Cover



Simon Scarrow


DER ZORN
DES ADLERS

Roman


Aus dem Englischen von
 Barbara Ostrop



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Die Originalausgabe WHEN THE EAGLE HUNTS erschien bei
Headline Publishing Group, London
Copyright © 2002 by Simon Scarrow
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/Sue C
ISBN 978-3-641-21440-1
V002
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

ZUM BUCH
ZUM AUTOR
Widmung
Die Organisation der römischen Legion
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Nachwort des Autors
Copyright

ZUM AUTOR

Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, eine Tätigkeit, die er aufgrund des großen Erfolgs seiner Romane nur widerwillig und aus Zeitgründen einstellen musste.


Besuchen Sie Simon Scarrow im Internet unter www.scarrow.co.uk 

Nachwort des Autors

Eines der dauerhaftesten Symbole des vorrömischen Britannien ist der riesige Komplex von Befestigungswällen bei Maiden Castle in Dorset. Der beeindruckte Besucher stellt sich mitfühlend vor, wie es gewesen sein mag, solch einschüchternde Verteidigungsanlagen zu erstürmen. Doch Maiden Castle und viele andere Hügelfestungen waren den Legionen nicht gewachsen und wurden innerhalb kurzer Zeit erstürmt und niedergerissen. Man fragt sich, warum die Durotriges weiter an den Schutz ihrer Festungen glaubten, obwohl diese schon systematisch von den Römern zerstört wurden. Ein Beispiel, wie man den Legionen wirksamer entgegentreten konnte, war ja vorhanden. Mit seiner Guerillataktik hatte Caratacus weit mehr Erfolg. Trotz des offensichtlichen Scheiterns verharrten die Durotriges in der Falle ihrer Festungen, als die Zweite Legion gegen sie losschlug. Vielleicht hielt der blinde Glaube an eine von ihren spirituellen Führern versprochene letztendliche Errettung sie dort fest.

Verglichen mit den umfangreichen Spuren und Aufzeichnungen der römischen Geschichte ist über die alten Briten und ihre Druiden wenig bekannt. Da es praktisch keine schriftlichen Zeugnisse gibt, stammt unser Wissen über diese Menschen aus Legenden, der archäologischen Forschung und den Aufzeichnungen von Anhängern des Kultes in schriftkundigeren Völkern. Aus allem lässt sich schließen, dass die Druiden große Achtung genossen und man ihnen mit beträchtlicher Ehrfurcht begegnete. Sie standen über den keltischen Königreichen und wurden oft um Rat gebeten oder bei Stammeskriegen als Schlichter aufgesucht. Die Druiden waren Hüter des kulturellen Erbes und überlieferten große Mengen an epischen Erzählungen, Folklore und rechtlichen Präzedenzfällen mündlich von einer Druidengeneration zur nächsten. Sie bildeten eine Art von kulturellem Bindemittel zwischen den streitlustigen kleinen Königreichen, die Europa früher einmal wie ein Flickenteppich überzogen. Da erstaunt es nicht, dass die Druiden in die Schusslinie der römischen Propaganda gerieten und ihr Kult energisch unterdrückt wurde, wann immer keltische Gebiete dem aufblühenden römischen Imperium angegliedert wurden.

Wenn wir einigen der alten Quellen Glauben schenken, könnten die Druiden aber auch eine dunklere Seite gehabt haben. Falls es Menschenopfer gab, dann im Rahmen einer Kultur, in der die Köpfe von Feinden mit großem Stolz gesammelt wurden; einer Kultur, die so schreckliche Folter-und Hinrichtungsmethoden entwickelt hatte, dass selbst die Römer, deren Vorliebe für das Gemetzel in der Arena gut dokumentiert ist, sich abgestoßen fühlten.

Angesichts ihrer geographischen Ausdehnung und ihrer kulturellen Eigenheiten waren die Druiden keine homogene Gesamtheit, sondern besaßen sicherlich ihre Splittergruppen, ganz ähnlich, wie unsere zeitgenössischen Religionsgemeinschaften von unterschiedlichen Interpretationen ihrer Glaubenssätze gespalten sind. Die Druiden des Dunklen Mondes sind fiktiv, stehen aber für den extremistischen Flügel, den es in jeder religiösen Bewegung gibt. Sie sind als ein Korrektiv jener naiven, nostalgischen Neuerfindung der Druidenkultur angelegt, die sich zu bestimmten Jahreszeiten im Umkreis von Stonehenge tummelt. Und während ich dieses Werk fertig stelle, erinnern uns die Druiden auch aus gegebenem Anlass daran, zu welchen Auswüchsen religiöser Fanatismus fähig ist.

