Eltern und wissen, dass sich die meisten von uns nach Kräften bemühen, ihr Bestes zu geben. Keinesfalls möchten wir anderen vorschreiben, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. In unserer Eigenschaft als Mikrobiologen wird uns allerdings zunehmend bewusst, welch essenzielle Rolle die uns bevölkernden Mikroorganismen bei der körperlichen Entwicklung spielen. Die mikrobielle Gemeinschaft von Babys und Kleinkindern wird auf eine Weise modifiziert, die sie in ihrem späteren Leben krank macht, und zwar durch ebenjene Maßnahmen, die eigentlich ihrer Gesunderhaltung dienen sollen. Wenn das kein zweischneidiges Schwert ist!
Die Wissenschaft steht noch ganz am Anfang bei der Erfassung dieses neuen Forschungsbereichs. Erst seit Kurzem gelangen Informationen aus Artikeln und (häufig fehlinterpretierten) Studien, die gerade erschienen sind, an die breite Öffentlichkeit. Es sollte immer eine unserer Hauptbestrebungen sein, schwere Krankheiten zu vermeiden. Doch wir können bereits viel ausrichten, wenn wir zwischen notwendigen Behandlungen, wie etwa einer Antibiotikatherapie zur Bekämpfung lebensbedrohlicher bakterieller Infektionen, und unnötigen und übertriebenen Hygienemaßnahmen unterscheiden, etwa einem Kind jedes Mal, wenn es draußen gespielt hat, die Hände zu desinfizieren. Nicht alle Kinder werden oder sollten aufwachsen wie Jedd oder Jacob. Was wir aber mit Sicherheit tun können, ist, einige unnötige Aspekte unserer viel zu sauberen Welt zu verändern.
In der klassischen Mikrobiologieausbildung haben wir uns nur mit jenen Mikroorganismen beschäftigt, die Krankheiten verursachen, beziehungsweise mit den Methoden, wie sich diese beseitigen lassen. Inzwischen ist uns bewusst, dass wir viele Jahre lang die übergroße Mehrheit der Mikroorganismen ignoriert haben, die uns gesund erhalten. In den Forschungslaboren findet ein Perspektivwechsel statt. Wir sind der Ansicht, dass wir alle unseren mikrobiellen Besuchern bessere Gastgeber werden sollten.
Bubble Boy
David Vetter wurde 1971 in Houston, Texas, geboren und lebte aufgrund einer seltenen genetischen Störung ohne funktionierendes Immunsystem. Jeglicher Kontakt mit der nichtsterilen Welt hätte für ihn den sicheren Tod bedeutet. Aus diesem Grund kam er per Kaiserschnitt zur Welt und sofort danach in eine sterile Blase. Nach einer kontrovers diskutierten medizinischen Entscheidung lebte er in der Klinik in einer mitwachsenden Blase. Um bakterielle Infektionen zu verhindern, wurden ihm im Rahmen seiner medizinischen Behandlung mehrfach Antibiotika verabreicht. Da er völlig ohne Keime lebte, mussten ihn die Ärzte speziell ernähren. Auch die essenziellen Vitamine K und B wurden zugeführt, die normalerweise von den Darmbakterien gebildet werden. Davids Geschichte zeigt die Unmöglichkeit, ohne Immunsystem in einer Welt voller Mikroorganismen zu leben, sowie unsere Abhängigkeit von diesen Mikroorganismen und dem, was sie für uns produzieren. Leider verstarb David im Alter von zwölf Jahren, nur wenige Monate nachdem er endlich eine Knochenmarkspende erhalten hatte.