Zum Buch
Sie haben Glück gehabt, denken sich Myriam und Paul, als sie Louise einstellen – eine Nanny wie aus dem Bilderbuch, die auf ihre beiden kleinen Kinder aufpasst, in der schönen Pariser Altbauwohnung im 10. Arrondissement. Sie ahnen nichts von den Abgründen und von der Verletzlichkeit der Frau, der sie das Kostbarste anvertrauen, das sie besitzen. Von der tiefen Einsamkeit, in der sich Louise zu verlieren droht. Bis eines Tages die Tragödie über die kleine Familie hereinbricht. Ebenso unaufhaltsam wie schrecklich.
»Eine grandiose Erzählerin.«
ELLE
»Man will einfach wissen, wie das Unfassbare geschehen konnte.«
DIE WELT
»Großartig.«
FAS
Zur Autorin
LEÏLA SLIMANI gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Die französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin wurde 1981 in Rabat geboren und kam mit 17 Jahren nach Paris, wo sie an der renommierten Universität Sciences Po studierte. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. Mit ihrem jüngsten Roman »Das Land der Anderen« stand sie wochenlang auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste. Bei btb sind außerdem zwei Essaybände erschienen: »Sex und Lügen – Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt« sowie »Warum so viel Hass?«. Staatspräsident Emmanuel Macron ernannte Leïla Slimani Ende 2017 zur persönlichen Beauftragten zur Pflege des französischen Sprachraums. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris.
LEÏLA SLIMANI
Dann schlaf auch du
Roman
Aus dem Französischen
von Amelie Thoma
Luchterhand
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Die französische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Chanson Douce« bei Éditions Gallimard, Paris.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des
Französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung
der Französischen Botschaft in Berlin.
Copyright © 2016 Éditions Gallimard, Paris
Copyright © der deutschen Ausgabe 2017 Luchterhand Literaturverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign | München
unter Verwendung eines Motivs von © Plainpicture / Scarlett Coten
Autorenfoto: © Catherine Hélie © Éditions Gallimard
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-21290-2
V004
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Für Émile
Miss Vezzis kam von jenseits der Grenze. Sie sollte bis zur Ankunft einer ordnungsgemäß ausgebildeten Kinderfrau den Nachwuchs einer Dame beaufsichtigen. Die Dame sagte, Miss Vezzis wäre ein schlechtes, schmutziges und unzuverlässiges Kindermädchen. Ihr kam nie in den Sinn, dass Miss Vezzis ein eigenes Leben und eigene Angelegenheiten hatte, um die sie sich sorgte, und dass diese Dinge für Miss Vezzis das Wichtigste auf der Welt waren.
RUDYARD KIPLING
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr, was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?« Plötzlich fiel ihm die gestrige Frage Marmeladows ein. »Denn jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können …«
FJODOR M. DOSTOJEWSKI
Verbrechen und Strafe
Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste. Man hat es in eine graue Hülle gelegt und den Reißverschluss über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten der Spielzeuge trieb. Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde. Man hat Spuren des Kampfes gefunden, Hautfetzen unter ihren weichen Nägeln. Im Notarztwagen, der sie ins Krankenhaus brachte, zuckte sie, von Krämpfen geschüttelt. Mit hervorquellenden Augen schien sie um Luft zu ringen. Ihre Kehle war voller Blut gelaufen. Ihre Lungen waren durchlöchert, und sie hatte sich den Kopf heftig an der blauen Kommode gestoßen.
Man hat den Tatort fotografiert. Die Polizei hat Fingerabdrücke genommen, Bad und Kinderzimmer vermessen. Der Prinzessinnenteppich auf dem Fußboden war blutgetränkt. Der Wickeltisch war halb umgestürzt. Die Spielsachen wurden in durchsichtigen Säckchen fortgebracht und versiegelt. Selbst die blaue Kommode wird beim Prozess gebraucht werden.