 

Simon Scarrow

12. September 2001

1

Einen Moment lang erstarrten die gischtenden Wogen im Licht eines Blitzes. Rund um das Schiff war das Brodeln und Schäumen wie festgebannt, und die Schlagschatten der Matrosen und der Takelage fielen auf das grell erleuchtete Deck. Dann packte die Dunkelheit das Schiff erneut. Schwarze, tief hängende Wolken ballten sich über den grauen Wellen, die von Norden herangerollt kamen. Noch war die Nacht nicht hereingebrochen, doch der von Grauen erfüllten Mannschaft und den Passagieren kam es so vor, als hätte die Sonne sich schon längst von der Welt verabschiedet; nur ein winziger Fleck helleren Graus weit im Westen deutete ihre Bahn an. Der Geleitzug war in alle Winde zerstreut, und der Präfekt, der das neu in Dienst gestellte Triremengeschwader befehligte, fluchte wütend. Die Hand fest um ein Stag geklammert, beschirmte er mit der freien Hand die Augen vor der eiskalten Gischt und spähte über die brodelnden Wellenberge hinweg.

Lediglich zwei Schiffe seines Geschwaders waren noch zu erkennen. Ihre dunklen, schwankenden Silhouetten zeichneten sich ab, als sein Flaggschiff von einer großen Woge emporgehoben wurde. Diese beiden Schiffe trieben weit im Osten, und noch weiter östlich musste der Rest des Geleitzugs auf dem wütenden Meer verstreut sein. Vielleicht würden sie es noch in die Schiffsstraße schaffen, die landeinwärts nach Rutupiae führte. Für das Flaggschiff gab es jedoch keine Hoffnung mehr, noch das große Nachschublager zu erreichen, von dem aus die römische Armee mit allem Notwendigen beliefert wurde. Weiter landeinwärts rasteten die Legionen wohl geschützt in ihren Winterquartieren bei Camulodunum und warteten auf die Fortsetzung des Eroberungsfeldzugs. Trotz aller Anstrengungen der Ruderer wurde sein Schiff aber von Rutupiae weggefegt.

Als er so über die Wellen zum dunklen Saum der britischen Küste blickte, musste der Präfekt sich verbittert eingestehen, dass der Sturm ihn geschlagen hatte, und so erteilte er den Befehl, die Ruder einzuziehen. Während er über die verbliebenen Möglichkeiten nachdachte, setzte die Mannschaft eilig ein kleines Dreieckssegel am Bug, damit das Schiff stabiler im Wasser lag. Seit dem Beginn des Britannienfeldzugs im vergangenen Sommer hatte der Präfekt diesen Meeresteil schon hundertmal überquert, doch niemals unter so schrecklichen Bedingungen. Tatsächlich hatte er noch nie einen so schnellen Wetterumschwung erlebt. Noch am Morgen – inzwischen schien das eine Ewigkeit her – war der Himmel völlig klar gewesen, und ein frischer Südwind hatte eine schnelle Überfahrt von Gesoriacum versprochen. Normalerweise mied man die Seefahrt im Winter, doch General Plautius’ Armee gingen die Vorräte aus. Die Taktik der verbrannten Erde des britischen Befehlshabers Caratacus bedeutete für die Legionen, die die für die Fortsetzung des Feldzugs im Frühjahr benötigten Vorräte nicht allzu sehr angreifen wollten, dass sie nur durch den Winter kamen, wenn sie vom Festland aus ständig mit Getreide versorgt wurden. Daher waren die Geschwader weiter über den Ärmelkanal gependelt, wann immer das Wetter es zuließ. Die heimtückische Natur hatte ihn am Morgen mit wunderschönem Wetter dazu verlockt, seinen Frachtschiffen die Überfahrt nach Rutupiae zu befehlen, ohne ein derartiges Unwetter auch nur im Geringsten vorherzuahnen.

