Das Buch
Adrana und Arafura Ness haben ihr ganzes Leben auf dem Planeten Mazarile verbracht – bis zu dem Tag, an dem ihr Vater bei einem riskanten Geschäft das gesamte Vermögen der Familie verspekuliert. Die beiden Schwestern sehen nur eine Möglichkeit, die Schulden des Vaters zu begleichen, und heuern auf der Monettas Weh an, dem Raumschiff des berühmt-berüchtigten Captain Rackamore. Gemeinsam mit seiner Crew findet Rackamore die kleinsten Welten und die entlegensten Planeten und mit ihnen Schätze von unvorstellbarem Wert: antike Artefakte und verloren geglaubte Technologien. Aber Rackamore hat sich im Laufe der Zeit mächtige Feinde gemacht, die im Dunkel des Weltalls auf die Crew der Monettas Weh lauern, und plötzlich wird die harmlose Expedition, zu der Adrana und Arafura aufgebrochen sind, zu einer atemlosen Verfolgungsjagd zwischen den Sternen …
Der Autor
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete viele Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrtagentur ESA, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Von Alastair Reynolds sind im Heyne-Verlag erschienen: Unendlichkeit, Himmelsturz, Aurora, die Poseidons Kinder-Trilogie sowie der Roman Die Medusa-Chroniken, den er gemeinsam mit Stephen Baxter geschrieben hat.
Mehr über Alastair Reynolds und seine Romane erfahren Sie auf:
Alastair Reynolds
Rache
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Irene Holicki
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe
REVENGER
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Deutsche Erstausgabe 02/2018
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2016 by Dendrocopos Limited
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-21472-2
V001
www.diezukunft.de
Erster Teil
RACKAMORE
1
Adrana hatte Doktor Morcenx immer gehasst. Er war schon vor unserer Geburt unser Hausarzt gewesen, seit unsere Eltern auf Mazarile gelandet waren. Er war da gewesen, als Adrana und ich heranwuchsen, und er war da gewesen, als die Seuche unsere Mutter dahinraffte. Die Seuche war der Grund, warum mein Vater etwas gegen Männer wie Kapitän Rackamore hatte, er fand nämlich, sie hantierten mit Dingen, die besser weggesperrt bleiben sollten, aber soweit ich weiß, wurde nie bewiesen, dass die Seuche aus einer Blase kam.
Das alles hielt ihn nicht davon ab, sich eine unüberlegte Investition in genau die Art von Geschäften aufschwatzen zu lassen, die er missbilligte.
So war er eben: wider besseres Wissen leicht zu überreden. Und am Abend eines Formungstags im Frühling 1799 in der Halle der Geschichte war das Desaster perfekt. Vater war hingegangen, um zu erfahren, was ihm seine Anlage eingebracht hatte, und weil er vor all den betuchten Bonzen in der Handelskammer von Mazarile Eindruck machen wollte, hatte er uns beide mitgenommen. Wir sollten uns von unserer besten Seite zeigen. Zwei wohlerzogene, gesittete junge Damen.
Adrana wollte das Theater nicht mitmachen.
»Doktor Morcenx«, rief Vater, als er den Hausarzt ein paar Tische weiter bemerkte. »Setzen Sie sich doch zu uns. Sie haben Adrana und Arafura schon so lange nicht mehr gesehen. Sind sie nicht groß geworden?«
Doktor Morcenx hinkte zu uns herüber. Er hatte eine Figur wie ein Pfefferstreuer und trug stets viel zu viele Schichten schwarzer Kleidung übereinander. »Es ist mir immer ein Vergnügen, Mr. Ness«, säuselte er mit seiner rauen Stimme und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Dann fing er an zu summen. Doktor Morcenx summte immer irgendein Liedchen, als wollte er die eigenen Gedanken ausblenden, so wie manchmal ein Schädel ein Signal von einem anderen überlagert. »Sie können sehr stolz auf Ihre Töchter sein«, schmeichelte er in einem Ton, der vor Schleim nur so triefte. »Sie sind Ihnen sicher ein großer Trost, nachdem Kapitän Lars Expedition eine solche Enttäuschung war. Hoffentlich hatten Sie nicht zu viel investiert?«
»Es wird uns nicht umbringen.« Vater machte gute Miene zum bösen Spiel.
»Sie lassen sich nicht unterkriegen, Mr. Ness, und das gereicht Ihnen ebenso zur Ehre wie Ihre Töchter. Zwei prächtige junge Mädchen. Mit großer Freude habe ich sie durch ihre Entwicklung begleitet.« Er begann wieder zu summen und kramte mit seinen fetten Stummelfingern in seiner Tasche. »Möchtet ihr ein …«
»Für Ihre Bonbons sind wir inzwischen doch zu alt«, sagte Adrana. »Ich bin achtzehn, und bei Fura dauert es nicht mehr lange.«
»Schon gut«, sagte ich und sträubte mich nicht, als der Doktor die Tüte mit den Süßigkeiten herauszog und mir ein Ingwerbonbon in die Hand drückte.
