Das Buch
Im Westen von Montana liegt die von drei Generationen bewohnte Bodine Ranch, ein idyllisches Fleckchen Erde, das Urlauber anzieht. An der Spitze eines großen Teams baut Bodine Longbow das Familienunternehmen zu einem florierenden Resort aus, während ihre Brüder das Gestüt leiten. Bodine arbeitet hart und hat wenig Zeit für ein Privatleben oder gar die Liebe. Da heuert Callen Skinner bei ihr an. Sie kennt ihn seit Kindertagen, und jetzt bringt er auf einmal ihre geliebte Ordnung durcheinander. Als Bodine und Callen auf einem Ausritt eine ermordete Mitarbeiterin im Schnee finden, ist das nur der Anfang einer Kette bedrohlicher Ereignisse. Schnell gerät Callen in den Mittelpunkt der Polizeiermittlungen. Doch Bodine glaubt an seine Unschuld. Und dann steht plötzlich eine verstörte Frau vor der Tür, die um Hilfe bittet. Ist es Alice, Bodines totgeglaubte Tante, die vor Jahrzehnten spurlos verschwand?
»Vielschichtig, dunkel und psychologisch raffiniert – Nora Roberts in Höchstform.« Kirkus Reviews
Die Autorin
Nora Roberts wurde 1950 geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 450 Millionen Exemplaren, und auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland, USA.
n o r a
r o b e r t s
L i c h t i n
t i e f e r N a c h t
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Christiane Burkhardt
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Copyright © 2017 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Come Sundown bei St. Martin’s Press, New York
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Redaktion: Claudia Krader
Covergestaltung: teresa Mutzenbach Design
Covermotiv: Christine Amat/Trevillion;
shutterstock/Christopher Meder/DarkBird/Kichigin
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-21255-1
V004
www.diana-verlag.de
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Für Jason und Kat,
die besten Reisegefährten überhaupt
Teil I
Eine Reise
Wenn sengend Fieber in uns tobt,
und wir uns wälzen in der Not,
nur wenig Linderung kehrt ein:
die Lage neu, doch alt die Pein.
Isaac Watts
Prolog
Westmontana 1991
Alice Bodine erleichterte sich hinter einem spärlichen Sichtschutz aus Drehkiefern. Um dorthin zu gelangen, hatte sie durch kniehohen Schnee stapfen müssen.
Da sie auf der Nebenstraße knapp fünf Kilometer gelaufen war, ohne einem einzigen Auto oder Pick-up zu begegnen, fragte sie sich, wozu sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte.
Manche Angewohnheiten wird man einfach nicht los, dachte sie und zog ihre Jeans wieder hoch.
Sie hatte weiß Gott versucht, alte Gewohnheiten abzulegen, sich von Konventionen und Erwartungen zu befreien. Doch jetzt, keine drei Jahre nach ihrem laut verkündeten Ausbruch aus dem Alltag, ihrer Emanzipation vom Spießertum, kehrte sie kleinlaut und verfroren nach Hause zurück.
Sie hängte sich ihren Rucksack um und trat in ihre eigenen Fußstapfen, um zu der Straße zurückzukehren, die diesen Namen kaum verdiente. Der Rucksack enthielt ihre gesamte Habe. Eine Jeans zum Wechseln, ein AC/DC-T-Shirt, ein Grateful-Dead-Sweatshirt, das sie einem längst abgehakten Typen bei ihrer Ankunft in Los Angeles abgeluchst hatte, ein Stück Seife und Shampoo von ihrem zum Glück nur kurzen Job als Zimmermädchen im Holiday Inn in Rigby/Idaho, Kondome, Schminkzeug, fünfzehn Dollar und achtunddreißig Cent sowie einen Rest gutes Gras von dem Typen, mit dem sie auf einem Campingplatz in Ost-Oregon abgefeiert hatte.
Sie redete sich ein, dass sie nur deshalb heimkehrte, weil ihr das Geld ausgegangen war und sie nie wieder Bettwäsche mit Spermaflecken wildfremder Leute wechseln wollte. Außerdem ahnte sie, wie leicht es war, zu einer der Frauen mit leerem Blick zu werden, die sich in den dunklen Straßen so vieler Städte verkauften.
Sie musste zugeben, dass sie nicht weit von diesem Punkt entfernt gewesen war. Wenn man genug Hunger und Angst hatte und heftig genug fror, war die Vorstellung nicht mehr so abwegig, den eigenen Körper zu verkaufen, um etwas Anständiges zu essen und ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Es war schließlich nur Sex.
Doch es gab einfach Grenzen, die sie nicht überschreiten wollte. In Wahrheit wollte sie zurück nach Hause. Zurück zu ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihren Großeltern. Zurück in ihr Zimmer mit den Postern an den rosa Wänden und dem schönen Bergblick. Sie sehnte sich nach dem morgendlichen Duft von Kaffee und Speck in der Küche und danach, ein galoppierendes Pferd unter sich zu spüren.
Ihre Schwester war verheiratet. Im Grunde war es deren spießige, durch und durch traditionelle Hochzeit gewesen, die sie dazu bewegt hatte abzuhauen. Sie war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Vielleicht hatte Reenie inzwischen sogar ein Kind – sehr wahrscheinlich sogar. Und wahrscheinlich war sie so verdammt perfekt wie eh und je.
Aber sie vermisste sogar Maureens verdammte Perfektion.
Deshalb marschierte sie weiter, weitere anderthalb Kilometer in der abgetragenen Fleecejacke, die sie gebraucht gekauft hatte und die sie nur unzureichend vor Kälte schützte. In den Stiefeln, die sie seit mehr als zehn Jahren besaß, den schneebedeckten Rucksack auf den mageren Schultern.
Sie hätte von Missoula aus zu Hause anrufen, ihren verdammten Stolz hinunterschlucken sollen. Dann wäre ihr Grandpa gekommen und hätte sie abgeholt. Der schimpfte nie. Doch sie hatte sich eingebildet, aus eigener Kraft zur Ranch zurückmarschieren zu müssen, stolz und hoch erhobenen Hauptes.
Sie hatte sich vorgestellt, wie alle erstarren und sie ungläubig anstarren würden.
Die verlorene Tochter kehrt nach Hause zurück.
Alice seufzte, und eine warme Atemwolke vertrieb die eisige Brise.
Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen, aber als sie in Missoula eine Mitfahrgelegenheit bekommen hatte, war ihr das wie eine Art Zeichen vorgekommen. Außerdem hatte ihr dieses Angebot dazu verholfen, dass sie nur noch knapp zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt war.
Gut möglich, dass sie es bis zum Einbruch der Dämmerung nicht mehr schaffen würde. Das machte ihr Sorgen. Sie hatte eine Taschenlampe im Rucksack, aber die Batterien waren schwach. Sie hatte ein Feuerzeug, aber bei der Vorstellung, ohne Zelt, Schlafsack oder etwas zu essen im Freien übernachten zu müssen, beschleunigte sie ihre Schritte. Ihre letzte Wasserflasche hatte sie bereits vor drei Kilometern ausgetrunken.
Sie dachte darüber nach, wie sie wohl reagieren würden. Sie würden sich riesig freuen, sie zu sehen, das ging gar nicht anders. Vielleicht waren sie sauer, weil sie einfach so abgehauen war und nur einen winzigen Zettel zurückgelassen hatte. Damals war sie achtzehn gewesen. Alt genug zu tun, was sie wollte. Sie hatte weder ein Studium noch die Zwangsjacke einer Ehe noch einen der Scheißjobs auf der Ranch gewollt.
Sie hatte sich nach Freiheit gesehnt und sie sich genommen.
Heute war sie einundzwanzig und entschied sich freiwillig dafür, nach Hause zurückzukehren.
Vielleicht würde es ihr inzwischen nicht mehr so viel ausmachen auf der Ranch zu arbeiten. Vielleicht würde sie sich sogar für ein Studium einschreiben.
Sie war eine erwachsene Frau.
Die Zähne der erwachsenen Frau klapperten, aber sie marschierte stur weiter. Hoffentlich waren ihre Großeltern zu Hause. Heftige Schuldgefühle plagten sie, weil sie nicht wusste, ob Grammy oder Grandpa überhaupt noch am Leben waren.
Klar sind sie das, redete sich Alice ein. Sie war nur drei Jahre weg gewesen. Grammy würde nicht sauer sein, zumindest nicht lange. Vielleicht würde sie ein bisschen schimpfen: »Schau nur, wie dünn du geworden bist. Was um alles in der Welt hast du mit deinen Haaren angestellt?«
Als sie sich das vorstellte, zog Alice ihre Mütze amüsiert tiefer über die Kurzhaarfrisur, die sie so platinblond gebleicht hatte, wie es nur ging. Sie mochte es, blond zu sein, mochte es, dass die glamouröse Haarfarbe ihre Augen tiefgrün wirken ließ.
Vor allem mochte sie die Vorstellung, von ihrem Grandpa in die Arme genommen zu werden und sich an einen reich gedeckten Tisch zu setzen. Schließlich stand Thanksgiving vor der Tür. Da würde sie ihrer Spießerfamilie von ihren Abenteuern berichten können.
Sie hatte den Pazifik gesehen, war wie ein Filmstar über den Rodeo Drive flaniert und hatte zweimal als Statistin an einem Spielfilm mitgewirkt. Echte Rollen in echten Filmen zu bekommen war schwieriger gewesen als gedacht, aber sie hatte es wenigstens versucht.
Sie hatte bewiesen, dass sie allein zurechtkam. Dass sie etwas auf die Beine stellen, rumkommen und etwas erleben konnte. Wenn sie sie zu sehr verurteilen würden, konnte sie jederzeit wieder aufbrechen.
Genervt blinzelte Alice ihre Tränen weg. Sie würde sie auf keinen Fall anflehen sie wiederaufzunehmen.
Meine Güte, sie wollte einfach nur nach Hause!
Am Stand der Sonne erkannte sie, dass sie es so nie rechtzeitig schaffen würde. Die Luft roch nach Schnee. Wenn sie querfeldein ging, durch den Wald und über die Felder, konnte sie es vielleicht bis zur Ranch der Skinners schaffen.
Müde und erschöpft blieb sie stehen. Es war sicherer auf der Straße zu bleiben, aber ein Querfeldeinmarsch wäre eine Abkürzung. Wenn sie sich nicht verlief, gab es dort außerdem mehrere Hütten für Natururlauber. Dort konnte sie einbrechen, den Ofen anheizen und vielleicht sogar ein paar Konserven finden.
Sie warf einen Blick auf die schier endlose Straße, auf die schneebedeckten Felder, die schneebedeckten Berge. Letztere ragten graublau in den Himmel auf, der von Dämmerung und Neuschnee kündete.
Später sollte Alice oft an diese Unentschlossenheit, dieses minutenlange Zögern im schneidend kalten Wind am Straßenrand zurückdenken.
Obwohl es das erste fremde Geräusch war, das Alice seit mehr als zwei Stunden hörte, nahm sie den Motorlärm zunächst gar nicht wahr.
Dann kämpfte sie sich zurück durch den Schnee und spürte, wie ihr Herz beim Anblick des Pick-ups freudig klopfte.
Sie machte einen Schritt nach vorn. Statt den Daumen rauszuhalten, winkte sie wild mit den Armen wie jemand, der in Schwierigkeiten steckt.
Sie war zwar drei Jahre weg gewesen, aber nach wie vor ein waschechtes Countrygirl. Niemand in dieser Gegend würde an einer Frau vorbeifahren, die auf einer einsamen Straße um Hilfe bat.
Als der Pick-up hielt, glaubte Alice nie etwas Schöneres gesehen zu haben als diesen rostigen blauen Ford mit den Gewehrhalterungen, der von einer Plane bedeckten Ladefläche und dem Aufkleber Ich bin ein echter Patriot an der Windschutzscheibe.
Als der Fahrer das Fenster herunterließ und sich herausbeugte, konnte sie ihre Tränen nur mit Müh und Not zurückhalten.
»Sieht ganz so aus, als bräuchten Sie Hilfe.«
»Eine Mitfahrgelegenheit wär nicht schlecht.« Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln und musterte ihn gründlich. Sie brauchte diese Mitfahrgelegenheit, aber sie war nicht blöd.
Er trug eine in die Jahre gekommene Schaffelljacke und hatte einen Cowboyhut auf dem kurzen dunklen Haar.
Er sah gut aus, fand Alice, das war ein Pluspunkt. Er war ein gutes Stück älter, bestimmt vierzig. Seine ebenfalls dunklen Augen machten einen freundlichen Eindruck.
