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TOM FLETCHER

DER

WEIHNACHTOSAURUS

Mit Illustrationen von Shane Devries

Aus dem Englischen von Franziska Gehm

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Copyright © Tom Fletcher 2016
Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2017
cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
First published as »The Christmasaurus« by Puffin,
an imprint of Penguin Random House Children’s Publishers UK
Übersetzung: Franziska Gehm
Illustrationen: Shane Devries
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
Umschlagillustration: Shane Devries
TP · Herstellung: ang
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-21146-2
V002
www.cbt-buecher.de

Für Buzz und Buddy.

Frohe Weihnachten, meine kleinen Wichtel.

KARTE NORDPOL

Karte Nordpol

INHALT

Prolog Das Ende der Dinosaurier

Karte Nordpol

1. William Trudel

2. Das Ei im Eis

3. Der Hintern vom Weihnachtsmann

4. Das Ei wackelt!

5. Der Weihnachtosaurus

6. Mächtig Magische, Fliegende Rentiere

7. Die Sache mit William

8. Rolli-Willi

9. Brenda, die Rächerin

10. Was William will

11. William wird beobachtet

12. Ein ausgestopfter Dinosaurier

13. Der Abend vor Heiligabend

14. Ein blinder Passagier!

15. Der Jäger

16. Das seltenste Geschöpf der Welt

17. Ein Dinosaurier im Haus

18. Ein Junge und ein Dinosaurier

19. Zusammenstoß mit Brenda

20. Geheimnisse

21. Die Jagd beginnt

22. Den Code knacken

23. Uralte Geister

24. Auf der Flucht

25. Die Zuckerstange

26. Der Weihnachtsmann kehrt zurück

27. Was William wirklich will

28. Der Weihnachtosaurus bleibt

29. Rauch

30. Ein Trudel-Tornado

31. Das Spiel ist aus

32. Federn

33. Das Wunderbare an Weihnachten

Danksagung

Toms Top-Liste der zehn besten Dinge an Weihnachten

Wichtel-Liederbuch

PROLOG

DAS ENDE DER DINOSAURIER

Diese Geschichte beginnt, wie alle guten Geschichten, vor langer Zeit. Nicht nur vor langer Zeit, sondern vor sehr, sehr, sehr langer Zeit. Vor Abermillionen Jahren, genau genommen. Lange bevor eure Großeltern zur Welt gekommen sind. Bevor es überhaupt irgendwelche Menschen gegeben hat. Bevor es Autos und Flugzeuge und sogar das Internet gab, gab es etwas viel Besseres …

Dinosaurier waren die unglaublichsten Geschöpfe, die jemals auf unserem Planeten gelebt haben. Es gab jede Menge von ihnen, und in allen möglichen Gestalten und Größen. Es gab kleine, die nicht viel größer waren als Katzen oder Hunde, manche von ihnen hatten stachelige Spitzhörner auf dem Rücken. Es gab unvorstellbar gigantische Dinosaurier namens Seismosaurier, die länger als fünf Doppelstockbusse waren, die Hälse so dick wie Baumstämme und ihre Haut hart wie Traktorreifen. Ich weiß, das klingt alles unglaublich, aber es stimmt, absolut, denn das hier ist ein Buch, und in Büchern steht immer die Wahrheit.

Ich möchte euch von zwei ganz besonderen Dinosauriern erzählen. Nennen wir sie einfach Mamasaura und Papasaurius (so hießen sie natürlich nicht wirklich, das wäre ja albern).

Mamasaura und Papasaurius waren den ganzen Tag unter der sehr, sehr heißen, prähistorischen Sonne unterwegs gewesen und kehrten gerade zu ihrem feinen, kleinen Nest zurück. Doch statt des Nestes erwartete sie dort ein schrecklicher, schauerlicher Anblick: ein riesiger Haufen aus Steinen, Knochen und Dreck. Ihr Nest war von heimtückischen, aasfressenden Dinosauriern überfallen worden und diese hinterhältigen, fiesen Aasfresser hatten ihr Heim komplett in Schutt und Asche gelegt!

Aber über das Chaos machten sich Mamasaura und Papasaurius die wenigsten Sorgen, denn sie hatten das Kostbarste in ihrem Leben alleine im Nest zurückgelassen: zwölf Dinosauriereier, die jetzt verschwunden waren!

