Der Roman
Die Menschheit ist ins All aufgebrochen. Der Mars wurde besiedelt, der Asteroidengürtel wird ausgebeutet, und virtuelle Spielewelten haben sich zu Paralleluniversen entwickelt. Die Menschheit ist fortschrittlicher, schillernder und kaputter denn je. In dieser Zukunft kommt Boris Chong nach langjähriger Abwesenheit vom Mars zurück auf die Erde zur Central Station in Tel Aviv – dem Ort, an dem vor vielen Jahren der Aufbruch ins All begann. Central Station ist eine kilometerhohe Raumstation, ein uralter, verfallener Busbahnhof und gleichzeitig ein Stadtviertel, an dem nun Menschen aus allen Kulturen und Zeiten, ob irdisch, marsianisch oder aus dem Asteroidengürtel, ob körperlich oder digital, ob arm oder reich, zusammenfinden. Hierher kommt Boris Aharon Chong zurück, um einen seit Generationen andauernden Familienfluch abzuwenden, um einer alten Liebe wiederzubegegnen und um vielleicht sein Schicksal zu finden.
»Lavie Tidhars Central Station ist ein wundervoll komponierter, vor Bildern und Ideen nur so schillernder Roman.«
Alastair Reynolds
»Central Station erzählt von den Verwicklungen unserer künftigen Gesellschaft. Wunderschön und meisterhaft!«
Ken Liu, Übersetzer von Cixin Lius Die drei Sonnen
»Lavie Tidhar hat eine übersprudelnde Hymne auf die Zukunft der menschlichen Kultur geschrieben!« Adam Roberts
Der Autor
Lavie Tidhar wuchs in einem israelischen Kibbuz auf und lebte unter anderem in Vanuatu, Laos und Südafrika. Mit seinen Romanen gewann er den British Science Fiction und den World Fantasy Award. Derzeit lebt er in London.
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An einem Wintertag kam ich zum ersten Mal nach Central Station. Afrikanische Flüchtlinge saßen mit ausdruckslosem Gesicht auf dem Anger. Sie warteten; worauf, wusste ich nicht. Vor einer Fleischerei spielten zwei philippinische Kinder Flieger: Mit weit ausgebreiteten Armen rasten und kreisten sie herum und feuerten aus imaginären Maschinengewehren unter den Flügeln. Hinter dem Fleischertresen löste ein Filipino mit seinem Hackbeil einzelne Koteletts aus einem Brustkasten. Ein Stück weiter stand die Schawarma-Bude Rosh Ha’ir, die trotz zweier Selbstmordattentate in der Vergangenheit wie immer geöffnet hatte. Das Aroma von Lammfett und Kreuzkümmel wehte über die lärmende Straße und machte mich hungrig.
Ampeln blitzten grün, gelb und rot. Auf der anderen Straßenseite wucherten grelle Sofas und Sessel aus einem Möbelladen bis hinaus auf den Gehsteig. Eine kleine Schar Junkies hockte plaudernd auf dem verbrannten Fundament des alten Busbahnhofs. Ich trug eine dunkle Sonnenbrille. Die Sonne stand hoch am Himmel, und trotz der Kälte war es ein mediterraner Winter, strahlend hell und im Moment trocken.
Ich wandte mich in die Fußgängerstraße Neve Sha’anan. Dort fand ich Zuflucht in einer Shebeen mit ein paar Holztischen und – stühlen und einer kleinen Theke, an der praktisch nur Maccabee-Bier serviert wurde. Ein Nigerianer hinter dem Tresen fixierte mich teilnahmslos. Ich bat um ein Bier. An meinem Platz zückte ich mein Notizbuch und einen Stift und starrte auf die leere Seite.
Central Station, Tel Aviv. Die Gegenwart. Oder eine Gegenwart. Wieder ein Angriff auf Gaza, bevorstehende Wahlen, und unten im Süden in der Arava-Wüste baute man eine massive Grenzmauer, die zukünftige Flüchtlinge aussperren sollte. Die Flüchtlinge waren jetzt in Tel Aviv und konzentrierten sich um das alte Busbahnhofsviertel im Süden der Stadt. Ungefähr eine Viertelmillion, dazu die geduldeten Wirtschaftsmigranten aus Thailand, den Philippinen und China. Ich nippte an meinem Bier. Es schmeckte miserabel. Dann starrte ich wieder auf die Seite. Regen setzte ein.
Ich fing an zu schreiben:
Einst war die Welt jung. Erst kürzlich hatten die Exodus-Schiffe das Sonnensystem verlassen; die Welt von Heven war noch unentdeckt, Dr. Novum noch nicht von den Sternen zurückgekehrt. Die Menschen lebten wie eh und je: in Sonne und Regen, mit und ohne Liebe, unter einem blauen Himmel und inmitten der UNTERHALTUNG, die immer um uns herum ist.
Das war in der alten Central Station, diesem riesigen Weltraumbahnhof über der doppelten Stadtkulisse des arabischen Jaffa und des jüdischen Tel Aviv. Es passierte zwischen Torbögen und Kopfsteinpflaster, einen Katzensprung entfernt vom Meer: Man konnte noch das Salz und den Teer in der Luft riechen und bei Sonnenuntergang das Herabstoßen und Kreisen geflügelter Surfer auf ihren Solardrachen beobachten.
Es war eine Zeit merkwürdiger Geburten, ja, davon werdet ihr lesen. Denn sicher habt ihr euch schon Gedanken gemacht über die Kinder von Central Station. Und auch darüber, wie eine Strigoi auf der Erde landen konnte. Das ist der Schoß, aus dem die Menscheit mit blutigen Zähnen und Nägeln gekrochen ist, um hinauf zu den Sternen zu gelangen.
Und es ist zugleich die uralte Heimat der Anderen, der Geschöpfe der Digitalität. In gewisser Weise ist dies auch ihre Geschichte.
Natürlich darf der Tod nicht fehlen. Das Orakel ist dabei, der Lumpensammler Ibrahim und viele andere, deren Namen ihr vielleicht kennt …
Doch das wisst ihr natürlich schon. Bestimmt habt ihr den Film Der Aufstieg der Anderen gesehen. Da ist alles drin, auch wenn die Darsteller viel zu geschleckt daherkommen.
