cover

Buch

1916 – Béla Dobrew findet am Bahnhof in IaŞi – gut 370 km von Budapest entfernt – eine Goldmünze und dann einen leeren Waggon, in dem ganz offensichtlich eine Fracht aufgebrochen wurde. Es dauert nicht lange, bis er begreift, dass in diesem Waggon Kisten mit viel mehr Goldmünzen gelegen haben müssen und dieser Schatz – das Eigentum des armen, vom Krieg gebeutelten Rumänien – offenbar gestohlen wurde. Aber die Spur verliert sich im Dunkel.

Ein geheimnisvoller Milliardär versammelt ein Team von Spezialisten, um eben diesen Schatzzug aufzuspüren, der seit der russischen Oktoberrevolution verschollen ist. Doch sie sind nicht die Einzigen, die an der Beute interessiert sind. Ihre Gegner sind skrupellos und ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Außerdem kommen sie dem russischen Geheimdienst FSB in die Quere, der mehr über den Schatz zu wissen scheint, als er sollte. Jeder der Hunters ist ein hoch spezialisierter Individualist, doch wenn sie es schaffen, zu einem Team zu verschmelzen, sind sie unschlagbar.

Autor

Chris Kuzneski wuchs in Idaho auf, lebt heute aber in Florida. Die Romane des New-York-Times-Bestsellerautors wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Wenn Chris nicht gerade surft, taucht, schwimmt oder die Sonne genießt, schreibt er an seinem neuesten Roman.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet
und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

CHRIS
KUZNESKI

HUNTERS

DIE SCHATZJÄGER

ROMAN

Deutsch von Wolfgang Thon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »The Hunters« im Eigenverlag.


1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Chris Kuzneski, Inc.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung: © Johannes Frick
unter Verwendung von Motiven von Trevillion (© Mark Owen)
und Shutterstock.com (© Graeme Knox, © vectorfusionart, © nemlaza)
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21516-3
V001

www.blanvalet.de

PROLOG

Freitag, 15. Dezember 1916

Iaşi, Rumänien

(246 Meilen nördlich von Bukarest)

Der größte Diebstahl der modernen Geschichte passierte nicht in einer Bank. Er geschah mitten in der Nacht auf einem Bahnhof unter den wachsamen Augen bewaffneter Soldaten.

Erstaunlicherweise bemerkte man erst Jahre später, dass es sich dabei um einen Raub handelte.

Zu diesem Zeitpunkt war der Schatz längt wieder verschwunden.

Es war erbärmlich kalt, als Béla Dobrew das dreigeschossige Wohnhaus verließ, in dessen zweitem Stock er und seine Frau eine kleine Wohnung bewohnten. Um diese Stunde waren die Straßen leer, und der Ostwind führte den feuchten, entsetzlichen Gestank des Flusses Prut mit sich. Dobrew zog seinen neuen Wollschal höher ins Gesicht, über den üppigen Schnurrbart bis über den Nasenrücken. Er war froh, dass ihm seine Frau sein Geburtstagsgeschenk vorzeitig gegeben hatte. Der Winter war gnadenlos und die Fäulnisgerüche noch schlimmer. Im Sommer wehten die Winde wenigstens meist aus südlicher Richtung.

Seit er zur Nachtschicht aufgebrochen war, ging er mit gesenktem Blick, um seine Augen vor dem unablässigen Wind zu schützen. Er brauchte nicht aufzusehen, um die drei Blocks bis zum ausgedehnten Bahnhof zu finden. Er arbeitete dort schon über vierzig Jahre, seit das prachtvolle palastartige Gebäude im Jahre 1870 eröffnet worden war. Er kannte jeden Stein des Kopfsteinpflasters. Er wusste noch, wie ein Pferdewagen umgestürzt war und einen der Steine beschädigte, und er erinnerte sich auch, wie einem Arbeiter eine Axt aus dem Rucksack gefallen war und einen der anderen Kopfsteine angeschlagen hatte. An all das konnte er sich erinnern.