Countrymusic kam aus dem Radio.
»Wohin müssen Sie denn?«, fragte er im typischen Akzent Westmontanas, der wie Musik in ihren Ohren klang.
»Zur Bodine Ranch. Das sind bloß …«
»Ich weiß, ich kenne die Ranch. Steigen Sie ein.«
»Danke, vielen Dank! Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.« Sie setzte ihren Rucksack ab und nahm ihn auf den Schoß, nachdem sie in die Fahrerkabine geklettert war.
»Hatten Sie eine Panne? Ich hab gar keinen Wagen auf der Straße gesehen.«
»Nein.« Sie stellte den Rucksack zwischen ihre Füße und war fast sprachlos vor Erleichterung über die Wärme der Autoheizung. »Ich komme aus Missoula und wurde ein Stück weit mitgenommen. Aber die Leute mussten vor knapp zehn Kilometern eine Abfahrt nehmen.«
»Du bist zehn Kilometer gelaufen?«
Als ihre zu Eis gefrorenen Zehen langsam auftauten, schloss sie beglückt die Augen. »Das ist das erste Fahrzeug in zwei Stunden! Ich hatte nie vor, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, und bin wirklich sehr froh, dass mir das erspart bleibt.«
»Ganz schön weit für ein so junges Ding, das ganz allein unterwegs ist. Bald wird es dunkel.«
»Ich weiß. Was für ein Glück, dass Sie vorbeigekommen sind.«
»Was für ein Glück«, wiederholte er.
Sie sah die Faust nicht kommen. Es ging alles so furchtbar schnell. Ihr Gesicht explodierte fast unter dem Schlag. Den zweiten Schlag spürte sie nicht mehr.
Froh über die Gelegenheit, die ihm da in den Schoß gefallen war, zog er sie rasch aus dem Pick-up und verstaute ihren schlaffen Körper auf der Ladefläche unter der Plane.
Er fesselte ihr Hände und Füße, knebelte sie und warf eine alte Decke über sie. Sie sollte schließlich nicht erfrieren.
Es lagen noch einige Kilometer vor ihnen.
1
Heute
Die Morgenröte tauchte die schneebedeckten Berge in ein zartrosa Licht. Elche röhrten auf ihrer Morgenwanderung im Nebel, und der Hahn krähte durchdringend.
Bodine Longbow stand in der Küchentür, genoss ihren letzten Schluck Kaffee und bestaunte den aus ihrer Sicht perfekten Start in den Novembertag.
Nur eine Stunde Schlaf mehr hätte ihr Glück steigern können. Seit sie klein war, wünschte sie sich einen Fünfundzwanzigstundentag. Sie hatte sich sogar notiert, was in diesen weiteren sechzig Minuten alles zu schaffen wäre.
Aber da die Erdrotation nicht auf sie hörte, löste sie das Problem, indem sie selten länger als bis halb sechs schlief. Bei Anbruch der Dämmerung hatte sie bereits ihr morgendliches, sechzigminütiges Fitnessprogramm erledigt, geduscht, sich zurechtgemacht, ihre E-Mails gecheckt, mit Granola aufgepeppten Joghurt gegessen und ihren Terminplan kontrolliert.
Da sie ihn ohnehin auswendig kannte, war das eigentlich überflüssig. Aber Bodine ging die Dinge gern gründlich an. Da der Teil vor Tagesanbruch bereits abgehakt war, konnte sie sich ein paar Minuten gönnen und ihren Morgenkaffee genießen. Einen Latte macchiato, bestehend aus Vollmilch, einem doppelten Espresso und einem Schuss Karamellsirup, den sie sich eigentlich längst abgewöhnen wollte.
Bald würden ihr Vater und ihre Brüder eintreffen, die nach dem Vieh gesehen und die Rancharbeiter eingewiesen hatten. Da Clementine heute frei hatte, würde ihre Mutter bald in die Küche kommen und gut gelaunt ein perfektes Montana-Ranch-Frühstück zubereiten. Nachdem die drei Männer satt waren, würde Maureen die Küche aufräumen und dann zum Bodine Resort aufbrechen, wo sie als Verkaufsleiterin arbeitete.
Maureen Bodine Longbow war ihrer Tochter ein Rätsel.
Bodine war sich nicht nur sicher, dass ihre Mutter sich keine extra Stunde wünschte. Sie brauchte sie auch gar nicht, um eine glückliche Ehe zu führen, zwei komplexe Firmen (die Ranch und das Resort) zu leiten und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Maureen hereinstürmte. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar umrahmte ein hübsches Gesicht mit wachen grünen Augen.
»Guten Morgen, mein Schatz.«
»Morgen. Du siehst toll aus.«
Maureen strich sich über die schmale Taille im waldgrünen Kleid. »Ich habe heute jede Menge Besprechungen und muss einen guten Eindruck machen.«
Sie öffnete die alte Scheunentür, die zur Vorratskammer führte, und nahm eine weiße Metzgerschürze vom Haken. Kein Spritzer Fett würde es wagen, auf diesem Kleid zu landen.
»Machst du mir auch so einen Latte?«, bat Maureen und band sich die Schürze um. »Keiner macht ihn so gut wie du.«
»Gern. Ich treff mich gleich mit Jessie«, sagte Bodine. Damit meinte sie Jessica Baazov, die Eventmanagerin des Resorts, die seit drei Monaten für sie arbeitete. »Um über Linda-Sue Jacksons Hochzeit zu reden. Linda-Sue kommt um zehn dazu.«
»Verstehe. Dein Dad sagt, Roy Jackson weint in sein Bier, weil es so teuer wird, sein Mädchen zu verheiraten. Kein Wunder, denn Linda-Sues Mutter kennt wirklich keine Grenzen. Die würde ihre Tochter glatt zum Klang von Engelschören zum Altar schicken, wenn wir welche organisieren könnten.«
Bodine schäumte sorgfältig Milch auf. »Wenn der Preis stimmt, dürfte Jessie auch das hinkriegen.«
»Sie macht ihre Sache wirklich gut, nicht wahr?« In einer riesigen Grillpfanne auf dem achtflammigen Herd begann Maureen Speck auszubraten. »Ich mag das Mädchen.«
»Du magst jeden.« Bodine reichte ihrer Mutter den Latte.