Die Mutter stand unter Schock. Das haben die Feuerwehrleute gesagt, die Polizisten wiederholt, die Journalisten geschrieben. Als sie das Zimmer betrat, in dem ihre Kinder hingestreckt lagen, hat sie einen Schrei ausgestoßen, aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin. Es hat die Mauern zum Erzittern gebracht, und die Nacht ist über diesen Maitag hereingebrochen. Sie hat sich übergeben, und so fand sie die Polizei, mit verschmierten Kleidern, im Zimmer zusammengekauert, schluchzend wie eine Wahnsinnige. Sie hat sich die Lunge aus dem Leib geschrien. Auf ein Zeichen des Sanitäters haben sie sie hochgezogen, aller Gegenwehr und allen Fußtritten zum Trotz. Sie haben sie langsam aufgerichtet, und die junge Notärztin hat ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Die Frau war den ersten Monat im Einsatz.
Die andere, die musste man auch retten. Mit derselben Professionalität, Unvoreingenommenheit. Sie hat es nicht fertiggebracht zu sterben. Den Tod konnte sie nur bringen. Sie hat sich die Handgelenke aufgeschlitzt und das Messer in die Kehle gerammt. Am Fuß des Gitterbettchens hat sie das Bewusstsein verloren. Die Sanitäter haben sie stabilisiert, ihren Puls und den Blutdruck gemessen. Sie haben sie auf die Trage gelegt, und die Notärztin hat die Hand auf ihren Hals gepresst.
Unten vor dem Haus haben sich die Nachbarn versammelt. Vor allem Frauen sind da. Es ist gleich Zeit, die Kinder von der Schule abzuholen. Sie schauen auf den Krankenwagen, die Augen tränenverschleiert. Sie weinen, und sie wollen etwas erfahren. Sie stellen sich auf die Zehenspitzen. Versuchen zu erkennen, was sich hinter der Polizeisperre abspielt, im Innern des Krankenwagens, der mit heulenden Sirenen losrast. Sie tauschen flüsternd Informationen aus. Schon geht das Gerücht um. Den Kindern ist ein Unglück zugestoßen.
Es ist ein schönes Gebäude in der Rue d’Hauteville, im 10. Arrondissement. Ein Haus, in dem sich die Nachbarn, ohne sich zu kennen, freundlich grüßen. Das Appartement der Massés liegt im fünften Stock. Es ist das kleinste von allen. Paul und Myriam haben im Wohnzimmer eine Wand einziehen lassen, als ihr zweites Kind geboren wurde. Sie schlafen in einem winzigen Raum, zwischen der Küche und dem Fenster, das auf die Straße geht. Myriam liebt Möbel vom Trödler und Berberteppiche. Die Wände hat sie mit japanischen Drucken dekoriert.
Heute ist sie früher nach Hause gekommen. Sie hat eine Sitzung abgekürzt und das Lesen einer Akte auf morgen verschoben. Noch in der Metro, auf dem Klappsitz im Wagen der Linie 7, hat sie beschlossen, die Kinder zu überraschen. Unterwegs hat sie in der Bäckerei ein Baguette, etwas Süßes für die Kleinen und einen Orangen-Teekuchen für die Nanny gekauft. Den mag sie am liebsten.
Sie wollte mit ihnen Karussell fahren gehen. Danach würden sie zusammen fürs Abendessen einkaufen. Mila würde ein Spielzeug haben wollen, Adam in seinem Buggy an einem Brotkanten lutschen.
Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.
»Keine ohne Papiere, da sind wir uns einig? Bei einer Putzfrau oder einem Maler stört es mich nicht. Diese Leute müssen ja auch irgendwie arbeiten, aber mit den Kindern ist das zu riskant. Ich will niemanden, der Angst hat, die Polizei zu rufen oder ins Krankenhaus zu gehen, wenn es ein Problem gibt. Ansonsten nicht zu alt, unverschleiert und Nichtraucherin. Das Wichtigste ist, dass sie flexibel ist und nicht so dröge. Dass sie schuftet, damit wir schuften können.« Paul hat alles vorbereitet. Er hat eine Liste mit Fragen aufgestellt und dreißig Minuten pro Gespräch eingeplant. Sie haben sich den Samstagnachmittag freigehalten, um eine Nanny für ihre Kinder zu finden.