Einen Block vom Bahnhof entfernt grinste Dobrew unter dem Schal, und die Schnurrbartborsten kitzelten seine Oberlippe. An dieser Stelle konnte er immer zum ersten Mal den feinen Duft der Schmiermittel riechen, mit denen die Eisenbahnzüge geölt wurden. Als er hier zu arbeiten angefangen hatte, war es seine Aufgabe gewesen, unter die großen Lokomotiven zu kriechen, um die Radlager einzufetten. Der Duft erinnerte ihn unweigerlich an eine unschuldige Zeit. Eine gute Zeit war es gewesen, als die Eisenbahn die Städte miteinander verbunden hatte und jede Ankunft eines Zuges wie ein Wunder erschienen war, aber nichts Belastendes hatte. Zeiten, in denen ein neues Jahr mit Hoffnungen und glücklicher Rückschau verbunden war und nicht mit der Angst vor Invasionsarmeen und den grausigen Schrecken des Krieges.

Dobrew presste sich mit behandschuhten Händen den Kragen seines abgetragenen Mantels an den Hals. Die frisch gestrickten Socken hielten seine Fersen warm, aber in den Zehen kribbelte schon die Kälte. Er beschleunigte seine Schritte und bekam schmale Augen, als er ungewöhnliche Geräusche hörte, die von den Schienen kamen. Er war an das Geklapper sperriger Kisten gewöhnt, an schwere Maschinen, die von quietschenden fahrbaren Kränen auf Flachwagen geladen wurden, und an die stampfenden Hufe der Pferde, die die Gepäckwagen zogen. Aber so viele verschiedene Geräusche und so viel Geschäftigkeit hatte er noch nie erlebt, schon gar nicht zu so später Stunde. Schon beim Gedanken an die Löhne, die der Bahnhofsvorsteher dafür bezahlen musste, wurde ihm schwindelig. Doch wozu das alles?

Er blickte auf und sah reihenweise Militärlastwagen, mit Planen verhängte Ladeflächen, die dicht an dicht am Bahnsteig standen. Das war nichts Ungewöhnliches. Soldaten in hellgrauen Uniformen wurden zur oder von der Grenze über Iaşi gefahren. Gegen Ende des Sommers kamen sie aus Bukarest, doch die Stadt war jetzt in deutscher Hand. Immer mehr von ihnen kehrten von den Kämpfen nach Iaşi zurück, hinzu kamen massenweise Flüchtlinge, die sich vor der Typhusepidemie in Sicherheit bringen wollten. Seit dem Kriegseintritt Rumäniens vor ein paar Monaten waren Dobrew und seine Frau zum ersten Mal froh darüber, kinderlos zu sein. Es war schon schwer genug, mit ansehen zu müssen, welche Sorgen sich unter den Dächern der Nachbarn breitmachten.

Obwohl ihm kalt war, ging Dobrew nicht direkt durch das bogenförmige Eingangsportal des vor ihm aufragenden Gebäudes. Dafür war er viel zu neugierig.

Dieser Trupp war anders als alle, die er zuvor gesehen hatte. Die Soldaten standen gleich hinter dem geparkten Lkw-Konvoi. Diese Männer waren ausgeruht, behielten die Straße im Blick und trugen Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett vor der Brust. Hinter ihnen, im Schein der Pendellampen, die den Bahnsteig beleuchteten, stand ein Eisenbahnzug, der sich weit über beide Seiten des Gebäudes hinaus erstreckte. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Die Dächer der Eisenbahnwaggons wurden vom Dampf der Lokomotive eingenebelt. Der Zug war fahrbereit und konnte sich jeden Moment in Bewegung setzen. Das war das Ungewöhnlichste daran, wenn man bedachte, wie teuer Kohle im Winter und ganz besonders zu Kriegszeiten war.