»Ich wollte Sie immer wieder einmal besuchen«, wandte sich Doktor Morcenx an unseren Vater. »Um etwas mit Ihnen zu besprechen, das von Interesse sein könnte … besonders, was Arafura angeht. Die Kinderjahre sind so kostbar …«
»Sie ist kein Kind mehr«, unterbrach ihn Adrana. »Und ich weiß genau, was Sie im Sinn haben. Es geht um das Medikament, nicht wahr? Mit dem man die Entwicklung verzögern kann. Aber das können Sie sich …«
»Nicht in diesem Ton«, fiel ihr Vater ins Wort. »Der Doktor hat dich und Fura in all den Jahren sehr gut betreut.«
»Ach ja«, spottete Adrana. »Und es ist ganz normal, dass er sich andauernd in unserem Haus herumdrückt, als ob er hier wohnt. Damit ist jetzt Schluss, Doktor Mondgesicht.« Sie konnte das Wort so beiläufig einfließen lassen, dass es einem kaum auffiel, so als wäre es wirklich sein Name. »Ich bin alt genug, um Bescheid zu wissen, und bei Fura wird es bald so weit sein.«
»Du entschuldigst dich auf der Stelle«, befahl Vater.
»Ich denke nicht daran«, gab Adrana zurück. »Du kannst mich nicht zwingen, und du kannst mich auch nicht zwingen, diesen blöden Abend mit dem blöden Kapitän und all deinen blöden Freunden zu genießen und so zu tun, als hätten sie nicht gerade alle ihr halbes Vermögen verschleudert.«
»Ich kann dich aber von Paladin nach Hause bringen lassen«, drohte Vater.
Unser alter roter Roboter drehte seinen kugelförmigen Glaskopf hin und her und versuchte, dem Gespräch zu folgen. Im Innern der Kugel gingen Lichter an und aus. Paladin wurde oft konfus, wenn sein Name erwähnt wurde, ohne dass er einen einfachen, direkten Befehl erhielt.
»Ich melde mich«, versprach Doktor Morcenx und steckte seine Bonbons wieder ein.
»Ich bitte um Verzeihung für die Ungezogenheit meiner Tochter«, sagte Vater.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Ness. Die emotionale Labilität junger Menschen ist mir nicht neu.«
Er wandte sich ab und watschelte zu seinem Tisch zurück. Wir sahen ihm nach. Im Nacken hatte er einen Fettwulst, der aussah wie ein aufgeblasener Schlauch. Und er summte immer noch vor sich hin.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte Vater. »Ich habe mich noch nie so …«
»Geschämt?«, vollendete Adrana. »Weißt du, was wirklich beschämend ist? Eine Ness zu sein. Sich an die besseren Kreise von Mazarile ranzuschmeißen und so zu tun, als wären wir mehr, als wir wirklich sind.«
Ich war fast froh, als ein Betrunkener im Publikum zu randalieren anfing. Oben auf dem Podium redete Kapitän Malang Lar einfach weiter. Dann stand jemand von der Handelskammer auf und wollte den Betrunkenen niederbrüllen, doch da war es schon zu spät. Gendarmen in Pagenkappen und mit blitzenden blauen Schulterstücken stürmten von hinten durch die Zuhörer und versuchten den Betrunkenen gewaltsam abzuführen. Doch der gab sich nicht geschlagen, er attackierte die Ordnungshüter, taumelte gegen einen Tisch und stieß ihn um.
Paladin drehte sich um. »Störung erkannt«, sagte er immer wieder. »Störung erkannt.«
Vater krempelte die Ärmel hoch. »Ich sollte wohl …«, begann er und suchte mit großer Geste den Eindruck zu vermitteln, er gedenke sich einzumischen. Dabei fühlte er sich hinter seinem Schreibtisch viel wohler als bei einem Handgemenge mit Betrunkenen.
Nun fiel uns beiden auf, dass Adrana sich vom Tisch weggeschlichen hatte.
Vater wandte sich an Paladin und fauchte: »Geh sie suchen!«
Der Roboter drehte den Kopf, rollte vom Tisch weg und bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Jemand versetzte ihm einen Tritt, nur weil es ihm Spaß machte, eine empfindungsfähige Maschine zu treten. Paladin war dergleichen gewohnt. Er wackelte zwar heftig, konnte sich aber aufrecht halten.
»Er hätte besser auf sie aufpassen müssen«, knirschte Vater wütend und zog seine Ärmel wieder herunter.
»Paladin kann nichts dafür«, protestierte ich. »Er ist eben ein alter Roboter, und er tut sein Bestes. Hör zu, ich sehe mal, ob ich sie finde. Man wollte die Leute nur durch den Nordeingang einlassen, nicht wahr?«
»Nein.« Vater wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Man hat beide Eingänge geöffnet, und du kannst davon ausgehen, dass deine Schwester einen davon ansteuert.«
Paladin suchte immer noch den Raum ab, seine Kopfkugel drehte sich, und die Lichter unter dem Glas blinkten hektisch.
»Schön«, sagte ich zu ihm. »Du gehst zurück zur Garderobe, wo wir reingekommen sind. Ich gehe zum Südeingang.«
»Kann ich mich darauf verlassen, dass du zurückkommst?«, fragte Vater.