Obwohl diese Ereignisse weit zurückliegen, erinnern wir uns; und über die Äonen hinweg raunen wir uns die alten Geschichten zu, hier in unserer Wohnstatt zwischen den Sternen.
Alles beginnt mit einem kleinen Jungen, der auf seinen abwesenden Vater wartet. Eines Tages, so erzählen die alten Geschichten, fiel ein Mann von den Sternen herab auf die Erde …
Niemand war auf den Geruch nach Regen vorbereitet. Es war Frühling, Jasminduft mischte sich unter das Summen der elektrischen Busse, und am Himmel schwebten solarbetriebene Gleitsegler wie Vogelschwärme. Ameliah Ko versuchte sich an einem Kwasa-Kwasa-Remix von Susan Wongs Coverversion von »Do You Wanna Dance«. Fast lautlos hatte der Regen eingesetzt; in silbernen Flächen verschluckte er das Knallen der Schüsse und durchnässte den brennenden Kinderwagen weiter hinten auf der Straße. Den alten Obdachlosen, der sich mit heruntergelassener grauer Hose zum Kacken neben die Mülltonne gekauert hatte, erwischte es mit einer Rolle Klopapier in der Hand, und er fluchte leise vor sich hin. Die Unbilden des Regens waren nichts Neues für ihn.
Die Stadt hatte einmal Tel Aviv geheißen. Im Süden ragte die Central Station weit hinauf in die Atmosphäre, umsäumt von einem Netz stillgelegter alter Autobahnen. Das Dach der Station lag so hoch, dass es sich allen Blicken entzog; mit seiner maschinenglatten Oberfläche diente es stratosphärischen Fahrzeugen zum Starten und Landen. Wie Kugeln schossen Aufzüge in der Station auf und ab. In der sengenden mediterranen Sonne um den Weltraumbahnhof herrschte das geschäftige Treiben eines Marktes mit Händlern, Besuchern, Bewohnern und der üblichen Mischung aus Taschendieben und Identitätsfälschern.
Es ging aus dem Orbit hinab zur Central Station, aus der Central Station hinunter ins Erdgeschoss und aus dem Schutz des klimatisierten Bezirks hinaus in die Armut des umgebenden Viertels, wo Hand in Hand Mama Jones und der kleine Kranki warteten.
Auch sie wurden vom Regen überrascht. Der Weltraumbahnhof, der sich wie ein weißer Wal aus dem städtischen Gestein erhob, beschwor mit seinem eigenen kleinen Wettersystem die Bildung von Wolken herauf. Lokale Regenfälle und ein bedeckter Himmel ließen hier Minifarmen gedeihen, die über die Seite des großen Bauwerks wucherten wie Flechten.
Warm und ergiebig ging der Regen nieder. Der Junge streckte die Hand aus und fing einen dicken Tropfen mit den Fingern auf.
Mama Jones, die in diesem Land und in dieser Stadt mit den vielen wechselnden Namen und sogar genau in diesem Viertel als Tochter eines Nigerianers und einer Filipina geboren worden war, als auf den Straßen noch Verbrennungsmotoren dröhnten und von der Station statt Raumfahrzeugen Busse starteten, und die sich noch an Kriege, Armut und Unerwünschtheit in dieser von Arabern und Juden umkämpften Gegend erinnern konnte, musterte den Jungen voll glühendem Stolz. Wie eine Seifenblase erschien zwischen seinen Fingern eine dünne, glitzernde Membran, die der Junge durch subtiles Verschieben von Atomen aus eigener Kraft erzeugt hatte: eine schützende Schneekugel, die den Regentropfen umschloss. Vollkommen und zeitlos schwebte er zwischen seinen Fingern.
Dennoch fühlte Mama Jones auch eine leise Ungeduld. Sie betrieb eine Shebeen an der Straße Neve Sha’anan, einer Fußgängerzone aus der alten Zeit, die bis zum Weltraumbahnhof führte. Sie musste dringend zurück an die Arbeit.
»Lass ihn los«, sagte sie ein wenig traurig.
Der Junge richtete die Augen auf sie, deren tiefes Blau vor einigen Jahrzehnten patentiert worden war und schließlich den Weg in die Genkliniken des Viertels gefunden hatte. Dort hatte man es gerippt, gehackt und dann zu einem Bruchteil der ursprünglichen Kosten an die Armen verkauft.
Angeblich waren die Kliniken im Süden von Tel Aviv sogar noch besser als die in Chiba oder Yunnan, obwohl Mama Jones da ihre Zweifel hatte.
Auf jeden Fall waren sie billiger.
»Kommt er?«, fragte der Junge.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Mama Jones. »Vielleicht. Vielleicht kommt er heute.«
Ein Lächeln strich über das Gesicht des Jungen. Wenn er lächelte, sah er unglaublich jung aus. Er gab die seltsame Blase in seiner Hand frei, und sie schwebte mit dem darin eingeschlossenen Regentropfen durch den Schauer empor zu den Wolken, die ihn geboren hatten.
Mama Jones seufzte und betrachtete den Jungen mit bangem Blick. Kranki war eigentlich gar kein richtiger Name. Das Wort stammte aus dem Asteroiden-Pidgin, das seinerseits aus den alten Südpazifik-Kontaktsprachen der Erde entstanden war, als malaiische und chinesische Unternehmen Bergleute und Ingenieure als billige Arbeitskräfte in den Weltraum geschickt hatten. Abgeleitet von dem alten englischen Begriff cranky, konnte es knurrig heißen oder verrückt oder …
Oder leicht verschroben.
Jemand, der Dinge konnte, die andere nicht konnten.
Dinge, die man im Asteroiden-Pidgin als Nakaimas bezeichnete.
Schwarze Magie.
Sie machte sich Sorgen um Kranki.
»Kommt er? Ist er das?«
Tatsächlich näherte sich jemand, ein hochgewachsener Mann mit einer Aug hinter dem Ohr. Er hatte einen Teint, wie man ihn von Maschinen bekam, und den unsicheren Schritt von jemandem, der die Schwerkraft hier nicht gewohnt war.