Dobrew ging zur windgeschützten Westseite des Bahnsteigs, wo er seinen Schal nach unten zog und sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen wischte. Er sah einen geschlossenen Güterwagen nach dem anderen – einundzwanzig insgesamt. Auf dem Bahnsteig neben ihnen standen Dutzende von Kisten übereinandergetürmt, ringsum jede Menge bewaffneter Soldaten, doch nirgends am Zug entdeckte er die rot-gelb-blaue Flagge Rumäniens.

Der Soldat, der ihm am nächsten stand, ging ein paar Schritte auf ihn zu. Seine Rangabzeichen wiesen ihn als Brieftaubenmelder aus. Auch das war ungewöhnlich. Seit vier Monaten hatte Dobrew keinen von ihnen als Mitglied einer Wachmannschaft gesehen. Normalerweise wurden sie nur zu Einsätzen höchster Bedeutung abkommandiert.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte der Soldat barsch. Seine Wangen waren gerötet. Er sah aus, als sei er noch nicht alt genug für einen Bart.

»Ich bin der stellvertretende Bahnhofsvorsteher«, erwiderte Dobrew. »Ich trete meine Schicht an.«

»Treten Sie die drinnen an«, befahl ihm der junge Mann.

»Mach ich«, sagte Dobrew. »Ich wundere mich nur – von einem Zug dieser Größe stand nichts im Fahr…«

»Rein mit Ihnen, stellvertretender Bahnhofsvorsteher«, befahl der Soldat und senkte nervös das Gewehr, sodass das Bajonett tiefer zeigte.

Dobrews Blick haftete noch einen Moment an dem jungen Mann. Dann hob er eine behandschuhte Hand zum Zeichen dafür, dass er sich geschlagen gab, warf einen letzten Blick auf das Spektakel und wandte sich ab. Die Unterhaltung hatte ihm mehr über den Krieg verraten als alle Berichte in den Zeitungen. Die Lage musste verzweifelt sein, wenn ein junger Rumäne so respektlos mit einem älteren Rumänen redete. Selbst die Jugendlichen aus der Hauptstadt hatten bessere Manieren.

Dieser Bursche hier war angespannt und verängstigt.

Dobrew ging wieder zurück vor den Bahnhof. Ihm fiel auf, dass die Planen der Lkws nachlässig befestigt waren. Auch dies war ein Zeichen dafür, dass sich die Lage verschlimmerte.

Was für ein unkluger Feldzug, dachte er, als er sich der Tür näherte.

Rumänien war an der Seite Russlands, Frankreichs und Englands in den Krieg eingetreten, um dem österreich-ungarischen Kaiserreich Transsilvanien abzuringen. Die meisten Leute, mit denen Dobrew darüber geredet hatte, hielten das für eine Verschwendung von Menschenleben und Ressourcen. Die Bevölkerung Transsilvaniens bestand bereits überwiegend aus Rumänen. Spielte es da eine Rolle, wem die einschüchternden, hohen Gebirgszüge tatsächlich gehörten?

Dobrew stoppte abrupt. Auf dem Boden neben einem Lkw-Reifen sah er etwas golden blitzen. Er ging hinüber und hob es auf.

Es handelte sich um eine wertvolle goldene Zwanzig-Lei-Münze, Prägejahr 1868. Dobrews erster Gedanke war, dass ein gehetzter Fahrgast sie verloren hatte. Die Wohlhabenderen unter ihnen fuhren oft mit der Eisenbahn zu Tagesausflügen auf ihre Landsitze. Missgeschicke wie dieses kamen vor, wenn sie zu hastig die Handschuhe aus ihren Mänteln zogen, panisch nach verlegten Fahrkarten suchten oder sich mit einem Blick auf die Taschenuhr vergewisserten, ob noch Zeit für einen Abstecher in die Kneipe war. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte Dobrew sein Taschengeld gern mit verlorenen Münzen aufgebessert. Französische Francs, türkische Lira und einmal ein russischer Silberrubel. Einheimische Münzen waren nicht so wertvoll wie ausländische, deren Wert ständig zuzunehmen schien.

Doch eine Goldmünze hatte er noch nie gefunden.