Wie ihr euch vorstellen könnt, waren Mamasaura und Papasaurius völlig verzweifelt. Sie standen in den Trümmern ihres Zuhauses, weinten und brüllten, bis die Sonne unterging und der Mond und die Sterne am Himmel über dem Urwald erschienen.

In dieser Nacht wehte eine leichte Brise durch die gewaltigen Bäume und ein silberner Mondstrahl bahnte sich den Weg zu den Ruinen des Nestes. Plötzlich bemerkte Papasaurius etwas aus dem Augenwinkel. Unter einem Haufen aus Knochen und Steinen reflektierte etwas Glattes, Glänzendes den Mondstrahl. Schnell und behutsam räumte er den Schutt beiseite, und dort lag es, schimmerte völlig unversehrt im Mondlicht.

Es war ihr allerletztes .

Wie dieses einzelne Ei dem Angriff der hungrigen Aasfresser entgangen war, war ein Rätsel. Vielleicht hatten sie ihre gierigen Bäuche schon genug gefüllt, oder vielleicht war dieses Ei außer Sichtweite gerollt, während sie die anderen Eier zerschlagen und zertrümmert hatten. Warum auch immer, wichtig war nur, dass Mamasaura und Papasaurius doch noch ein Ei hatten. Der winzige Dinosaurier, der in diesem Ei zusammengerollt in Sicherheit schlummerte, wurde zum Wertvollsten auf der Welt für sie, und sie würden dafür sorgen, dass ihm niemals wieder etwas Schlimmes zustieß!

Aber etwas Schlimmes sollte passieren – etwas, das die Welt für immer verändern würde.

Etwas

Etwas

Das perlweiße Mondlicht, das auf dem Dinosauriernest lag, färbte sich auf einmal gelb. Dann verwandelte sich das Gelb in Orange und schließlich in ein heißes Feuerrot. Mamasaura und Papasaurius spähten aus ihrem Nest und starrten ungläubig in den Himmel. Es schien, als stünde der Mond in Flammen!

Sie sahen, wie sich ein gewaltiges Feuerwerk aus zischenden, heißen Gesteinsbrocken und Sternschnuppen über den gesamten Himmel ausbreitete – und nicht die Art Sternschnuppen, die wir kennen, die nett anzusehen sind und wie wunderschöne, kleine, galaktische Lichtschlenker über den Himmel huschen. Diese hier huschten überhaupt nicht. Diese schossen direkt wie feuerrote Blitze auf die Erde nieder und explodierten dort in tausend Feuerkugeln.

Im Urwald brachen Panik und Chaos aus. In Flammen stehende Bäume wurden von gigantischen Dinosauriern entwurzelt, die groß waren wie fünf Doppelstockbusse, und kleine Dinosaurier wurden zerquetscht und zertrampelt. Der Nachthimmel leuchtete heller als der hellste Tag, und der Mond schien heißer als die Mittagssonne – doch Mamasaura und Papasaurius hatten nur eine Sorge:

Ihr Ei zu beschützen!

Sie mussten ihr Ei in Sicherheit bringen!

Also rannten sie. Sie rannten, so schnell ihre Dinosaurierbeine sie tragen konnten, und hielten ihr letztes, wertvolles Ei verzweifelt umklammert. Sie schlossen sich den Tausenden Dinosauriern an, die in Todesangst vor der Gefahr zu fliehen versuchten, aber wie schnell und wie weit sie auch rannten, es schien kein Entkommen zu geben. Denn vor dem Himmel kann man letztlich nicht davonlaufen.

Mamasaura und Papasaurius wurden von den Massen mitgerissen, in der Flut der Dinosaurier mal in die eine, mal in die andere Richtung gedrängt und gezogen, und sosehr sie sich auch bemühten, sie konnten ihr Ei nicht länger festhalten.

Es rutschte ihnen aus der Hand und fiel zu Boden.

Ich wette, ihr denkt jetzt, dass das Ei sofort zerbrach, stimmt’s? Tja – Klugberger und Schlauscheißer –, das tat es aber nicht!