Gerade, als die zerklüftete Küstenlinie Britanniens über dem kabbeligen Wasser in Sicht gekommen war, hatte sich ein dunkles Wolkenband am nördlichen Horizont zusammengezogen. Der Wind war rasch stärker geworden, hatte dann plötzlich gedreht, und die Männer des Geschwaders hatten immer verängstigter die dunklen Wolken beobachtet, die sich wie wutschnaubende, gierige Bestien auf sie zu stürzen schienen. Erschreckend schnell war das Unwetter über ihnen gewesen und hatte die Trireme des Präfekten, die an der Spitze des Geleitzugs fuhr, gepackt. Im heulenden Sturm krängte das Schiff so heftig, dass die Matrosen von ihren Aufgaben ablassen und sich irgendwo festklammern mussten, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Als die Trireme sich schwerfällig wieder aufrichtete, warf der Präfekt einen Blick auf den Rest des Geleitzugs. Einige der Flachboden-Transportschiffe waren gekentert, und dicht bei den dunklen Rümpfen tanzten winzige Gestalten auf den schäumenden Wogen. Manche winkten verzweifelt, als dächten sie wirklich, ein anderes Schiff könnte sie jetzt noch retten. Der Geleitzug war inzwischen völlig aufgelöst, jedes Schiff kämpfte nur noch um sein eigenes Überleben, ohne sich um die Notlage der anderen kümmern zu können.

Mit dem Sturm kam auch der Regen. Große, eiskalte Tropfen peitschten schräg auf die Trireme nieder und stachen wie Nadeln auf der Haut. Angesichts der durchdringenden Kälte wurden die Matrosen rasch unbeholfener. In seinen wasserdichten Mantel gehüllt, erkannte der Präfekt, dass der Kapitän und seine Mannschaft mit Sicherheit die Kontrolle über das Schiff verlieren würden, wenn der Sturm nicht bald nachließ. Doch das Meer wütete weiter und trieb die Schiffe in alle Richtungen auseinander. Durch irgendeine Laune der Natur hatte der Sturm die drei Triremen an der Spitze des Geleitzugs mit besonderer Wucht getroffen, und bald waren sie weit von den anderen Schiffen abgetrieben – am weitesten die Trireme des Präfekten. So ging es den ganzen Nachmittag, und als die Nacht sich näherte, war noch immer kein Nachlassen zu spüren.

Sein Wissen über die britische Küste abwägend, ging der Präfekt die Möglichkeiten durch. Nach seiner Einschätzung waren sie schon weit von der Schifffahrtsstraße nach Rutupiae weggetragen worden. Steuerbord zeichneten sich ganz schwach die nackten Kreideklippen der Küstengegend um die Siedlung Dubris ab, und so würden sie dem Sturm ein paar Stunden widerstehen müssen, bevor sie die Landung auf einem sichereren Küstenstreifen wagen konnten.

Der Kapitän kam über das schwankende Deck auf ihn zugetaumelt und salutierte, die andere Hand fest um die Heckreling geklammert.

»Was ist denn?«, rief der Präfekt.

»Bilgewasser!«, rief der Kapitän, die Stimme heiser, nachdem er schon seit Stunden Befehle durch den heulenden Sturm gebrüllt hatte. Er stieß mit dem Zeigefinger nach unten, um seine Worte zu unterstreichen. »Wir laufen voll!«

»Können wir es ausschöpfen?«

Der Kapitän legte lauschend den Kopf schräg.

Der Präfekt holte tief Luft, legte die Hand an den Mund und schrie: »Können wir es ausschöpfen?«

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

»Und jetzt?«

»Wir müssen vor dem Sturm herlaufen! Sonst gehen wir unter. Und dann müssen wir eine sichere Landestelle finden! «

Mit einem übertriebenen Nicken machte der Präfekt deutlich, dass er verstanden hatte. Na schön. Sie würden eine geeignete Stelle finden müssen, um das Schiff auf den Strand zu setzen. Etwa dreißig oder vierzig Meilen weiter westlich gingen die Klippen in Kiesstrände über. Wenn die Brandung nicht allzu heftig war, konnte man dort eine Landung versuchen. Zwar mochte die Trireme dadurch ernsthaft beschädigt werden, aber es wäre schlimmer, außer dem Schiff auch noch Mannschaft und Passagiere zu verlieren. Dabei dachte der Präfekt an die Frau und ihre kleinen Kinder, die sich unten im Bauch des Schiffes verkrochen hatten. Sie waren ihm anvertraut worden, deshalb hatte er alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sie zu retten.