Ihn durchströmte ein warmes Gefühl, so als hätte er gerade ein Gläschen feinen Pflaumenschnaps gekippt. Er stand auf und verstaute die Münze in einer Tasche. Weil ihn der unerwartete Fund übermütig machte, beschloss er, noch einmal sein Glück zu riskieren. Gerade eben so, dass die Soldaten ihn nicht sehen konnten, hob Dobrew eine Ecke der Lkw-Plane an und linste auf die Ladefläche des Lasters. Da war nichts, außer zwei Bänken, ein paar Stemmeisen auf dem Boden und einem Haufen verbogener Nägel.

Die Fracht war geöffnet worden. Doch warum?

Für eine offizielle Inspektion? Oder etwas Kriminelles?

Auf dem Weg ins Bahnhofsgebäude wog Dobrew die Möglichkeiten ab. Er blickte nach Westen und betrachtete die mächtige Lokomotive. Er grübelte darüber nach, was die bewachte Ladung, die Brieftauben, die über den Stand der Dinge informieren sollten, und die außerplanmäßige Abfahrt mitten in der Nacht zu bedeuten hatten.

Das alles ergab keinen Sinn, außer …

Dobrew hielt inne. Allein der Gedanke ließ ihn zittern.

Er fühlte sich längst nicht mehr als Glückspilz, als ihm klar wurde, dass die Münze, die er gefunden hatte, wahrscheinlich nur ein winziger Bruchteil des Inhalts von Dutzenden Holzkisten war. Viele Tonnen Münzen und andere Kostbarkeiten, und all das wurde weggeschafft. Ein Staatsschatz, der seine Heimat verließ.

Die Kälte, die er verspürte, als er in das Gewölbe der Wartehalle eintrat, reichte tiefer als das, was er bei seinem kurzen Marsch durch die Winternacht empfunden hatte.

Ihn schüttelte es vor Verzweiflung.

1. KAPITEL

Gegenwart

Donnerstag, 21. August

Brooklyn, New York

Das Observationsfahrzeug parkte links die Straße runter. Es stand noch genau da, wo es tags zuvor und am Tag davor gestanden hatte. Sein Standort war das am zweitschlechtesten gehütete Geheimnis im Russenviertel von Brighton Beach.

Das am schlechtesten gehütete war der Name des Mannes, den das FBI beobachtete.

Vladimir Kozlow hatte in Moskau ein Verbrecherimperium aufgebaut. Er hatte seine Finger im Drogengeschäft, im Waffenhandel, in Prostitution und im Schmuggel. In den letzten Jahren hatte er die Vorteile der Cyberkriminalität entdeckt, obwohl er selbst nur selten Computer benutzte. Bei allem hatte er es verstanden, der Strafverfolgung zu entgehen. Dank der liberalen Freihandelsgesetze, die nach dem Untergang der Sowjetunion erlassen worden waren, und – was noch wichtiger war – der Millionen von Dollars, mit denen er die wichtigsten Beamten schmierte, wurde Kozlow von den meisten Russen – genau den Menschen, die er insgeheim ausraubte, nötigte und erpresste – als Nationalheld angesehen.

Doch das FBI sah etwas anderes in ihm.

Für sie war er ein interessanter Mann.

Vielleicht sogar der interessanteste Mann New Yorks.

Wegen seiner »sauberen« Vorstrafenbilanz hatte Kozlow in die Vereinigten Staaten einreisen können, wo er seine legalen Geschäfte ausbauen wollte. Er hatte sofort das größte Haus in Brighton Beach gekauft, einer Gegend in Brooklyn, die man »Klein-Odessa« nannte, weil dort jede Menge Ukrainer lebten. Dann hatte er seinen Ruf und seine Verbindungen genutzt, um die örtliche Bratwa zu vereinigen. Der Begriff Bratwa bedeutet für Russen »Bruderschaft«, für alle anderen »Mafia«. In weniger als fünf Jahren war die Bratwa von Brighton Beach zum berüchtigtsten Syndikat New Yorks geworden. Sie waren nicht die größte Organisation der Stadt – diesen Platz nahm immer noch die sizilianische Cosa Nostra ein –, doch man hielt sie für die tödlichste.