Ein Laubhaufen dämpfte den Fall des Eis und es rollte unversehrt mitten zwischen die fliehenden Dinosaurier. Es wurde hierhin gekickt und dorthin gestoßen – aber es blieb ganz! Mamasaura und Papasaurius jagten ihm hinterher, während es durch gigantische Diplodocus-Beine hüpfte und unter stampfenden Stegosaurus-Füßen durchrollte – jedes Mal knapp davor, zerquetscht zu werden. Es rollte und rollte, als hätte es einen eigenen Willen, stürzte von Felskanten, landete in Baumkronen und schlingerte rutschige Schlammlawinen hinab, während Mamasaura und Papasaurius ihm verzweifelt hinterherjagten.

Hätten Mamasaura und Papasaurius einen Blick in den Himmel geworfen, statt ihr Ei zu suchen, hätten sie ein entsetzliches, furchterregendes, zu Tode erschreckendes Bild gesehen. Der ganze Himmel stand in Flammen. Was sie für den in Flammen stehenden Mond gehalten hatten, war in Wirklichkeit ein dröhnender, bombastischer, Planeten zermatschender Meteorit. Er kam aus den weitesten Weiten des Weltalls und würde jeden Moment auf den Planeten Erde krach-donnern und alle Dinosaurier für immer auslöschen.

Doch kurz bevor der Meteorit sich ans Planeten-Krachen machte, rollte das Ei zu seinem Glück bis an den Rand eines steilen, zerklüfteten Kliffs hoch über dem wild stürmenden Meer. Mamasaura und Papasaurius konnten nur hilflos dabei zusehen, wie ihr letztes wertvolles Ei mit ihrem winzigen Dinosaurierbaby langsam über den Rand des Kliffs kullerte und in die Tiefe stürzte.

Verloren, für immer.

Das Ei fiel kerzengerade hinab und verfehlte die steinige Felswand des Kliffs nur um Millimeter. Dieses Ei hatte wirklich eine Menge Glück! Es plumpste sanft ins Meer, wie ein Kieselstein in einen See, sank sofort in die dunkle Tiefe und ließ das Feuerchaos über den Wellen hinter sich. Schließlich kam es auf einem weichen, geschützten Plätzchen zum Liegen, während der Meteoritenschauer unbarmherzig auf die Erde niederging und alle Dinosaurier vernichtete.

Alle außer einen.

Den im Ei!

Während das Ei friedlich auf dem Meeresgrund schlummerte, stand die Erde in Flammen – und dann erstarrte sie in einer Eiszeit, die Tausende von Jahren andauern sollte.

Das Ei blieb, wo es war, gefangen im Eis, wo die Zeit stehen blieb, und wartete nur darauf, entdeckt zu werden …

KAPITEL 1

WILLIAM TRUDEL

Das ist William Trudel.

Es gibt etwas, das ihr über William wissen solltet: William mag Dinosaurier. Genau genommen mag er sie nicht nur. Er liebt sie. Ganz genau genommen liebt er sie so sehr, dass ich das besser mal in Großbuchstaben schreiben sollte, in etwa so …

Entschuldigt, William hatte einen Dinosaurier-Schlafanzug, Dinosaurier-Socken, eine Dinosaurier-Hose, eine Dinosaurier-Zahnbürste, in seinem Zimmer Dinosaurier-Tapete, zwei Dinosaurier-Poster, eine Dinosaurier-Lampe und mehr Dinosaurier-Spielzeuge, als in eine Badewanne passen. Aber wenn William eins wusste, dann, dass man nie genug Dinosaurier-Spielzeuge haben konnte.

William lebte in einem windschiefen kleinen Haus am Rande einer hektischen Stadt am Rande einer noch hektischeren Großstadt. Obwohl das Haus klein war, fühlte es sich nie so an, denn nur zwei Leute wohnten darin: William und sein Papa, Bob Trudel.

So, ich wette, ihr fragt euch, warum William keine Mama hat. Also, natürlich hatte William mal eine Mama gehabt, aber leider war sie vor langer Zeit gestorben, als er noch sehr klein gewesen war. Daher hatte es immer nur William und Mr Trudel gegeben, so lange sich William erinnern konnte.

Neben Dinosauriern liebte William – aber sein Papa liebte Weihnachten noch viel mehr!