»Natürlich.«
Ich hatte es tatsächlich vor. Es lag nicht in meiner Absicht, ungehorsam zu sein. Ich wollte, dass wir alle wieder in die Tram stiegen und über die Jauncery-Promenade nach Hause fuhren, weg von dem chaotischen Trinkgelage, das als gesellschaftliches Ereignis begonnen hatte. Ich wollte zurück in mein Zimmer im dritten Stock neben dem Wohnzimmer, wo sich all unsere Bücher, Landkarten und Spiele befanden.
»Beeil dich«, drängte Vater.
Ich stand auf, machte einen Bogen um das Handgemenge – das sich inzwischen beruhigte, weil weitere Gendarmen eintrafen – und wollte mich auf den Weg durch die Halle der Geschichte machen.
Eine feuchtkalte Hand schloss sich um meinen Arm.
»Deine Schwester hat einen schlechten Einfluss auf dich. Je früher sie aus deinem Leben verschwindet, desto besser. Wollen wir gemeinsam nach ihr suchen?«
»Ich komme schon klar, Doktor«, sagte ich und entschlüpfte ihm, als wären seine Finger mit Schleim überzogen. »Behalten Sie diesen Raum im Auge. Der Roboter versucht sie zu finden, aber er hat kein sehr leistungsfähiges Bildverarbeitungssystem.«
»Du bist ein braves Mädchen, Arafura. Wenigstens eine von euch ist wohlgeraten und macht dem Andenken eurer Mutter Ehre.«
»Danke, Doktor Mond … Morcenx.« Die Beleidigung war mir versehentlich herausgerutscht, fast, als wäre Adrana in mich hineingefahren, um mich aufzuhetzen. Ich lächelte verlegen und ließ ihn stehen. Ich wusste ja, dass er mich mit seinem Hinkefuß niemals einholen konnte. Adrana und ich trugen zwar unsere besten Kleider und Schuhe, aber wenn wir den Rock hochrafften, konnten wir notfalls auch rennen.
Die Halle war sehr viel länger als breit. Das musste so sein, denn sie hatte eine ganze Menge Geschichte zu fassen. Früher, bevor ich wusste, worum es eigentlich ging, hatte mir die Halle der Geschichte einfach deshalb gefallen, weil sie mit der langen schwarzen Längswand und den senkrechten bunten Streifen, die wie Zaunpfosten in unregelmäßigen Abständen daran aufleuchteten, so hübsch aussah. Die kräftigen Farben und die Schrift darin konnten einen schon beeindrucken. Damals konzentrierte ich mich nur auf das, was bekannt war.
Erst Jahre später machte ich mir Gedanken über die schwarzen Abstände zwischen den Streifen und ihre Bedeutung.
Bald hatte ich den Südeingang erreicht. Die Tür stand offen, und von draußen drang die warme Abendluft herein. Gendarmen versuchten, für Ordnung zu sorgen und zu verhindern, dass die Leute von draußen wieder hereindrängten. Ein Mann beharrte darauf, er müsse in die Garderobe zurück, wo ihn seine Frau erwartete, und als ihm die Gendarmen befahlen, um das Gebäude herum zum Vordereingang zu gehen, war ihm das zu mühsam. Ein Streit drohte.
Jemand fasste nach meiner Hand.
Ich zog sie weg, weil ich befürchtete, es wäre wieder Doktor Morcenx. Aber es war Adrana.
»Gut«, sagte sie. »Jetzt können wir uns amüsieren.«
Sie wollte mich zur Tür ziehen. »Ich soll dich zu Vater zurückbringen«, sagte ich.
»Ach komm schon, Fura«, sagte sie und sah mich mit großen Augen erwartungsvoll an. Ich wusste zwar, dass sie ein Glas Wein getrunken hatte, als wir kamen, aber ihre Augen waren weder trüb noch gerötet. »Wir sind nur einen Steinwurf von der Neurogasse entfernt. Ich habe ein paar Quorins. Lass uns endlich ein wenig leben.«
»Die Neurogasse interessiert mich nicht.«
»Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie dort.«
»Und du schon?«
Doch da waren wir bereits durch die Tür und standen im Freien unter dem Abendhimmel. Durch den Südeingang würden uns die Gendarmen auf keinen Fall mehr hineinlassen. Als ich zurückschaute, sah ich gerade noch, wie Paladin sich auf der Suche nach uns allmählich zu der offenen Tür vorarbeitete.
»Na los«, sagte Adrana. »Niemand wird dir einen Vorwurf machen. Schließlich bin ich immer diejenige, die als schlechtes Beispiel dient.«
Wir stiegen die Treppe am Eingang hinunter, gingen auf dem von Laternen beleuchteten Weg durch den Museumspark und überquerten dann die Tramschienen an der Jauncery-Promenade. Vor uns ragte ein Neonportal auf, das Drachentor, dahinter schlängelte sich die Neurogasse in vielen Windungen, etwa in Richtung des Raumhafens von Hadramaw nach Süden. Ich blieb stehen und staunte das Drachentor an, wie ich es auch bei allen Flimmerkästen und Bildschirmen auf öffentlichen Plätzen machte. Eine solche Explosion von Licht und Farbe hatten wir zu Hause nicht.
»Du warst nicht sehr nett zu Mondgesicht«, sagte ich. Adrana hatte mich am Ärmel gepackt und zog mich auf das Drachentor zu.