»Erteile den Befehl, Kapitän! Ich gehe unter Deck.«

»Jawohl.« Der Kapitän salutierte und kehrte zum Mittelschiff zurück, wo die Matrosen am Fuß des Masts kauerten. Der Präfekt beobachtete noch, wie der Kapitän seine Befehle brüllte und auf das eingeholte Rahsegel oben am Mast zeigte. Keiner rührte sich. Der Kapitän brüllte den Befehl erneut und trat dann böse nach dem erstbesten Matrosen. Der Mann kauerte sich noch mehr zusammen, kassierte aber sofort den nächsten Tritt. Da sprang er in die Takelage und kletterte nach oben. Die anderen folgten ihm, kletterten, an das Stag geklammert, die schwankenden Webeleinen empor und erklommen schließlich die Rah. Barfuß suchten sie mit den eiskalten Zehen Halt und schoben sich Stückchen um Stückchen auf die Rah hinaus. Erst als jeder Mann an seinem Platz war, konnten sie die Knoten lösen und das Segel in seiner am stärksten gerefften Stellung setzen. Diese geringe Segelfläche reichte aus, um das Schiff beim Abwettern des Sturms zu steuern. Bei jedem Blitz zeichneten sich Mast, Rah und Männer einen Moment lang als scharf gezeichnete, schwarze Silhouetten vor dem blendend hellen Himmel ab. Dem Präfekten fiel auf, dass die Regentropfen bei jedem Blitzschlag einen Moment lang mitten im Fall zu erstarren schienen. Trotz seines Entsetzens empfand er angesichts dieser Ehrfurcht erregenden Demonstration von Neptuns Macht auch eine begeisterte Erregung.

Endlich waren alle Männer in Position. Der Kapitän stellte sich mit seinen kräftigen Beinen breitbeinig aufs Deck, legte beide Hände trichterförmig an den Mund und blickte zum Mast empor.

»Bänder lösen.«

Die halb erstarrten Finger machten sich verzweifelt an den Lederbändern zu schaffen. Einige Matrosen waren geschickter, und so entfaltete sich das Segel ungleichmäßig schnell. Ein plötzliches Pfeifen in der Takelage kündigte ein erneutes Anschwellen des Sturms an, und die Trireme erbebte unter dem wütenden Angriff. Ein Matrose, der noch geschwächter war als seine Kameraden, verlor den Halt und wurde so schnell in die Dunkelheit hinausgeschleudert, dass keiner seinen Sturz verfolgen konnte. Doch die Matrosen hielten nicht in ihren Bemühungen inne. Der Wind zerrte an der freiliegenden Segelfläche und hätte sie den Matrosen fast aus den Händen gerissen, ehe es ihnen gelang, die Reffleinen festzuzurren. Sobald das Segel gesetzt war, rutschten die Männer wieder von der Rah herunter und arbeiteten sich vorsichtig aufs Deck zurück, Kälte und Erschöpfung tief in die besorgten Gesichter gegraben.

Der Präfekt arbeitete sich zur Luke im Heck des Schiffs zurück und ließ sich vorsichtig in den stockdunklen Schiffsbauch hinunter. Nach dem Geheul des Sturms und dem Geprassel des Regens wirkte es in der kleinen Kajüte unnatürlich ruhig. Ein Wimmern zog ihn zum Heck, wo die Spanten zusammenliefen, und im Schein eines durch die Luken eindringenden Blitzes sah er die Frau, die sich dort hinten eingekeilt hatte, beide Arme eng um die Schultern zweier Kinder geschlungen. Zitternd hielten sie ihre Mutter umklammert, und das jüngere, ein fünfjähriger Junge, weinte unaufhörlich, das Gesicht von Gischt, Tränen und Rotz verschmiert. Seine drei Jahre ältere Schwester saß einfach nur da, schweigend, doch die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Plötzlich wurde der Bug der Trireme von einer riesigen Welle hochgerissen, und der Präfekt stürzte auf seine Passagiere zu. Er fing sich mit einem Arm am Schiffsrumpf ab und stürzte der Länge nach hin. Einen Moment lang rang er nach Atem, und in dieser Pause kam die Stimme der Frau ruhig aus dem Dunkeln.

»Wir kommen hier doch durch, oder?«

Ein weiterer Blitz ließ das Entsetzen in den bleichen Gesichtern der Kinder erkennen.