Ein paar Tage vorher, als Myriam ihrer Freundin Emma von der Suche erzählte, hat diese sich über die Frau beklagt, die ihre Jungs hütet. »Die Nounou hat selbst zwei Kinder hier, also kann sie nie länger bleiben oder abends babysitten. Das ist wirklich unpraktisch. Denkt daran, wenn ihr die Bewerbungsgespräche führt. Wenn eine Kinder hat, dann besser nicht hier in Frankreich.« Myriam hat sich für den Rat bedankt. Aber eigentlich war ihr Emmas Überlegung unangenehm. Hätte ein Arbeitgeber so über sie oder eine ihrer Freundinnen gesprochen, sie hätten sich sofort lauthals über die Diskriminierung beschwert. Sie fand den Gedanken schrecklich, eine Frau auszuschließen, weil sie Kinder hatte. Mit Paul spricht sie lieber nicht darüber. Ihr Mann ist wie Emma. Ein Pragmatiker, der seine Familie und seine Karriere über alles stellt.
Heute Morgen sind sie alle zusammen auf den Markt gegangen. Mila auf Pauls Schultern und Adam schlafend im Kinderwagen. Sie haben Blumen gekauft, und jetzt räumen sie die Wohnung auf. Sie wollen vor den Nannys, die sich vorstellen werden, eine gute Figur machen. Sie sammeln die auf dem Boden, unter ihrem Bett und sogar im Bad herumliegenden Bücher und Zeitschriften auf. Paul bittet Mila, ihr Spielzeug in große Plastikkisten zu räumen. Die Kleine weigert sich heulend, und am Ende ist er es, der alles an die Wand stapelt. Sie legen die Anziehsachen der Kinder zusammen, wechseln die Bettwäsche. Sie putzen, schmeißen weg, versuchen verzweifelt, frischen Wind in diese Wohnung zu bringen, in der sie ersticken. Die Bewerberinnen sollen sehen, dass sie nette Leute sind, anständige und ordentliche Leute, die sich bemühen, ihren Kindern das Beste zu bieten. Und es soll klar sein, dass sie die Arbeitgeber sind.
Mila und Adam machen Mittagsschlaf. Myriam und Paul sitzen auf der Bettkante. Bang und unbehaglich. Sie haben ihre Kinder noch nie jemandem anvertraut. Myriam war gerade dabei, ihr Jurastudium zu beenden, als sie mit Mila schwanger wurde. Zwei Wochen vor der Geburt machte sie ihren Abschluss. Paul reihte einen Assistenzjob an den anderen, voller Optimismus, wie damals, als sie sich kennenlernten und er Myriam genau deswegen so gefiel. Er war überzeugt, dass er für zwei arbeiten könnte. Sicher, dass er es als Musikproduzent zu etwas bringen würde, trotz Krise und reduzierter Budgets.
Mila war ein anfälliges, unruhiges Baby, das immerzu weinte. Sie nahm nicht zu, wollte weder an der Brust ihrer Mutter noch aus den Fläschchen trinken, die ihr Vater zubereitete. Über die Wiege gebeugt, vergaß Myriam den Rest der Welt. Alles, was sie interessierte, war, dass dieses schwächliche, plärrende Mädchen ein paar Gramm zulegte. Sie nahm gar nicht wahr, wie die Monate vergingen. Paul und sie schleppten Mila überallhin mit. Sie taten so, als bemerkten sie nicht, dass ihre Freunde sich darüber aufregten und hinter ihrem Rücken sagten, ein Baby gehöre nicht in eine Bar oder ein Restaurant. Aber Myriam wollte absolut nichts von einem Babysitter wissen. Sie allein war in der Lage, ihrer Tochter zu geben, was sie brauchte.
Mila war kaum anderthalb, als Myriam wieder schwanger wurde. Sie hat immer behauptet, es sei ein Unfall gewesen. »Die Pille ist niemals hundertprozentig sicher«, sagte sie lachend zu ihren Freundinnen. In Wahrheit hatte sie es darauf angelegt. Adam war ihre Ausrede, um noch ein bisschen zu Hause zu bleiben. Paul hatte nichts dagegen einzuwenden. Er war gerade als Tonassistent bei einem renommierten Studio angestellt worden, wo er, den Launen und Lebensrhythmen der Künstler ausgesetzt, seine Tage und Nächte zubrachte. Seine Frau schien ganz in dieser instinktiven Mutterschaft aufzugehen. Das Leben in einem Kokon, abgeschlossen von der Welt und den anderen, beschützte sie vor allem.