Der Junge zog an ihrer Hand. »Ist er das?«
»Vielleicht.« Wie jedes Mal spürte sie die ganze Hoffnungslosigkeit dieses kleinen Rituals, das sie jeden Freitag vor dem Anbrechen des Sabbats wiederholten, wenn der letzte Schwung Passagiere in Tel Aviv eintraf, die aus Lunar Port, aus Tong Yun auf dem Mars, vom Gürtel oder aus einer anderen Erdstadt wie Neuer-Delhi, Amsterdam oder São Paulo eintrafen. Jede Woche aufs Neue, weil die Mutter des Jungen ihm vor ihrem Tod erzählt hatte, dass sein Vater eines Tages heimkehren würde, der Vater, der reich war und weit weg im Weltraum arbeitete, dass er zurückkehren würde, und zwar an einem Freitag, um nicht zu spät zum Sabbat zu kommen, und dass er für sie sorgen würde.
Danach war sie nach einer Überdosis Kruzifixierung auf einem Blitz aus weißem Licht hinauf in den Himmel gefahren und hatte Gott gesehen, während man ihr den Magen auspumpte. Doch es war schon zu spät, und Mama Jones musste den Jungen widerstrebend zu sich nehmen – weil er niemanden sonst hatte.
Im nördlichen Tel Aviv lebten die Juden in ihren Hochhäusern, und im südlichen Jaffa hatten sich die Araber ihr altes Land am Meer zurückgeholt. Hier, dazwischen, gab es immer noch Menschen aus der Gegend, die man abwechselnd Palästina und Israel genannt hatte, Menschen, deren Vorfahren als Lohnarbeiter aus der ganzen Welt gekommen waren: von den philippinischen Inseln, aus dem Sudan, aus Nigeria, aus Thailand und China. Die Kinder und Enkel dieser Arbeiter wurden hier geboren und sprachen Hebräisch, Arabisch und Asteroiden-Pidgin, die nahezu universelle Sprache des Weltraums. Mama Jones kümmerte sich um den Jungen, weil es niemand anders tat. Diese Regel galt in diesem Land überall, egal, in welcher Enklave man sich befand: Wir kümmern uns um die Unseren. Weil es niemand anders tut.
»Er ist es!« Beharrlich zog der Junge an ihrer Hand.
Der Mann kam auf sie zu, und Mama Jones wurde plötzlich unsicher, weil sie etwas Vertrautes an seinem Gang, seinem Gesicht wahrnahm. Konnte der Junge wirklich recht haben? Nein, unmöglich, der Junge war damals doch noch nicht einmal geb… »Kranki, bleib hier!«
Ohne ihre Hand loszulassen, rannte der Junge auf den Mann zu, der erschrocken stehen blieb, als er bemerkte, wie der Kleine und die Frau auf ihn zusteuerten.
Schwer atmend hielt Kranki vor dem Mann an. »Bist du mein Dad?«
»Kranki!«, mahnte Mama Jones.
Der Mann wurde ganz still. Er kauerte sich nieder, bis er auf Augenhöhe mit dem Jungen war, und schaute ihn mit ernster, gespannter Miene an. »Möglich ist es«, sagte er. »Dieses Blau kenne ich. Ich erinnere mich, dass es eine Zeit lang sehr beliebt war. Wir haben einen geschützten Armani-Code gehackt und eine Open-Source-Version daraus gemacht …« Ohne den Blick von dem Jungen abzuwenden, tippte er mit dem Finger an die Aug hinter seinem Ohr – eine marsianische Aug, wie Mama Jones beunruhigt registrierte.
Man hatte auf dem Mars Leben entdeckt, jedoch nicht die uralten, in der Vergangenheit erträumten Zivilisationen, sondern totes, mikroskopisch kleines Leben. Dann fand jemand einen Ansatz zur Rückentwicklung des genetischen Codes und machte bewusstseinserweiternde Einheiten daraus, sogenannte Augmentationen, kurz Augs …
Fremde Symbionten, die niemand begriff und kaum jemand begreifen wollte.
Der Junge war erstarrt, und jetzt erschien auf seinem Gesicht ein glückseliges Lächeln. Er strahlte.
»Schluss jetzt!« Mama Jones rüttelte an der Schulter des Mannes, bis er fast das Gleichgewicht verlor. »Was machen Sie mit dem Jungen?«
»Ich …« Der Mann schüttelte den Kopf und tippte wieder auf die Aug.
Mit einem Mal löste sich der Junge aus seiner Erstarrung und blickte sich verwirrt um, als hätte er sich verirrt.
»Du hast keine Eltern«, erklärte der Mann. »Du bist im Labor hergestellt worden, ein Hack aus frei erhältlichen Genomen und einzelnen Schwarzmarktelementen.« Er schnaufte. »Nakaimas.« Er machte einen Schritt zurück.
»Schluss jetzt!«, rief Mama Jones erneut. »Er ist kein …« Sie verstummte hilflos.
»Ich weiß.« Der Mann hatte seine Fassung wiedererlangt. »Entschuldigung. Aber er kann mit meiner Aug reden. Ohne Interface. Anscheinend habe ich das damals besser hingekriegt, als ich dachte.«
Etwas an dem Gesicht, an der Stimme … plötzlich spürte sie ein Ziehen in der Brust, ein altes Gefühl, merkwürdig und beunruhigend. »Boris? Boris Chong?«
»Was?« Zum ersten Mal fasste er sie richtig ins Auge.
Sie sah ihn jetzt ganz klar: die strengen slawischen Züge und die dunklen chinesischen Augen, die ganze Komposition, älter inzwischen, verändert durch den Weltraum und die Umstände, und trotzdem er …
»Miriam?«
Damals war sie Miriam Jones gewesen. Benannt nach ihrer Großmutter. Sie wollte lächeln und schaffte es nicht. »Ich bin es.«
»Aber du …«
»Ich bin nie weggegangen. Im Gegensatz zu dir.«
Der Blick des Jungen wanderte zwischen ihnen hin und her. Dann dämmerte ihm etwas, und Enttäuschung zerknitterte sein Gesicht. Ein Stück über seinem Kopf sammelte sich der Regen zu einer Wasserfläche, durch die in winzigen Regenbögen die Sonne brach.
»Ich muss jetzt gehen.« Schon lange hatte niemand sie mehr als Miriam angesprochen.
»Wohin denn? Warte …« Ausnahmsweise machte Boris Chong einen verwirrten Eindruck.