Der Präfekt beschloss, ihr zu verschweigen, dass er die Trireme auf den Strand setzen wollte. Besser, er ersparte den Passagieren alle zusätzlichen Aufregungen.

»Natürlich, Herrin. Wir laufen vor dem Sturm her und sobald er vorüber ist, segeln wir wieder die Küste entlang nach Rutupiae zurück.«

»Ich verstehe«, antwortete die Frau schlicht, und der Präfekt erkannte, dass sie seine Antwort durchschaut hatte. Sie war offensichtlich scharfsinnig und machte ihrer edlen Abstammung und ihrem Mann alle Ehre. Beruhigend drückte sie die Kinder an sich.

»Habt ihr das gehört, ihr beiden? Bald sind wir wieder im Trockenen und haben es warm.«

Dem Präfekten fiel ein, wie sehr die Kinder gezittert hatten, und er verfluchte seine Achtlosigkeit.

»Einen Moment, Herrin.« Mit seinen eiskalten Fingern hantierte er an der Schließe seines wasserdichten Umhangs. Er verfluchte seine Ungeschicklichkeit, doch dann bekam er die Schließe auf. Er nahm den Umhang von den Schultern und reichte ihn ihr in die Dunkelheit hinein.

»Hier, für dich und deine Kinder, Herrin.«

Er spürte, wie sie ihm den Umhang aus der Hand nahm.

»Danke, Präfekt, das ist sehr freundlich. Kommt, ihr beiden, unter diesem Mantel können wir uns zusammenkuscheln. «

Der Präfekt zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen, um einen Rest von Wärme zu bewahren, doch da berührte ihn sanft eine Hand an der Schulter.

»Herrin?«

»Du bist Valerius Maxentius, nicht wahr?«

»Ja, Herrin.«

»Nun denn, Valerius. Schlüpfe mit uns unter diesen Umhang. Bevor die Kälte dich noch umbringt.«

Der beiläufige Gebrauch seines persönlichen Namens verwirrte den Präfekten einen Moment lang. Dann murmelte er einen Dank und nahm ihr Angebot an. Der Junge hockte zusammengekauert zwischen ihnen, heftig zitternd, und immer wieder wurde sein Körper von Schluchzern geschüttelt.

»Nur ruhig«, tröstete der Präfekt ihn leise. »Alles wird gut. Du wirst schon sehen.«

Eine Folge von Blitzen erhellte die Kajüte, und der Präfekt und die Frau sahen einander an. Ihr Blick war fragend, und er schüttelte den Kopf. Wieder schwappte ein Schwall Wasser durch die Luke in die Kajüte. Die Spanten der Trireme ächzten unter der Wucht von Kräften, an die die Erbauer des Schiffs wohl nicht einmal im Traum gedacht hatten. Der Präfekt wusste, dass der Schiffskörper einer solchen Gewalt nicht mehr lange standhalten konnte und das Schiff schließlich im Meer versinken würde. Dann würden die an die Ruder geketteten Sklaven, die Matrosen, die Passagiere und er selbst ertrinken. Bevor er sich auf die Lippen beißen konnte, war ihm ein Fluch entschlüpft. Die Frau erriet, wie er sich fühlte.

»Valerius, dich trifft keine Schuld. Diese Entwicklung war unvorhersehbar.«

»Ich weiß, Herrin, ich weiß.«

»Vielleicht werden wir ja noch gerettet.«

»Ja, Herrin. Wenn du es sagst.«

 

Die ganze Nacht jagte der Sturm die Trireme die Küste entlang. Der Kapitän war in die Takelage geklettert und trotzte der beißenden Kälte, um nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Er merkte deutlich, dass das Schiff sich immer schwerfälliger durch die Wellen bewegte. Unter Deck war ein Teil der Galeerensklaven von den Ketten befreit worden, um beim Ausschöpfen zu helfen. Sie saßen in einer Reihe da und reichten die Schöpfeimer weiter, die dann über Bord geleert wurden. Doch dadurch war das Schiff nicht mehr zu retten; es verzögerte nur den unvermeidlichen Moment, an dem eine besonders mächtige Woge über die Trireme hereinbrechen und sie versenken würde.