»Das macht das Leben deutlich angenehmer. Wenn man sich bemüht, sieht man, dass jeder Mensch gute Seiten hat.«
»Du bist wirklich einmalig, Mom.« Bodine beugte sich weit hinunter. Bereits mit zwölf hatte sie ihre eins sechzig große Mutter überragt und war seitdem dreizehn Zentimeter gewachsen. Sie küsste Maureen auf die Wange. »Ich hab genug Zeit, um den Tisch für dich zu decken, bevor ich los muss.«
»Ach, Schätzchen, du musst doch was frühstücken.«
»Ich hab ein wenig Joghurt gegessen.«
»Du hasst das Zeug.«
»Ich hasse es nur, wenn ich es esse. Es ist gesund.«
Seufzend ließ Maureen den Speck abtropfen und gab neuen in die Pfanne. »Meine Güte, manchmal glaube ich, dass du dich besser bemutterst, als ich es je getan habe.«
»Du bist die Beste«, erwiderte Bodine und nahm einen Stapel schlichter Teller aus dem Schrank.
Sie hörten die Bande, noch bevor die Hintertür aufgerissen wurde. Die Männer der Familie zwängten sich samt zwei Hunden herein.
»Putzt euch bloß die Stiefel ab.«
»Ach, komm schon, Reenie, als ob wir das je vergessen hätten.« Sam Longbow nahm seinen Hut ab, denn niemand setzte sich mit Hut an Maureens Tisch.
Sam war über eins neunzig groß, mit ewig langen Beinen. Der schlaksige, gut aussehende schwarzhaarige Mann mit den grauen Schläfen hatte Lachfältchen um die dunkelbraunen Augen. Sein linker Schneidezahn stand schief, was sein Lächeln aus Bodines Sicht noch charmanter machte.
Chase, Bodines zwei Jahre älterer Bruder, hängte seinen Hut an den Haken und schlüpfte aus der Arbeitsjacke. Er hatte die Größe und Figur seines Vaters, wie übrigens alle Longbow-Kinder, ähnelte vom Teint und der Haarfarbe her allerdings eher seiner Mutter.
Rory, drei Jahre jünger als seine Schwester, war mit seinem tiefbraunen Haar und den lebhaften grünen Augen eine Mischung aus seinen Geschwistern. Mit einem Gesicht, das dem von Sam Longbow zum Verwechseln ähnlich sah.
»Ist genug für eine Person mehr da, Mom?«
Maureen sah stirnrunzelnd zu Chase hinüber. »Na klar. Um wen geht es denn?«
»Ich hab Cal zum Frühstück eingeladen.«
»Dann deck noch einen Teller«, befahl Maureen. »Es ist schon lange her, dass Callen Skinner bei uns am Tisch saß.«
»Er ist wieder da?«
Chase nickte Bodine zu und ging zur Kaffeemaschine. »Er ist gestern Abend angekommen und zieht in den Schuppen wie besprochen. Ein warmes Frühstück wird ihm guttun.«
Während Chase schwarzen Kaffee trank, gab Rory großzügig Milch und Zucker in seinen. »Er sieht gar nicht aus wie ein Hollywood-Cowboy.«
»Zur großen Enttäuschung deines Jüngsten«, sagte Sam, der sich die Hände an der Spüle wusch. »Rory hat wohl gehofft, dass er mit klirrenden Sporen, einem silbern verzierten Hutband und polierten Stiefeln herumläuft.«
»Er besitzt nichts davon.« Rory naschte vom Speck. »Und sieht nicht viel anders aus als bei seinem Aufbruch. Höchstens älter.«
»Er ist kein Jahr älter als ich. Lass uns ein bisschen Speck übrig, ja?«, beschwerte sich Chase.
»Ich hab noch mehr«, beruhigte ihn Maureen und hob das Kinn, als Sam sich zu ihr herabbeugte, um sie zu küssen.
»Du siehst einfach zum Vernaschen aus, Reenie, und duftest auch so.«
»Ich habe heute Vormittag viele Besprechungen.«
»Apropos Besprechungen.« Bodine sah auf die Uhr. »Ich muss los.«
»Och, Schatz, kannst du nicht bleiben und Callen begrüßen? Du hast den Jungen seit zehn Jahren nicht gesehen.«
Seit acht Jahren, dachte Bodine und musste zugeben, dass sie neugierig war. »Das geht leider nicht. Ich werd ihn bestimmt bald sehen.« Sie küsste ihren Vater. »Rory, ich hab ein paar Dinge mit dir im Büro zu besprechen.«
»Chef, ich komme gleich.«
Schnaubend ging sie in den Hausflur, wo sie die Aktentasche bereitgestellt hatte. »Am Nachmittag soll es schneien«, rief sie, während sie ihre Jacke zumachte, den Hut aufsetzte, Schal und Handschuhe anzog und in die kalte Morgenluft hinaustrat.
Sie war zu spät dran, deshalb marschierte sie zügig zu ihrem Pick-up. Sie hatte gewusst, dass Callen zurückkommen wollte, und war bei der Familienbesprechung dabei gewesen, auf der beschlossen worden war, ihn als Chefbereiter einzustellen.
Seit sie denken konnte, war er Chase’ bester Freund und damit der Fluch ihres Lebens, aber auch ihre erste große Liebe.
Während sie über den gefrorenen Feldweg fuhr, wurde ihr klar, dass er bei seinem Aufbruch aus Montana jünger gewesen war als Rory heute.
Um die zwanzig und mit Sicherheit stocksauer und frustriert, weil er um sein Erbe gebracht worden war. Um das Land, das ihr Vater den Skinners abgekauft hatte, als Callens Vater, höflich ausgedrückt, schwere Zeiten durchgemacht hatte.
Weil er alles verspielte.
Ein erbärmlicher Spieler, wie ihr Vater einmal gesagt hatte, vom Spiel genauso abhängig wie von der Flasche.
Als von seinem Grund kaum mehr als fünfzig Morgen, das Haus und ein paar Außengebäude übrig geblieben waren, war Callen Skinner aufgebrochen, um woanders sein Glück zu machen.
Wenn stimmte, was Chase so erzählte, war es Cal gut ergangen. Er hatte sich um Pferde beim Film gekümmert und sie trainiert.
Jetzt kehrte er zurück. Sein Vater war gestorben, seine Mutter Witwe, seine Schwester verheiratet und Mutter eines Kleinkinds, das zweite war gerade unterwegs.