Mr Trudel liebte Weihnachten so sehr, dass er nach den Weihnachtsfeiertagen dem Weihnachtsfest nachtrauerte und eine ganze Woche lang völlig hemmungslos weinte, manchmal sogar bis Ende Januar. In seinem Kleiderschrank hatte er einen Weihnachtsbaum versteckt, der immer geschmückt war, und wenn Mr Trudel den Schrank öffnete, um sich ein Paar Strümpfe zu holen, gingen die Lichter am Baum an. Jeden Morgen, wenn Mr Trudel sich anzog, betrachtete er den Baum und sagte zu sich: »Mit jedem Schritt, mit dem man sich von der letzten Weihnacht entfernt, kommt man der nächsten Weihnacht näher.« Diese Worte gaben ihm die Kraft, das Jahr zu überstehen.

An diesem Morgen fühlte sich Mr Trudel jedoch wirklich sehr weihnachtsfroh, denn es war der 1. Dezember.

»Zeit für die Schule, Willipups!«, rief Mr Trudel aus der Küche, während er auf zwei dampfend warme Toasties Butter strich (Mr Trudels Lieblingsfrühstück).

William verdrehte die Augen, als er den albernen Spitznamen hörte, mit dem ihn sein Papa rief – Willipups!

»Papa, hör auf, mich so zu nennen. Ich bin sieben drei Viertel. Das ist peinlich!«, rief William aus seinem Zimmer zurück und stopfte die Schulbücher in seinen Ranzen.

»Ich dachte, wir hatten ausgemacht, dass ich dich zu Hause Willipups nennen darf? Du musst dich schon an die Abmachung halten, Willi-Vanilli-Willipups!«, neckte ihn Mr Trudel, als er ins Zimmer seines Sohnes trat. »Fröhlichen ersten Dezember!«

Mr Trudel strahlte, stellte ein Frühstückstablett auf Williams Schreibtisch ab und deutete aufgeregt mit dem Kopf auf eine flache, rechteckige Schachtel, die er sorgfältig neben dem Teller mit den goldgelben Toasties platziert hatte. William folgte seinem Blick und sah, dass es ein mit Schokolade gefüllter Adventskalender war.

»Danke, Papa! Wo ist deiner?«, wollte William wissen. William und Mr Trudel hatten jedes Jahr jeweils ihren eigenen Adventskalender und öffneten jeden Morgen vor der Schule gemeinsam ein neues Türchen. Es war eine Trudel-Tradition.

William meinte, kurz einen traurigen Ausdruck über das Gesicht seines Papas huschen zu sehen, der jedoch schnell von einem Lächeln abgelöst wurde.

»Ich dachte, es wäre nett, wenn wir uns dieses Jahr einen teilen, William«, sagte Mr Trudel. In letzter Zeit teilten sie eine Menge Sachen, da Mr Trudel nicht sonderlich viel Geld hatte. Aber das machte William nichts aus.

»Ah, okay«, sagte er. »Ich mache das Türchen auf und du kannst die erste Schokolade haben, Papa.«

»Wie wäre es, wenn ich das Türchen öffne und du die erste Schokolade nimmst, William?«, schlug Mr Trudel vor.

»Danke, Papa.« William grinste. Er hatte im Stillen gehofft, sein Papa würde das sagen.

»Sag ›Ameisenscheiße‹!«, rief Mr Trudel und machte schnell ein Selfie von ihnen beiden. »Hach, das wird eine schöne Weihnachtskarte dieses Jahr«, meinte er und bewunderte das Foto. Es war eine weitere Trudel-Tradition, am ersten Dezember ein Foto für die Weihnachtskarten zu machen, die sie an ihre fernen Verwandten schickten: Tante Kim auf der Insel Wight, Urgroßmama Joan, die wie eine Hexe aussah, Cousine Lilly und Cousin Joe, Tante Julie, Großcousin Sam, Onkel H. Trudel, Urgroßvater Ken … Es war eine lange Liste. Der Hälfte der Verwandten war William noch nie begegnet.

»William, hast du dir schon überlegt, was du dir dieses Jahr vom Weihnachtsmann wünschen willst? Du musst bald deinen Wunschzettel schreiben«, sagte Mr Trudel und öffnete das erste Türchen des Adventskalenders. William pulte das kleine Schokoladenstück heraus, das die Form eines Schneemanns hatte, aber auf einmal hatte er keinen Appetit mehr.

»Mein lieber Junge, was um alles in der Welt ist denn los?«, fragte Mr Trudel.

