Byron Katie
mit Stephen Mitchell
ICH LIEBE,
WAS IST
Freiheit finden in einer Welt des Leidens
Mit einer Neuübertragung des Diamant-Sutra
von Stephen Mitchell
Aus dem Englischen
von Sandra Blersch
Für dich
Inhalt
Vorwort von Stephen Mitchell
Über die Untersuchung
Über das Diamant-Sutra
Über diese Ausgabe des Diamant-Sutra
1 Der kosmische Witz
2 Die Verneigung vor einem Sandkorn
3 Der leuchtende Moment
4 Geben ist Empfangen
THE WORK IN AKTION: »Dave hat mich nicht beachtet«
5 Alltägliche Buddhas
6 Verstand ist alles, Verstand ist gut
7 Im Gewöhnlichen zu Hause sein
8 Die höchste Form der Großzügigkeit
9 Liebe kehrt um ihrer selbst willen zurück
10 Die Untersuchung leben
11 Kritik als Geschenk
12 Wie man einer Katze das Bellen beibringt
THE WORK IN AKTION: »Meine Mutter greift mich an.«
13 Die Welt jenseits der Namen
14 Es gehört uns nichts
15 Die Heimkehr
16 Alles geschieht für dich, nicht gegen dich
17 Ein Leben ohne Trennung
18 Freiheit ist, wenn man Gedanken nicht glaubt
THE WORK IN AKTION: »Sophia hört nicht (auf mich).«
19 Unvorstellbarer Reichtum
20 Der perfekte Körper
21 Nichts zu verlieren
22 Die Beseitigung von Müll
23 Dankbarkeit kennt kein Warum
24 Die Ursache allen Leidens
THE WORK IN AKTION: »Daniel hält seine Versprechen nicht ein.«
25 Gleichwertige Weisheit
26 Ein Buddha im Haus
27 Der Raum zwischen den Gedanken
28 »Putz dir die Zähne!«
29 Transparent sein
30 Eine vollkommen freundliche Welt
THE WORK IN AKTION: »Glenn trinkt wieder.«
31 Die wahre Natur von allem
32 Den Traum lieben
Anhang
Wie man The Work macht
Danksagung
Über die Autoren
Kontakt
Vorwort
Ich liebe, was ist handelt von Großzügigkeit. Wie können wir nicht nur gelegentlich, sondern jeden Tag, bis ans Ende unseres Lebens, großzügig sein? Das ist ein scheinbar unerreichbares Ideal – was aber, wenn es doch möglich ist? Was, wenn Großzügigkeit genauso selbstverständlich werden kann wie das Atmen? Das Buch zeigt, wie es geht. Aufgeschlossenheit und der Wille, alle aufkommenden belastenden Gedanken zu untersuchen, ist alles, was dafür notwendig ist. Wenn wir verstehen, wer wir hinter unserer verwirrten Denkweise wirklich sind, entdecken wir in uns eine ungezwungene und anhaltende Großzügigkeit. Sie ist unser Geburtsrecht.
Byron Katie Mitchell (jeder nennt sie Katie) spricht aus ihrer innersten Erkenntnis heraus. Ihre Methode der Selbstuntersuchung, die sie »The Work« nennt, ist eine Art erweiterte Achtsamkeit. Wenn wir The Work machen, bleiben wir nicht nur unseren Stress, Wut, Trauer und Frustration auslösenden Gedanken gegenüber wachsam, wir hinterfragen sie auch, und dadurch verlieren diese Gedanken ihre Macht über uns.
»Bedeutende spirituelle Texte«, sagt Katie, »beschreiben das Was – also was es bedeutet, frei zu sein. The Work ist das Wie. The Work führt dir vor, wie du jeden Gedanken, der dir diese Freiheit vorenthält, identifizieren und untersuchen kannst. The Work ermöglicht dir den direkten Zugang zum erwachten Geist.« Mit dem Buch Ich liebe, was ist wirst du die Welt mit den Augen eines in der Realität erwachten Menschen sehen, den leuchtenden Moment erkennen und eine Gnade erleben, in der es keine Trennung gibt und das Herz vor Liebe überfließt.