»Und du hast keine Ahnung, was für ein Fiesling er ist. Ich weiß, was er mit dir vorhat. Man hat nämlich ein neues Medikament erfunden. Es verlangsamt das biologische Wachstum – Eltern können damit verhindern, dass ihre Kinder jemals erwachsen werden.«
»Und warum sollte das irgendjemand wollen?«
Ungeduldig sah sie sich nach mir um. »Du bist so heillos naiv, Fura.«
»Und du bist kaum älter als ich.«
Wir schlüpften durch das Drachentor hinein in das Lichtermeer und die Schwüle der Neurogasse. Adrana grinste mich an. »Wir sind drin! Stell dir vor, Fura – wir ziehen um die Häuser, aufgetakelt bis zum Gehtnichtmehr! Hier.« Sie zog ihre Geldbörse heraus und reichte mir einen Zwei-Streifen-Quorin. »Das ist die Hälfte von dem, was ich bei mir habe, also mach was draus.«
Ich schaute auf die dicke Metallscheibe hinab und wusste nicht recht, was ich von dem Geschenk halten sollte. »Danke«, sagte ich skeptisch. »Aber ich habe dich doch gefunden? Jetzt sollten wir zurückgehen. Du kannst immer noch sagen, du hast die Neurogasse gesehen.«
Aber Adrana marschierte so zielstrebig weiter, als würde sie sich hier bereits auskennen.
»Nimm dich vor Taschendieben und Grapschern in Acht«, warnte sie mich noch, als hätte sie meine Aufforderung gar nicht gehört. »Wir gehen bis zum Ende und kommen am Katzentor wieder raus.«
»Und dann gehen wir nach Hause?«
»Natürlich.« Sie grinste mich an. »Was denn sonst?«
Ein Wahrsager studierte die Handfläche eines Mannes. Ein Mädchen, barfuß, mit irrem Blick und einer Haut, die von innen heraus leuchtete, stand an einer Ecke und bettelte. Zwei triefäugige Männer in kompletten graubraunen Raumanzügen torkelten – nur die Helme unter dem Arm – an uns vorbei. Hinter ihnen schlurfte ein als Kriechling verkleideter Typ auf zu vielen Gliedmaßen aufrecht daher. Er hatte eine Schärpe in den Farben der Bank von Hadramaw umgebunden und trug eine große Maske mit Glotzaugen vor dem Gesicht. Aus der Nähe sah ich, dass es kein Kostüm war, sondern ein echter Kriechling. Das Alien gehörte zu den Männern in den Raumanzügen.
Ich bestaunte es mit offenem Mund, bis ich mein fassungsloses Gesicht in einem gegenüberliegenden Fenster gespiegelt sah.
»Ja, die Aliens«, sagte Adrana, als wäre es nichts Besonderes. »Sie kommen oft hierher. Die Gasse liegt so nahe am Hafen, dass sie hier ihre Geschäfte abwickeln können, besonders wenn sie im Bankwesen tätig sind. Da wir gerade von Aliens sprechen, sind diese Kleider nicht wunderschön?«
Ich riss meinen Blick von dem Kriechling los, und er schob sich an mir vorbei. Ich musste mich beherrschen, um nicht die kleinen Schnurrhaare anzustarren, die sich immer wieder aus seinem Rüssel ringelten. Adrana stand unbeeindruckt vor einem Schaufenster. Die Puppen hinter dem Glas trugen Kleider und Röcke aus winzigen schillernden Schuppen. »Das ist Klapperschlangenhaut«, sagte Adrana. »Die Schlangen werfen sie ab. Jedenfalls war das früher so. Man findet die Häute in Blasen, manchmal so viel, dass man ein Kleid daraus machen kann. Auf manchen Welten ist das verboten – man will die Klapperschlangen nicht beleidigen, falls sie jemals zurückkommen sollten.«
»Ich glaube nicht, dass die Klapperschlangen noch einmal wiederkehren«, sagte ich. Ich erinnerte mich an den Streifen in der Halle der Geschichte. Die Klapperschlangen waren vor etwa neun Millionen Jahren während der Vierten Okkupation aufgetaucht und wieder verschwunden, und seither hatte man nichts mehr von ihnen gehört.
»Wahrscheinlich ist die Haut hier sowieso nicht echt«, sagte Adrana und rümpfte die Nase, als hätte sie auf diesem Gebiet jede Menge Erfahrung. »Weiter jetzt. Wir dürfen nicht trödeln, es gibt noch so viel zu sehen. Da vorn ist eine Gliederhandlung.«
»Eine was?«
Sie lief voraus. »Du wirst schon sehen.«
Im Schaufenster des nächsten Geschäfts waren viele Hände, Arme und Beine auf samtbezogenen Sockeln oder in Glasständern ausgestellt oder schwammen in Behältern mit sprudelnder Flüssigkeit. Einige waren organisch, andere künstliche Nachbildungen aus Metall mit Motoren und integrierten Schaltkreisen.
»Das ist ja grauenvoll«, sagte ich. Eine Blechhand öffnete und schloss sich in Zeitlupe, als wollte sie einen unsichtbaren Ball fangen.