Der Kapitän hörte das verzweifelte Geschrei der noch immer an den Ruderbänken festgeketteten Sklaven. Das Wasser schwappte ihnen schon bis über die Knie, und für sie gab es bei einem Schiffbruch keinerlei Hoffnung auf Entrinnen. Andere mochten vielleicht an Planken geklammert eine Weile überleben, bis die Kälte ihnen den Rest gab, doch den Sklaven drohte das sichere Ertrinken, und der Kapitän verstand ihre Hysterie nur zu gut.

Der Regen ging in Schneeregen und dann in Schnee über. Dicke weiße Flocken stoben durch die Luft und sammelten sich auf der Tunika des Kapitäns. Seine Hände waren inzwischen vollkommen taub, und er sah ein, dass er zum Deck hinuntersteigen musste, solange er sich noch an der Takelage festhalten konnte. Doch gerade, als er die erste Bewegung machte, erblickte er plötzlich den drohenden Umriss einer felsigen Landzunge. Kaum eine halbe Meile voraus brach sich weiße Gischt an zerklüfteten Klippen.

Der Kapitän schwang sich hastig aufs Deck hinunter und eilte nach achtern zum Steuermann.

»Felsen voraus! Hart nach Backbord!«

Der Kapitän warf sich gegen die Ruderpinne und kämpfte gemeinsam mit dem Steuermann gegen die Wellen an, die auf das große Seitenruder drückten. Ganz langsam reagierte das Schiff, und der Bug schwenkte allmählich vom Festland weg. Im grellen Licht eines Blitzes erkannten sie die dunkel glitzernden Zähne der Felsen, die aus dem brodelnden Wasser aufstiegen. Das Tosen der Brandung übertönte sogar noch den heulenden Sturm. Einen Moment lang verweigerte das Schiff ein weiteres Abdrehen zum offenen Meer, und das Herz des Kapitäns füllte sich mit einer dunklen, kalten Verzweiflung. Dann aber trug ein günstiger Windstoß den Bug herum, weg von den Klippen, die nun kaum noch dreißig Meter vom Schiff entfernt lagen.

»Das war’s! Jetzt halt die Richtung!«, schrie er dem Steuermann zu.

Unter der Wucht des Sturms, der die winzige Segelfläche zu zerreißen drohte, schoss die Trireme über das aufgewühlte Meer hinweg. Jenseits der Landzunge öffneten sich die Klippen auf einen Kiesstrand, hinter dem das mit vereinzelten Krüppelbäumchen bewachsene Festland allmählich anstieg. Die Wogen donnerten weiße Gischt versprühend gegen den Strand.

»Dort!« Der Kapitän zeigte auf den Strand. »Dort werden wir landen.«

»Bei dieser Brandung?«, rief der Steuermann. »Das ist Wahnsinn!«

»Es ist unsere einzige Möglichkeit! Und jetzt gemeinsam, ans Steuer!«

Mit aller Macht drückten sie das Ruder in Gegenrichtung und brachten die Trireme dazu, zum Ufer zu schwenken. Zum ersten Mal in dieser Nacht gestattete der Kapitän sich die Hoffnung, dass sie dem Unwetter doch noch lebend entkommen würden. Bei dem Gedanken, dass sie dem schlimmsten Zorn widerstanden hatten, den der mächtige Neptun denen entgegenschleudern konnte, die sich in sein Reich wagten, lachte er triumphierend auf. Doch als sie fast in Reichweite des sicheren Ufers waren, bekam das Meer doch noch seinen Willen. Ein großer Brecher wogte aus den dunklen Tiefen des Meers heran und trug die Trireme hoch und immer höher, bis der Kapitän von oben auf den Strand hinunterblickte. Dann glitt die Woge unter ihnen davon, und das Schiff fiel wie ein Stein. So heftig, dass alle an Bord zu Boden stürzten, krachte das Schiff mit einem lauten Knirschen in einiger Entfernung von der Landzunge auf ein zerklüftetes Felsstück nieder, das den Bug durchbohrte. Der Kapitän sprang rasch wieder auf, doch daran, wie ruhig das Deck unter seinen Füßen lag, erkannte er, dass sie nicht mehr schwammen.

Der nächste Brecher drehte die Trireme halb herum, sodass nun das Heck zum Strand zeigte. Ein Reißen und Krachen vom Bug her ließ keinen Zweifel, welcher Schaden entstand. Von unten drang das Schreien und Kreischen der Sklaven herauf, während von allen Seiten wasserfallartige Fluten über die Trireme hereinbrachen. Der Rumpf würde tiefer absacken, und die nächsten Wogen würden das Schiff und alle an Bord gegen die Klippen schleudern und zerschmettern.