Für Leser, die noch nie etwas von Byron Katie gehört haben, hier einige Hintergrundinformationen: Mitten in einem gewöhnlichen amerikanischen Leben – zwei Ehen, drei Kinder, eine erfolgreiche Karriere – geriet Katie in eine zehn Jahre dauernde Abwärtsspirale voller Depressionen, Platzangst, Selbsthass und suizidaler Verzweiflung. Sie trank im Übermaß, und ihr Ehemann brachte ihr Tonnen von Eis und Kodein-Tabletten, die sie wie Süßigkeiten verspeiste, bis sie schließlich mehr als 90 kg wog. Sie schlief mit einem .357-Magnum-Revolver unterm Bett. Jeden Tag betete sie darum, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen, und nur wegen ihrer Kinder nahm sie sich nicht das Leben. Während der letzten beiden Jahre dieses Martyriums konnte sie das Haus kaum noch verlassen und blieb tagelang in ihrem Schlafzimmer, ohne sich auch nur zu duschen oder die Zähne zu putzen. (»Wozu soll das gut sein?«, dachte sie. »Es bringt sowieso alles nichts.«) Schließlich, im Februar 1986, begab sie sich im Alter von 43 Jahren in ein Rehabilitationszentrum für Frauen mit Essstörungen – die einzige Einrichtung, deren Kosten ihre Versicherung zu übernehmen bereit war. Die anderen Bewohnerinnen hatten solche Angst vor ihr, dass sie ein Zimmer unterm Dach zugewiesen bekam und die Treppe nachts mit einer Falle versehen wurde. Man befürchtete, sie würde nach unten kommen und den anderen etwas Fürchterliches antun.
Nach etwa einer Woche im Rehabilitationszentrum machte Katie eines Morgens eine lebensverändernde Erfahrung. Während sie auf dem Fußboden lag (sie meinte, es nicht wert zu sein, in einem Bett zu schlafen), krabbelte ihr eine Kakerlake über den Knöchel und den Fuß entlang. Sie öffnete die Augen, und plötzlich waren ihre Depressionen und Ängste sowie all ihre quälenden Gedanken verschwunden. »Während ich am Boden lag«, so Katie, »wurde mir klar, dass es – als ich schlief, also noch vor der Kakerlake auf dem Fuß sowie vor jeglichen Gedanken und vor jeglicher Welt – nichts gab, nichts gibt. Das war der Geburtsmoment der vier Fragen von The Work.« Ein Gefühl der Freude überkam sie. Die Freude hielt an – stunden-, tage-, monate- und schließlich jahrelang. Als sie nach Hause zurückkehrte, erkannten ihre Kinder, die in beständiger Angst vor ihren Ausbrüchen gelebt hatten, sie kaum wieder. Ihre Augen hatten sich verändert. »Das Blau war so klar, so schön geworden«, sagt ihre Tochter Roxann. »Wenn man hineinsah, konnte man erkennen, dass sie unschuldig wie ein Baby war. Sie war von morgens bis abends glücklich, und das jeden Tag. Dabei schien die Liebe im Übermaß aus ihr herauszufließen.« Meistens schwieg sie und saß stundenlang am Fenster oder draußen in der Wüste. Ihr jüngerer Sohn Ross sagt: »Vor der Veränderung war ich nicht in der Lage, ihr in die Augen zu schauen. Danach konnte ich nicht damit aufhören.«
Es dauerte Jahre, bis Katie über ihren Zustand sprechen konnte. Ihr Bewusstsein stand mit nichts Äußerlichem in Zusammenhang; sie hatte nie spirituelle Bücher gelesen oder von irgendwelchen spirituellen Gepflogenheiten gehört. Sie ließ sich einzig von ihren eigenen Erlebnissen leiten, und alles, was sie brauchte, war die in ihr lebendige Untersuchung der Gedanken.
Katies Wiedergeburt war von radikalerer Art als das von William James in Die Vielfalt religiöser Erfahrung dokumentierte Wandlungserlebnis. So radikal, dass sie tatsächlich alles über das Menschsein wiedererlernen (aus ihrer Sicht eher »lernen«) musste: im Raum-Zeit-Gefüge zu funktionieren, die Realität in Substantive und Verben runterzubrechen, um mit Menschen kommunizieren zu können, sowie vorzugeben, Vergangenheit und Zukunft seien real. Die Wirkung war insofern genau das Gegenteil von einer üblichen Bekehrungserfahrung, als dass Katie keinen religiösen Glauben annahm. Ihre Klarheit ließ keinen einzigen Glauben mehr zu und brannte sämtliche religiöse Vorstellungen gemeinsam mit allen anderen Gedanken nieder. Nach ihrem Erwachen spürte Katie – war sie – weiterhin die kontinuierliche Gegenwart der Liebe in Form derer sie erwacht war. »Ich hatte das Gefühl, allein das Aussprechen meiner Freude würde das Dach des Rehabilitationszentrums – des ganzen Planeten – zum Zerbersten bringen. Dieses Gefühl habe ich noch immer«, sagt sie.