In den Medien nannte man sie die Killerbienen.

Im Innern des Vans hatte man noch eine schlimmere Bezeichnung für sie.

»Das eine kann ich dir sagen«, behauptete Special Agent Jason Koontz, während er sich Nudeln aus einer kleinen Pappschachtel in den Mund schaufelte. »Das sind eiskalte russische Mistkerle. Die amerikanischen Kriminellen mögen sie nicht. Und die Italiener auch nicht. Diese Kommunistenschweine sind eine ganz andere Liga. Die sind genauso mies wie die Triaden, nur nicht so asiatisch.«

Sein Partner Rudy Callahan hätte fast seinen lauwarmen Kaffee ausgespuckt. Er sah kurz auf seinen Monitor, um sich zu vergewissern, dass gerade keines ihrer Mikrofone eingeschaltet war, und sendete. Andernfalls wären die vulgären und rassistischen Hasstiraden seines Partners in den Datenbanken der Agency gelandet, seine Vorgesetzten hätten ihn mit Sicherheit abgemahnt und die Sache in Koontz’ immer dicker werdender Personalakte vermerkt.

»Hör auf damit!«, verlangte Callahan.

»Womit denn?«, fragte Koontz, der seine Worte wohl völlig unbedenklich fand. Er bekräftigte seine Unbekümmertheit, indem er noch mehr Lo-Mein-Nudeln schlürfte. Alles um ihn herum war schon mit Sojasoße vollgespritzt.

»Hier solche Sachen von dir zu geben! Ist dir klar, was passiert, wenn der Direktor hört, was du gerade gesagt hast?«

Koontz zuckte die Schultern. »Er würde mir wahrscheinlich zustimmen.«

»Nein, würde er bestimmt nicht«, widersprach Callahan. »Wahrscheinlich würde er dich suspendieren. Du weißt ganz genau, dass wir im Einsatz keine rassistischen Bemerkungen machen dürfen. Deine Kommentare könnten vor Gericht gegen uns verwendet werden. Sie könnten den Eindruck erwecken, die Ergebnisse unserer Überwachung wären durch Vorurteile verfälscht worden.«

Koontz schüttelte den Kopf. Sein Partner war so ein Weichei. »Mich findest du schlimm? Du solltest dir mal ein paar der Geschichten anhören, die mir die Leute von der Drogenfahndung erzählt haben, die die Bordsteinschwalben in der Innenstadt überwachen. Die haben mir erzählt, da gibt es eine Tschechin, die es schafft, sich ein ganzes …«

»Jason!«, unterbrach ihn Callahan. »Hörst du dich eigentlich selbst reden? Fast alles, was du sagst, ist rassistisch!«

»Rassistisch? Wie kann ich denn Rassist sein? Ich hole mir sogar mein Essen bei den Schlitzaugen und esse es mit Stäbchen. Ein echter Rassist würde das nie tun.«

»Oh … mein … Gott«, murmelte Callahan ungläubig. »Ich hänge hier mit einem totalen Vollidioten fest. Warum kümmere ich mich überhaupt darum?«

»Weil ich dein einziger Freund bin.«

»Halt die Klappe.«

Koontz lachte in sich hinein. Es machte ihm Spaß, seinem Partner auf die Nerven zu gehen, insbesondere bei Observationen, die so lange dauerten wie diese hier und wenn mit keinen besonderen Vorkommnissen zu rechnen war. Die beiden Agenten waren hier, um Kozlows Fußvolk zu fotografieren, frisch eingetroffene Rekruten, die man mit Versprechungen von Macht und Geld nach Amerika gelockt hatte, die aber eigentlich nur hergebracht wurden, um jene Drecksarbeit zu erledigen, die Kozlows Spitzenverdienern zu riskant waren. Diese Ganoven wurden so schnell wieder ausgetauscht, dass die Agency permanent vor Ort observieren musste, um bei ihnen nicht den Überblick zu verlieren. Zweckmäßigerweise lebten die meisten von ihnen in Häusern, die an Kozlows Anwesen angrenzten. Nachbarschaftshilfe diente hier nicht der Eindämmung der Kriminalität, sondern dem genauen Gegenteil.