»Wenn du eine neue Hand bräuchtest, würdest du anders reden. Draußen auf den Schiffen kommt es andauernd zu Unfällen. Noch öfter passiert das in den Blasen, wenn sich etwa eine Tür schließt und man den Arm nicht schnell genug zurückzieht. In solchen Fällen kann man sich hier eine neue Hand kaufen – ob aus Metall oder aus Fleisch, spielt keine Rolle. Alles kann angepasst werden.« Adrana sah mich mit unverhohlener Enttäuschung an. »Du bist ganz schön empfindlich.«
»Warum spricht man von einer ›Handlung‹?«
»Weil mit Gliedmaßen gehandelt wird. Du kannst hier auch einen Arm oder ein Bein verkaufen, wenn du schnell ein paar Quorins brauchst. Später kaufst du die Gliedmaße mit Verlust zurück, oder das Geschäft verkauft sie mit Gewinn.« Plötzlich zuckte Adrana zusammen und legte mir die Hand auf den Arm. »Paladin.«
»Was?«
»Paladin ist eben durch das Drachentor gekommen.«
»Gut«, sagte ich. Ich schämte mich meiner Erleichterung. »Wir hatten schließlich unseren Spaß, nicht wahr?«
»Wir haben noch kaum angefangen. Komm, wir verstecken uns in dieser Bude. Dort wird uns der Roboter bestimmt nicht suchen.«
Zwischen zwei Häusern mit Schaufenstern stand ein blau-weißes Zelt. Es hatte kein Ladenschild, und als Eingang diente ein Schlitz in der Plane.
Adrana schob mich hinein und schaute dabei über die Schulter.
»Ist jemand hinter euch her?« fragte eine Frau, die an der Rückseite hinter einem Tisch saß.
»Nur ein Roboter«, sagte ich.
Adrana blieb noch kurz draußen, dann schlüpfte auch sie herein und zog den Schlitz hinter sich zu.
»Oh, die hübsche Dunkelhaarige«, sagte die Frau. »Das Mädchen aus der besseren Gegend. Ich hatte mir schon gedacht, dass du früher oder später wiederkommst. Und wen hast du mitgebracht?«
»Was?«, fragte ich und runzelte die Stirn.
Die Frau erhob sich und schob ihren Stuhl auf dem Steinpflaster zurück. Im Zelt gab es nur schlichte Holzregale, die an die Wände geschoben waren und von kräftigen Leuchtkrautranken angestrahlt wurden. Auf den Borden lagen Knochen in allen erdenklichen Farbtönen – manche so klein wie ein Fingernagel, andere so groß, dass man sie als Keulen verwenden konnte.
Neben jedem Knochen stand ein Kärtchen mit einer Beschreibung und einem Preis.
»Deine Schwester hat dir also nichts davon erzählt«, stellte die Frau fest. »Denn dass ihr Schwestern seid, sieht man auf den ersten Blick.«
»Woher kennen Sie sich?«
»Sie war schon einmal hier«, sagte die Frau. »Nicht wahr, Adrana? Vor ein paar Wochen. Und wenn wir schon dabei sind, wie heißt denn deine Schwester?«
»Das ist Arafura«, sagte Adrana ruhig. »Fura. Sie sollten sie ebenfalls testen, Madame Granity.«
»Was für ein Test?«, fragte ich.
»Ein Eignungstest«, antwortete die Frau. Sie schob sich an mich heran und legte mir einen Finger unter das Kinn. Dann drückte sie mein Gesicht nach oben und schaute mir mit leichtem Stirnrunzeln in die Augen. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit riesigen runden Gläsern in einem schweren Messinggestell. Hinter den dicken Linsen wirkten ihre Augen wie zwei aufgeblähte Welten. Über ihrem Kleid trug sie eine Kittelschürze, deren Taschen vollgestopft waren mit einem Sortiment von blitzenden Metallinstrumenten. An allen Fingern und am Daumen steckten Fingerhüte mit feinen Drähten, die in ihre Ärmel führten. »Für die Art von Fähigkeiten, an denen die Schiffe interessiert sind.«
Adrana wagte einen Blick durch die Zeltöffnung. »Paladin ist fast da«, rief sie. »Er durchsucht gerade die anderen Stände.«
Madame Granity hatte immer noch den Finger unter meinem Kinn. Mit der anderen Hand strich sie mir seitlich über das Gesicht bis hinauf zum Wangenknochen und zur Schläfe. Ich spürte nicht bloß die Kälte der Fingerhüte oder die Schärfe ihrer Spitzen.
Ich spürte noch etwas anderes: ein schauriges Kribbeln dicht unter der Haut.
»Wenn er da draußen herumlungert, weiß er, dass ihr in der Nähe seid«, sagte Madame Granity. »Wollt ihr gefunden werden? Alle beide?«
»Nein«, sagte Adrana.
»Dabei habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
»Gleich. Pass auf, wir schütteln Paladin erst einmal ab. Dann amüsieren wir uns noch eine Weile, und hinterher gehen wir allein nach Hause. Ich nehme alle Schuld auf mich.«
»Ihr kommt besser mit nach hinten«, sagte Madame Granity. »Dorthin wird euch der Roboter nicht folgen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.