Im Laufe dieses ersten Jahres kamen ihr inmitten der riesigen Freude immer wieder Glaubenssätze und Konzepte in den Sinn, derer sie sich mithilfe der Untersuchung annahm. Oft ging sie allein in die wenige Blocks hinter ihrem Haus im kalifornischen Barstow gelegene Wüste hinaus und hinterfragte all diese Gedanken.
Jede mir in den Sinn kommende Überzeugung – wobei »Meine Mutter liebt mich nicht« die schwerwiegendste war – explodierte mit der Wucht einer Atombombe in meinem Körper, und ich spürte ein Beben, Kontraktionen und die anscheinende Vernichtung des Friedens. Manchmal flossen bei dieser Überzeugung auch die Tränen und mein Körper versteifte sich. Für einen Außenstehenden hat das womöglich so ausgesehen, als wäre ich vom Scheitel bis zur Sohle verärgert oder traurig. Doch in Wirklichkeit fühlte ich weiterhin dieselbe Klarheit, den Frieden und die Freude wie damals auf dem Boden des Rehabilitationszentrums, als ich ohne »Ich« und ohne Welt erwachte. Die Überzeugung wurde schwächer und löste sich im Licht der Wahrheit dann ganz auf. Das Beben des Körpers rührte von einer Anhaftung an die Überzeugung her, was sich in Form eines unangenehmen Gefühls bemerkbar machte. Dieses Unbehagen machte mir unwillkürlich klar, dass der Glaubenssatz nicht wahr war. Nichts war wahr. Das klare Bewusstsein dessen ging mit einem wunderbaren Humor, mit einer herrlichen, glückseligen Freude und Begeisterung einher.
Katie setzte die Untersuchung ungefähr ein Jahr lang fort, bis alle Überzeugungen und Konzepte niedergebrannt waren. Sie prüfte die Methode im Laboratorium ihrer eigenen Erfahrung. Dabei legte sie einen enorm hohen Maßstab an die Plausibilität des Ganzen. Sie hinterfragte rigoros jeden Gedanken und jedes mentale Ereignis, das sie aus der Balance zu reißen drohte, und alles, was eine ihren Frieden und ihre Freude schmälernde Reaktion auslöste, und zwar so lange, bis sie dem Gedanken mit Verständnis begegnen konnte und er so seine Macht verlor. »Ich will nur das, was ist«, sagt Katie. »Alle auftretenden Vorstellungen als Freund zu betrachten, erwies sich als meine Freiheit. The Work beginnt und endet genau da: in mir. The Work zeigt, dass du alles ganz genauso lieben kannst, wie es ist. Sie zeigt dir auch exakt wie.« Am Ende dieser Vorgänge, im zweiten Jahr ihres Erwachens, war nur noch Klarheit übrig.
Bald nachdem Katie aus dem Rehabilitationszentrum nach Hause zurückgekehrt war, verbreitete sich die Nachricht über eine »Erleuchtete«, und manche Leute fühlten sich von ihr und ihrer Freiheit magnetisch angezogen. Als immer mehr Menschen sie aufsuchten, gelangte Katie zu der Überzeugung, dass diese Leute, wenn überhaupt, nicht ihre persönliche Anwesenheit brauchten, sondern eine Methode, mit der sie eigenständig zu dem gelangen konnten, was sie selbst erkannt hatte. The Work ist die Verkörperung der in ihr erwachten wortlosen Untersuchung. Sie hatte sie gelebt und geprüft, nun formulierte sie sie sozusagen in Zeitlupenform, damit andere sie anwenden konnten. In den letzten gut dreißig Jahren hat The Work Millionen von Menschen auf der ganzen Welt geholfen, sich selbst von Stress, Frustration, Wut und Traurigkeit zu befreien.