Bodine wusste, dass das restliche Land der Skinners kaum etwas wert war, weil so viele Hypotheken darauf lasteten. Die Ranch stand leer, da Mrs. Skinner mit ihrer Tochter Savannah und deren Familie in ein hübsches Haus in Missoula gezogen war. Dort besaßen Savannah und ihr Mann ein Geschäft für Kunstgewerbe.
Bodine rechnete damit, dass man sich bald zusammensetzen würde, um ihm die restlichen fünfzig Morgen abzukaufen. Während der Fahrt überlegte sie, ob sich der Grund besser für die Ranch oder fürs Resort eignen würde.
Man könnte die Ranch renovieren. Sie an Gruppen vermieten oder für Events nutzen, für kleinere Hochzeiten, Firmenfeiern, Familienfeste.
Oder aber Zeit und Geld sparen, sie abreißen und neu bauen.
Sie ging die verschiedenen Möglichkeiten durch, während sie unter dem Bodine-Resort-Schild mit dem Kleeblattlogo hindurchfuhr. Sie bemerkte die Lichter im Handelsposten. Derjenige, der Frühschicht hatte, öffnete den Laden. In der kommenden Woche war ein Markt mit Lederwaren und Kunsthandwerk geplant, um Spätherbst-Touristen anzulocken. Oder dank Rorys Marketingkampagne auch Gäste von außerhalb, die in der Futterkrippe zu Mittag essen würden.
Sie hielt vor dem lang gestreckten, niedrigen Gebäude mit der breiten Veranda, in der die Rezeption untergebracht war.
Es machte sie jedes Mal stolz.
Das Resort war vor ihrer Geburt entstanden, nach einer Idee ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter. Damals hatte ihre Großmutter Cora Riley Bodine den Laden geschmissen.
Was als einfache Ferienranch für Naturburschen begonnen hatte, war inzwischen ein Luxusresort mit Fünf-Sterne-Küche, maßgeschneidertem Service, Abenteuer- und Verwöhnurlaub, Events, einem Unterhaltungsprogramm und vielem mehr. Das Ganze auf über dreißigtausend Morgen, zu denen zudem die normal bewirtschaftete Ranch gehörte. Das alles in der unbezahlbar schönen Landschaft Westmontanas.
Sie eilte ins Gebäude, wo bereits einige Gäste vor dem prasselnden Kaminfeuer Kaffee tranken.
Sie registrierte den Herbstduft von Kürbis und Nelken, winkte dem Empfang anerkennend zu und wollte in ihr Büro gehen und loslegen. Doch dann machte sie kehrt, als Sal, die kecke Rothaarige, die Bodine aus der Schule kannte, ihr ein Zeichen gab. »Linda-Sue hat gerade angerufen. Sie kommt später.«
»Sie kommt ständig zu spät.«
»Ja, aber diesmal kündigt sie es wenigstens an, anstatt einfach nicht zu erscheinen. Unterwegs holt sie ihre Mutter ab.«
Der erste Schatten auf Bodines perfekt geplantem Tag. »Ihre Mutter kommt mit?«
»Tut mir leid.« Sal schenkte ihr ein trauriges Lächeln.
»Das ist in erster Linie Jessies Problem, trotzdem danke.«
»Jessie ist noch nicht da.«
»Das passt schon, ich bin früh dran.«
»Das bist du immer«, rief ihr Sal hinterher, als Bodine schnurstracks das Büro des Resortmanagers ansteuerte. Ihr Büro. Es hatte genau die richtige Größe. Groß genug, um Besprechungen darin abzuhalten, und klein genug, um diesen Treffen einen intimen Anstrich zu geben.
Ein Doppelfenster bot einen Blick auf die natursteingepflasterten Wege und den Teil des Gebäudes, in dem die Futterkrippe sowie der exklusive Speisesaal untergebracht waren. Dahinter sah man hügelige Felder und im Hintergrund die Berge. Sie hatte den alten Schreibtisch ihrer Großmutter extra so hingestellt, dass sie dem Fenster den Rücken zukehrte, um nicht zu sehr abgelenkt zu sein. Im Büro standen außerdem zwei Ledersessel mit hoher Rückenlehne, die einst das Büro der Ranch geschmückt hatten, und ein kleines Sofa.
Sie hängte Jacke, Hut und Schal an die Garderobe in der Ecke und strich sich das Haar glatt, das genauso schwarz war wie das ihres Vaters. Sie trug es in einem langen Zopf, der ihr auf den Rücken fiel.
Sie ähnelte ihrem Großvater, wie seine Witwe stets betonte. Bodine hatte Fotos gesehen und musste zugeben, dass sie dem jungen, unglückseligen Rory Bodine, der vor seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr in Vietnam gefallen war, wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er hatte leuchtend grüne Augen und einen vollen Mund gehabt. Sein schwarzes Haar war leicht gewellt gewesen, während ihres glatt herabhing. Dafür besaß sie seine hohen Wangenknochen, dieselbe vorwitzige Nase und die helle Haut, die literweise Sonnenschutz brauchte.
Sie wusste, dass sie zudem den ausgeprägten Geschäftssinn ihrer Großmutter geerbt hatte.
Als Erstes ging sie zum Sideboard mit der Pad-Maschine, die anständigen Kaffee machte, und nahm den Becher mit zum Schreibtisch, um ihre Notizen für die ersten beiden Besprechungen durchzugehen. Während sie gerade einen Anruf und eine E-Mail gleichzeitig beendete, kam Jessica herein.
Wie Maureen trug Jessie ein Kleid. Ihres war knallrot und mit einer kurzen cremebeigen Lederjacke kombiniert. Ihre hochhackigen Stiefeletten würden keine fünf Minuten im Schnee überstehen, dafür passten sie farblich perfekt zum Rot des Kleides. Bodine bewunderte sie für ihren Stil.
Jessica trug das blondgesträhnte Haar in einem straffen Knoten – wie so oft, wenn sie arbeitete. Wie ihre Stiefeletten passte auch der Lippenstift perfekt zum Kleid, zu ihren markanten Wangenknochen, der schmalen geraden Nase und den gletscherblauen Augen.
Bodine legte auf. Jessica nahm Platz, zückte ihr Handy und checkte etwas.