Und dann begann ihr die Zeit lang zu werden, das perfekte familiäre Räderwerk geriet ins Stocken. Pauls Eltern, die ihnen seit Milas Geburt immer geholfen hatten, verbrachten mehr und mehr Zeit in ihrem Haus auf dem Land, wo sie größere Umbauarbeiten in Angriff genommen hatten. Einen Monat vor Myriams Niederkunft planten sie eine dreiwöchige Asienreise und sagten Paul erst im letzten Moment Bescheid. Er war empört darüber und beklagte sich bei Myriam über den Egoismus und die Unzuverlässigkeit seiner Eltern. Aber Myriam war erleichtert. Sie ertrug es nicht, Sylvie um sich zu haben. Lächelnd hörte sie sich die Ratschläge ihrer Schwiegermutter an, biss sich auf die Zunge, während diese den Kühlschrank inspizierte und bemängelte, was sich darin befand. Sylvie kaufte Salat aus biologischem Anbau. Sie kochte für Mila, hinterließ aber die Küche in einem unsäglichen Chaos. Myriam und sie waren sich in nichts einig, und in der Wohnung herrschte ein greifbares, brodelndes Unbehagen, das jeden Moment in eine tätliche Auseinandersetzung umzuschlagen drohte. »Lass deine Eltern machen, was sie wollen. Sie haben recht. Sie sollten es ausnutzen, dass sie jetzt frei sind«, hatte Myriam schließlich zu Paul gesagt.
Sie konnte die Tragweite dessen, was sie erwartete, nicht ermessen. Mit zwei Kindern wurde alles viel komplizierter: einkaufen, die Kleinen baden, zum Arzt gehen, der ganze Haushalt. Die Rechnungen häuften sich. Myriam fühlte sich immer elender. Sie begann die Ausflüge in den Park zu hassen. Die Wintertage kamen ihr endlos vor. Milas Capricen nervten sie, Adams erstes Geplapper war ihr gleichgültig. Jeden Tag wuchs ihr Bedürfnis, alleine herumzulaufen, und sie hatte Lust, mitten auf der Straße wie eine Verrückte zu schreien. »Sie fressen mich bei lebendigem Leib auf«, sagte sie sich manchmal.
Sie war eifersüchtig auf ihren Mann. Abends erwartete sie ihn fiebrig hinter der Tür. Eine Stunde lang beschwerte sie sich über das Geschrei der Kinder, die Enge der Wohnung, ihren Mangel an Freizeit. War er endlich an der Reihe, von den abenteuerlichen Aufnahmen einer Hip-Hop-Band zu erzählen, stieß sie aus: »Du hast’s gut.« Er erwiderte: »Nein, du hast’s gut. Ich würde sie so gern heranwachsen sehen.« Bei diesem Spiel gab es niemals einen Gewinner.
Nachts sank Paul neben ihr in den tiefen, wohlverdienten Schlaf eines Mannes, der den ganzen Tag gearbeitet hat. An ihr nagten Bitterkeit und Reue. Sie dachte an die Anstrengungen, die sie unternommen hatte, um ganz ohne finanzielle und elterliche Unterstützung ihr Studium durchzuziehen, an ihre Freude, als sie in den Anwaltsstand erhoben wurde, daran, wie Paul sie zum ersten Mal in der neuen Robe fotografiert hatte, stolz und strahlend vor ihrem Haus.
Monatelang hat sie vorgegeben, mit der Situation klarzukommen. Selbst Paul konnte sie nicht sagen, wie sehr sie sich schämte. Wie sehr sie darunter litt, dass sie von nichts anderem zu erzählen hatte als den Albernheiten ihrer Kinder und den Unterhaltungen zwischen Fremden, die sie im Supermarkt belauschte. Sie fing an, alle Einladungen zu Abendessen auszuschlagen, ging nicht mehr ans Telefon, wenn ihre Freunde anriefen. Sie hütete sich vor allem vor den Frauen, die so grausam sein konnten. Am liebsten hätte sie diejenigen erwürgt, die so taten, als bewunderten oder, schlimmer noch, beneideten sie sie. Sie ertrug es nicht mehr zu hören, wie sie sich über ihre Arbeit beklagten und darüber, dass sie ihre Kinder nicht genug sahen. Am allermeisten fürchtete sie Leute, die sie noch nicht kannte. Die ganz unschuldig fragten, was sie beruflich mache, und sich abwandten, wenn sie sagte, sie sei Hausfrau.
