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Zum Buch

»Sterben ist nicht das Ende der Welt«, hat ihre Mutter einmal gesagt. Doch erst jetzt beginnt Nina Riggs den Satz zu verstehen: Mit 38 Jahren hat sie unheilbar Krebs, die Ärzte geben ihr noch 18 bis 36 Monate. Wie lebt man ein Leben, dessen Ende feststeht, das aber dennoch gelebt werden will? Wie macht man Pläne für den Urlaub, wie spricht man mit den Kindern, und wie ist man weiterhin eine liebende Partnerin?

Nina Riggs hat ein Buch geschrieben über ihre letzten Monate, das keine Krankengeschichte ist und keine heldenhafte Kampfansage an den Krebs. Es ist ein Buch über den Zweifel und die Angst, aber auch über die unendliche Schönheit des Augenblicks und den beharrlichen Blick nach vorn. Es ist ein Buch darüber, wie sehr das Leben leuchtet, auch in seinen dunkelsten Momenten.

Zur Autorin

NINA RIGGS, geboren 1977 in San Francisco, machte 2004 ihren Master of Fine Arts im Fach Poesie und veröffentlichte 2009 den Gedichtband Lucky, Lucky. Auf ihrem Blog Suspicious Country schrieb sie über ihr Leben mit metastasiertem Brustkrebs und veröffentlichte Texte in der Washington Post und der New York Times. Nina lebte mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und ihren Hunden in Greensboro, North Carolina.

NINA RIGGS

Ein Buch vom Leben und Sterben

Aus dem Amerikanischen von
Antoinette Gittinger und Gabriele Würdinger

Für meine Jungs: John, Freddy und Benny
und
in Gedenken an meine Mom Janet Angela Riggs,
1947–2015

Ich bin euphorisch über die feucht-warme, funkelnde, knospende und wohlklingende Stunde, welche die engen Wände meiner Seele niederreißt und sich pulsierend bis zum Horizont ausdehnt. Das ist der Morgen; in dieser hellen, leuchtenden Stunde aufzuhören, Gefangener dieses kränklichen Körpers zu sein und so groß zu werden wie die Welt.

Ralph Waldo Emerson, 1838

Prolog: Fahrradfahren

»Sterben ist nicht das Ende der Welt«, scherzte meine Mom gern, nachdem sie erfahren hatte, dass sie todkrank war. Mir war erst überhaupt nicht klar, was sie damit meinte. Doch dann kam der Tag – einige Monate nach ihrem Tod –, als ich mit 38 Jahren erfuhr, dass mein Brustkrebs Metastasen gebildet hatte und nicht mehr heilbar war. Da verstand ich: Es gibt so vieles, das schlimmer ist als der Tod: Verbitterung, ein fehlendes Selbstbewusstsein, Verstopfung oder der Ausdruck auf dem Gesicht meines Mannes, wenn er den Inhalt meines Drainagebeutels in einen Messbecher füllt.

Es ist Sonntagvormittag. Die Sonne taucht unsere Körper in ihr warmes Licht, mein Mann John und ich sind draußen vor unserem Haus auf dem Gehsteig, um unserem Jüngsten das Fahrradfahren beizubringen.

»Nicht loslassen!«, brüllt Benny.

»Aber du kannst es, du kannst es«, rufe ich, während ich neben ihm her renne. Ich halte ihn hinten am Fahrradsattel und merke, dass er schon viel sicherer geworden ist. »Du fährst ja jetzt schon alleine.«

»Aber ich bin noch nicht so weit!«, kreischt er.

Freddy, unserem älteren Sohn, mussten wir das Fahrradfahren nicht beibringen. Eines Tages flehte er uns an, endlich die Stützräder abzumontieren, und kurz darauf drehte er seine ersten Runden rund um den Garten. Nicht aber Benny. Wenn es nach ihm ginge, dürften wir ihn niemals loslassen.

»Hältst du mich auch fest?«, fragt er mich die ganze Zeit.

Die Wochenendluft ist wie Medizin für mich, und ich merke, wie meine Kräfte langsam zurückkehren: Eine monatelange Chemotherapie liegt hinter mir, und die sechswöchige Bestrahlung ist fast geschafft. Wir steuern auf das etwa 50 Meter entfernte Stoppschild an der Ecke zu, der Weg ist leicht abschüssig.

»Fest treten«, sagt John, »nach vorne schauen und den Lenker gerade halten.«

Ein junges Paar mit Hund wechselt die Straßenseite, um uns Platz zu machen. Die beiden lächeln Benny an. Ich lächle zurück und versuche, Johns Blick aufzufangen. Jetzt ist Benny gleich so weit. Ich schaue nicht nach unten, sondern nach vorne.

Dann bleibe ich mit der Fußspitze hängen und stolpere über eine Fuge im Gehweg.

Das ist der Moment, in dem etwas tief in meinem Inneren zerbirst. Benny hört mich schreien und fährt alleine weiter. Ich kann mich nicht halten, John fängt mich auf. Der Schmerz umfängt mich in einer ganz neuen Dimension. Doch ich sehe auch, wie Benny seine Schlingerfahrt fortsetzt und immer weiter fährt.

»Es tut mir leid, Mom! Ist alles okay bei dir?«, brüllt er über seine Schulter. »Guck mal, ich fahre immer noch!«

Da ist mir klar: Diese schöne, pulsierende, lebendige Welt dreht sich immer weiter und weiter.

Am nächsten Tag bin ich im Krankenhaus für ein MRT. Das Gerät gibt Geräusche von sich, die an eine Alien-Punkband erinnern. Ich muss an einen Radiobericht denken. Ein Unternehmen in Südkorea hat sich eine außergewöhnliche Übung einfallen lassen, um die Teamfähigkeit und Arbeitsmoral seiner Mitarbeiter zu verbessern. Die Angestellten sitzen in lange Gewänder gekleidet an Schreibpulten. Sie müssen einen Abschiedsbrief an ihre Liebsten verfassen. Schluchzen und hemmungsloses Heulen sind erlaubt. Neben jedem Schreibpult befindet sich eine große hölzerne Truhe. Doch es ist keine gewöhnliche Truhe, sondern ein Sarg.