Bodine lehnte sich zurück. »Die Koordinatorin des regionalen Schriftstellerverbands wird sich wegen einer dreitägigen Klausur einschließlich Abschiedsbankett bei dir melden.«
»Gibt es schon ein Datum? Teilnehmerzahlen?«
»Sie gehen von achtundneunzig Personen aus. Am 9. Januar sollen sie eintreffen und am 12. Januar wieder fahren.«
»Diesen Januar?«
Bodine grinste. »Der vorherige Veranstaltungsort ist geplatzt, deshalb ist es so kurzfristig. Ich habe nachgesehen, wir können das schaffen. Direkt nach den Feiertagen wird es etwas ruhiger. Wir könnten die Mühle für ihre Besprechungen und das Bankett reservieren. Blockhütten gibt es für die zwei Tage auch genug. Die Koordinatorin, Mandy, scheint gut organisiert zu sein. Ich habe meiner Mutter, Rory und dir eine Mail mit den Details geschickt. Ihr Budget sollte reichen.«
»Gut. Ich werde mit ihr reden, einen Menüplan aufstellen, mich um den Personentransport, die verschiedenen Aktivitäten und so weiter kümmern. Schriftsteller?«
»Ja.«
»Ich werd den Saloon vorwarnen.« Jessie machte sich eine weitere Notiz auf dem Handy. »Schriftsteller haben immer eine große Getränkerechnung.«
»Umso besser für uns.« Bodine zeigte mit dem Daumen auf die Kaffeemaschine. »Bedien dich.«
Jessica hob einfach nur den mit Wasser gefüllten Thermotrinkbecher des Bodine Resorts, den sie dabeihatte.
»Wie kannst du nur ohne Kaffee überleben?«, fragte Bodine aufrichtig entsetzt. »Oder ohne Cola. Wie schaffst du es, nur mit Wasser auszukommen?«
»Weil es auch Wein gibt. Und Yoga und Meditation.«
»Lauter Sachen, die müde machen.«
»Nicht, wenn man es richtig anstellt. Du solltest wirklich mehr Yoga machen. Meditation würde dir helfen, mit weniger Koffein auszukommen.«
»Wenn ich meditiere, muss ich die ganze Zeit an Sachen denken, die ich lieber tun würde.« Bodine drehte sich auf ihrem Stuhl hin und her. »Die Jacke ist echt toll.«
»Danke. Ich war an meinem freien Tag in Missoula und hab richtig Geld ausgegeben. Sal hat mir erzählt, dass Linda-Sue zur Abwechslung später kommen und außerdem ihre Mutter dabeihaben wird.«
»Das hat uns gerade noch gefehlt. Aber sie buchen vierundfünfzig Blockhütten für drei Tage. Polterabend, Hochzeit und anschließender Empfang. Davor werden sie das Wellness-Village mehr oder weniger komplett mit Beschlag belegen, von den anderen Aktivitäten einmal abgesehen.«
»Bis dahin sind es gerade mal vier Wochen. Da ist nicht mehr viel Zeit für Programmänderungen oder Extras.«
Bodines volle Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Du kennst Dolly Jackson, oder?«
»Ich komm schon klar mit Dolly.«
»Besser als jeder andere«, gab Bodine zurück. »Schauen wir mal, was wir haben.«
Sie gingen die ganze Liste durch und waren gerade bei einer kleineren Party in der Weihnachtsvorwoche angelangt, als Sal den Kopf hereinsteckte. »Linda-Sue und ihre Mutter.«
»Wir kommen sofort. Moment, Sal, bestell Sekt mit O-Saft.«
»Gute Idee.«
»Sehr gut«, pflichtete ihr Jessica bei, nachdem Sal verschwunden war. »Je mehr Wind wir um sie machen, desto umgänglicher werden sie.«
»Linda-Sue ist gar nicht so schlimm. Chase war in der Highschool kurz mit ihr zusammen.« Bodine stand auf und zupfte ihre dunkelbraune Weste zurecht. »Auf in den Kampf.«
Die hübsche, kurvige und leicht nervöse Linda-Sue durchquerte die Lobby, die gefalteten Hände an die Brust gepresst. »Siehst du es nicht vor dir, Mom? Alles ist weihnachtlich dekoriert, die Bäume, die Lichter. Dazu Kaminfeuer, so wie heute. Außerdem hat Jessica gesagt, dass die Mühle nur so funkeln wird.«
»Das sollte sie auch! Aber wir brauchen unbedingt diese großen Kandelaber, Linda-Sue, mindestens ein Dutzend. Goldene wie in dieser Zeitschrift. In klassischem Mattgold.«
Währenddessen kritzelte Dolly etwas in ihren ziegelsteinschweren, brautweißen Hochzeitsplaner.
»Und einen roten Samtläufer, dunkelrot, nicht knallrot. Genau dort, wo der Schlitten hält. Das betont dein Kleid besser. Außerdem brauchen wir unbedingt eine Harfenistin, die etwas aus rotem Samt mit Goldbordüre trägt und spielt, während die Leute Platz nehmen.«
Jessica atmete tief durch. »Wir werden ein paar Flaschen Sekt brauchen.«
»Du sagst es.« Bodine setzte ein Lächeln auf und marschierte los.
***
Bodine gab der stilvollen Riesenhochzeit vierzig Minuten, bevor sie die Flucht ergriff. In den drei Monaten, die Jessica als Eventmanagerin für sie arbeitete, hatte sie bewiesen, dass sie einer durchgeknallten Mutter und einer unschlüssigen zukünftigen Braut absolut gewachsen war.
Bodine musste zu einem Treffen mit dem für das Catering zuständigen Manager und anschließend Fragen eines Fahrers beantworten. Außerdem wollte sie ein unangenehmes Gespräch mit einem der Pferdepfleger hinter sich bringen.
Die gewundene, über Hügel führende Kiesstraße von ihrem Büro zum Bodine Activity Center (BAC) war bestimmt achthundert Meter lang, aber sobald sie in die klare Luft hinaustrat, entschied sie sich, lieber zu laufen statt zu fahren.
Noch war der Himmel unter den sich zusammenballenden Wolken hellblau. Aber sie roch den Schnee in der Luft, der vermutlich am Nachmittag fallen würde. Sie ging an ein paar grünen Kleinwagen vorbei, die Gästen während ihres Aufenthalts für Fahrten auf dem Gelände zur Verfügung standen, und wandte sich wieder der Straße zu. Niemand in Sicht.