»Warum bist du zurückgekehrt?«
Er zuckte die Achseln. Hinter seinem Ohr pulsierte die marsianische Aug, ein lebender Parasit, der sich von seinem Wirt ernährte. »Ich …«
»Ich muss los.« Vor langer Zeit war Mama Jones diese Miriam gewesen, und es war ein seltsames, mulmiges Gefühl, als dieser lange verschüttetete Teil ihrer selbst auf einmal wieder erwachte. Sie zog an der Hand des Jungen. Die schimmernde Wasserfläche über seinem Kopf platschte auf den Gehsteig und formte dort einen vollkommenen nassen Kreis um ihn.
Jede Woche hatte sie sich dem stummen Wunsch des Jungen gefügt und ihn zum Weltraumbahnhof geführt, zu dieser leuchtenden Monstrosität im Herzen der Stadt, damit er dort auf seinen Dad warten konnte. Der Junge wusste von seiner Entstehung, er wusste, dass er nie im Bauch einer Frau gelegen hatte und in einem der billigen Labors zur Welt gekommen war, deren Farbe von den Wänden blätterte und deren künstliche Uteri häufig versagten. (Wobei es auch einen Markt für unbenötigte Föten gab, so wie für alles mögliche andere auch.)
Doch wie alle Kinder glaubte er es nicht. In seinem Kopf war seine Mutter tatsächlich in den Himmel gekommen, nachdem sie mit dem Schlüssel der Kruzifixierung die Pforte aufgeschlossen hatte, und auch sein Vater würde eines Tages, so wie sie es Kranki versprochen hatte, aus dem Himmel der Central Station herabfahren und zurückkehren in dieses unbehaglich zwischen Norden und Süden, zwischen Juden und Arabern eingeklemmte Viertel und ihm die ersehnte Liebe schenken.
Wieder zog Mama Jones an Krankis Hand, und der Wind wand sich um ihn wie ein Schal, als er ihr folgte. Sie wusste genau, was er dachte.
Vielleicht kommt er nächste Woche.
»Miriam, warte!«
Boris Chong, der genau wie sie einmal schön gewesen war in den lauen Frühlingsnächten vor langer Zeit, als sie auf dem Dach des alten Wohnhauses, das mit einheimischen Arbeitern für den Bedarf der Reichen im Norden gefüllt war, in ihrem selbst gebauten Nest zwischen Sonnenkollektoren und Windschutzplatten lagen, einem kleinen Rückzugsort aus alten, ausgemusterten Sofas und einer bunten Kattunmarkise aus Indien mit politischen Slogans in einer Sprache, die sie beide nicht verstanden. Dort oben auf dem Dach hatten sie gelegen und geschwelgt in ihrer Nacktheit, im Frühling, wenn die Luft warm war und getränkt vom Aroma der Lilien und der spät blühenden Jasminsträucher, die ihren Duft erst nachts abgaben, unter den Sternen und im Licht des Weltraumbahnhofs.
Sie hielt nicht an, bis zu ihrer Shebeen war es nicht weit. Der Junge kam mit, und dieser Mann – ein Fremder jetzt, der ihr einst auf Hebräisch flüsternd von seiner Liebe erzählt hatte, nur um sie dann zu verlassen, vor langer Zeit, all das lag ja schon so lange zurück –, dieser Mann folgte ihr jetzt, dieser Mann, den sie nicht mehr kannte. Und ihr klopfte das Herz, ihr altes Herz aus Fleisch und Blut, das nie ersetzt worden war. Immer weiter marschierte sie, vorbei an den Obst- und Gemüseständen, den Genkliniken, den Upload-Zentren, die gebrauchte Träume verkauften, den Schuhgeschäften (Schuhe an den Füßen brauchen die Leute schließlich immer), dem kostenlosen Krankenhaus, einem sudanesischen Restaurant und den Mülltonnen, bis sie schließlich zur Shebeen Mama Jones gelangte, einem Loch in der Wand, das sich zwischen einen Polsterer und eine Niederlassung der Robot-Kirche schmiegte (ihre Sofas und Lehnsessel müssen die Leute immer irgendwo aufpolstern lassen, und auch irgendeine Art von Glauben brauchen sie).
Und was zu trinken, dachte Miriam Jones, als sie das Lokal betrat. Hier war das Licht angemessen schummrig, die Holztische waren alle mit einem Tuch bedeckt, und der nächste Netzknoten hätte eine Auswahl an Programm-Feeds gesendet, wenn er nicht vor einiger Zeit bei einem südsudanesischen Kanal hängen geblieben wäre, der eine Mischung aus religiösen Predigten, immer gleichen Wetterberichten und synchronisierten Wiederholungen der alten marsianischen Soap-Serie Chains of Assembly zeigte und sonst nichts.
Eine Bar, die palästinensisches Taybeh- und israelisches Maccabee-Bier vom Fass, russischen Wodka aus der Region, eine Auswahl an alkoholfreien Getränken und Lagerbier in Flaschen sowie Shisha-Pfeifen und Backgammon-Bretter zum Gebrauch für die Gäste bot. Ein kleines, ordentliches Etablissement, das nicht viel abwarf. Aber es reichte für die Miete, fürs Essen und für das, was der Junge brauchte. Sie war stolz darauf, und es gehörte ihr.
Drinnen saßen nur einige wenige Stammgäste: zwei freundlich plaudernde Dockarbeiter, die sich nach der Schicht im Weltraumbahnhof eine Shisha teilten und ein Bier schlürften, ein Tentakel-Junkie, der in einer Wasserwanne herumlümmelte und einen Arak trank, und Isobel, die Tochter ihrer Freundin Irena Chow, die einen Minztee vor sich stehen hatte und in Gedanken versunken schien. Beim Eintreten berührte Miriam sie leicht an der Schulter, aber das Mädchen bewegte sich überhaupt nicht. Sie steckte tief in der Virtualität, sprich, in der UNTERHALTUNG.
Miriam trat hinter die Theke. Überall um sie her brandete und brauste der Datenverkehr der UNTERHALTUNG. Das Allermeiste davon blendete sie aus ihrem Bewusstsein aus.