Wenn die Angestellten ihren Brief geschrieben haben, legen sie sich in den Sarg. Eine weitere Person, die den Part des Todesengels übernimmt, nagelt den Sargdeckel fest. Ungefähr zehn Minuten lang liegen sie in ihren Särgen und versuchen, sich möglichst ruhig zu halten. Dahinter steckt die Idee, dass sich ihnen durch die Auferstehung nach ihrem vermeintlichen Begräbnis eine völlig neue Perspektive eröffnet, die es ihnen ermöglicht, mit mehr Leidenschaft ans Werk zu gehen und ihrem Leben einen höheren Wert beizumessen.

Um mich herum andere Patienten, nur mit Krankenhauskitteln bekleidet, die flach auf dem Rücken liegend, in enge, laute Röhren gepresst werden. Und weitere Patienten, die zwischen den dunklen Kellerräumen hin- und hergeschoben werden.

Wir üben schon einmal, denke ich. Während die Maschine eine Stunde lang scheppert und summt, werde ich zum Engel der Stille.

Vergiss den Engel des Todes, sage ich mir. Das Kontrastmittel brutzelt in meinen Venen, und ein anderer Engel, der blecherne Engel des MRT, vor dem mich der Radiologieassistent gewarnt hat, kommt mir gefährlich nahe, schafft es aber nicht, mich zu berühren. Als das Geräusch endlich verstummt, höre ich eine andere Maschine im Nebenraum: EINATMEN. ATEM ANHALTEN. WEITERATMEN.

Im MRT-Kontrollraum strahlt mir ein Bild aus der Dunkelheit entgegen: ein Tumor, der meine Wirbelsäule zerfrisst. Die Ärzte bezeichnen die Fraktur als pathologisch, da ihr eine andere Erkrankung zugrunde liegt. Es ist das MRT, das zeigt, dass der Krebs in meine Knochen gestreut hat. Es ist das MRT, nach dem klar ist, dass ich noch 18 bis 36 Monate zu leben habe.

Eine halbe Stunde später liege ich in einem durch einen Vorhang abgetrennten Krankenabteil. Eine junge Radioonkologin drückt meine Hand, tätschelt meine Glatze und erklärt mir unter Tränen, dass die Schmerzen, die ich bereits seit zwei Monaten verspüre, und die man fälschlicherweise auf meine durch die Chemotherapie geschwächte Rumpfmuskulatur zurückgeführt hat, von einem weiteren Krebs kommen, den ich nicht mehr besiegen kann.

STADIUM EINS

1. Ein kleiner Punkt

Der Anruf erreicht mich, als John auf einer Konferenz in New Orleans ist. Gesprenkelte Lichtstrahlen fallen schwach in unser Schlafzimmer, draußen klammern sich die letzten Blätter zitternd an die Äste der Weiden-Eiche. Noch lassen sie nicht los, aber bald. Ich falte rasch noch einen Schwung Wäsche. Die Heizungsrohre scheppern. Der Hund kratzt sich träge am Vorderbein. Das neue Jahr hängt wie ein Fragezeichen in der Luft. Da klingelt das Telefon auf dem Bett.

Es ist fast Mittag, die Kinder sind in der Schule. Wahrscheinlich stellen sie sich gerade in Zweierreihen auf, um in die Pause zu gehen, während sich ihre Finger wie kleine Forscher den Weg in ihre Handschuhe bahnen.

Brustkrebs, sagt der Pathologe, der die Biopsie durchgeführt hat. Ein kleiner Punkt. Ein kleiner Punkt. Genau diese Worte wiederhole ich gegenüber John, der kurz seine Sitzung verlässt, als er meine Textnachricht liest. Ich wiederhole sie gegenüber meiner Mom, die antwortet: »Das ist nicht dein Ernst, nicht du, nicht jetzt schon!«

Ich wiederhole sie gegenüber meinem Dad, der mir Hühnersuppe vorbeibringt. Ich wiederhole sie gegenüber meiner besten Freundin Tita, und sie wiederholt sie mir gegenüber, als wir auf der Couch sitzen und wie besessen jedes einzelne Wort des Pathologen analysieren. Ich wiederhole sie beim Zähneputzen, beim Abholen der Kinder, beim Öffnen meines BHs, beim Einschlafen, im Supermarkt, und als ich in dieser engen, lärmenden Höhle von MRT liege, während sich die Ärzte das Ding genauer anschauen. Ein kleiner Punkt.

Es wird zu einem Mantra, einer Parole. Ein kleiner Punkt ist greifbar. Ein kleiner Punkt ist ein Lebensjahr. Niemand stirbt an einem kleinen Punkt.

»Oh, Brustkrebs«, höre ich meine Großtante sagen, bevor sie mit 93 an Herzversagen starb. »Das hatte ich in den siebziger Jahren auch mal.«

2. Eine dunkle Zukunft

Eine warme Nacht, einige Wochen vor dem Anruf: John und ich trinken ein Glas Whisky auf unserer Veranda und beobachten, wie die Sonne untergeht – sie taucht uns und die ganze Welt in Orange, um dann hinter dem Dach unseres Nachbarn gegenüber unterzugehen. Er sitzt draußen auf seiner Schaukel – der emeritierte Professor, der sich nicht mehr an den Namen seines Hundes erinnern kann. Seine Frau huscht am Küchenfenster vorbei, und er nickt uns zu. Alles, was er vom Himmel sieht, ist die Dunkelheit, die langsam hereinbricht.

Eine dunkle Zukunft – das habe ich unseren Kindern prophezeit, sollten sie aufstehen und uns nach draußen folgen.

3. Das Punnett-Quadrat

»Mein Großvater väterlicherseits hatte Brustkrebs.«

Jeder, der meine Krankengeschichte dokumentiert, schaut spätestens bei diesem Satz erstaunt auf. »Er hatte eine radikale Mastektomie in den siebziger Jahren, wie seine Schwester auch – sie starb mit Mitte fünfzig. Ebenso eine seiner Nichten. Und seine Tochter – meine Tante.«

Ich sitze in der Beratungsstelle für Humangenetik, und die Ärztin skizziert mit Feuereifer meinen Stammbaum auf ein Blatt Papier. Ich sehe viele Vierecke und Kreise, die Krebsopfer sind mit einem großen X gekennzeichnet. Es sind viele X.