Ich liebe, was ist wird strukturiert durch das Diamant-Sutra, einen der bedeutendsten spirituellen Texte der Welt. Das Sutra ist eine längere Meditation über Selbstlosigkeit. Selbstlos ist im gewöhnlichen Sprachgebrauch ein Synonym für großzügig und bedeutet »eher zum Wohle einer anderen Person, als zum Wohle seiner selbst zu handeln«. Seine wörtliche Bedeutung lautet jedoch »ohne das Selbst«, was sowohl »kein Selbst haben« als auch »Erkennen, dass es so etwas wie ein Selbst nicht gibt« heißt. Da der Versuch, sein Selbst loszuwerden, genauso unmöglich erscheint wie der Versuch, vor seinem Schatten davonzulaufen, könnte man meinen, die zweite Bedeutung sei nur ein spirituelles Denkmodell. Mit etwas Übung in der Überprüfung oder in der Meditation wird jedoch sichtbar, dass in Wirklichkeit das »Selbst« und nicht »kein Selbst haben« das Denkmodell ist. Allen Bemühungen zum Trotz ist es unmöglich, in der Realität etwas auszumachen, das diesem Nomen gleichkommt. Für den klaren Verstand gibt es dem Sutra zufolge kein Selbst und keinen anderen, und sobald du diese Wahrheit verstanden hast, weicht die Selbstsucht grundlegend. Je mehr dein Selbstgefühl im Angesicht dieses Bewusstseins verschwindet, umso großzügiger wirst du. Dies stellt die wesentliche Wahrheit dar, die uns das Sutra in all ihren Varianten bewusst machen möchte.
Eine meiner Aufgaben als Mitautor dieses Buches bestand darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was für Katie gilt, und dem, was für ein großes Publikum verständlich ist. Diese Aufgabe musste scheitern, obwohl ihr das Konzept des »Scheiterns« fremd ist. »Das Diamant-Sutra«, schrieb sie mir per E-Mail, während sie einen Meter von meinem Sessel entfernt auf der Couch saß, »schreit nach einem Bewusstsein jenseits dessen, was artikuliert werden kann. Das Sutra versteht es durch das Verneinen von allem, was gesagt werden kann, die Wahrheit auf einfachste Weise zu demonstrieren. Ich mache meine schriftlichen oder mündlichen Kommentare, und du formst und bereinigst sie, damit sie sich so nah wie möglich an meine leibhaftigen Erfahrungen annähern. Trotzdem sind diese Worte Lügen. Du hast einen harten Job, mein Liebster. Ich bin der Floh, den du versuchst zu hüten.«
Ich habe den Job des Flohhüters genossen. Dort, wo es so aussieht, als nähmen Katies Worte sich selbst ernst, bin ich gescheitert. Erfolgreich war ich dort, wo die Worte klingen wie Katie selbst: klar, liebevoll, witzig, großzügig, modern und auf hilfreiche Art alarmierend.
Ich habe einige Geschichten von Katie in dieses Buch aufgenommen, die aus dem ersten Jahr nach ihrem Erwachen in der Realität stammen. Dies hat den Nachteil, dass sie auf »die Frau« – wie Katie es nennt – hinweisen, also auf die Person Byron Katie. Sie selbst tut das nicht häufig, weil sie es nicht für nötig hält. Ich musste diese Geschichten mithilfe meiner aufrichtigen Faszination aus ihr herauskitzeln. Sie hier aufzunehmen, hat nämlich den Vorteil, dass die Wahrheiten des Diamant-Sutra damit lebendiger und persönlicher werden. Die Geschichten mögen für manche Leser verwirrend, ja sogar beängstigend sein. Sie mögen den Eindruck erwecken, dass Katies Erlebnis eine Art Nervenzusammenbruch war und daher abzulehnen wäre. Aber so wild manche auch klingen, sie handeln im Wesentlichen von einer Frau, die durch einen ekstatischen Versuch-und Irrtum-Prozess eine tiefe, ausgeglichene geistige Gesundheit erlangt hat.
Bisher gibt es nur sehr wenige Texte, die aus der innersten Erfahrung tiefer Selbsterkenntnis heraus geschrieben wurden. Von den alten Meistern sind uns nur Skizzen und pointierte Aussagen überliefert: »Als er die Pfirsichblüten sah«, heißt es in alten Schilderungen, oder: »Als die Tür auf sein Bein krachte und es brach«; »wachte er plötzlich auf.« Über den Zusammenbruch und die Veränderung der Welt des erstaunten Suchers wird nichts gesagt. Auch über die Nachwirkungen dieser Erfahrungen gibt es kaum etwas. Zudem ist ein Erwachen ohne Vorbereitung sehr selten. Es gibt meines Wissens nur ein Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert, das in der Tiefe mit Katies Erlebnis zu vergleichen ist: das des indischen Weisen Ramana Maharshi. Ramana beschrieb die Nachwirkungen seines Erwachens ziemlich detailliert, aber da er so etwas wie ein Mönch war und in einer Kultur lebte, in der solche Art von Erlebnissen anerkannt und verehrt wurden, verlief seine Integration ohne Probleme. Einige Menschen brachten ihm Nahrung und Kleidung, und ansonsten ließen sie ihn im Zustand des Samadhi (tiefe Konzentration) allein. Er blieb auf seinem Berg. Er musste nicht in eine Familie zurück, Auto fahren oder in einem Supermarkt einkaufen gehen. (»Das musste ich auch nicht«, sagt Katie).