Einmal hat sie nach dem Einkaufen bei Monoprix am Boulevard Saint-Denis gemerkt, dass sie aus Versehen ein Paar Söckchen stibitzt hatte, die im Kinderwagen liegen geblieben waren. Sie war noch nicht ganz zu Hause und hätte umdrehen und sie zurückbringen können, aber sie hat es nicht getan. Sie hat Paul nichts davon erzählt. Es war nicht von Belang, und doch musste sie immer wieder daran denken. Danach ging sie regelmäßig zu Monoprix und versteckte im Kinderwagen ihres Sohnes ein Shampoo, eine Creme oder einen Lippenstift, den sie nie benutzen würde. Sie wusste genau, dass sie, wenn man sie erwischte, nur die Rolle der überlasteten Mutter zu spielen brauchte, und jeder sofort an ihre Unschuld glauben würde. Diese lächerlichen kleinen Diebstähle versetzten sie in Euphorie. Sie lachte auf der Straße vor sich hin in dem Gefühl, die ganze Welt zum Narren zu halten.
Als sie Pascal über den Weg gelaufen ist, hat sie das als Zeichen gewertet. Ihr ehemaliger Kommilitone von der juristischen Fakultät hat sie nicht gleich wiedererkannt: Sie trug eine zu weite Hose, ausgetretene Stiefel und hatte ihre ungewaschenen Haare zu einem Knoten gebunden. Sie stand neben dem Karussell, aus dem Mila sich weigerte auszusteigen. »Das ist die letzte Runde«, wiederholte sie jedes Mal, wenn ihre Tochter auf dem Pferdchen an ihr vorbeikam und ihr zuwinkte. Sie hat hochgeschaut. Pascal lächelte sie an, mit ausgebreiteten Armen, um seine Freude und Überraschung auszudrücken. Sie erwiderte sein Lächeln, die Hände um den Kinderwagengriff gekrampft. Pascal hatte nicht viel Zeit, aber er war zufällig ganz in der Nähe von Myriams Wohnung verabredet. »Ich wollte sowieso nach Hause. Gehen wir ein Stück zusammen?«, hat sie ihm vorgeschlagen.
Myriam hat sich die kreischende Mila geschnappt. Die sträubte sich, doch Myriam lächelte stur und tat, als hätte sie alles im Griff. Dabei dachte sie die ganze Zeit an den alten Pulli, den sie unter ihrem Mantel trug und dessen abgewetzten Kragen Pascal bemerkt haben musste. Hektisch fuhr sie sich mit der Hand über die Schläfen, als könne das helfen, ihre spröden, verstrubbelten Haare in Ordnung zu bringen. Pascal schien von all dem nichts mitzubekommen. Er hat ihr von der Kanzlei erzählt, die er mit zwei Studienkollegen eröffnet hatte, von den Schwierigkeiten und Freuden der Selbstständigkeit. Sie hing an seinen Lippen. Mila unterbrach ihn in einem fort, und Myriam hätte alles dafür gegeben, sie zum Schweigen zu bringen. Ohne die Augen von Pascal zu lassen, hat sie in ihren Taschen nach einem Lutscher gekramt, einem Bonbon, irgendetwas, womit sie ihre Tochter bestechen könnte, den Mund zu halten.
Pascal hat die Kinder kaum eines Blickes gewürdigt. Er hat Myriam nicht nach ihren Namen gefragt. Selbst Adam, der so friedlich und süß in seinem Wagen schlief, schien ihn nicht zu erweichen.
»Hier ist es.« Pascal hat sie zum Abschied auf die Wange geküsst. Er hat gesagt: »Es war sehr schön, dich wiederzusehen« und dann ein Gebäude betreten, dessen schwere blaue Eingangstür Myriam zusammenfahren ließ, als sie zuknallte. Sie hat still zu beten angefangen, dort, mitten auf der Straße. Sie war so verzweifelt, dass sie sich am liebsten auf den Boden gesetzt und geweint hätte. Sie wollte sich an Pascals Bein klammern, ihn anflehen, sie mitzunehmen, ihr eine Chance zu geben. Als sie nach Hause kam, war sie vollkommen niedergeschlagen. Sie hat Mila betrachtet, die friedlich spielte. Sie hat das Baby gebadet und sich gesagt, dass dieses simple, stille, kerkerhafte Glück sie nicht trösten konnte. Pascal hatte sich bestimmt über sie lustig gemacht. Vielleicht hatte er sogar alte Kommilitonen angerufen, um ihnen zu erzählen, was Myriam für ein erbärmliches Leben führte, dass sie »ziemlich schlecht aussieht« und »nicht die Karriere gemacht hat, die wir alle erwartet haben«.