»Kranki«, rief Mama Jones, »du solltest jetzt rauf in die Wohnung gehen und deine Hausaufgaben machen.«
»Schon erledigt«, antwortete der Junge, dessen Augenmerk sich auf die Shisha-Pfeife neben ihm richtete. Er umfasste den blauen Rauch mit der Hand und formte ihn zu einem glatten, runden Ball. Dabei vergaß er wie üblich alles um sich herum.
Hinter ihrem Tresen fühlte sich Mama Jones gleich wieder viel entspannter, hier war sie Königin in ihrem Reich. Sie hörte Schritte und sah einen vorbeiziehenden Schatten. Dann bückte sich der große, dünne Mann, den sie als Boris Chong gekannt hatte, unter dem zu niedrigen Türrahmen und trat ein. »Miriam, können wir miteinander reden?«
»Was möchtest du trinken?« Sie deutete auf die Regale hinter sich.
Boris Chongs Pupillen wurden größer, und Mama Jones lief ein Schauder über den Rücken. Er kommunizierte stumm mit seiner marsianischen Aug.
»Also?« Ihr Ton war schärfer als beabsichtigt.
Boris riss die Augen noch weiter auf. Er wirkte erschrocken. »Einen Arak.« Plötzlich lächelte er, und das Lächeln verwandelte ihn, machte ihn jünger, machte ihn …
Menschlicher, fand sie.
Mit einem Nicken nahm sie eine Flasche aus dem Regal und schenkte ihm ein Glas von dem in der Gegend so beliebten Anisschnaps ein, fügte Eis hinzu und brachte es ihm mit gekühltem Wasser an einen Tisch. Wenn man das Wasser ins Glas goss, verlor das Getränk seine Klarheit und wurde trüb und blass wie Milch.
»Setz dich zu mir.«
Zuerst stand sie mit verschränkten Armen da, dann gab sie nach und ließ sich nieder. Nach kurzem Zögern folgte er ihrem Beispiel.
»Also?«, fragte sie.
»Wie ist es dir ergangen?«
»Ganz gut.«
»Du weißt, dass ich wegmusste. Hier gab es keine Arbeit mehr, keine Zukunft …«
»Ich bin geblieben.«
»Stimmt.«
Ihr Blick wurde weicher. Natürlich war ihr klar, was er meinte. Und sie konnte ihm wirklich keinen Vorwurf machen. Sie hatte ihn sogar selbst zum Gehen ermutigt, und nach seinem Abschied blieb ihnen beiden nichts anderes übrig, als nach vorn zu schauen. Alles in allem bedauerte sie nicht, dass sie sich für dieses Leben entschieden hatte.
»Ist das dein Lokal?«
»Es reicht für die Miete und die Rechnungen. Und für den Jungen.«
»Er ist …«
Sie zuckte die Achseln. »Aus einem Labor. Er könnte sogar einer von deinen sein, wie du gesagt hast.«
»Es waren so viele. Zusammengehackt aus allen nur denkbaren nicht geschützten genetischen Codes, die wir uns besorgen konnten. Sind sie alle so wie er?«
Miriam schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … es ist schwer, den Überblick über alle Kinder zu behalten. Außerdem bleiben sie keine Kinder. Nicht auf Dauer.« Sie rief nach dem Jungen. »Kranki, kannst du mir bitte einen Kaffee bringen?«
Der Junge drehte sich um und richtete seine ernsten Augen auf sie beide. Er warf die Rauchkugel in seiner Hand in die Luft, wo sie wieder ihre normalen Eigenschaften annahm und sich auflöste. »Och«, murmelte er.
»Jetzt gleich, Kranki«, mahnte Miriam. »Danke.«
Der Junge ging zur Bar.
Miriam wandte sich wieder Boris zu. »Wo warst du die ganze Zeit?«
Er deutete ein Achselzucken an. »Auf Ceres im Gürtel. Hab für eine von den malaiischen Firmen gearbeitet.« Er lächelte erneut. »Keine Babys mehr. Hab nur … Leute zusammengeflickt. Dann war ich drei Jahre in Tong Yun, dort hab ich mir das hier machen lassen.« Er deutete auf die pochende Biomasse hinter seinem Ohr.
»Hat es wehgetan?«, fragte Miriam neugierig.
»Es wächst mit dir mit«, antwortete Boris. »Der … Keim wird unter die Haut gespritzt, und dann fängt es an zu wachsen. Es … manchmal kann es unangenehm sein. Nicht das Körperliche daran, sondern wenn man kommuniziert und sich vernetzt.«
Miriam fand den Anblick irgendwie unheimlich. »Darf ich es berühren?« Sie war selbst überrascht von ihrer Frage und merkte, dass Boris verlegen wurde. Wie früher immer, dachte sie und spürte zu ihrer leichten Bestürzung, wie Stolz und Zuneigung in ihr hochbrandeten.
»Sicher«, sagte er. »Mach nur.«
Sie streckte den Arm aus und berührte es vorsichtig mit der Fingerspitze. Erstaunt stellte sie fest, dass es sich wie Haut anfühlte. Ein bisschen wärmer vielleicht. Als sie ein bisschen drückte, war es, als würde sie auf eine Eiterbeule tippen. Sie zog die Hand zurück.
Nun kam der kleine Kranki mit ihrem Getränk: schwarzer Kaffee in einem langstieligen Topf, mit Kardamomsamen und Zimt aufgebrüht. Sie goss etwas davon in ein Porzellantässchen.
»Ich kann es hören«, meinte Kranki.
»Was kannst du hören?«
»Das da.« Der Junge deutete auf die Aug.
»Und was sagt es?« Miriam nahm einen kleinen Schluck Kaffee. Ihr fiel auf, dass Boris den Jungen gespannt beobachtete.
»Es ist verwirrt.«
»Wie, verwirrt?«
»Es fühlt was Komisches von seinem Wirt. Ein starkes Gefühl oder ein Gemisch von Gefühlen. Liebe und Lust, Reue und Hoffnung, alles ineinander verknäult … das kennt es nicht.«
»Kranki!« Miriam verkniff sich ein schockiertes Lachen, als Boris zurückzuckte und rot anlief. »Das reicht für heute. Geh mal lieber raus zum Spielen.«
Die Miene des Jungen hellte sich auf. »Darf ich wirklich?«
»Lauf nicht zu weit weg. Bleib in der Nähe, damit ich dich sehen kann.«
»Ich kann dich immer sehen.« Ohne einen Blick zurück lief der Junge hinaus.