»Na ja … es ist … es ist nur so, dass ich fürchte, der Weihnachtsmann kann mir dieses Jahr meinen Wunsch nicht erfüllen«, sagte William und blickte sehnsüchtig auf das Dinosaurier-Poster an der Wand. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Wichtel keine echten Dinosaurier machen können.«

»Machen?«, wiederholte Mr Trudel und trank mit allwissendem Blick einen Schluck Tee. »Die Wichtel machen überhaupt nichts!«

William guckte verwirrt aus der Wäsche. »Aber ich dachte, die Wichtel machen am Nordpol die ganzen Geschenke.«

»Pah!«, stieß Mr Trudel zusammen mit ein paar Spritzern Tee aus. »Tja, William, ich fürchte, das ist alles ein riesiger, papperlapappiger, schummeliger, geschwafelter Haufen Humbug. Wer auch immer dir das erzählt hat, ist ein totaler Holzwurmkopp! Geschenke machen? Ha! Soll ich dir verraten, wie die Wichtel das wirklich anstellen, William?«, fragte er und hatte plötzlich einen Schimmer in den Augen.

»Oh ja, Papa, bitte!«, rief William und machte es sich bequem. Er liebte es, wenn sein Papa Geschichten erzählte. Das konnte er sehr gut – und vor allem Weihnachtsgeschichten, denn, wie ihr bereits wisst, liebte Mr Trudel alles, was mit Weihnachten zu tun hatte. Er wusste alles über den Weihnachtsmann, die Wichtel und den Nordpol. Schon als kleiner Junge war die Weihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres für ihn gewesen und er hatte sie immer als Erster eingeläutet. Einmal hatte er den Weihnachtsbaum sogar schon im Juli aufgestellt (was den Nachbarn wirklich auf den Keks ging). William fand das toll.

»Nun denn, was du zuallererst einmal wissen solltest: Wichtel haben viel zu kleine Hände, um irgendwelche brauchbaren Spielsachen zu basteln, und außerdem haben sie nur drei Finger.«

»Nur drei Finger! Echt?« William wackelte mit seinen Fingern und stellte sich vor, er hätte nur drei Wichtelfinger. »Wie klein sind Wichtel, Papa?«, fragte er.

»Sehr klein, William. Stell dir vor, du guckst einen Menschen durch ein Fernglas an, hältst das Fernglas aber verkehrt herum. So klein sind Wichtel«, erklärte Mr Trudel.

»Oh, wow!« William wusste genau, was sein Papa meinte.

»Nein, Wichtel machen auf keinen Fall die Geschenke«, fuhr Mr Trudel fort. »Es gibt nur zwei Berufe am Nordpol, die die Wichtel ausüben: Entweder sind sie Bauern oder Bergarbeiter. Ich erkläre dir, wie es genau funktioniert, mein Junge. Zunächst einmal bekommt der Weihnachtsmann von Kindern aus allen Gegenden der Welt Wunschzettel, genau wie von dir, William. Dann setzt sich der Weihnachtsmann in seinen Schaukelstuhl neben dem Kamin und liest jeden Wunschzettel laut vor. Laut, William, nicht nur im Stillen!«

William nickte und hörte gebannt zu.

»Das ist sehr wichtig, William, denn im Zimmer des Weihnachtsmanns steht ein sehr alter, sehr schiefer, sehr magischer Weihnachtsbaum. Du würdest ihn wahrscheinlich auf den ersten Blick für einen abgestorbenen Ast in einem Blumentopf halten – aber er ist ungeheuer wichtig. Das war der allererste Weihnachtsbaum der Welt, und das ist er noch immer – und jetzt hockt er da und hört zu, was der Weihnachtsmann vorliest.«

»Ein Baum, der zuhört? Wirklich, Papa?«, fragte William, denn das klang doch etwas sehr seltsam.

»Natürlich! Alle Bäume hören zu, William. Was denkst du denn, warum sie die ganze Zeit so still sind? Sie hören zu, klarer Fall!«, sagte Mr Trudel, als ob das völlig einleuchtete. »Während der Weihnachtsmann die Wunschzettel laut vorliest, sprießen an dem alten, schiefen, magischen Weihnachtsbaum bündelweise seltsam aussehende Bohnenhülsen.«

»Bohnenhülsen!«, rief William. »Was denn für Bohnenhülsen?«

»Magische Weihnachts-Bohnenhülsen, William, und der Weihnachtsmann pflückt diese seltsamen Hülsen und gibt sie den Bauernwichteln. Die Bauernwichtel kochen die Hülsen in einem Topf, bis sie aufplatzen und die Weihnachtsbohnen herauskommen. Diese Bohnen sind sehr groß und rot-weiß gestreift. Und sie schmecken so köstlich, dass – würdest du eine essen – du einen Regenbogen weinen würdest und dir danach gleich die Augen rausfallen. Man sollte sie also niemals essen.«

William nickte und versuchte sich einzuprägen, niemals eine Weihnachtsbohne zu essen.