»Was ist passiert?«

Der Kapitän drehte sich um und sah den Präfekten Maxentius aus der Luke steigen. Die dunkle Landmasse in der Nähe und das schwarze Glitzern der gischtnassen Klippen waren Erklärung genug. Der Präfekt rief seiner Schutzbefohlenen durch die Luke zu, sie solle die Kinder an Deck bringen. Dann wandte er sich wieder dem Kapitän zu.

»Wir müssen sie von Bord schaffen! Sie müssen das Land erreichen!«

Während die Frau und ihre Kinder sich an der Heckreling niederkauerten, banden Valerius Maxentius und der Kapitän eiligst mehrere aufgeblasene Weinschläuche zusammen. Rundum griffen die Matrosen nach allem, was sich an Schwimmfähigem auftreiben ließ. Das Schreien unter Deck schwoll zu Grauen erregendem Gebrüll an, als die Trireme noch tiefer ins dunkle Meer sackte. Plötzlich jedoch verstummten die Schreie. Ein Matrose rief etwas und zeigte auf die Luke des Hauptdecks. Meerwasser schimmerte heraus. Nun verhinderte nur noch der Fels, auf dem der Bug festsaß, dass das Schiff unterging. Eine einzige Woge genügte, und es war um sie geschehen.

»Hierher!«, schrie Maxentius der Frau und ihren Kindern zu. »Schnell!«

Während die Brecher über dem Deck zusammenschlugen, banden der Präfekt und der Kapitän die Passagiere an den Weinschläuchen fest. Doch der Junge wollte sich das Seil nicht um die Taille binden lassen und leistete panischen Widerstand

»Schluss!« Seine Mutter gab ihm eine Ohrfeige. »Halt still.«

Der Präfekt nickte ihr dankend zu und band den Jungen auf dem improvisierten Floß fest.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Wartet beim Heck. Wenn ich es euch sage, springt. Danach schwimmt mit aller Kraft zum Strand.«

Die Frau stockte und sah die beiden Männer an. »Und ihr?«

»Wir folgen so bald wie möglich.« Der Präfekt lächelte. »Und jetzt, werte Herrin. Wenn du gestattest?«

Sie ließ sich zur Heckreling führen, überkletterte sie vorsichtig, hielt ihre Kinder an sich gepresst und bereitete sich auf den Sprung vor.

»Mama! Nein!«, schrie der Junge und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das wilde Meer zu seinen Füßen. »Bitte, Mama!«

»Aelius, alles wird gut. Das schwöre ich dir!«

»Herr!«, schrie der Kapitän. »Dort! Schau dort!«

Der Präfekt drehte sich um und erblickte durch Schnee und Sturm eine riesige Woge, die, weiße Gischtfetzen versprühend, auf sie niederstürzte. Die Matrosen auf dem Hauptdeck wurden davongerissen. Als Maxentius sich rückwärts vom Heck warf, erhaschte er einen letzten Blick auf den Kapitän, der sich am Gitter der Hauptluke festklammerte, die Augen auf das Verhängnis geheftet, das ihn gleich erfassen würde. Eiskalte Dunkelheit schlug über dem Präfekten zusammen, und noch bevor er den Mund schließen konnte, drang ihm Salzwasser in Nase und Kehle. Er wurde wild herumgewirbelt, und seine Lunge brannte vor Atemnot. Gerade, als er schon den sicheren Tod erwartete, hörte er plötzlich das Getöse des Sturms. Dann war es einen Moment lang still, doch schon im nächsten Augenblick brach sein Kopf zur Oberfläche durch. Nach Luft schnappend und strampelnd bemühte der Präfekt sich, nicht erneut unterzugehen. Eine Woge trug ihn hoch, und nicht allzu weit entfernt erblickte er den Strand. Weder von der Trireme noch von der Mannschaft war etwas zu sehen. Die Frau und ihre Kinder waren ebenfalls nirgends zu entdecken. Die Wellen warfen ihn dichter an die Klippen heran, und angesichts der Gefahr, dort zerschmettert zu werden, verstärkte der Präfekt seine Bemühungen, zum Strand zu schwimmen.