Mütterlicherseits: Beide Großeltern hatten Krebs, allerdings keinen Brustkrebs. Meine Tante, die Schwester meiner Mom, erkrankte jung an Hautkrebs. Und nicht einmal sechs Monate nach dem Gespräch in der Beratungsstelle wird meine Mom an einem Multiplen Myelom, einer Art Blutkrebs, sterben.

Während die Ärztin ihre Grafiken zeichnet, erinnere ich mich an eine ganz ähnliche Darstellung aus dem Biologieunterricht in der siebten Klasse, das Punnett-Quadrat: ein wenig wie ein Blick in die Kristallkugel, besser als diese Quija-Bretter oder »Himmel und Hölle« – ein Blick in die Zukunft, und das in einer empfindlichen Lebensphase, in der das Erwachsenwerden in greifbare Nähe rückt und zugleich unerreichbar erscheint. Man sucht sich einen x-beliebigen Jungen aus der Klasse aus und kann damit voraussagen, ob die Kinder, die man mit ihm haben würde, braune oder blaue Augen bekommen. Oder eben Krebs – zumindest, wenn es nach dem Diagramm der Ärztin in der Beratungsstelle geht.

Nach dem Punnett-Quadrat bekämen zwei meiner Mitschüler, Mike Henninger und Christina Stapelton, zu einhundert Prozent ein blauäugiges Baby. Für eine Siebtklässlerin ein überaus aufregender Gedanke: Zukünftiges schien bereits festgelegt zu sein. Es gab Gewissheit – gesetzt den Fall, dass Christina und Mike sich ineinander verliebten. Und sie zusammen Kinder haben wollten. Und Christina schwanger würde. Und dieses Baby wohlbehalten auf die Welt käme.

Väterlicherseits: Seine ältere Schwester ist Trägerin einer BRCA2-Mutation, das sogenannte Brustkrebsgen. Nachdem sie ihre Diagnose in den 1990er Jahren bekommen hatte, war sie die Erste von uns, die getestet wurde. Ihre Tochter, die bislang nicht an Krebs erkrankt ist, hat die Genmutation ebenfalls, genauso wie mindestens einer der noch lebenden Brüder meines Dads.

Wie sich herausstellt, liegt bei mir keine Mutation vor. Zwar habe ich eben mit 37 Jahren die Diagnose Brustkrebs bekommen, doch das Brustkrebsgen habe ich nicht.

»Ich lasse Ihnen eine Studie zu diesem Thema zukommen«, verspricht mir die Ärztin. »Die Forschungsergebnisse könnten angesichts Ihrer Situation interessant sein.«

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass in Familien, in denen die Brustkrebsgene BRCA1 oder BRCA2 vorliegen, auch Familienmitglieder ohne eine dieser Genmutationen ein höheres Risiko haben, zu erkranken.

»Letzten Endes bedeutet das, dass es einige Gene gibt, die wir noch nicht erfolgreich identifiziert haben«, erklärt mir die Ärztin. »Wir sehen noch nicht das ganze Bild, sondern einen Teil davon.« Sicher ist offenbar nur: Es gibt unendlich vieles, worüber wir uns nicht sicher sind.

Heute gehen wir davon aus, dass etwa elf Prozent der Brustkrebserkrankungen genetisch bedingt sind, was bedeutet, dass uns die restlichen 89 Prozent so zufällig wie der Blitz treffen.

Mein Großvater, derjenige mit Brustkrebs, starb zwei Jahre nach meiner Großmutter. Ich war damals sieben Jahre alt. Beide starben an Krebs. Bei ihm hatte vielleicht der Brustkrebs gestreut, vielleicht war es auch etwas ganz anderes. Wir wissen es nicht genau – es war zu Beginn der 1980er Jahre.

»Hast du mal die Narben von seiner Mastektomie zu Gesicht bekommen?«, fragt mich einer meiner Onkel, nachdem ich meine Diagnose erhalten habe.

Ich habe sie tatsächlich einmal gesehen, auch wenn ich damals dachte, dass er sie sich im Krieg zugezogen hätte. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt, und wir waren am felsigen Strand unterhalb unseres Ferienhauses auf Cape Cod. Sachem, das Pferd meiner Großmutter, steckte mit dem Huf zwischen zwei großen Steinen fest. Beim Versuch, sich selbst zu befreien, brach er sich das Bein und musste erschossen werden. Da sein Kadaver zu schwer war, um abtransportiert zu werden, sollte Sachem unter einem Berg von Felsen begraben werden, der in schweißtreibender Arbeit errichtet wurde und höher war als ich.

Großvater hatte den für unsere Familie typischen Körperbau: mager, kräftig und zäh – doch sein Oberkörper wirkte völlig fremdartig: sein Brustkorb, deformiert, ausgehöhlt wie eine hölzerne Barke und überzogen von verschlungenem Narbengewebe.

Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, Erwachsene sind voller Überraschungen. Wie werde ich wohl als Erwachsener sein?

Jahre später fanden wir Sachems Gebeine an einer etwas entlegenen Stelle wieder, wo das felsige Steilufer in eine wild bewachsene Bucht ausläuft – abgeschliffen, ausgebleicht und so riesig, dass mir zunächst der Gedanke durch den Kopf schoss, sie gehörten einem prähistorischen Ungetüm. Ein Knochen liegt nun auf dem Tisch am Kaminsims, gleich neben dem furchteinflößenden Kiefer eines Blaufischs, der alten Haut einer Königsnatter, einer Sammlung von brüchigen Wellhornschneckenhäusern sowie zwei hölzernen Gedenktafeln, in welche die Daten meines Großvaters geritzt sind.

Manchen Dingen ist es vorbestimmt, immer und immer wieder zu uns zurückzukommen.

4. Nichts Gutes

»Ich kann es den Jungs nicht sagen, bevor ich es nicht selbst begriffen habe«, sage ich zu meiner Mom, einen Tag nach der Diagnose. Freddy ist gerade acht geworden, Benny ist fünf.

»Okay«, antwortet sie, »aber bedenke, dass es den perfekten Zeitpunkt nicht gibt.«

Acht Jahre zuvor, als meine Mom gerade erfahren hatte, dass sie an einem Multiplen Myelom litt und mich von der Arztpraxis aus anrief, saß ich auf der Bettkante und war dabei, mein zwei Wochen altes Baby zu stillen.