»Die Bauernwichtel schleppen die Bohnen dann nach draußen auf die unberührten, weißen Schneefelder und pflanzen sie dort tief in den kalten Pulverschnee. Wenn sie damit fertig sind, versammeln sich alle Wichtel und warten auf ein Zeichen. Während sie warten, singen sie ein Lied.«

Mr Trudel räusperte sich und sang das sehr merkwürdige Wichtellied mit einer sehr schönen Wichtelstimme:

»Wir warten auf ein Zeichen,

es dauert schon ein Weilchen.

Ihr Bohnen, los, beeilt euch mal!

Die Kälte wird jetzt echt zur Qual.

Kein Zeichen weit und breit –

es ist bald Weihnachtszeit!

Ihr Bohnen, los, wir warten schon,

die Popel hart wie Stahlbeton!«

»Wow«, machte William. »Die Wichtel singen wirklich dieses Lied?«

»Jedes Jahr!«, bestätigte Mr Trudel. »Und dann, wenn die Zeit schließlich gekommen ist, wird der Himmel über dem Nordpol von einem Schimmer aus prächtigen, flackernden Farben erhellt.«

»Die Polarlichter?«, rief William. »Die habe ich im Fernsehen gesehen!«

»Ganz genau, Sohnemann. Die wunderschönen Polarlichter. Sie sind das Zeichen, auf das sie gewartet haben. Und jetzt machen sich die Bergarbeiterwichtel an die Arbeit.«

»Und was machen die Bergarbeiterwichtel?«, fragte William.

»Das werde ich dir sagen, mein Junge«, erwiderte Mr Trudel erfreut. »Sie graben sich tief, tief, tief unter das Schneefeld und in die Eisschicht darunter, die so dick ist wie unser Haus breit und so durchsichtig wie Glas, William! Aber sie graben weder nach Diamanten noch nach Gold. Sie graben nach Spielzeugen! Die Weihnachtsbohnen haben im Schnee ihren Zauber entfaltet, haben bis tief ins Eis hinein gewaltige, verschlungene, gewundene Wurzeln getrieben, und genau dort, William, umschlungen von den eisigen Wurzeln, reifen die Spielzeuge für all die Mädchen und Jungen auf der ganzen Welt. Die Spielsachen entstehen im Eis aus den Weihnachtsbohnen, die vom Weihnachtsbaum stammen, der dem Weihnachtsmann zugehört hat, als er die Wunschzettel vorgelesen hat!«, endete Mr Trudel.

»Wow!«, sagte William.

»Das kannst du laut sagen, William! Also, jetzt weißt du, was die Wichtel machen«, sagte Mr Trudel.

Und ihr wisst es auch (und es ist die Wahrheit, denn es steht in einem Buch).

KAPITEL 2

DAS EI IM EIS

Weit entfernt vom windschiefen kleinen Haus der Trudels schneite es aus riesengroßen, weichen Winterwolken. Es waren die dicksten Schneeflocken, die ihr euch vorstellen könnt. Würdet ihr eure Zunge rausstrecken und eine dieser Schneeflocken essen, wäret ihr danach so satt, dass ihr kein Abendessen mehr braucht – so dick waren diese Schneeflocken.

Es waren keine normalen Schneeflocken, denn sie fielen am Nordpol, und am Nordpol ist nichts normal.

Diese Schneeflocken kamen mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf, der als Echo von den umstehenden Bergen widerhallte und wie das stete Trommeln einer Marschkapelle klang:

Aber das war nicht das einzige Geräusch, was zu hören war. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man tief unter der Oberfläche Stimmen hören, die im Takt zu den dumpfen Schlägen der Schneeflocken sangen. Das waren die Stimmen der Norpolwichtel – ganz genau, die Wichtel, von denen Mr Trudel seinem Sohn gerade erzählt hatte.