»Mr. Quindar wird schon dafür sorgen.«
Hinter dem Tisch befand sich ein zweiter Schlitz in der Zeltplane, der von einem Riemen lose zusammengehalten wurde. Madame Granity löste die Schnalle und führte uns in einen zweiten Raum. Dort stand auf einem robusten Gestell ein Polstersessel mit nach hinten geneigter Rückenlehne und hoher Kopfstütze. Ein Mann lag darin, er hatte sich den Hut über das Gesicht gezogen und schnarchte. Auf seiner Brust lag eine aufgeschlagene Zeitung. Madame Granity schnallte den Riemen an der Zeltplane wieder fest, trat an den Sessel und versetzte dem Mann einen Stoß.
»He, he?«, rief der und ließ die Zeitung fallen.
»Wachen Sie auf, und verdienen Sie sich Ihre Provision. Die Ness-Schwestern sind hier, und ein Roboter ist ihnen auf den Fersen, um sie nach Hause zu bringen.«
»Ein Roboter?«
Adrana war zurückgeblieben und lugte mit einem Auge durch den Schlitz in der Plane. »Ja, und er kommt gerade herein.«
Ich brauchte Paladin nicht zu sehen, das Knirschen seiner Räder, sein Summen und das surrende Winseln, wenn er seine Arme bewegte, waren deutlich genug.
»Runter von Ihrem Thron, Mr. Quindar. Und du«, sagte Madame Granity und deutete auf mich, »du steigst hinauf. Ich weiß, dass deine Schwester die Gabe hat, und oft gilt das auch für andere Geschwister, trotzdem möchte ich mich gern selbst überzeugen.«
»Was für eine Gabe?«
»Leg dich einfach auf den Sessel«, sagte Adrana.
Mr. Quindar beugte sich herunter. »Was soll ich mit dem Roboter machen?«, fragte er.
»Zunächst sollen Sie ihn aufhalten, damit er nicht hier hereinkommt«, sagte Madame Granity.
Seit der Mann sich aufgerichtet hatte, sah man, dass er sehr groß und dünn war. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der ihm bis zu den Füßen hätte reichen müssen, aber seine Beine ragten so weit hervor, als ginge er auf schwarzen Stelzen. Wie bei einer schlecht geführten Marionette schienen die Füße ein wenig über dem Boden zu schweben. Nun griff er mit der rechten Hand in seinen Mantel, zog einen kurzen schwarzen Stock hervor und schnickte ihn einmal durch die Luft. Dadurch wurde er auf das Sechsfache seiner ursprünglichen Länge ausgefahren.
»›Aufhalten‹, sagt sie. Vidin wird ihn aufhalten. Vidin ist Experte im Aufhalten, er tut die meiste Zeit nichts anderes.«
Ohne große Hektik ging der Mann zur anderen Seite des Raumes, hob den Stock und hieb damit auf die Trennwand ein. Nach ein paar Schlägen beschleunigte er das Tempo und löste mit der anderen Hand die Schnalle. Der Vorhang ging auf, und davor stand Paladin in voller Lebensgröße.
»Komm schon. Zeig dem alten Vidin, was du kannst, du Teufel auf Rädern.«
Der Roboter rollte schwirrend vorwärts, jedenfalls versuchte er es. Mr. Quindar – wenn er denn so hieß – blockierte eines der Vorderräder mit einem Fuß, sodass er nicht mehr weiter kam, und prügelte weiter auf das Gehäuse ein. Paladin versuchte die Schläge mit den Armen abzuwehren, aber seine Tiefenprogrammierung hinderte ihn an allen Gegenmaßnahmen, mit denen er Mr. Quindar hätte verletzen können.
»Weiter!« Adrana feuerte den Angreifer noch an. »Auf die Kopfkugel. Schlagen Sie die blöde Kiste in Stücke!«
»Nein«, rief ich. Ich hatte mir einen Rest von Zuneigung zu der Maschine bewahrt. »Er tut doch nur seine Pflicht.«
»Steig endlich hinauf, Fura«, fauchte Adrana. »Ich habe das Talent, ich bin geeignet. Das habe ich schon vor Wochen herausgefunden. Möchtest du nicht wissen, ob du es ebenfalls hast?«
Ich zögerte. Einerseits war ich neugierig, andererseits erfüllte mich das Schicksal des Roboters mit blankem Entsetzen. Doch die Neugier war stärker, also kletterte ich auf den Sessel. Ich wusste zwar, dass ich bereuen würde, worauf ich mich da gerade einließ, trotzdem machte ich weiter. So geht es eben manchmal.
»Was heißt ›vor Wochen‹?«
»Ich habe mich allein hierher geschlichen, als ich mir neue Stiefel anmessen lassen sollte. Das habe ich zwar auch getan, aber danach blieb mir noch genug Zeit, um in die Neurogasse zu laufen. Ich musste es wissen, denn ich hatte so eine Ahnung …«
Am Fußende des Throns befand sich eine Platte, auf die ich meine Stiefel setzte. Meine Arme legte ich auf die gepolsterten Seitenlehnen, und die Nackenstütze umschloss meinen Kopf. Je tiefer ich mich hineinsinken ließ, desto fester schien sie sich um meinen Schädel zu legen.