Ich erinnere mich noch genau an ihre Worte: »Verdammt noch mal, ich bin so wütend, dass das passiert.«

Ich weinte nicht. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen und jetzt erst einmal vorsichtig nach Hause fahren. Ich versprach ihr, dass ich meinen Bruder Charlie, der in einer anderen Stadt aufs College ging, anrufen würde. Doch als ich ihm die schlechte Nachricht überbringen wollte, bekam ich kaum ein Wort heraus.

»Was soll das heißen?«, fragte mich Charlie immer wieder.

»Nichts Gutes«, war alles, was ich herausbrachte.

Glücklicherweise hat er es nach wenigen Nachfragen verstanden. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder aufstehen konnte. Mein Baby lag satt getrunken auf meinem Schoß. Sein Strampelanzug war völlig durchnässt.

5. www.heyninariggsalleswirdgut.com

Am Montag nach der Diagnose haben die Kinder keine Schule. John nimmt sich den Tag frei und macht mit ihnen einen Ausflug, damit ich die Information langsam sacken lassen kann. Ich liege auf dem Bett und versuche mir vorzustellen, krank zu sein. Worüber denken Kranke nach? Wie merkt man, dass man krank ist?

Ich bin erstaunt über die ungewohnte Ruhe, die sich in den letzten Tagen über mich gelegt hat – seit der Arzt am Telefon das Wort Krebs ausgesprochen hat. Während ich den Schrecken in Johns Augen aufflackern sah, fühlte ich mich irgendwie erleichtert. Jetzt ist sie passiert, denke ich die ganze Zeit, die schreckliche Sache. So fühlt sich die schreckliche Sache also an. Irgendwo in meiner Brust hat sich ein beschaulicher, ruhiger Raum geöffnet, ein kleiner tiefer Teich, mitten im Dickicht.

Mein altes Ich – selbst die Nina Riggs, die ich noch vor einer Woche war – hätte schon längst Dr. Google zum Thema Sterberaten bei Brustkrebs befragt. In den letzten zehn Jahren habe ich mindestens hundert Forschungsprojekte zu verschiedenen Horrorszenarien durchgeführt – meistens Schicksalsschläge, die meine armen Kinder ereilen könnten: die Wahrscheinlichkeit, am Biss eines tollwütigen Tieres zu sterben, die Wahrscheinlichkeit, an grünlichem Durchfall zu sterben, die Wahrscheinlichkeit, an zu großen Ohrläppchen zu sterben, die Wahrscheinlichkeit, durch den Verzehr von Spielplatzmulch oder eine unnatürlich große Begeisterung für Deckenventilatoren und kleine Kätzchen zu sterben.

Ich erinnere mich, dass ich einmal gelesen habe, dass Eierstockkrebs oft lange unentdeckt bleibt, weil die Frauen keine eindeutigen Symptome haben. Ich habe auch keine eindeutigen Beschwerden, also muss ich Eierstockkrebs haben, schloss ich logisch. John schüttelte den Kopf: »Du bist unglaublich verrückt«, sagte er. »Na ja, du weißt schon. Dafür, dass du nicht verrückt bist.«

Schon als kleines Mädchen überlegte ich mir vor dem Einschlafen immer einen Fluchtweg, wenn ich irgendwo anders übernachtete. John ist der Typ Mensch, der sich erst Sorgen macht, wenn der Raum voller Rauch ist, irgendjemand ihn wachrüttelt und die Flammen schon unter der Türe hervorlecken: Okay, vielleicht sollten wir mal die Feuerwehr rufen.

Mein dunkelstes Geheimnis: Eines Tages – ich war schon viel zu lange allein mit dem Baby, es war längst dunkel draußen und John immer noch im Büro – ließ ich Freddy, damals neun Monate alt, am Ladekabel meines Laptops nuckeln. Jedes Mal, wenn er einen kleinen Stromschlag auf die Zunge bekam, kicherte und wimmerte er gleichzeitig, während ich im Internet Informationen darüber suchte, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein gesundes, sprachlich früh entwickeltes Kind an Autismus erkranken könnte.

Vor ein paar Jahren verhalf mir ein Therapeut zu der Erkenntnis, dass meine zahllosen Internetrecherchen einzig und allein auf diesen Treffer abzielten: eine Website mit dem Titel »Mit Freddy und Benny ist alles okay. Mit dir und John auch«. Ich musste laut über mich selbst lachen. Und doch hielt mich diese Einsicht nicht davon ab, hinter jeder Ecke eine Katastrophe zu vermuten oder von Zeit zu Zeit im Internet nach der magischen Website zu suchen, um auch sicherzugehen, dass sie nicht doch existiert.

»Sie können nicht lockerlassen«, erklärte mir der Therapeut. »Sie denken, dass es Ihren Untergang bedeuten würde, wenn irgendetwas Schlimmes passiert.«

Doch während ich hier im Bett liege, fühlt sich der Untergang wie ein Stück Frieden an, als ob ich kurz davor wäre, in den Schlaf hinüberzugleiten. Da ist sie, die schreckliche Sache.

Währenddessen sind John und die Kinder im Park, im Supermarkt und in der Bücherei. Wieder zu Hause kommt John leise zu mir hoch und setzt sich ans Bettende. »Ich muss mit dir reden«, sagt er.

»Okay«, sage ich.

»Ich würde dir das gerne ersparen, also versuch bitte nicht gleich auszuflippen.«

»Okay«, sage ich wieder.

»Ich glaube, Freddy hat Diabetes.« John ist seit fast 20 Jahren Typ-I-Diabetiker. Ihm wurde gesagt, es sei nicht vererbbar.

»Okay.« Etwas anderes bringe ich nicht heraus.

»Mir fiel auf, dass er am Trinkbrunnen in der Bücherei Unmengen von Wasser trank, und er erinnerte mich an mich selbst, als ich die Diagnose bekam. Ich habe seinen Blutzucker mit meinem Gerät getestet. Er ist viel zu hoch.«

»Okay.«

»Ich wüsste nicht, was es sonst sein sollte«, murmelt er.

Es bedarf keiner weiteren Worte. Ich ziehe mir etwas an, wir packen das Auto, rufen den Kinderarzt an und fahren in die Klinik. In Freddys Augen spiegeln sich Angst und Erschöpfung. »So ein Riesenmist«, schimpfe ich und ziehe ihn an mich heran, während wir hinaus zum Auto gehen. »Aber glaube mir, du wirst es überleben.«

Auf dem Weg in die Klinik erreicht mich ein Anruf, dass die Ergebnisse des MRTs nun vorliegen. Also legen wir einen Stopp am Brustzentrum ein, das zum selben Klinikkomplex gehört. Die Rezeptionistin überreicht mir die Ergebnisse in einer großen pinken Tragetasche. »Gratis!«, sagt sie.