Sie sangen ihr Bergarbeiterwichtellied, was ungefähr so ging:

»Schipp, schipp, schippe-di,

schipp, schipp, schippe-di-dipp!

Zwerge, die nach Diamanten graben,

singen Hey-ho, Hey-ho, Hey-ho!

Elfen, die durch die Lüfte jagen,

singen Hallo, Hallo, Hallo!

Aber wir sind weder Zwerge noch Elfen,

wir sind die Wichtel, die dem Weihnachtsmann helfen.

Warum schipp-schipp-schippen wir Schnee,

gefriert uns dabei auch so mancher Zeh?

Wir graben nach Spielzeug und Kuscheltieren,

auch wenn wir dabei mächtig frieren.

Wir schipp-schipp-schippen hier und da,

schipp, schipp, schippe-di-dipp – Hurra!«

Die Wichtel dachten sich ständig solche Lieder aus. Genau genommen redeten die Wichtel vom Nordpol nie normal, NIEMALS! Sie sprachen nur in Reimen. Wollte ein Weihnachtswichtel zum Beispiel ein Glas Orangensaft, würde er nie einfach nur sagen: »Ich hätte gerne ein Glas Orangensaft«. Der Wichtel würde etwas sagen wie:

»Einen Orangensaft hätte ich gerne,

frisch presst und ohne Kerne.

Schale ab, feste gedrückt,

lecker Fruchtfleisch mich entzückt!«

Oder wenn ein Weihnachtswichtel zu einem anderen »Guten Morgen« sagt, hört sich das in etwa so an:

»Lieber Wichtelfreund, guten Morgen!

Ich hoffe, der Tag bringt wenig Sorgen

und wird recht sonnig, heiter und bunt.

Das Wichtigste aber: Bleib gesund!«

Zu jedem Anlass hatten sie die passenden Reime und Lieder parat und dachten sich ständig neue aus. Einige waren ziemlich gut, andere grottenschlecht – aber sie sangen sie trotzdem.

An diesem besonders frostigen Dezembertag arbeiteten acht Wichtel im Eisbergwerk unter den Schneefeldern am Nordpol. Sie hießen: Schnuffelpups, Sprenkelbuckel, Sausefuß, Süßschnute, Sternbatz, Schmalzbacke, Schneekrümel und Spross. Sie waren winzig, genau wie Mr Trudel es gesagt hatte – sie würden euch höchstens bis ans linke Knie reichen. Und sie hatten völlig verrückte Sachen an, angefangen von Kleidern aus Teetassen bis zu kuscheligen Mänteln, geschmückt mit Polarlichterketten. Sie boten einen unglaublichen Anblick.

Jeder Wichtel hatte seine Aufgabe, wobei die eine so wichtig war wie die andere.

Schnuffelpups grub das Loch.

Sprenkelbuckel hielt die Laterne, damit Schnuffelpups etwas sehen konnte.

Sausefuß machte Feuer.

Süßschnute warf den Wasserkocher an.

Sternbatz kochte Tee.

Schmalzbacke toastete vier Toasties (eine Toastiehälfte pro Wichtel).

Schneekrümel bestrich die Toasties mit Butter.

Spross hielt Wache.

Sie hatten den ganzen Vormittag über Löcher gegraben, Toasties gegessen und Tee getrunken und machten sich langsam Gedanken über das Mittagessen (Nordpolwichtel sind zwar sehr klein, aber immer sehr hungrig).

»Wir haben keine Toasties mehr zum Mampfen«, sagte Spross. »Ich hab Hunger. Kommt, lasst uns nach Hause stampfen!«

Aber Schnuffelpups hörte nicht zu. Er stand am Ende eines langen Tunnels, den er in den letzten zwei Stunden ins Eis gehackt hatte. Er war tief in Gedanken und in das Lied versunken, das er sang:

»Ich grabe seit vielen Tagen und Nächten

durch Schnee und Eis in tiefen Schächten.

Die kleinen Kinder, an die ich dabei denk,

warten schon auf ihr Weihnachts… EI?«

Alle Wichtel rangen vor Schreck nach Luft. Schmalzbacke ließ sogar seine Toastiehälfte in den Schnee fallen, mit der Butterseite nach unten.

»Oh nein, das war kein Reim!«, rief Schneekrümel vom anderen Ende des Tunnels. Es kam sehr selten vor, dass ein Weihnachtswichtel einmal nicht reimte.