Die ganze Nacht lang kreisten imaginäre Gespräche in ihrem Kopf herum. Als sie am nächsten Morgen gerade aus der Dusche kam, hörte sie das Empfangssignal einer SMS. »Ich weiß nicht, ob du vorhast, wieder arbeiten zu gehen. Wenn ja, lass uns darüber reden.« Myriam hätte vor Freude beinahe laut geschrien. Sie ist in der Wohnung herumgehüpft und hat Mila umarmt, die sagte: »Was ist denn, Mama, warum lachst du?« Später hat Myriam sich gefragt, ob Pascal wohl ihre Verzweiflung gespürt hatte oder ob er einfach nur gedacht hatte, dass es ein ungeheurer Glücksfall sei, Myriam Charfa wiederzutreffen, die gewissenhafteste Studentin, die er je gesehen hatte. Vielleicht empfand er es als Segen, dass er eine Frau wie sie einstellen und zurück in den Gerichtssaal bringen durfte.
Myriam hat mit Paul darüber gesprochen und war enttäuscht von seiner Reaktion. Er hat mit den Schultern gezuckt. »Ich wusste gar nicht, dass du gerne arbeiten würdest.« Da ist sie furchtbar wütend geworden, mehr als angemessen war. Der Ton hat sich schnell verschärft. Sie hat ihn einen Egoisten genannt, er hat ihr inkonsequentes Verhalten vorgeworfen. »Du kannst ja von mir aus arbeiten gehen, aber wie machen wir es mit den Kindern?« Mit einer Grimasse zog er all ihre Ambitionen ins Lächerliche und gab ihr noch mehr das Gefühl, in dieser Wohnung eingesperrt zu sein.
Als sie sich wieder beruhigt hatten, haben sie geduldig alle Möglichkeiten ausgelotet. Es war Ende Januar, auf einen Platz in einer Krippe oder einem Hort brauchten sie gar nicht erst zu hoffen. Sie kannten niemanden beim Amt. Und wenn Myriam wieder arbeitete, fielen sie genau in die ungünstigste Einkommensspanne: zu reich, um Anspruch auf einen staatlichen Krippenplatz zu haben, zu arm, als dass sie sich ohne größere Opfer eine Kinderfrau leisten könnten. Doch genau dafür haben sie sich schließlich entschieden, nachdem Paul noch einmal betont hatte: »Alles in allem wird sie vermutlich genauso viel verdienen wie du. Aber wenn es so wichtig für dich ist …« Dieses Gespräch hat bei ihr einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Sie hat es Paul übel genommen.
Sie wollte keine halben Sachen machen. Alles sollte seine Ordnung haben, und so hat sie sich an eine Agentur gewandt, die gerade in ihrem Viertel eröffnet hatte. Ein kleines, schlicht eingerichtetes Büro, geführt von zwei Frauen um die dreißig. Die babyblau gestrichene Ladenfront war mit Sternen und goldenen Dromedaren verziert. Myriam hat geklingelt. Die Besitzerin hat sie durch die Scheibe hindurch gemustert. Sie ist langsam aufgestanden, hat die Tür halb geöffnet und den Kopf herausgestreckt.
»Ja?«
»Guten Tag.«
»Kommen Sie, um sich zu bewerben? Wir benötigen Ihre vollständigen Unterlagen. Einen Lebenslauf und die von Ihren früheren Arbeitgebern unterzeichneten Empfehlungsschreiben.«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich komme wegen meiner Kinder. Ich suche eine Nanny.«
Der Ausdruck der jungen Frau verwandelte sich jäh. Sie wirkte froh, eine Kundin zu empfangen, und umso beschämter wegen der Verwechslung. Aber wie hätte sie ahnen können, dass diese abgespannte Frau mit dem dichten lockigen Haar die Mutter des hübschen kleinen Mädchens war, das quengelnd neben ihr auf dem Gehweg stand?