Ein kleiner Punkt, bestätigt der Ausdruck. Kurz bekomme ich wieder Luft, doch dann bleibt sie mir gleich wieder weg, als ich die Kinderstation betrete. An meiner Schulter baumelt immer noch die pinke Tragetasche.

Freddy hält sich tapfer in der Klinik, doch als ihm der Venenzugang für die Infusion gelegt wird, ist es aus. Die Schwester muss ihn mehrmals in seine kleine Hand stechen, und er hasst es, was er sie auch deutlich wissen lässt.

»Finden Sie es eigentlich in Ordnung, dass Sie einem Kind solche Schmerzen zufügen?«, schnauzt er sie an, nachdem er nach einigen Fehlversuchen schon richtig in Fahrt ist. »Sind Sie sich sicher, dass Sie schon einmal eine Infusion gelegt haben?« Und: »Gibt es nicht andere Patienten, die Ihre Hilfe nötiger haben als ich?«

Die geduldige Schwester rollt mit den Augen, und John macht sich auf den Weg, um Freddy Chicken Wings und Suppe von seinem Lieblingschinesen zu holen – kohlenhydratarmes Essen, das seinen Blutzuckerspiegel nicht noch weiter in die Höhe treibt. Während John unterwegs ist, rufe ich meine Mom an.

»Ich weiß, das hört sich jetzt so an, als hätte ich mir das ausgedacht«, sage ich zu ihr. Dann teile ich ihr die Ergebnisse meines MRTs mit und erzähle von Freddy. Sie wollen uns drei oder vier Tage hierbehalten, um seinen Blutzucker unter Kontrolle zu bringen, seine Nieren zu stabilisieren und uns zu zeigen, wie wir ihn spritzen müssen – obwohl John schon längst Profi in diesem Bereich ist.

Benny darf nicht auf der Station bleiben. Es ist Grippezeit, und John bringt ihn nach dem Abendessen nach Hause. Später am Abend telefonieren wir.

»Ich wollte es dir wirklich nicht sagen«, sagt er. »Ich dachte sogar kurz daran, ihn direkt in die Klinik zu bringen und dir zu erzählen, dass ich mit den Kindern spontan wegfahre. Irgendwie schien es mir wichtig, dich damit nicht zu belasten.«

Freddy ist endlich eingeschlafen. Ich liege neben ihm auf meinem Liegesessel in dem dunklen Krankenzimmer – nur der hell blinkende Herzmonitor sendet wie ein Leuchtturm ein beständiges Signal hinaus in die Nacht: vorerst alles okay, vorerst alles okay, vorerst alles okay.

»Ich bin so froh, dass du es warst, der ein Auge auf ihn hatte«, sage ich. »Ich denke, es wäre mir entgangen. Ich fühle mich, als hätte ich eine Lobotomie gehabt.«

»Na ja, auch das wollte ich dir nicht erzählen, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie gut aufpassen. Es schien mir das Beste zu sein.«

6. Konsterniert

Der Mitarbeiter vom Duke Cancer Center teilt mir mit, dass ich mich sehr glücklich schätzen könne, weil er mich in den Terminplan einer ganz besonderen Ärztin quetschen konnte: der Königin des dreifach negativen Mammakarzinoms.

John und ich machen ein Selfie im Untersuchungsraum, während wir auf die Königin warten.

»Zwei völlig verängstigte Menschen, die versuchen, so zu tun, als hätten sie alles unter Kontrolle«, sage ich zu John und lasse ihn einen Blick auf das Foto werfen.

»Was denkst du, wie viele Leute werden dich heute begrabschen?«, fragt er.

Der erste Termin ist um 9.20 Uhr, aber wir verlassen die Klinik erst um 18.00 Uhr. Dr. Cavanaugh ist eine kluge und äußerst elegante Frau. Sie trägt kniehohe Stiefel zu ihrem weißen Arztkittel und wirkt völlig aufgeräumt. Ganz im Gegensatz zu mir.

Sie scheint alle Menschen in ihrer Umgebung in Angst und Schrecken zu versetzen, aber John und ich lieben sie von der ersten Minute an. Sie ist mit meinem Fall bis ins Detail vertraut und stellt meinem Krebs »sehr gute Heilungschancen« aus. Sie erklärt uns, dass sie die Kombination der verschiedenen Chemotherapie-Medikamente lieber als »Rezeptur« bezeichnet, nicht als »Cocktail« wie manch andere Onkologen. Die Assoziation mit einem Drink so früh am Tag sei doch etwas irreführend und enttäuschend zugleich. Vielleicht sind wir doch nicht so gegensätzlich.

»Ich finde es toll, wie konsterniert sie in Anbetracht der ganzen Sache ist«, sage ich zu John, als die Ärztin den Raum verlassen hat und ich mich wieder in meinen Sport-BH quäle. Auf meiner Brust prangt immer noch ein riesiger Bluterguss von der Biopsie, und ich muss mich ständig selbst daran erinnern, dass er nicht vom Tumor stammt, sondern nur eine Begleiterscheinung ist. »Mein Krebs lässt sie völlig kalt. Man könnte sogar sagen, sie ist gelangweilt. Ich finde das gut.«

»Ich denke, dass ›konsterniert‹ nicht die richtige Bezeichnung für das ist, was du eigentlich meinst«, antwortet John, während er gleichzeitig eine Sprachnachricht aus dem Büro auf seinem Handy abhört.

»Wirklich?«, frage ich. Ich habe meinen Pullover verkehrt herum angezogen. Er hilft mir dabei, ihn wieder über den Kopf zu ziehen.

»Bedeutet es nicht gleichgültig? Dass sie sich durch nichts mehr aufregen lässt?«

»Nein, eher das Gegenteil.« Er fummelt mit einer Hand unter meinem Pullover herum, während er mit der anderen das Wort auf seinem Handy googelt. »Ich glaube dir nicht«, knurre ich ihn an. Er hält mir sein Handy mit der Definition vor die Nase.