Sie warnten Kozlow, wenn Polizei in der Gegend war, was in letzter Zeit rund um die Uhr der Fall gewesen war.

Das FBI hatte sich mit dem 60. Bezirk der New Yorker Polizei auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Dazu gehörte – auf Bitten der Gemeindeverwaltung, die etwas gegen den schlechten Ruf Klein-Odessas unternehmen wollte – die ständige Präsenz des FBI in Brighton Beach. Das galt besonders in den Sommermonaten, wenn Touristen mit Taschen voller Geld und jeder Menge Unternehmungslust die umliegenden Strände bevölkerten. Mit Coney Island im Westen und Manhattan Beach im Osten mussten sich die Budenbesitzer in Brighton Beach ins Zeug legen, um Besucher anzulocken. Dabei galt es auch, sowohl Einheimische als auch Touristen davon zu überzeugen, dass sie nicht von ausländischen Gangstern ausgeraubt wurden, bevor sie dazu kamen, ihr schwer verdientes Geld für Bier, Souvenirs und Zuckerwatte auszugeben.

Doch anders als die Polizisten des 60. Bezirks, denen die Aufgabe zufiel, in den Straßen zu patrouillieren und ihre Runden zu drehen, nutzte das FBI die günstige Gelegenheit, Kozlow Angst einzujagen, und hatte keine zwanzig Meter von seinem Haus entfernt ein hochmodernes Observationsfahrzeug postiert. Anfangs hatte sein einflussreicher Anwalt noch versucht, gegen diese Belästigung Einspruch zu erheben – schließlich handelte es sich bei Kozlow um einen Geschäftsmann, der das Recht hatte, mit Respekt behandelt zu werden, und nicht um einen Kriminellen, den man der Strafverfolgung aussetzen musste. Doch ein Bundesrichter hatte den Antrag auf eine einstweilige Verfügung abgewiesen, nachdem die Anwälte des FBI argumentiert hatten, dass nur das Haus, aber nicht der Mann beobachtet wurde. Das war eine juristisch nicht besonders überzeugende Spitzfindigkeit, aber der Richter ließ sich auf diese Unterscheidung ein.

Das war der Grund, warum der Van nie bewegt wurde.

Und deshalb langweilte sich Koontz zu Tode.

Weil er die Gelegenheit witterte, für eine Weile allein sein zu können, tat er, was er konnte, um seinen Partner auf die Palme zu bringen. »Mal im Ernst, was hab ich denn Falsches gesagt?«

»Alles!«, erklärte Callahan. »Es fängt schon damit an, dass die Hälfte seiner Leute keine Russen sind. Es sind Ukrainer. Und Tschechen. Und Georgier. Und außerdem, wie können sie weniger asiatisch als die Triaden sein, wenn doch der Großteil Russlands in Asien liegt?«

»Ist doch egal.«

»Komm mir nicht mit ›das ist doch egal‹! Das muss ich mir schon oft genug von meinen Kindern und meinen Ex-Frauen anhören. Von dir brauch ich das nicht auch noch.«

Koontz verdrehte die Augen, was die Wut seines Partners zusätzlich anstachelte. »Na schön, aber leg mal eine neue Platte auf. Ich weiß, dass Kozlows Männer nicht alle Russen sind, aber sie ›multi-ethnische Mistkerle‹ zu nennen hat überhaupt keinen Pepp. Als Ire solltest du eigentlich daran gewöhnt sein, wegen deiner Herkunft beleidigt zu werden.«

»Das war’s! Mir reicht’s!« Callahan nahm sein Headset ab, das er sich um den Hals gelegt hatte, und stieß die Hecktür auf. »Ich brauch frische Luft.«

Koontz grinste triumphierend. »Frische Luft, was du nicht sagst! Mit ’ner Kippe im Mund wird sie nicht allzu frisch sein.«

Callahan knallte frustriert die Tür zu. Er wusste verdammt gut, dass sein Partner es darauf anlegte, ihm auf die Nerven zu gehen, doch das machte es nicht leichter, damit umzugehen.