Das üblichere Erwachen, das durch eine intensive Meditationspraxis ausgelöst wird, verläuft um einiges schlagartiger, nämlich in Form eines Geistesblitzes, der einem großen Mut verleiht und das Leben in gewissem Maße bereinigt. Wenn sich diese transformierende Einsicht setzt, fühlt man sich im Anschluss daran heftig gebeutelt. »Es ist nicht so, dass ich nicht voller Freude wäre«, ließ der künftige Zen-Meister Tung-shan seinem Lehrer gegenüber nach der Öffnung seines inneren Auges verlauten. »Es ist eher so, als ob ich nach der Perle im Scheißhaufen gegriffen hätte.« Möglicherweise folgen danach noch weitere Einsichten, mehr Klarheit und noch mehr durch karmische Rückstände ausgelöste Plackerei. Diese Erlebnisse sind außergewöhnlich, und jede Einsicht stellt eine wertvolle Perle dar, für die man gerne seinen gesamten Besitz hergeben würde. Sie sind allerdings nicht sehr ungewöhnlich. Was passiert aber bei einem absoluten Durchbruch? Durch Katies Geschichten erfahren wir mehr.
Die Entzauberung des Begriffes Erleuchtung ist einer der Vorteile von Katies Kommentaren. Warum heißt es im Diamant-Sutra, es gäbe so etwas wie Erleuchtung nicht? Warum sagte Zen-Meister Huang-po: »Erleuchtung ist die Erkenntnis, dass es keine Erleuchtung gibt?« Katies klare Worte machen es deutlich. Sie sagt:
»Erleuchtung ist ganz einfach eine unbeschwertere Art, die Welt zu erleben. Wenn du beispielsweise glaubst, die Welt sei unfreundlich, und du durch die Untersuchung entdeckst, dass sie in Wirklichkeit freundlich ist, wirst du selbst freundlicher, freier, weniger depressiv und weniger ängstlich. Ich benutze das Wort Erleuchtung nicht, um damit irgendeinen erhabenen Bewusstseinszustand zu bezeichnen, sondern vielmehr um damit die sehr machbare, bodenständige Erfahrung des Verstehens stressiger Gedanken zu beschreiben. Früher glaubte ich zum Beispiel den Gedanken ›Meine Mutter liebt mich nicht‹. Nachdem ich ihn überprüft hatte, erkannte ich, dass er nicht wahr war. Ich schaute mir die Folgen an, die aus dem Glauben daran resultierten (wie dieser Glaube sich auf meine Gefühle und Handlungen auswirkte), und erkannte, wer ich ohne ihn wäre. Ich kehrte ihn in die entsprechenden Gegensätze um und fand lebhafte Beispiele dafür, wie die Umkehrungen wahr sein konnten. Ich war in Bezug auf diesen Gedanken erleuchtet, und er bekümmerte mich nie wieder. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Die Menschen meinen, Erleuchtung sei eine Art mystisches, transzendentales Erlebnis, aber das ist nicht so. Sie liegt dir so nahe wie dein quälendster Gedanke. Wenn du einen Gedanken glaubst, der nicht der Realität entspricht, bist du verwirrt. Wenn du diesen Gedanken überprüfst und erkennst, dass er nicht wahr ist, bist du in Bezug auf ihn erleuchtet. Du bist von ihm befreit. In diesem Augenblick bist du frei wie Buddha. Dann folgt der nächste stressige Gedanke, den du entweder glauben oder hinterfragen kannst. Das ist für dich die nächste Gelegenheit zur Erleuchtung. So einfach ist das Leben.«
Katies Geschichten handeln von einer völlig unvorbereitet in der Realität erwachten Person. Sie hatte sich weder danach gesehnt, noch hat sie dafür geübt, ja, sie wusste noch nicht einmal, was das war. Sie und auch kein anderer aus ihrem Umfeld konnte einordnen, was da geschah. Sie wusste nur eines: Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Eine paranoide Frau mit Platzangst und Selbstmordgedanken war plötzlich fröhlich und gelassen und verfügte über eine Methode, die sie in diesem Zustand verankerte und nicht in die Welt der Täuschung zurückkehren ließ. »Ich fand heraus, dass ich litt, wenn ich meine Gedanken glaubte«, sagt Katie, »und dass ich nicht litt, wenn ich sie nicht glaubte, und das trifft auf alle Menschen zu. Freiheit ist so einfach. Ich fand heraus, dass das Leiden jedem freigestellt ist und entdeckte eine immerwährende Freude in mir, die nicht einen einzigen Moment mehr von mir wich. Diese Freude wohnt in jedem, immer.«