Sie nahm ein schwaches Echo wahr, als er das digitale Meer der UNTERHALTUNG durchquerte, dann verschwand er draußen im Rauschen.
Miriam seufzte. »Kinder.«
»Halb so schlimm.« Wieder setzte Boris dieses Lächeln auf, das ihn jünger machte und sie an andere Zeiten erinnerte. »Ich habe oft an dich gedacht«, fügte er hinzu.
»Boris, warum bist du hier?«
Erneut ein Achselzucken. »Nach Tong Yun bekam ich einen Job in den Galiläischen Republiken. Auf Kallisto. Die Leute sind seltsam da draußen im Äußeren System. Liegt wohl am Blick auf Jupiter am Himmel oder … jedenfalls haben sie merkwürdige Technologien, und die Religionen habe ich alle überhaupt nicht verstanden. Zu nah bei Abfall und Drachenwelt … zu weit weg von der Sonne.«
»Deswegen bist du zurückgekommen?« Ein überraschtes Lachen entfuhr ihr. »Du hast die Sonne vermisst?«
»Ich habe mein Zuhause vermisst«, erwiderte er. »Also hab ich mir Arbeit in Lunar Port gesucht, und es war unglaublich, als ich zurück war, so nahe, mit der aufgehenden Erde am Himmel … Das Innere System war wie eine Heimkehr. Dann hab ich Urlaub genommen, und hier bin ich.« Er breitete die Arme aus.
Sie spürte unausgesprochene Worte, einen geheimen Kummer. Doch sie wollte ihn nicht bedrängen.
»Mir hat der Regen gefehlt, der aus echten Wolken fällt.«
Miriam wechselte das Thema. »Dein Dad lebt noch in der Gegend. Ich seh ihn manchmal.«
Boris lächelte, auch wenn das Gespinst von Fältchen um seine Augenwinkel – das neu war, wie Miriam gerührt erkannte – einen alten Schmerz verriet. »Ja, er ist inzwischen im Ruhestand.«
Sie erinnerte sich an den bulligen Sinorussen, der in einem Exoskelett zusammen mit einem Team von anderen Bauarbeitern wie eine Metallspinne über die unvollendeten Wände des Weltraumbahnhofs gekrochen war. Ein bewegender, großartiger Anblick. Nicht größer als Insekten hatten sie dort oben gehangen, die Sonne blitzte auf ihren Panzern, mit ihren Greifwerkzeugen rissen sie Steine ab und errichteten Mauern, die, so schien es, die ganze Welt tragen sollten.
Auch jetzt kam sie von Zeit zu Zeit an ihm vorbei, wenn er in einem Café Backgammon spielte, den bitteren schwarzen Kaffee aus einer zarten Porzellantasse schlürfte und in sich wiederholenden Konstellationen die Würfel warf im Schatten des Bauwerks, an dessen Errichtung er mitgewirkt und das ihn zuletzt überflüssig gemacht hatte.
»Wirst du ihn besuchen?«
Boris zuckte die Achseln. »Vielleicht. Ja. Später.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und verzog das Gesicht. Dann lächelte er. »Arak. Den Geschmack hatte ich ganz vergessen.«
Auch Miriam lächelte jetzt. Sie lächelten ohne Grund und ohne Bedauern, und fürs Erste reichte das.
In der Shebeen war es still. Der Tentakel-Junkie lag mit geschlossenen, dick geschwollenen Augen in seiner Wanne, die zwei Frachtarbeiter unterhielten sich leise an ihrem Platz. Isobel saß reglos da, versunken in der Virtualität. Dann stand plötzlich Kranki vor ihnen. Sie hatte gar nicht registriert, dass er wieder hereingekommen war. Wie so viele Kinder von Central Station hatte er die Fähigkeit, unbeobachtet aufzutauchen und zu verschwinden. Als er ihr Lächeln bemerkte, lächelte er ebenfalls.
Miriam nahm seine Hand. Sie war warm.
»Wir konnten nicht spielen«, klagte der Junge. Über seinem Kopf schwebte ein vager Schein, und durch die Wasserkügelchen in seinem kurzen, stachligen Haar brachen Regenbögen. »Es hat wieder geregnet.« Mit jungenhaftem Misstrauen fixierte er die beiden. »Warum lächelt ihr so?«
Miriam schaute Boris an, diesen Fremden, der einst jemand gewesen war, den die Person, die sie gewesen war, einst geliebt hatte.
»Das muss am Regen liegen«, antwortete sie.
Isobel sah sie reden, Mama Jones und den seltsamen großen Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam, wie ein ferner Verwandter, auf den sie nur einmal einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Werde ich ihn wiedersehen? Ihr Herz schlug ein schnelles Tremolo in einem unvertrauten Rhythmus. So hatte sie sich noch nie gefühlt, und sie war hin- und hergerissen, förmlich zerrissen. In ihrem anderen Leben war es leichter; in der virtuellen Welt konnte sie sich neu erschaffen. Sie beobachtete, wie Mama Jones den Mann anschaute, so seltsam, als ob …
Aber das war lächerlich. Als ob sie sich lieben würden.
Liebe. Liebe war so verwirrend!
Sie raffte ihre Sachen zusammen und verließ die Shebeen. Werde ich ihn wiedersehen? Wird er kommen? Auf dem Weg hinaus durch den Perlenvorhang musste sie an Kranki vorbei und zauste ihm das Haar. Voller Ernst blickte er mit seinen großen blauen Augen zu ihr auf. Dann war sie draußen, und vor ihr erhob sich riesig und vertraut die Station, auf der sich der Regen sammelte wie Glitzer auf einem Kleid.
Das ist Wahnsinn, dachte sie. Und doch glühten ihre Wangen, und ihr war fast übel und schwindelig von der Vorfreude.
Wird er da sein?
»Treffen wir uns morgen?«, fragte Isobel Chow.
Der Robotnik Motl spähte zu schnell von einer Seite zur anderen. »Morgen Abend. Unter dem Vordach.«
Isobel machte einen Schritt zurück. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Legte ihm die Hand auf die Brust. Sein Herz schlug schnell, sie spürte es durch das Metall. Er roch nach Maschinenöl und Schweiß.