Zu beiden Seiten erstreckten sich schneebedeckte Felder. Sie sah drei Rehe darüberhüpfen, mit weiß aufblitzenden Wedeln und dunklem Winterfell. Der Schrei eines Habichts ließ sie nach oben schauen. Sie sah zu, wie er am Himmel seine Kreise zog. Der Wind wirbelte Schnee auf, der sie umstäubte, während ihre Stiefelabsätze auf dem gefrorenen Boden klapperten.
Sie sah ein paar Leute unweit des BAC, Angestellte mit ein paar Pferden auf dem überdachten Sattelplatz. Warmer Pferdeduft wehte zu ihr herüber, begleitet vom Geruch von geöltem Leder, Heu und Getreide. Sie hob grüßend die Hand, als ein Mann mit schwerer Arbeitsjacke und braunem Stetson zu ihr herübersah. Abe Kotter tätschelte die gefleckte Stute, die er gerade striegelte, und ging Bodine ein Stück entgegen.
»Gleich wird es schneien«, sagte sie.
»Gleich wird es schneien«, bestätigte er. »Ein Paar aus Denver wollte ausreiten. Sie wussten, was sie tun, also ist Maddie mit ihnen raus. Sie sind gerade zurückgekommen.«
»Sag einfach Bescheid, wenn du Pferde zur Ranch zurückbringen und austauschen willst.«
»Mach ich. Bist du vom Hauptgebäude hergelaufen?«
»Ich wollte mir ein bisschen die Beine vertreten. Weißt du was? Ich glaub, ich werd ein Pferd satteln, zurückreiten und anschließend nach den Ladies im Bodine House schauen.«
»Grüß sie schön von mir. Ich werd dir ein Pferd satteln, Bo. Three Socks kann etwas Bewegung gebrauchen. Und ich kann meine müden alten Knochen etwas ausruhen.«
»Von wegen alt.«
»Ich werde im Februar neunundsechzig.«
»Das findest du alt? Pass auf, dass meine Grannies das nicht hören, sonst gibt es eine Gardinenpredigt.«
Er lachte, trat einen Schritt zurück und streichelte noch einmal die gefleckte Stute. »Gut möglich. Trotzdem werde ich wie besprochen eine Winterpause machen. Ich will zusammen mit meiner Frau meinen Bruder in Arizona besuchen und bis Ende April dort bleiben. Direkt nach Weihnachten.«
Sie zuckte nicht mit der Wimper, auch wenn sie es gern getan hätte. »Wir werden Edda und dich sehr vermissen.«
»Mit zunehmendem Alter werden die Winter härter.« Er kontrollierte die Hufe der Stute und zog einen Hufkratzer hervor, um sie zu säubern. »Außerdem ist die Nachfrage nach Ausritten im Winter geringer. Maddie kann einspringen und die Pferde versorgen. Sie ist ein gutes Mädchen.«
»Ich rede mit ihr. Ist sie drinnen? Ich muss sowieso rein und mit Matt reden.«
»Ja. Ich werde Three Socks inzwischen für dich vorbereiten.«
»Danke, Abe.« Sie marschierte los, machte aber noch einmal kehrt. »Was zum Teufel willst du in Arizona?«
»Wenn ich das wüsste! Auf jeden Fall im Warmen sein.«
Sie betrat das Gebäude. Von Frühling bis Oktober war der große scheunenartige Raum für die Gruppen da, die sich auf Wildwasserrafting, Quad-Touren, Ausritte, Viehtreiben und geführte Wanderungen vorbereiteten.
Wenn es schneite, wurde es etwas ruhiger. Im Augenblick hallten ihre Schritte in dem großen Raum wider, während sie zur geschwungenen Theke des verantwortlichen Managers ging.
»Und, wie läuft’s, Bo?«
»Gut, Matt, alles bestens. Und bei dir?«
»Auch gut, es ist ein weniger ruhiger, sodass wir ein paar Sachen aufarbeiten können. Morgen will eine zwölfköpfige Familie ausreiten, und ich hab Chase Bescheid gegeben. Er meinte, Cal Skinner ist wieder da und wird sich um sie kümmern.«
»Stimmt.« Sie sprach mit Matt über die Lagerbestände und darüber, welche Ausrüstungsgegenstände ersetzt werden mussten. Dann zückte sie ihr Handy, um weitere Aktivitäten anlässlich der Jackson-Hochzeit zu besprechen.
»Ich werde dir eine Mail mit sämtlichen Details schicken. Bitte plan schon mal die Zeit ein und such dir die Unterstützung, die du brauchst.«
»Okay.«
»Abe meinte, Maddie ist hier?«
»Sie ist gerade auf der Toilette.«
»Gut.« Sie kontrollierte die Uhrzeit, bevor sie ihr Handy verstaute. Sie wollte noch einen Ausritt zu ihren Grannies machen und musste dann dringend zurück ins Büro. »Ich warte so lang.«
Sie ging zum Getränkeautomaten. Jessica hatte recht, sie sollte mehr Wasser trinken. Aber sie hatte keine Lust auf Wasser. Sie hatte Lust auf was Süßes, Belebendes. Sie hatte Lust auf eine verdammte Cola.
»Ach, Jessie«, seufzte sie, steckte Münzen in den Automaten und zog eine Flasche Wasser. Genervt nahm sie einen ersten Schluck, als Maddie von der Toilette kam.
»Hallo, Maddie.«
Bodine ging der Bereiterin entgegen. Sie wirkte etwas blass und müde um die Augen, trotz ihres spontanen Lächelns.