Mehrmals rechnete er fest damit, dass die Klippen sein Leben einfordern würden. Doch während er mit seinen immer matteren Kräften dem Strand entgegenstrebte, beschützte die Landzunge ihn zunehmend vor den wildesten Wogen. Völlig erschöpft und verzweifelt spürte er schließlich, wie seine Füße den Kies berührten. Dann zerrte ihn jedoch die Rückströmung wieder vom Strand weg, und er schrie den Göttern seinen Zorn entgegen, dass sie ihm in diesem letzten Moment die Rettung verweigerten. Fest entschlossen, nicht zu sterben, noch nicht, biss er die Zähne zusammen und versuchte mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung, den Strand zu erreichen. Von einer weiteren Woge wurde er schmerzhaft über den Kies geschleift, kämpfte aber mit aller Kraft gegen den Sog an, als die Welle zurückwich. Bevor der nächste Brecher auf den Strand niederkrachte, hastete Maxentius den steilen Kiesstrand hinauf und warf sich völlig erschöpft zu Boden.

Rundum wütete der Sturm, neue Schneeschauer wirbelten durch die Luft. Erst jetzt, an Land und in Sicherheit, merkte der Präfekt, dass er eiskalt war. Heftig zitternd versuchte er, genug Energie zu sammeln, um sich aufzurichten. Doch bevor ihm das gelang, hörte er plötzlich den Kies knirschen, und jemand setzte sich neben ihn.

»Valerius Maxentius! Alles in Ordnung mit dir?«

Mit erstaunlicher Kraft hob die Frau ihn an und drehte ihn auf die Seite. Er nickte.

»Dann komm«, befahl sie. »Bevor du erfrierst.«

Sie legte sich einen seiner Arme über die Schulter und stützte ihn auf dem Weg den Strand hinauf zu einem schmalen Taleinschnitt, der mit krüppligen Bäumchen bewachsen war. Dort hockten die beiden Kinder im Schutz eines umgestürzten Baumstamms unter dem völlig durchweichten Mantel des Präfekten.

»Unter den Mantel. Alle.«

Zu viert kauerten sie sich, heftig zitternd, so dicht wie nur möglich unter dem feuchten Stoff zusammen, während der Sturm weiter wütete und der Schnee sich auf ihnen sammelte. Als er die Landzunge entlangblickte, konnte Maxentius keinerlei Anzeichen der Trireme erkennen. Es war, als hätte sein Flaggschiff niemals existiert, so vollständig war es vernichtet worden. Andere Überlebende gab es anscheinend nicht. Keinen einzigen.

Plötzlich hörte er trotz des Sturmgeheuls den Kies knirschen. Einen Moment lang hielt er es nur für Einbildung. Doch dann erklang das Geräusch erneut, und diesmal hätte er schwören können, auch Stimmen zu hören.

»Es gibt doch noch Überlebende!« Er lächelte die Frau an und erhob sich auf die Knie. »Hierher! Hierher!«, rief er.

Eine dunkle Gestalt tauchte am Eingang des Taleinschnitts auf. Dann noch eine.

»Hier!« Der Präfekt winkte. »Hierher!«

Die Gestalten verharrten einen Moment lang, dann rief einer von ihnen etwas, doch seine Worte waren bei dem Sturm nicht zu verstehen. Er hob einen Speer und machte anderen, die nicht zu sehen waren, ein Zeichen.

»Valerius, sei still«, befahl die Frau.

Doch es war bereits zu spät. Man hatte sie gesehen, und noch mehr Männer traten zu den ersten beiden. Vorsichtig näherten sie sich den zitternden Römern. In dem unheimlichen Dämmerlicht, das der Schnee auf dem Boden verbreitete, wurden ihre Gesichter beim Näherkommen allmählich kenntlich.

»Mama«, flüsterte das Mädchen. »Wer ist das?«

»Still, Julia!«

Als die Männer nur noch ein paar Schritte entfernt waren, wurde der Himmel von einem fernen Blitz erhellt. In seinem bleichen Schimmer waren die Männer einen Moment lang zu erkennen. Über den grob geschnittenen Pelzmänteln schwankte zu wilden Stacheln gedrehtes Haar in der Luft. Darunter glühten grimmige Augen aus tätowierten Gesichtern. Einen Moment lang verharrten beide Seiten schweigend. Dann aber ertrug der kleine Junge es nicht länger, und ein schriller Schrei blinder Panik durchschnitt die Luft.