Höchstens noch schlimmer.

Warum sagt es Koontz nicht einfach, wenn er ein paar Minuten allein sein will? Warum fängt er mit solchem Kinderkram an, damit er kriegt, was er will?

Callahan war unglaublich wütend und entschied sich, ein paar Schritte zu laufen.

Er hoffte, ein langer Spaziergang würde seine Nerven beruhigen.

Stattdessen brachte er sein Leben in Gefahr.

2. KAPITEL

Der Eindringling flog mühelos über die Gebäude und war im Nachthimmel nicht zu erkennen. Das lenkdrachenähnliche Fluggerät war mit einer Schnur verbunden, die mehr als hundert Meter entfernt verankert war, und schwebte über dem Ziel. Die Meeresbrise sorgte für stetigen Auftrieb, während der Eindringling langsam die Höhe verringerte und auf dem Dach aufsetzte.

Die Landung war völlig geräuschlos.

Mit einer schnellen Handbewegung löste die Person den Drachen von ihrem Gurtzeug, dann stieß sie das Gerät in die Luft, als würde sie einen großen Vogel in die Freiheit entlassen. Weil der Drachen das Gewicht ihres Körpers nicht mehr tragen musste, stieg er sofort in den Himmel auf. Sie sah zu, wie das Gerät aus ihrem Blickfeld schoss. Es hatte sich als nützlich erwiesen und seine Fracht unentdeckt ans Ziel gebracht.

Leider war dies nur die erste Hürde, die sie nehmen musste.

Es wartete noch jede Menge mehr davon auf sie.

Sie hätte es vorgezogen, oben auf Kozlows Villa am Meer zu landen, doch das Spitzdach hat das verhindert. Stattdessen war sie gezwungen gewesen, auf dem Flachdach eines angrenzenden Gebäudes aufzusetzen – einem dreistöckigen Reihenhaus, das Kozlows Wachen und frisch rekrutierten Männern als Schlafquartier diente. Bei einem Einsatz wie diesem war das Haus der Aufpasser suboptimal, aber sie hatte keine Wahl. Hätte sie sich dem Haus zu Fuß genähert, wäre sie von Kozlows Männern und von der Bundespolizei im Observationsfahrzeug entdeckt worden.

Sie konnte weder das eine noch das andere riskieren.

Dank der schmalen Mondsichel am Himmel war sie nahezu unsichtbar, als sie über das Dach der Wachen huschte. Ihr mattschwarzer Overall absorbierte das Licht, nichts an ihm reflektierte. Schwarze Schuhe, schwarze Handschuhe und eine schwarze Maske ohne Öffnungen für die Augen, die Nase oder den Mund, ja, nicht einmal die Ohren, vervollständigten ihr Outfit. Unter der elastischen, neu entwickelten Haube konnte sie atmen, hören und sehen, während ihr Gesicht vollständig verborgen war.

Der Effekt war verdammt unheimlich.

Am Rand des Daches verlangsamte sie ihr Tempo. Sie besah sich das Gebäude, in das sie eindringen wollte. Es war im Kolonialstil errichtet, die Wände bestanden aus hochwertigen Ziegeln, die fachmännisch zu geraden Mauern und gewölbten Bögen zusammengefügt worden waren. Sie bemerkte die Schmuckelemente aus Kalkstein und den zweifarbigen Stuck, bevor ihr Blick schließlich am hinteren Balkon hängen blieb. Es war ein schönes Haus und nicht allzu protzig. Man hatte es geschickt so gestaltet, dass es gewöhnlich wirkte, doch jemand, der sich auskannte, entdeckte überall architektonische Feinheiten.