»Geh jetzt. Du musst …« Die Worte erstarben auf seinen Lippen. Ängstlich und hilflos wie ein Küken hüpfte sein Herz in ihrer Hand. Auf einmal fühlte sie Macht. Sie fand es aufregend, auf diese Weise Macht über jemanden zu haben.
Sein Finger strich über ihre Wange, zögernd. Er war heiß, metallisch.
Sie zitterte. Und wenn sie jemand sah?
»Ich muss jetzt gehen.« Seine Hand wich zurück, und er löste sich von ihr.
Etwas wie ein Riss schien durch sie zu laufen. »Morgen«, flüsterte sie.
»Unter dem Vordach.« Mit schnellen Schritten trat er aus dem Schatten der Lagerhalle und verschwand in Richtung Meer.
Sie schaute ihm nach, und dann schlüpfte auch sie davon in die Nacht.
Am frühen Morgen stand der Schrein des Heiligen Cohen der Anderen ungestört und verlassen an der Ecke der Levinsky Street neben dem Anger. Reinigungsmaschinen zogen im Kriechtempo vorbei, saugten Schmutz auf, versprühten Wasser, schrubbten die Straßen, und ein leises Summen der Dankbarkeit erfüllte die Luft, als sie diese größte aller Aufgaben auskosteten: das vorübergehende Aufhalten der Entropie.
Am Schrein kniete eine einsame Gestalt. Miriam Jones von der Shebeen Mama Jones zündete eine Kerze an und legte als Opfer eine kaputte elektronische Schaltung nieder, die vielleicht aus einer antiquierten TV-Fernbedienung stammte. Nutzlos und veraltet.
»Heiliger Cohen, bewahre uns vor der Pest und dem Wurm und vor der Aufmerksamkeit der Anderen«, flüsterte Mama Jones, »und schenke uns Mut, damit wir unseren eigenen verschlungenen Weg in der Welt finden.«
Der Schrein gab keine Antwort. Aber das erwartete Mama Jones auch nicht.
Langsam richtete sie sich wieder auf. Wegen der Knie fiel ihr das mit der Zeit immer schwerer. Sie hatte noch ihre eigenen Kniescheiben. Überhaupt hatte sie noch die meisten ihrer Originalkörperteile. Kein Grund zum Stolzsein, aber auch kein Grund zum Schämen. Reglos nahm sie die Morgenluft in sich auf, das Summen der Reinigungsmaschinen und das eingebildete Pfeifen der aus der Umlaufbahn niederstoßenden Raumfähren hoch oben, die wie fallschirmspringende Spinnen herabglitten zur Landung auf dem Dach der Central Station.
Gestern war ein verwirrender Tag für sie gewesen. Urlaub, hatte Boris gesagt. Sie wusste, dass er nicht alles ausgesprochen hatte. Sicher gab es Verpflichtungen, Zwänge, Umstände.
Doch darüber wollte sie nicht nachdenken. Nicht jetzt.
Es war ein kühler, frischer Morgen. Die Sommerhitze lag noch nicht schwer auf dem Boden, sie drückte noch nicht herab, als wollte sie einem die Luft abschnüren. Mama Jones wandte sich vom Schrein ab und trat auf den Anger. Das Gras unter ihren Füßen fühlte sich gut an. Sie erinnerte sich an den Anger, als sie jung gewesen war, und an die anderen somalischen und sudanesischen Flüchtlinge, die sich wie sie in diesem seltsamen Land wiederfanden. Sie hatten Wüsten und Grenzen überquert, nur um festzustellen, dass sie hier in dieser Enklave von Juden unerwünscht und isoliert waren. Sie erinnerte sich an ihren Vater, der jeden Morgen nach dem Aufwachen zum Anger kam und sich zu den anderen setzte, die sich hier in stiller, regloser Verzweiflung versammelt hatten. Die warteten. Sie warteten auf einen Mann in einem Pick-up, der ihnen für einen Tag Arbeit anbot, auf den Bus der UN-Einrichtung oder, in resignierter Hilflosigkeit, auf die Spezialeinheit Oz der israelischen Polizei, die ihre Ausweispapiere überprüfte, um sie unter dem geringsten Vorwand festzunehmen oder abschieben zu lassen …
Oz bedeutete Stärke auf Hebräisch. Wahre Stärke, fand Miriam, lag allerdings nicht darin, schutzlose Menschen einzuschüchtern, die keine andere Zuflucht hatten. Sie lag im Durchhalten, wie es ihren Eltern und auch ihr gelungen war, im Erlernen der Sprache, im Arbeiten, im Sichern einer kleinen, bescheidenen Existenz, während Vergangenheit zur Gegenwart und Gegenwart zur Zukunft wurde, bis eines Tages bloß noch sie, Miriam, hier in Central Station lebte.
Jetzt war es still auf dem Anger, nur ein einzelner Robotnik saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, ob schlafend oder wach, konnte sie nicht erkennen. Schon nahm der Verkehr zu, und die Reiniger zogen mit einem leisen Murmeln der Enttäuschung weiter. Kleine Autos bewegten sich auf der Straße, die Solarmodule ausgebreitet wie Flügel. Solarmodule gab es überall, auf den Dächern und Wänden der Häuser, denn alle wollten in dieser sonnigen Region ein wenig kostenlose Energie erhaschen. Tel Aviv. Sie wusste, dass es außerhalb der Stadt Solarparks gab, riesige Landstriche mit Kollektoren, die sich über den gesamten Horizont erstreckten und gierig die Sonnenstrahlen aufsaugten, um sie in Strom umzuwandeln, der dann an die Tankstellen in der ganzen Stadt verteilt wurde. Sie mochte ihren Anblick, und in modischer Hinsicht waren die Dinger ohnehin der letzte Schrei. Auch Mama Jones hatte an ihren Kleidern winzige, eingenähte Solarscheiben, und selbst ihr stilvoller, breitkrempiger Hut fing die Sonne auf; nichts wurde verschwendet.
Schließlich verließ sie den Anger und überquerte die Straße. Dabei bemerkte sie Isobel Chow, die auf ihrem Fahrrad Richtung Central Station fuhr. Mama Jones winkte, doch Isobel sah sie nicht, und Mama Jones zuckte die Achseln. Höchste Zeit, dass sie die Shebeen aufsperrte, die Shisha-Pfeifen vorbereitete und die Getränke mixte. Bald würden die ersten Gäste erscheinen. In Central Station herrschte immer Andrang.