Sie hatte keine Erinnerung an ihr früheres Leben und begegnete der Geschichte ihrer Familie vollkommen angstfrei. Dann erschienen plötzlich ihr Ehemann und ihre Kinder wie aus dem Nichts im Rehabilitationszentrum. »Dieser große Fremde soll mein Ehemann sein? Ich habe diese drei jungen Menschen noch nie zuvor gesehen. Das sollen meine Kinder sein? Okay.« Sie fing wieder ganz von vorne an. Es gab weder einen Lehrer noch eine Tradition, die ihr bei der Erklärung der Geschehnisse helfen konnten. Sie musste alles selbst ergründen. Gesellschaftliche Normen waren ihr fremd. Sie überlegt deshalb auch nicht, ob die Leute sie für verrückt hielten, wenn sie einer unbekannten Person auf der Straße begegnete und sich ihr berauscht von Liebe näherte, und auch dann nicht, wenn sie ein fremdes Haus betrat, da sie wusste, dass alles ihr gehörte. Nach dieser ursprünglichen Erfahrung gab es keine Einschränkung mehr. Allerdings erfolgte ein Prozess der schrittweisen Anpassung. Sie lernte ihre Begeisterung zu regulieren, und auch wenn ihr klar war, dass Worte Lügen waren, lernte sie den Gebrauch von »ich« und »du«, »Tisch« und »Stuhl«.
Diese Geschichten führen uns auch vor, wie radikal die Einsichten des Diamant-Sutra sind. Wenn der Autor des Sutra sagt, es gäbe kein Selbst und keinen anderen, redet er keinen Unfug. Und er meint auch nicht einfach, alles sei miteinander verbunden. Er meint wortwörtlich, so etwas wie das Selbst gäbe es nicht – das »Selbst« ist nichts weiter als ein mentales Konstrukt, so wie die augenscheinliche Realität aller Dinge um uns herum (und eigentlich auch in uns). Die Geschichten von Katie zeigen, wie es aussehen und sich anfühlen kann, wenn man diese Wahrheit im tiefsten Kern seines Seins entdeckt. So wild wie die Bewusstseinsform äußerlich betrachtet auch scheinen mag, innen drin bewegt sie sich in vollkommener Harmonie – wie wenn ein Boot freudig den Fluss hinuntertreibt – kein Träumer, nur der Traum (und nicht mal der).
Über die Untersuchung
Wenn Katie in den folgenden Kapiteln das Wort Untersuchung verwendet, meint sie konkret The Work. The Work besteht aus vier Fragen und aus den – wie sie es nennt – Umkehrungen, mit denen man das Gegenteil dessen erfahren kann, was man glaubt. Die Fragen lauten:
Ist das wahr?
Kannst du absolut sicher sein, dass das wahr ist?
Wie reagierst du, was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst?
Wer wärst du ohne den Gedanken?
Diese Fragen erscheinen zunächst recht theoretisch. Die einzige Möglichkeit richtig zu verstehen, was sie bewirken, besteht darin, sie selbst anzuwenden. Man kann aber auch schon dadurch, dass man anderen dabei zuschaut, wie sie die Fragen anwenden, einen ersten Eindruck von ihrer Kraft bekommen. Auf Katies Website, thework.com/de, gibt es viele Videos von ihr, in denen sie The Work mit Menschen macht. Wenn die Fragen ehrlich beantwortet werden, werden sie lebendig. Sie spiegeln Wahrheiten in uns wider, die wir von außen nicht sehen können. (Im Anhang befindet sich eine Anleitung, wie man The Work macht. Weitere Erläuterungen finden sich auf Katies Website sowie in ihrem Buch Lieben was ist.)