»Was für eine Ahnung?«
»Dass ich fähig sein könnte, die Knochen zu lesen.«
Madame Granity trat an ein anderes Gerät, eine Apparatur, die wie ein Lampenschirm mit biegsamem Hals über dem Sessel hing. Die Frau bückte sich und betätigte einige Schalter. Das Ding verströmte einen Geruch wie nach verbranntem Toast.
Um den Rand der Lampe flackerten Lichter auf, und das Ding senkte sich über mich.
»Ich habe den Auftrag, Arafura und Adrana Ness ausfindig zu machen«, dröhnte Paladins Stimme. »Wenn Sie Kenntnis von ihrem Aufenthalt haben, so teilen Sie mir das bitte mit.«
»Ich teile dir nur eines mit«, sagte Mr. Quindar, »dass ich dir nämlich deinen Blechkopf einschlage, wenn du dich noch weiter in diesen Raum wagst.«
»Er soll aufhören!« rief ich.
»Halt still«, mahnte Adrana. »Dein Gehirn wird gerade vermessen, um herauszufinden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass du zu einem Knochen in Kontakt treten kannst.«
»Knochen zu lesen ist erlernbar«, sagte Madame Granity. Trotz des Aufruhrs hinter der Trennwand klang ihre Stimme völlig ruhig. »Aber nur, solange das Gehirn noch Verbindungen aufbaut und wieder unterbricht. Mit anderen Worten, solange es noch lernt, ein Gehirn zu werden. Kinder haben diese Fähigkeit, aber es fehlt ihnen an Verstand, um zu begreifen, was ihnen die Knochen zuflüstern, deshalb sind sie für einen Kapitän nicht zu gebrauchen. Erwachsene sind untauglich, sobald sich die Verknüpfungen im Gehirn verfestigt haben. Jungen und Mädchen im Teenageralter sind am besten geeignet. Sie können bis hoch in die Zwanzigerjahre weitermachen, aber die Fähigkeit lässt stetig nach.« Sie brummte nachdenklich vor sich hin. »Das ist gut. Das ist sehr gut.«
Der Scanner senkte sich so tief über meinen Kopf, wie er ausfahren konnte. Wieder spürte ich dieses Kribbeln, nur kam es diesmal von der Maschine und nicht von Madame Granitys Fingerhüten. Und jetzt spürte ich es unter meiner Kopfhaut, als würde ein kleines Insekt über die Innenseite meines Schädels kriechen.
»Ist sie geeignet?«, wollte Adrana wissen.
»Sie ist auf dem Weg«, antwortete Madame Granity. »Vielleicht nicht so empfänglich wie du, aber ist sie nicht ein wenig jünger? Ihr habt beide das Talent, und dadurch, dass ihr als Paar auftretet, seid ihr sehr gut zu vermarkten.«
»Sie beschädigen mich«, protestierte Paladin. »Ich muss Sie bitten, von mir abzulassen, bevor Ausfälle entstehen, die nicht mehr zu beheben sind.«
Ich drehte mich um und stieß dabei den Lampenschirm beiseite. Durch die Lücke in der Trennwand sah ich Mr. Quindar, der das Stockende mit beiden Händen umfasst hielt, weit ausholte und die Waffe mit aller Kraft auf Paladin niedersausen ließ.
»Lassen Sie ab«, wiederholte Paladin. Durch einen Fehler in der Steuerung hatte wieder einmal sein Hinterrad blockiert, und nun konnte sich der Roboter nur noch um sich selbst drehen, ein Rückzug war unmöglich, selbst wenn der Mann es zugelassen hätte. Aber der dachte gar nicht daran, jetzt nachzugeben.
Er warf den Stock beiseite, griff nach einem der größeren Schädel auf Madame Granitys Regalen und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen Paladins Kopfkugel.
»Halt!«, rief ich. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«
»Ihn?«, fragte Madame Granity. Die Augen hinter ihren Brillengläsern wirkten riesig. »Es ist doch bloß ein Roboter – und eben wolltest du ihm noch unbedingt entkommen.«
Paladin rotierte hektisch um die eigene Achse. Er ruderte wild mit den Armen und krachte dabei gegen die Regale, dass die Knochen durch die Gegend geschleudert wurden. Vidin prügelte weiter auf ihn ein. Die Kopfkugel bekam die ersten Sprünge. Endlich, es war wie eine Erlösung, stieß Paladins Hinterrad gegen den Sockel eines Regals. Der Roboter kippte um und fiel mit lautem Krach zu Boden. Die beiden Vorderräder drehten sich noch ein paar Sekunden lang, und Paladins dünne Seitenärmchen hämmerten auf die Steine.
Die Mechanik im Inneren der Kopfkugel surrte und klickte. Die Lichter gingen aus.
Paladin regte sich nicht mehr.
Vidin warf den Knochen beiseite, hob den Stock vom Boden auf, schob ihn auf seine frühere Länge zusammen und verstaute ihn wieder in seinem Mantel.
»Ich hasse Roboter. Eingebildete Maschinen, die länger leben als wir Menschen und sich aufführen, als wären sie die Herren der Welt.« Er klopfte sich die Hände ab. »Konnten Sie das Mädchen auslesen, Madame G?«
»Ein Teilergebnis, bevor Sie sie mit dem Getöse abgelenkt haben. Potenzial ist vorhanden, so viel steht fest. Glauben Sie, Sie können für die beiden eine Anstellung finden?«
Er kratzte sich den haarlosen Schädel. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Von einem Auge bis hinunter zum Mundwinkel zog sich eine helle Narbe. »Aus der Zeitung, in der ich so aufmerksam las, bevor Sie mich gestört haben, weiß ich, dass Rack seit ein paar Tagen in Hadramaw angedockt hat.«
»Rack?«, fragte ich.