»Ich habe etwas Seltsames entdeckt, es lag unter Schnee und Eis versteckt«, erwiderte Schnuffelpups, wieder ganz bei reimenden Sinnen.

Die sieben Wichtel ließen Tee und Toasties sofort stehen und eilten in den Tunnel, um sich das anzusehen. Sprenkelbuckel leuchtete mit der großen Messinglaterne, die er an einem langen Stock hielt, über ihre Köpfe hinweg. Der Eistunnel schimmerte in wunderbaren Blau- und Gelbtönen, und was die Wichtel dann erblickten, ließ sie Mund-offen, Augen-aufgerissen und Kopf-verwirrt erstarren.

Ein riesengroßes Ei ragte zur Hälfte aus dem Eis heraus!

Die meisten Wichtel waren über zweihundert Jahre alt und hatten schon so manch seltsame, verrückte Sache am Nordpol erlebt, aber noch nie zuvor hatte einer von ihnen ein im Eis eingefrorenes Ei gesehen.

Sofort flüsterten und tuschelten sie (in Reimen, selbstverständlich) und versuchten, einen genaueren Blick auf die wunderschön glänzende Eierschale zu erhaschen. Immer näher rückten sie heran, und bald gab es so ein Gedränge, dass sich Süßschnute und Schnuffelpups stritten, was sich für euch und mich wohl eher wie ein munteres kleines Duett angehört hätte. Es ging ungefähr so:

»Da liegt ein Ei in Schnee und Eis!

Wie kam es dorthin?«

»Wer weiß, wer weiß!«

»Wir nehmen es mit. Los, grabt es aus!«

»Das kriegen wir niemals heil nach Haus!«

»Es einfach hier lassen? Das geht doch nicht!

Wir könnten es kochen, als Mittagsgericht!«

»Es kochen? KOCHEN? Was soll das nützen?

Da ist etwas drin und das will schlüpfen!«

Gerade als Schnuffelpups seinen Satz beendet hatte, geschah etwas, das alle Wichtel zusammenzucken ließ.

Das Ei wackelte!

Es wurde mucksmäuschenstill im Tunnel, die Wichtel kauerten sich aneinander und starrten gebannt auf das Ei. Da war etwas im Ei, tatsächlich! Plötzlich fingen die Wichtel alle auf einmal an zu singen:

»Graben wir es aus,

bringen es nach Haus!

Graben wir es aus,

bald schlüpft etwas heraus!

Graben wir es aus,

dann finden wir heraus,

was darin wohl wohnt.

Vielleicht der Mann vom Mond?

Oder ein bis zwei Raben?

Der Weihnachtsmann wird’s wissen.

Los, fangt an zu graben!«

Die acht Wichtel gruben das Ei ganz vorsichtig aus. Es war eine heikle Angelegenheit, die viel Fingerspitzengefühl erforderte, wie es nur Weihnachtswichtel haben. Hätten Menschen das Ei gefunden, hätten sie es platt gequetscht wie einen Pfannkuchen. Die Wichtel aber waren vorsichtige, erfahrene Bergarbeiter. Süßschnute schmolz die härteste Eisschicht mit dem Dampf von der Teekanne. Schneekrümel kratzte mit seinem fettigen Buttermesser behutsam einzelne Eissplitter von der Eierschale. Sternbatz kehrte den Schnee weg, während Spross aufgeregt herumhüpfte und aufmunternde Reime zum Besten gab (den Mund voller Toastiekrümel, selbstverständlich). Nach nur fünfzehn Minuten und zweiundzwanzig Sekunden hatten sie das Ei aus dem Eis befreit.

Die Wichtel zogen ihre kuschelig warmen Mäntel aus, legten die Schals ab und wickelten das riesengroße Ei darin ein. Es war so hoch wie ein Wichtel, breiter als zwei Wichtel und schwerer als alle acht Wichtel zusammen.

Das Ei war furchtbar schwer, aber wenn es eine Sache gab, die Wichtel gut konnten, dann war es Teamwork. Sie rückten ganz eng zusammen, während ihnen der eisige Nordpolwind über die nackten Arme fegte, und schleppten das Ei aus dem Eisbergwerk, über die Schneefelder und zur weisesten Person, die sie kannten.

Die einzige Person, die wusste, was mit einem gefrorenen Ei am Nordpol zu tun war.

Der Weihnachtsmann!