»Oh«, sage ich, und schlage seine Hand weg. »Dann mag ich es eben, wie un-konsterniert sie ist. Und ich bin wirklich konsterniert über dein Verhalten in diesem Untersuchungszimmer.«

Den restlichen Tag verbringen wir mit: Untersuchungen, Warten, einem Termin beim klinischen Pharmazeuten, noch mehr Warten. Außerdem lernen wir den Rest des Teams kennen: den Radioonkologen und den Chirurgen. Dieser bringt mich mit einem Freudschen Versprecher zum Lachen: Ich hätte die Wahl zwischen einer Lumpektomie und Mastektomie, aber letztlich sei es meine »Einschneidung«.

7. In der Chemo-Schule

Jeder gibt sich betont optimistisch, als wir lernen, dass wir keinen rohen Thunfisch essen sollen, wie wir ein Kopftuch binden und welches Mundwasser gut bei Mundgeschwüren hilft.

Da sitze ich, irgendwo in den Gedärmen des Duke Cancer Center, an einem Tisch zusammen mit einer freundlich dreinblickenden Krankenschwester und weiteren Krebs-Anfängern, die meisten irgendwo zwischen siebzig und achtzig. Wir sind so viele, ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

»Das wird ein Riesenspaß, oder?«, sagt eine ältere Dame mit großzügig aufgetragenem Lippenstift und spielt mit ihrem Gehstock herum.

»Auf alle Fälle«, piepst ihr Mann und grinst erst die Schwester und dann mich breit an.

Ich simse Tita, die mir angeboten hatte mitzukommen. »Ich wünschte, du wärst doch mitgekommen. Du würdest es lieben hier.« Tita ist Romanautorin und beschäftigt sich bevorzugt damit, wie die Dinge funktionieren: die Menschen, ihr Seelenleben, Beziehungen oder eben Selbsthilfegruppen. Sie liebt es, Dinge bis ins kleinste Detail zu zerlegen und zu analysieren. Wir können Stunden damit verbringen, eine sonderbare Begegnung im Supermarkt, das eigenartige Verhalten eines Kellners oder die emotionalen Herausforderungen zu diskutieren, die eventuell auf die Mom des Exfreunds ihrer Schwester zukommen könnten. »Ich fühle mich, als hätte ich gerade das Mekka der unerwarteten Intimität betreten«, schreibe ich.

»BITTE. SCHREIB. ALLES. AUF«, textet Tita zurück.

Die Krankenschwester betont, wie wichtig es sei, in der zweiten Phase der Chemotherapie Kondome zu benutzen, und alle starren in meine Richtung. Ich schreibe übereifrig mit und unterstreiche das Wort »Kondom« zweimal, vielleicht sogar dreimal.

»Ich habe zwar Krebs, aber der Krebs hat mich noch lange nicht«, sagt irgendjemand, und wir nicken alle.

Als wir gerade darüber sprechen, ob man während der Chemo Krustentiere essen darf, erklärt ein Herr mit grauem Gesicht und Golfjacke, dass es ihn sexuell erregt, wenn er eine Garnele beim Schwanz packt und ihr die Schale abzieht.

»Oh mein Gott, nicht schon wieder diese Geschichte«, stöhnt seine Frau. Für einen kurzen Moment herrscht Stille, dann brechen wir alle in Gelächter aus.

Zusammen wiederholen wir laut und deutlich die Telefonnummer des Krebszentrums und wünschen einander viel Glück.

Prüfung bestanden. Jetzt sind wir gewappnet.

8. In der Chemo-Bucht

Der Behandlungsraum hat keine Türen. Hier und da ein zugezogener Vorhang, man spricht mit gedämpfter Stimme; doch letztlich treiben wir hier auf offener See und warten gemeinsam darauf, das giftige Zeug zu bekommen, von dem wir hoffen, dass es uns heilt. Hier ticken die Uhren langsamer – wir verbringen so viel Zeit mit Warten, so viel Zeit mit der Behandlung. Alles wird doppelt überprüft, ständig die Armbänder gescannt. Um die Nebenwirkungen gering zu halten, bekommen wir Zofran, Steroide, und der Zugang wird mit Kochsalzlösung gespült. Und immer wieder: Bitte wiederholen Sie Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum. Wollen Sie eine Kleinigkeit essen? Etwas Wasser? Der aufmerksame Blick der Schwestern in Schutzkleidung, das beständige Tröpfeln der Infusion, Gelächter, der Geruch von Fritten, das leise Zischen beim Öffnen der Ginger-Ale-Dosen und das Pling-Pling der überall eintrudelnden Textnachrichten.

»Geht es dir gut?«, frage ich mich selbst in der Chemo-Bucht.

»Ich denke schon«, antworte ich.

9. Verdächtige Gegend

Kurz nach der Diagnose ist es mir schier unmöglich, zu lesen. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, und es fehlt mir die Geduld, mich auf die Ideen oder Metaphern anderer einzulassen.

»Ach, das hatte ich auch«, meint meine Mom, als ich ihr davon erzähle. »Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, die Wände anzustarren. Und ich habe mir alle Folgen von Navy CIS angeschaut. Es ist ein wenig so, als würde man ein Baby bekommen. Mach dir keine Sorgen, das legt sich wieder.«

Ich erinnere mich an Weihnachten vor einigen Jahren, als meine Mom sich sehr krank und verloren fühlte. Wir verbrachten ein frostiges Wochenende am Strand und unterhielten uns über eine Biografie von Michel de Montaigne. Das hat ihr geholfen. Ich krame die alte Studienausgabe mit Montaignes Essays hervor und beginne zu lesen.

In einem meiner Lieblingsessays schreibt er über den plötzlichen Tod seines Bruders, der mit 23 Jahren von einem Tennisball tödlich getroffen wurde.

Er setzte sich deswegen auch nicht nieder und ruhte nicht; starb aber fünf oder sechs Stunden darauf an einem Schlagfluss, welchen ihm dieser Wurf zugezogen hatte. Da uns nun diese häufigen und ganz gemeinen Beispiele vor Augen schweben: Wie ist es möglich, dass wir uns der Vorstellung des Todes entschlagen können und dass wir nicht alle Augenblicke denken, er habe uns bei der Krause?