Mr. Quindar zog einen Stuhl hinter einem der Regale hervor und ließ seinen schlaksigen Körper darauf nieder. Die Mantelschöße hingen steif und zerschlissen an beiden Seiten herab, als hätte ein Riesenvogel seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. »Mit vollem Namen heißt er Rackamore. Ein Kapitän. Nicht der Beste, aber auch nicht der Schlechteste, der euch über den Weg laufen kann. Es heißt, Rack sei auf der Suche nach einem neuen Sympathen. Für dich und mich ist das ein Knochenleser. Eine von euch würde er sofort anheuern. Und alle zwei sogar noch schneller.«
»Anheuern wofür?«, fragte ich.
»Bist du ein wenig schwach in den Grauen, Kindchen? Für seine Besatzung. Für sein Schiff. Für Expeditionen und so weiter. Alles ganz legal. Ihr reist für einen vereinbarten Zeitraum mit ihm. Sechs Monate, vielleicht auch weniger. Besucht ein paar Welten. Schaut euch die Sehenswürdigkeiten an. Ich war auf hundert Welten und habe kaum angekratzt, was da draußen alles unterwegs ist. Nicht bloß Sphärenwelten wie die unsere hier. Räderwelten, Spindelwelten, Bruchwelten, Gitterwelten … Welten, für die wir gar keinen Namen haben. Wollt ihr euch ein paar davon zu Gemüte führen? Wenn ihr unterwegs die eine oder andere Blase knackt, seid ihr hinterher vergoldet.« Er ballte die Faust und schüttelte sie, als hätte er einen Stapel Quorins in den Fingern. »Das bringt euch mehr ein, als ihr auf diesem Misthaufen hier jemals verdienen werdet. Wenn ihr euch ein wenig länger verpflichtet, könnt ihr euch zur Ruhe setzen.«
»Wir könnten das nicht«, sagte ich.
»Vater hat fast unser ganzes Vermögen durchgebracht«, erklärte Adrana. »Deshalb hat er sich diese blöde Investition aufschwatzen lassen, er dachte, damit könnte er das Ruder herumreißen. Jetzt sind wir noch schlechter dran als zuvor.« Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und schaute mir fest in die Augen. »Aber wir können das ändern. Lass uns losziehen, nur für eine gewisse Zeit. Ein paar Monate. Dann kommen wir wieder nach Hause und teilen mit Vater, was wir verdient haben. Lass uns zur Abwechslung mal etwas für ihn tun. Oh, er wäre nicht einverstanden – das ist mir klar. Aber die Leute wissen nicht immer, was gut für sie ist.«
»Wahrere Worte wurden nie gesprochen«, bemerkte Mr. Quindar.
»Wissen Sie, wo Rack zu finden ist?«, erkundigte sich Madame Granity.
»In etwa.«
»Dann bringen Sie die beiden dorthin. Sie können es sich doch immer noch anders überlegen? Aber machen Sie Rack klar, dass er uns beiden einen Finderlohn schuldet, wenn sie die Prüfungen bestehen.«
»Und das werden sie«, erklärte Mr. Quindar. »Für so was habe ich einen Riecher. Und diese zwei Schwestern werden mir nicht durch die Finger schlüpfen.«
Ich trat in den vorderen Teil des Zelts, wo Paladin noch immer stumm und reglos auf dem Boden lag. Adrana, Madame Granity und Mr. Quindar folgten mir.
Ich kniete neben dem zerstörten Roboter nieder, berührte vorsichtig das gesprungene Glas und schaute dann zu Quindar auf.
»Es war nicht nötig, so heftig zuzuschlagen.«
»Wenn er es nicht getan hätte«, sagte Madame Granity, »würde euch der Roboter jetzt nach Hause schleppen.«
»Es war nicht Paladins Schuld. Er hat nur getan, was man ihm befohlen hat.«
»Das ist auch alles, was er kann«, sagte Adrana. »Er hat nichts anderes im Kopf als Listen von Befehlen. Wir sind anders, Fura. Wir haben etwas, was Paladin niemals hatte und niemals haben wird – einen freien Willen. Wenn du jetzt nach Hause gehst, dauert es nicht lange, dann holt Vater Mondgesicht, und er gibt dir diese Medizin, die verhindert, dass du älter wirst. Danach bekommst du eine solche Gelegenheit für viele Jahre nicht wieder. Es passiert hier und jetzt. Dies ist unsere einzige Chance, wirklich etwas zu tun.«
Ich sah erst meine Schwester, dann Madame Granity und schließlich Vidin Quindar an.
»Wir werden mit diesem Kapitän Rackamore nur reden«, sagte ich endlich. »Nichts weiter. Und wenn er erklärt, dass wir nicht geeignet sind, und das wird er, dann gehen wir nach Hause und erwähnen die ganze Sache nie wieder. Abgemacht?«
»Abgemacht«, sagte Adrana.