The Work wird mitunter als Selbsthilfe bezeichnet, doch sie ist weitaus mehr: Selbsterkenntnis. Wenn wir einen stressigen Gedanken hinterfragen, erkennen wir, dass er unwahr ist. Wir sehen ihn uns nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip an und finden dabei ernüchternd detailliert heraus, welchen Schmerz und welche Verwirrung der Glaube daran verursacht; dann schauen wir in den »leeren Spiegel«, also in die Welt jenseits unserer Geschichte über sie, und wir sehen, wie unser Leben ohne den Gedanken wäre; schließlich erleben wir des Gegenteil dessen, was wir so fest geglaubt hatten, und finden konkrete Beispiele dafür, inwiefern das jeweilige Gegenteil wahr ist. Wenn ein Gedanke gründlich untersucht ist, hat er keine Macht mehr, uns leiden zu lassen, und schließlich verschwindet er völlig. »Ich lasse meine Gedanken nicht los«, sagt Katie. »Ich begegne ihnen mit Verständnis. Dann lassen sie mich los.«
Über das Diamant-Sutra
In Sanskrit lautet der Titel des Sutra Vajracchedikā Praj¯nāpā ramitā S¯utra was »Diamantspaltende Vollkommenheit der Weisheit« bedeutet (»diamantspaltend« deshalb, weil die Weisheit dieses Schriftstücks eine derart hochkomprimierte und diamantharte Form hat, dass Zweifel damit genauso abgeschnitten werden können, wie ein Diamant Glas durchtrennt). Gelehrte gehen davon aus, dass das Sutra ca. 350 n. Chr. verfasst wurde, obwohl es gemäß der üblichen Konvention der Mahayana-Schriften die Form eines Dialogs mit dem historischen Buddha aufweist, der der Überlieferung nach von 563 bis 483 v. Chr. lebte. Nach seiner Übersetzung ins Chinesische 401 n. Chr. verbreitete es sich in Ostasien und wurde in vielen Schulen des Buddhismus, vor allem im Zen, beliebt. Es gibt eine chinesische, per Holztafeldruck hergestellte Ausgabe des Sutra aus dem Jahr 868. Sie befindet sich nun im British Museum und ist das älteste gedruckte Buch der Welt, 586 Jahre älter als die Gutenberg-Bibel.
Obwohl das Sutra aus Dialogen besteht, ist es kein literarischer Text, es weist beispielsweise nicht den Charme von Platos Dialogen auf. Das Sutra besteht aus gebetsmühlenartigen Dialogen. Wenn eine Aussage jedoch wichtig ist, ist sie auch eine Wiederholung wert. Der Autor hat nicht die Absicht, uns zu beeindrucken oder zu unterhalten, er versucht nicht, interessant oder clever zu sein. Er möchte, dass wir uns der Realität bewusst werden und für den Fall, dass wir etwas beim ersten Mal nicht verstanden haben, wiederholt er es auch ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal.
Das Sutra war in Zen-Kreisen aufgrund einer Geschichte über Hui-neng, den sechsten Zen-Patriarchen, der als junger Mann ein ungebildeter Holzfäller war, besonders berühmt. Eines Tages, als er vor einem Laden stand, den er gerade mit einer Fuhre Feuerholz belieferte, hörte er einen Mönch das Sutra aufsagen. Bei den Worten »Entwickle einen Verstand, der nirgendwo verweilt«, öffnete sich ihm der Verstand. Nachdem er zum Zen-Meister geworden war, lobte er bzw. eine fiktive Version seiner selbst das Diamant-Sutra in den höchsten Tönen: »Buddha hat diese Rede speziell für sehr intelligente Schüler gehalten. Sie ermöglicht es dir, das Wesen des Verstandes zu erkennen. Wenn du erkennst, dass die Weisheit dem eigenen Verstand innewohnt, brauchst du nicht auf irgendwelche spirituellen Autoritäten zurückzugreifen, da du durch kontinuierliche Meditation deine eigene Weisheit nutzen kannst.«
Der Text ist radikal und subversiv, er untergräbt seine eigenen Aussagen und lässt nicht zu, dass der Leser es sich mit einem spirituellen Konzept bequem macht, nicht einmal bei einer präzisierten Vorstellung wie dem »Nicht-Selbst«. Genau wie die Untersuchung der Work verweist auch er uns immer wieder auf den nirgendwo verweilenden Verstand.