Im Frankreich des 16. Jahrhunderts kam Montaigne oft mit dem Tod in Berührung. Er verlor fünf seiner sechs Töchter noch im Kindesalter, sein bester Freund starb in seinen Armen an der Pest, und er selbst litt lebenslang an zermürbenden Nierenkoliken.

Und folglich haben wir, wenn wir uns vor demselben fürchten, beständige Ursache zu einer Marter, die auf keine Art gelindert werden kann. Es ist kein einziger Ort, von welchem sie nicht herkommen sollte. Wir können, wie in einer verdächtigen Gegend, den Kopf immerfort herumdrehen.

Verdächtige Gegend – langsam wird mir dieser Ort vertraut.

Sicher wäre »Verdächtige Gegend« auch der treffendere Name für diesen Laden in der Stadt namens Perückenland. Die Kunden: Menschen, die eine Chemotherapie machen oder an Haarverlust leiden. Hier gibt es Hüte, bunte Kopftücher, Perücken, Cremes für gereizte Kopfhaut und sogar traurige, schon leicht vergilbte Packungen mit Augenbrauen aus Echthaar.

Als ich zum ersten Mal dort war, hatte ich ein Rezept meiner Onkologin in der Hand, auf dem »Kopfprothese« stand. Noch benebelt vom Schock der Diagnose warf ich das erste Rezept weg, weil ich dachte: Das muss für jemand anders sein. Meinen Kopf habe ich nicht verloren.

Katrine, die »Stylistin«, rasierte mir in einem Hinterzimmer die letzten Haarflusen vom Kopf und half mir, die richtige Perücke zu finden. Tita schoss ein Foto nach dem anderen, und wir konnten nicht aufhören zu lachen.

Montaigne schreibt: Wir wollen, wenn das Pferd stolpert, wenn ein Dachziegel herunterfällt, wenn wir uns nur im Geringsten mit einer Nadel stechen, gleich die Betrachtung anstellen: Wenn nun dies das Leben kostete?

Das Schnipp-Schnapp der Schere, metallisch-kühl und unerwartet. Das Brummen des Haarschneidegeräts. Der Moment, in dem die neue Perücke aus der Schuhschachtel auftaucht, glatt und wohlgeordnet.

Was ich an Montaigne besonders mag, ist, dass er ungeachtet des ständigen politischen Aufruhrs und der umherziehenden Diebesbanden angeblich sein Schloss niemals bewachen ließ und seine Türen niemals abschloss. Er war sich über den Schrecken, der jederzeit über ihn hereinbrechen konnte, bewusst. Er erkannte seine Präsenz an, ließ ihn ein und schaffte es auf diese Weise, mit ihm zu leben: Der Tod mag mich immer über den Kohlpflanzen finden: wenn ich mich nur nicht über denselben und noch viel weniger über meinen noch unvollkommenen Garten gräme.

Meine Perücke riecht stark nach Chemie. Ich fühle mich wie ein Bankräuber, wenn ich sie trage. Doch vielleicht wird sie mir auf meinem Weg durch die verdächtige Gegend als schützender Mantel dienen.

10. I Believe (When I fall in love it will be forever)

Einen Tag nach seiner Entlassung aus der Klinik kann es Freddy kaum erwarten, wieder in die Schule zu gehen.

Vollbepackt mit Messgeräten, Insulinpens, Alkoholtupfern, Glukagon-Notfall-Sets und Behandlungsplänen kreuzen wir bei der Schulkrankenschwester auf. Freddy gewinnt dem Ganzen auch etwas Gutes ab: Er darf jetzt so viel Trockenfleisch essen, wie er möchte. Doch ich sehe, dass er jetzt anders durch die Welt geht – es scheint, als hinge die ganze Zeit eine Tasche an seiner Schulter. Eine Tasche, schwer beladen mit den Wörtern: Injektionen. Chronische Krankheit. Glykämischer Index. Ketontest. Klinik.

Ich muss an eine Nacht zu Beginn der 1980er Jahre zurückdenken. Mein Dad und ich waren mit seinem alten weißen Transporter irgendwo nördlich von Boston unterwegs, als der Motor überhitzte und wir mitten in einem Gewitter auf dem Standstreifen des Highways strandeten.

Zu dieser Zeit musste man bei einer Autopanne noch losziehen und ein Telefon suchen. Ich war ungefähr acht – nicht alt genug, um nachts alleine in einem Transporter am Highway zurückgelassen zu werden. Also stapften mein Dad und ich in einer Regenpause quer über eine hohe, nasse Wiese auf ein paar dunkle Häuser zu, die wir in der Ferne erahnen konnten.

Durch das Gewitter war bei vielen der Strom ausgefallen, und wir mussten ein paar Häuser abklappern, bis wir jemanden mit einem funktionierenden Telefon fanden, von dem aus wir meine Mom anrufen konnten. Natürlich machte sie sich bereits Sorgen. Dann wanderten wir wieder zum Transporter zurück und warteten darauf, dass sie uns abholen würde.

Die Autobatterie funktionierte noch, also legten wir Dads damalige Lieblingskassette ein – Talking Book von Stevie Wonder. Die Fenster waren beschlagen, und ich kann mich noch daran erinnern, wie es im Auto roch: nach Sägemehl, Orangenschalen, Schmutz und Kaffee. Genauso wie mein Dad.

Ich nickte immer wieder ein und lehnte meinen Kopf müde gegen die kratzigen Sitzbezüge, während Stevie immer und immer wieder »I believe when I fall in love it will be forever« sang. Dann spulten wir die Kassette zurück, und mein Dad sang jedes Mal den Refrain mit dieser fistelnden Kopfstimme mit. Da saß ich, hätte schon längst im Bett sein müssen, zählte in der Dunkelheit die Autoscheinwerfer und war die glücklichste kleine Abenteurerin auf der ganzen Welt. Irgendwann holte uns meine Mom mit unserem kleinen Golf ab, brachte uns sicher nach Hause und steckte mich ins Bett.

Freddy ist jetzt ungefähr im selben Alter wie ich damals. Ich versuche, ihm gegenüber offen zu sein, was seine Krankheit, meinen Krebs, die Behandlung, die Dinge, die mich selbst beunruhigen, anbelangt – um dem Ganzen seinen Schrecken zu nehmen. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, ihm seine größte Angst zu nehmen, aber vielleicht schaffe ich es zumindest bei seinen kleineren Sorgen.