Die Betreiberin der Agentur hat einen dicken Katalog aufgeschlagen, über den Myriam sich beugte. »Setzen Sie sich«, hat sie ihr angeboten. Dutzende Fotos von Frauen, die meisten aus Afrika oder von den Philippinen, zogen vor Myriams Augen vorbei. Mila machte sich darüber lustig. Sie sagte: »Die da ist vielleicht hässlich, oder?« Myriam schimpfte sie und wandte sich mit schwerem Herzen wieder den unscharfen oder unvorteilhaften Porträts zu, auf denen keine einzige Frau lächelte.
Die Vermittlerin war ihr zuwider. Ihre Heuchelei, ihr rundes rotes Gesicht, der abgewetzte Schal um ihren Hals. Ihr Rassismus, der sich eben deutlich gezeigt hatte. Sie wollte nur weg hier. Myriam hat ihr die Hand geschüttelt. Sie hat versprochen, dass sie mit ihrem Mann reden würde, und ist nie wiedergekommen. Stattdessen hat sie selbst Zettel in den Läden des Viertels aufgehängt. Auf den Rat einer Freundin hin hat sie diverse Websites mit als DRINGEND gekennzeichneten Annoncen überschwemmt. Innerhalb einer Woche hatten sie sechs Anrufe bekommen.
Sie erwartet diese Nanny wie den Messias, auch wenn der Gedanke, ihre Kinder allein zu lassen, sie in Angst und Schrecken versetzt. Sie weiß alles über die beiden und würde dieses Wissen gern für sich behalten. Sie kennt ihre Vorlieben, ihre Eigenheiten. Sie spürt sofort, wenn eines von ihnen krank oder traurig ist. Sie hat sie nicht aus den Augen gelassen, überzeugt, dass niemand sie so gut beschützen kann wie sie.
Seit sie geboren sind, hat Myriam Angst vor allem. Am schlimmsten ist die Angst, dass sie sterben könnten. Sie spricht nie darüber, weder mit ihren Freunden noch mit Paul, aber sie ist überzeugt, dass jeder von ihnen schon mal so etwas gedacht hat. Ganz sicher haben auch sie manchmal ihr Kind im Schlaf betrachtet und sich gefragt, wie es sich anfühlen würde, wenn dieser Körper dort ein Leichnam wäre, wenn diese Augen für immer geschlossen blieben. Sie kann nichts dagegen tun. In ihren Gedanken entstehen ganz von allein schreckliche Szenarien, die sie verscheucht, indem sie den Kopf schüttelt, Gebete aufsagt, auf Holz klopft oder den Anhänger mit der Fatima-Hand berührt, den sie von ihrer Mutter geerbt hat. Die Fatima-Hand bannt das Schicksal, Krankheiten, Unfälle, den perversen Appetit lauernder Mörder. Nachts träumt Myriam, dass die beiden plötzlich verschwinden, mitten in einer gleichgültigen Menschenmenge. Sie schreit »Wo sind meine Kinder?«, und die Leute lachen. Sie halten sie für verrückt.
»Sie ist zu spät. Das fängt ja gut an.« Paul wird ungeduldig. Er geht zur Eingangstür und schaut durch den Spion. Es ist 14 Uhr 15, und die erste Kandidatin, eine Filipina, ist noch immer nicht da.