Es gibt eine weitere berühmte Zen-Geschichte über das Diamant-Sutra:
Te-shan, ein großer Gelehrter des Diamant-Sutra, hörte von einer ehrfurchtslosen Glaubenslehre, genannt Zen, die »eine spezielle Überlieferung außerhalb der Sutren« lehrte. Voller Empörung ging er in Richtung Süden, um die Ketzerei zu vernichten. Als er bei der Straße nach Li-chou ankam, hielt er an, um sich bei einer alten Frau, die an einem Straßenstand Hirsebällchen feilbot, einen Imbiss zu kaufen. Die alte Frau sagte: »Euer Hochwürden, was sind das für Bücher in Eurem Karren?« Te-shan sagte: »Meine Notizen und Kommentare zum Diamant-Sutra.« Die alte Frau sagte: »Meinem Vernehmen nach besagt das Diamant-Sutra: ›Der vergangene Verstand ist unbegreiflich, der zukünftige Verstand ist unbegreiflich und der gegenwärtige Verstand ist unbegreiflich‹. Welcher Verstand möchte den Imbiss haben?« Te-shan war verblüfft und konnte nicht antworten. Nach einigen Augenblicken fragte er: »Gibt es einen Zen-Meister hier in der Nähe?« Die alte Frau erwiderte: »Meister Lung-t’an wohnt eine halbe Meile von hier entfernt.«
Te-shan ging zu Lung-t’ans Tempel und befragte ihn bis weit in die Nacht hinein. Als es langsam spät wurde, sagte Lung-t’an: »Du gehst jetzt am besten ins Bett.« Te-shan verbeugte sich vor dem Meister und öffnete den Vorhang, um zu gehen, aber es war stockdunkel. »Es ist dunkel draußen«, sagte er. Lung-t’an zündete eine Kerze an und reichte sie ihm. In dem Augenblick, als Te-shan sie gerade nehmen wollte, blies Lung-t’an sie aus. In diesem Moment erfuhr Te-shan ein plötzliches Erwachen.
Am nächsten Tag trug er seine Notizen und Kommentare zum Diamant-Sutra vor den Dhama-Tempel, hielt eine Fackel hoch und sagte: »Obwohl ihr mit den tiefgründigsten Lehren meisterhaft umgeht, ist es, als platziere man ein einzelnes Haar in der Weite des Weltalls. Obwohl ihr alle Wahrheiten der Welt gelernt habt, ist es, als ließe man einen Wassertropfen in eine tiefe Schlucht fallen.« Dann zündete er seine gesamten Schriften an, verbeugte sich vor Lung-t’an und ging.
In Ich liebe, was ist verkörpert Katie sowohl jene ältere Frau, welche diese fundamentale Frage stellt, als auch den Zen-Meister, der die Kerze ausbläst – die kleine Flamme, die versucht, die allgegenwärtige Dunkelheit zu erleuchten.
Wenn du meinst, du hättest durch dieses Buch einige Wahrheiten begriffen, wirst du später vielleicht voller Freuden feststellen, dass der Hauch ihrer Worte sie wie Kerzen einer Geburtstagstorte ausgelöscht hat. »Glaube nichts von dem, was ich sage«, sagt Katie oft. »Prüfe es selbst. Einzig die Wahrheit, die du für dich entdeckst, ist wichtig, nicht meine.«
Über diese Ausgabe des Diamant-Sutra
Ich lese kein Sanskrit, und die Version in diesem Buch ist keine Übersetzung, sondern eine interpretierende Adaption. Bei der Erstellung habe ich mich auf bereits vorhandene englische Übersetzungen gestützt, besonders auf die von Edward Conze, Thich Nhat Hanh, Bill Porter (Red Pine), A. F. Price und Mu Soeng.
Zahlreiche zeitgenössische Leser befanden das Diamant-Sutra als undurchdringlich. (Einer meiner aufrichtig suchenden Freunde hat es vier Mal in vier verschiedenen Übersetzungen zu lesen versucht. Er kam nie weiter als bis zum sechsten Kapitel.) Daher dachte ich, es könnte lohnenswert sein, den Dialog in einer einfachen, für den Laien verständlichen Sprache wiederzugeben, ihn von seinen esoterischen Fallstricken zu befreien und ihn so lebendig werden zu lassen, dass jeder von seiner tiefgründigen Weisheit profitieren könnte. Der ursprüngliche Text weist sogar noch mehr Wiederholungen auf. Die komplizierten Formulierungen habe ich vereinfacht. Wann immer möglich, habe ich die Betonung vom Metaphysischen auf das Hier und Jetzt verlagert. Meine Absicht war es vor allem, einen Text zu schaffen, der das klare Licht des Buddha-Verstandes ausstrahlt.