Ich suche an ihm die ersten Anzeichen einer Traumatisierung, von Wut oder Stress. Jeden Tag frage ich ihn unzählige Male, wie er sich fühlt, und versuche damit, meine eigenen diffusen Schuldgefühle und meine Unsicherheit zu kompensieren.

Am darauffolgenden Tag zupft er am Schorf meines Venenzugangs herum und gesteht mir: »Manchmal vermisse ich die Klinik so sehr, dass ich weinen könnte.«

Die Klinik. Die piepsenden Maschinen. Das fahle Licht auf den Gängen um drei Uhr morgens. Die schmale Vinyl-Couch. Meine verfilzten Haare. Meine Habseligkeiten, wahllos über einen Stuhl geworfen, die pinke Tragetasche vom Brustkrebszentrum. Die Urinflasche mit dem Teststreifen, den ich ängstlich nach Anzeichen von Ketonen beäuge. Mein Sohn inmitten des Gewirrs von Schläuchen und Sonden. Die vier Stunden und zwölf Minuten, als die Ärzte dachten, dass er einen bislang unentdeckten Herzfehler hat. Das schier endlose Kommen und Gehen der Krankenschwestern und Pfleger. Diese Klinik?

»Es war so toll, die ganze Zeit Videospiele spielen zu dürfen«, erklärt er. »Und erinnerst du dich daran, wie du zu mir ins Bett gekommen bist und wir die ganze Nacht gekuschelt und geredet haben?«

Ach so. Diese Klinik. Der Geruch seiner verschwitzten Locken unter meinem Kinn. Seine Hand, die, immer wenn jemand Neues in den Raum kam, ganz fest die meine drückte. Seine ruhigen Atemzüge, über die ich nachts wachte – etwas, das ich zuletzt als frischgebackene und nervöse Mutter gemacht habe.

Jetzt verstehe ich es: Kann es sein, dass mein Dad damals im Gegensatz zu mir nicht den Spaß seines Lebens hatte – als er mitten in der Nacht durch den Regen fuhr, sein Kind zu den Häusern von Fremden mitschleppte und sich dann mit dem Gedanken anfreunden musste, seinen kaputten Wagen über Nacht auf einem vielbefahrenen Highway zurücklassen zu müssen?

War er vielleicht stattdessen in Sorge, erschöpft und am Rande der Überforderung? Ruft »I believe when I fall in love it will be forever« bei ihm nicht die Erinnerung an ein spannendes Abenteuer hervor? Singt er es nicht immer lauthals mit, wenn er alleine im Auto unterwegs ist? Fühlt er sich dabei nicht jedes Mal glücklich, geliebt und voller Vorfreude, auf was auch immer kommen mag?

Vor einiger Zeit fragte ich ihn, ob er sich an diese Nacht erinnere. »Na klar, ich war fix und fertig, als wir endlich zu Hause waren.«

Ich brannte ihm eine CD mit Talking Book, da seine Kassette schon vor langer Zeit den Geist aufgegeben hatte. Als er sie eines Abends bei sich zu Hause in der Küche auflegte, musste ich feststellen, dass er den Song immer noch genau so schmachtend-schnulzig mitsang wie 30 Jahre zuvor. Mir wird klar: Wenn man seine Kinder liebt, dann ist es wie in diesem Song. It will be forever, dann ist es für immer. Und diese Liebe trägt einen durch solche Nächte, in einem kaputten Auto, doch voll mit dem Gefühl von Sicherheit, dem Gefühl, dass alles in Ordnung ist – und mit Stevie Wonder.

Oder durch Nächte in einem Krankenhausbett, in dem zwei Menschen eng aneinandergekuschelt liegen. Und ich spüre, dass es meinem Kind, egal was auch passiert, gut gehen wird.

11. Dancing with Myself

Vor jedem Chemo-Termin schicken mir Tita und ihr Mann Selfies, auf denen sie Grimassen wie Billy Idol ziehen. »Rock ’n’ Roll, Baby«, schreibt Tita. »Du rockst das!«

Einmal stehe ich mitten im Behandlungszimmer und versuche mir mein blaues Krankenhaushemd zuzuhalten, während ich ein Grimassen-Selfie mache. Da platzt ein Pfleger, ohne anzuklopfen, ins Zimmer. »Hoppla, alles okay bei Ihnen, Miss Riggs? Sie wirken ein bisschen neben der Spur.«

»Alles bestens bei mir«, sage ich und unterdrücke ein Lachen. »Ich habe für meine Freundin nur kurz den Rockstar gespielt.«

»Oh, alles klar«, meint der Pfleger. »Ähm, ich komme gleich noch mal mit einer Schwester vorbei, nur für den Fall. Setzen Sie sich doch so lange hin, und drücken Sie den blauen Knopf, wenn irgendetwas ist.«

12. Der Poesie-Fuchs

Eines Tages entdecken John und ich im Krankenhaus einen Mann in einem Fuchskostüm. Er sitzt in der Lobby mit einer Schreibmaschine. Gibt man ihm ein Stichwort, beginnt er wie wild zu tippen und schreibt ein Gedicht, während man wartet.

Ich verbringe viel Zeit mit Warten im überfüllten Duke Cancer Center. John macht sich auf den Weg, um Mittagessen zu besorgen. Auf seinem Rückweg schaut er beim Poesie-Fuchs vorbei.

Die Frau vor John bekommt ein ausuferndes Prosagedicht, in dem der Poesie-Fuchs eine Kindheitserinnerung verarbeitet. Jemand anders erhält einen Limerick rund um den Begriff »Hoffnung«: Dung, Sprung, Zumutung. Der Fuchs scheint ein wenig erschöpft zu sein. Als John an der Reihe ist, schlägt er dem Fuchs »konsterniert« vor.

»Konsterniert«, wiederholt dieser. »Also gut.« Obwohl auch er die Definition von konsterniert nicht zu kennen scheint, bleiben seine Verse in Erinnerung.

Bleibe / konsterniert. Lass / sie sich ruhig daran abarbeiten,/ dich / zu knacken, schreibt Poesie-Fuchs unter anderem.

»Du wirst es lieben«, meint John, als er mit dem Gedicht wieder auftaucht.

»Hm. Das entspricht nicht wirklich meiner emotionalen Haltung«, sage ich. »Ich liebe es, aufgeknackt zu werden.«