Isobel war auf der Salame Road unterwegs, und ihr Fahrrad nahm wie ein Schmetterling mit offenen Flügeln die Sonne auf. Die Verbindung über den Netzknoten mischte sich mit hunderttausend verschiedenen Stimmen zu einem glücklichen, schläfrigen Murmeln, das aus Kanälen, Musik, Sprache, dem mit hoher Bandbreite ausgestrahlten unverständlichen Toktok der Anderen, Wetterberichten, Beichten und zeitverschobenen Übertragungen aus Lunar Port, Tong Yun und dem Gürtel bestand. Beliebig von einem Strang zum nächsten springend, folgte Isobel dem tiefen, endlosen Strom der UNTERHALTUNG.
Geräusche und Bilder schwappten über sie hinweg: Weltallaufnahmen von einer einsamen Spinne, die in der Oort-Wolke mit einem gefrorenen Fels zusammenkrachte und sich hineingrub, um den Asteroiden in Kopien ihrer selbst zu verwandeln; die Wiederholung einer Folge von Chains of Assembly; ein kongolesischer Sender, der Musik im Nuevo-Kwasa-Kwasa-Stil übertrug; aus dem nördlichen Tel Aviv eine Talkshow mit einer zunehmend hitzigen Debatte über Thora-Studien; vom Straßenrand, plötzlich und erschreckend, ein wiederholtes Pingen: Hilfe, bitte um eine milde Gabe. Arbeite gegen Ersatzteile.
Sie fuhr langsamer. Auf der arabischen Seite der Straße stand ein Robotnik. Er war in schlechtem Zustand – große Rostflecken, ein fehlendes Auge, ein nutzlos herabbaumelndes Bein. Das eine, immer noch menschliche Auge des Robotniks erfasste sie, allerdings war für sie nicht zu erkennen, ob ein stummes Flehen darin lag oder bloß Gleichgültigkeit. In mechanischer Hilflosigkeit sendete er auf hoher Bandbreite. Auf dem Boden vor ihm war eine Decke mit einem kleinen Haufen Ersatzteile und einem fast leeren Benzinkanister ausgebreitet. Mit Solarenergie konnten Robotniks wenig anfangen.
Nein, sie konnte nicht anhalten, sie durfte nicht. Sie fuhr weiter und schaute sich immer wieder beklommen nach dem Robotnik um, der von den Passanten ignoriert wurde. Die schnell aufgehende Sonne kündigte einen weiteren heißen Tag an. Sie fand seinen Netzknoten und schickte ihm mehr zu ihrer als zu seiner Erleichterung eine kleine Spende. Robotniks waren die heimatlosen Soldaten aus den verlorenen Kriegen der Juden – mechanisiert in den Kampf geschickt und später, nach dem Ende der Kriege, aufgegeben und ihrem Schicksal überlassen, gestrandet auf der Straße, wo sie um die Ersatzteile bettelten, die sie zum Überleben brauchten.
Isobel wusste, dass viele von ihnen ins All emigriert waren, vor allem nach Tong Yun auf dem Mars. Andere lebten in Jerusalem, im Russischen Bezirk, den sie sich durch hartnäckige Besetzung angeeignet hatten. Bettler, denen man keine große Beachtung schenkte.
Und sie waren alt. Manche von ihnen hatten in Kriegen gekämpft, die nicht einmal mehr einen Namen hatten.
Sie fuhr weiter auf der Salame Road Richtung Station.
Heute Abend, dachte sie. Unter dem Vordach. Heute Abend. Freudig flatterte ihr Herz, wie ein Solardrachen, der seinen Aufstieg erwartete.
Im Lauf des Tages erhob sich die Sonne über dem Weltraumbahnhof und malte einen Bogen darüber, bevor sie endlich wieder im Meer landete.
Isobel arbeitete in der Central Station und bekam die Sonne normalerweise gar nicht zu Gesicht.
Die Halle auf der dritten Etage bot eine Mischung aus Imbissflächen, Kampfzonen für Drohnen, Spielewelten mit abgetrennten Zellen, Louis-Wu-Filialen, Nakamals und Raucherkneipen, analogen und digitalen Sexetablissements und einem Religionsbasar.
Isobel hatte gehört, dass es den größten Religionsbasar in Tong Yun City auf dem Mars gab. Der hier auf der dritten Etage der Station war eher ein unscheinbarer Sammelpunkt mit einem Missionshaus der Robot-Kirche, einem Goreanischen Tempel, einem Elronitischen Zentrum für den Fortschritt der Menschheit, einem Bahai-Tempel, einer Moschee, einer Synagoge, einer katholischen Kirche, einer armenischen Kirche, einem Ogko-Schrein und einem buddhistischen Tempel der Theravada-Schule.
Auf dem Weg zur Arbeit ging Isobel in die Kirche. Sie war katholisch erzogen, da die Familie ihrer Mutter, die aus chinesischen Einwanderern von den Philippinen bestand, sich in einem anderen Zeitalter zu dieser Religion bekehrt hatte. Allerdings fand sie keinerlei Trost in der hallenden Stille des Gotteshauses, dem Geruch der Kerzen, dem Buntglas und der Leidensmiene des gekreuzigten Jesus.
Die Kirche verbietet es, dachte sie plötzlich entsetzt. Die Ruhe in der Kirche wirkte bedrückend, die Luft zu reglos. Als würden alle Gegenstände in dem weiten Raum sie beobachten. Sie machte auf dem Absatz kehrt.
Draußen passte sie nicht auf und stieß fast mit Bruder Flick zusammen.
»Tochter, du schlotterst ja«, bemerkte Bruder Flick mit barmherziger Stimme.
Sie kannte ihn flüchtig. Der Robot gehörte schon ihr ganzes Leben lang zum festen Inventar von Central Station – sowohl des Weltraumbahnhofs als auch des Viertels. Außerdem war er für die jüdischen Bewohner bei der Geburt eines Jungen auch als Teilzeit-Mohel tätig.
»Mir geht’s gut, wirklich«, antwortete Isobel.
Robot