Um 14 Uhr 20 klopft Gigi zaghaft an die Tür. Myriam lässt sie herein. Ihr fällt sofort auf, was für winzig kleine Füße die Frau hat. Trotz der Kälte trägt sie Stoffturnschuhe und weiße Rüschensöckchen. Mit beinah fünfzig Jahren hat sie noch Kinderfüße. Sie ist ziemlich gut gekleidet, die Haare hat sie zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zur Mitte des Rückens reicht. Paul weist sie schroff auf ihre Verspätung hin, und Gigi murmelt mit gesenktem Kopf eine Entschuldigung. Sie spricht sehr schlecht Französisch. Ohne große Überzeugung beginnt Paul eine Unterhaltung auf Englisch. Gigi erzählt von ihrer Erfahrung. Von ihren Kindern, die sie in der Heimat zurückgelassen hat, das jüngste hat sie seit zehn Jahren nicht gesehen. Er wird sie nicht engagieren. Der Form halber stellt er ihr noch ein paar Fragen, und um 14 Uhr 30 begleitet er sie hinaus. »Wir melden uns bei Ihnen. Thank you.«
Es folgen Grace, eine fröhliche Afrikanerin von der Elfenbeinküste ohne Papiere. Caroline, eine übergewichtige Blonde mit schmuddeligen Haaren, die während des ganzen Gesprächs über ihre Rückenschmerzen und ihre Venenprobleme klagt. Malika, eine nicht mehr ganz junge Marokkanerin, die ihre langjährige Berufserfahrung und ihre Kinderliebe hervorkehrt. Myriam hat es klipp und klar gesagt. Sie möchte keine Maghrebinerin als Kindermädchen einstellen. »Das wäre doch gut«, versucht Paul sie zu überzeugen. »Sie würde mit ihnen Arabisch sprechen, da du es ja nicht tun willst.« Aber Myriam weigert sich strikt. Sie fürchtet, dass zwischen ihnen beiden ein stilles Einverständnis, eine Vertrautheit entstehen könnte. Dass die andere anfangen könnte, sie auf Arabisch anzusprechen. Dass sie ihr ihre Lebensgeschichte erzählen und sie bald im Namen der gemeinsamen Sprache und Religion um tausendundeinen Gefallen bitten würde. Diese Solidarität unter Immigranten, wie sie es nennt, war ihr schon immer suspekt.
Dann kam Louise. Wenn sie von dieser ersten Begegnung erzählt, sagt Myriam gern, dass es vollkommen offenkundig war. Wie Liebe auf den ersten Blick. Vor allem betont sie immer, wie ihre Tochter sich benommen hat. »Sie war es, die sie ausgesucht hat«, erklärt sie begeistert. Mila war gerade vom gellenden Geschrei ihres Bruders aus dem Mittagsschlaf gerissen worden. Paul ist das Baby holen gegangen, gefolgt von der Kleinen, die sich zwischen seinen Beinen versteckte. Louise ist aufgestanden. Wenn Myriam diese Szene beschreibt, ist sie noch immer fasziniert von der Selbstsicherheit der Nanny. Louise hat Adam vorsichtig aus Pauls Armen genommen und so getan, als sähe sie Mila nicht. »Wo ist denn die Prinzessin? Ich dachte, ich hätte eine Prinzessin gesehen, aber sie ist verschwunden.« Mila hat hell aufgelacht, während Louise ihr Spielchen weiter trieb und in jedem Winkel, unter dem Tisch, hinter dem Sofa nach der geheimnisvollen verschwundenen Prinzessin suchte.
Sie stellen ihr ein paar Fragen. Louise sagt, dass ihr Mann gestorben und ihre Tochter, Stéphanie, inzwischen erwachsen ist – »fast zwanzig Jahre alt, es ist kaum zu glauben« –, dass sie vollkommen flexibel ist. Sie reicht Paul ein Blatt Papier mit den Namen ihrer früheren Arbeitgeber. Sie spricht von den Rouviers, die oben auf der Liste stehen. »Ich war lange bei ihnen. Sie hatten auch zwei Kinder. Zwei Jungen.« Paul und Myriam sind hingerissen von Louise, ihren glatten Zügen, ihrem offenen Lächeln, den Lippen, die nicht zittern. Sie wirkt einfach unerschütterlich. Sie hat den Blick einer Frau, die alles verstehen und verzeihen kann. Ihr Gesicht ist wie eine stille See, deren Abgründe niemand erahnt.
Am selben Abend rufen sie das Paar an, dessen Nummer Louise ihnen dagelassen hat. Eine Frau geht an den Apparat, sie klingt recht kühl. Als sie Louises Namen hört, ändert sich ihr Ton sofort. »Louise? Sie haben ja so ein Glück, dass Sie sie gefunden haben. Sie war wie eine zweite Mutter für meine Söhne. Wir waren furchtbar traurig, als wir uns von ihr trennen mussten. Ich sage Ihnen, damals habe ich sogar darüber nachgedacht, ein drittes Kind zu bekommen, nur um sie behalten zu können.«