»Hallo, Bo, ich komme gerade von einem Ausritt zurück.«
»Ich weiß. Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen erschöpft aus.«
»Alles bestens.« Maddie winkte ab und seufzte laut. »Hast du eine Minute Zeit?«
»Klar.« Bodine zeigte auf eines der Tischchen, die überall im Raum verteilt waren. »Stimmt was nicht?«
»Alles prima. Wirklich, fantastisch.« Maddie, eine Freundin, seit sie denken konnte, setzte sich und schob ihren Hut zurück, der auf sonnenblondem, kinnlangem Haar saß. »Ich bin schwanger.«
»Du bist … Maddie! Das ist ja toll.«
»Es ist toll, wunderbar und fantastisch, aber auch ein bisschen beängstigend. Thad und ich haben uns gedacht: Warum warten? Wir haben zwar erst letzten Frühling geheiratet und wollten uns eigentlich ein, zwei Jahre Zeit lassen. Aber dann haben wir es einfach versucht.« Sie lachte und zeigte auf Bodines Wasser. »Kann ich einen Schluck haben?«
»Trink es ruhig aus. Ich freu mich so für dich, Maddie. Geht es dir gut?«
»In den ersten Monaten hab ich dreimal am Tag gekotzt. Morgens nach dem Aufstehen, mittags und abends. Ich werde schnell müde, aber der Arzt hat gesagt, das ist ganz normal. Die Übelkeit sollte bald nachlassen, zumindest hoffe ich das. Vorhin war mir etwas fies, aber ich habe mich nicht übergeben, und das ist ein Fortschritt.«
»Thad muss Purzelbäume schlagen vor Begeisterung.«
»Das tut er auch.«
»In welchem Monat bist du denn?«
»Am nächsten Samstag werden es zwölf Wochen.«
Bo machte den Mund auf und wieder zu. Dann griff sie zur Wasserflasche und nahm einen großen Schluck. »In der zwölften Woche.«
Maddie seufzte und biss sich auf die Unterlippe. »Ich hätte es dir am liebsten sofort gesagt, aber es heißt, dass man die ersten drei Monate abwarten soll, das erste Trimester. Wir haben nur unsere Eltern eingeweiht, denen kann man so was einfach nicht verheimlichen. Selbst bei ihnen haben wir gewartet, bis der erste Monat um war.«
»Du siehst kein bisschen schwanger aus.«
»Das wird sich bald ändern. Offen gestanden ist meine Jeans in der Taille schon so eng, dass ich sie mit einer Sicherheitsnadel zusammenhalte.«
»Nicht dein Ernst!«
»Doch.« Um es zu beweisen hob Maddie ihre Bluse.
Maddie hob ihren Hut und beugte den Kopf, um zu zeigen, dass ihr blondes Haar mehrere Zentimeter dunkel nachgewachsen war. »Man soll sich nicht mehr die Haare färben. Ich werd meinen Hut erst wieder absetzen, wenn das Baby da ist, das schwör ich dir. Ich hab meine natürliche Haarfarbe nicht mehr gesehen, seit ich dreizehn bin. Du hast mir damals beim Färben geholfen. Mit so einer Tube aus dem Drogeriemarkt.«
»Und mir haben wir eine blonde Strähne gefärbt, die dann leider kürbisorange wurde.«
»Ich fand das total cool. Tief in meinem Herzen bin ich eine Blondine, Bo, werde aber eine schwangere Brünette sein. Eine fette, watschelnde Brünette, die alle fünf Minuten aufs Klo muss.«
Lachend gab Bodine ihr das Wasser zurück. Während Maddie trank, strich sie über ihren unsichtbaren Babybauch. »Ich fühle mich anders, wirklich. Es ist ein Wunder. Bodine, ich werde Mutter.«
»Du wirst eine fantastische Mutter sein.«
»Das habe ich zumindest fest vor. Aber es gibt etwas, das ich eigentlich nicht machen sollte.«
»Reiten.«
Nickend nahm Maddie einen weiteren Schluck. »Ich weiß, ich hätte es dir längst sagen sollen. Meine Güte, ich reite, seit ich ein Baby bin, aber die Ärzte sind da sehr streng.«
»Ich auch. Du warst heute mit Gästen draußen, Maddie.«
»Ich weiß. Ich hätte Abe einweihen sollen, aber ich fand, du solltest es zuerst erfahren. Und dann hat er mir erzählt, dass ich ihn während seiner Winterpause ersetzen soll. Ich wollte nichts sagen, sonst hätte er seinen Urlaub abgesagt.«
»Er wird ihn nicht absagen, und du wirst nicht mehr im Sattel sitzen, bis du die ärztliche Erlaubnis dazu hast. Keine Widerrede.«
Wieder biss sich Maddie nervös auf die Unterlippe und spielte mit dem Schraubverschluss der Flasche. »Und der Reitunterricht?«
»Wir werden einen Ersatz finden.« Ihr würde bestimmt etwas einfallen. »Pferde müssen nicht nur geritten werden, Maddie.«
»Ich weiß. Ich kann relativ viel Verwaltungskram erledigen. Ich kann striegeln, füttern, den Pferdeanhänger fahren und die Gäste zum Reitcenter fahren. Ich kann …«
»Du kannst mir vor allem eine Liste von deinem Arzt bringen, damit ich weiß, was du machen darfst und was nicht. Was nicht erlaubt ist, lässt du gefälligst bleiben.«
»Der Arzt ist übertrieben vorsichtig und …«
»Das bin ich auch«, unterbrach Bodine sie. »Du hältst dich an die Liste. Oder ich muss dich entlassen.«
Maddie ließ sich zurückfallen und schmollte. »Thad hat auch so was gesagt.«
»Du hast keinen Idioten geheiratet. Außerdem liebt er dich. Genau wie ich. Den Rest des Tages hast du frei.«
»Nein, ich muss nicht heim.«
»Du gehst heim«, befahl Bo. »Mach einen Mittagsschlaf. Nach deinem Nickerchen rufst du den Arzt an und sagst ihm …«
»Es ist eine Sie.«
»Egal. Du sagst ihr, dass sie diese Liste schreiben soll. Anschließend sehen wir weiter. Im schlimmsten Fall wirst du den Sattel gegen einen Bürostuhl eintauschen müssen, Maddie.« Bodine grinste. »Du wirst fett werden.«
»Ich freu mich schon darauf.«
»Prima, denn das kannst du schließlich nicht ändern. Jetzt geh nach Hause.« Bodine stand auf und nahm Maddie fest in den Arm. »Gratuliere noch mal.«
»Danke. Danke, Bo. Ich sag Abe Bescheid, bevor ich gehe, okay?«
»Mach das.«
»Offen gestanden werde ich es allen sagen. Darauf freue ich mich, seit ich auf dieses Stäbchen gepinkelt habe. Hallo, Matt.« Maddie stand auf und tätschelte sich den Bauch. »Ich bin schwanger.«
»Was?«
Bodine sah noch, wie er über die Theke sprang und zu Maddie rannte, um sie hochzuheben.
Eltern erfahren als Erste von den Babys, dachte Bodine, während sie wieder nach draußen ging. Aber dann gab es ja auch noch die Familie drumherum.