Und die Person kannte sich aus.

Denn man hatte sie vorab umfassend informiert.

Bevor sie den Spalt zwischen den beiden Häusern überwand, griff sie in die Tasche und nahm mehrere Klumpen heraus. Sie sahen aus wie klebriges Kinderspielzeug zum Gegen-die-Wand-Werfen. Sie hatten denselben Farbton wie die Ziegel des Hauses. Wenn man sie warf, blieben sie dort kleben, wo sie auftrafen. Wie durchgekaute Papierkügelchen, die an der Wandtafel haften bleiben. In jedem von ihnen befand sich ein leistungsstarker Sender, der Geräusche selbst durch gemauerte Wände hindurch auffing und weiterleitete.

Das waren die neuesten Errungenschaften in ihrer Trickkiste.

Der Wind kam ihr zugute, als sie die gummiartigen Klumpen über den schmalen Grasstreifen hinüberwarf, der sich zwischen den Häusern befand. Sie landeten klatschend an der Seitenwand von Kozlows Haus. Das Geräusch war so leise, dass es vom Rauschen der Brandung übertönt wurde. Es dauerte nicht lange, dann war die Außenwand mit den Geräten gespickt. Sie waren fast nicht zu orten.

Es dauerte nur Sekunden, bis die Geräusche, die die Wanzen auffingen, in ihrem Ohrhörer ankamen. Sie lauschte dem Zirpen und interpretierte das Gehörte, während sie die Dunkelheit unter sich absuchte. Sie wollte erst beginnen, wenn sie sicher war, dass die Luft rein war. Alles andere hätte ihren sicheren Tod bedeutet, und sie genoss das Leben zu sehr, um ein solches Risiko einzugehen.

Eine ganze Minute verstrich. Und noch eine.

Die dritte war schon halb vorüber, als sie genug gehört hatte.

Es war der geeignete Moment, um weiter vorzudringen.

Sie griff in ihre Ausrüstungstasche und nahm einen kleinen Knüppel heraus. Er war mattschwarz. Sie zog an beiden Enden des Gerätes, um es auszuziehen. Es wurde länger, als jeder Laie erwartet hätte. Einen halben Meter, einen Meter und schließlich drei. Dann fasste sie in die Mitte der Stange und schwenkte sie in engen kleinen Kreisen. Das Ding wurde an beiden Seiten immer länger und dabei gleichzeitig unglaublich dünn, wobei es unfassbar gerade blieb – bis es schließlich sechs Meter lang war.

Das war exakt die Länge, die sie brauchte.

Sie vergeudete keine Zeit und streckte die Stange zwischen den beiden Häusern aus. Für sie sah sie aus wie ein langer, schwarzer Luftsplitter, so als ob ein Dämon die Nacht aufgeschlitzt hätte. Selbst wenn jemand aus dem Haus nachgesehen hätte, hätte er sich sehr anstrengen müssen, um sie zu erkennen.

Als Nächstes richtete sie das entgegengesetzte Ende der Stange auf einen Balkon an der Rückseite von Kozlows Haus. Sie positionierte die Spitze zwischen zwei Geländersprossen und vergewisserte sich, dass nichts wegrutschen konnte. Dann legte sie ihr Ende der Stange an den Rand des Daches und klopfte leise einen langen, gebogenen Nagel in das Holz. Anschließend hakte sie ihr Ende der Stange dort ein, gerade fest genug, um sie am Platz zu halten, aber so locker, dass sie sie herausziehen konnte, sobald sie auf der anderen Seite angekommen war.

Kozlows Balkon lag zirka zwanzig Grad tiefer als ihre jetzige Position. Der Winkel war nahezu perfekt. Sie atmete tief durch, blickte in den Spalt hinunter, um sich zu vergewissern, dass sie immer noch nicht entdeckt worden war, dann kletterte sie über den Rand des Daches. Ohne zu zögern ergriff sie den Stab mit beiden Händen und glitt wie Wasser, das an einem Faden herunterläuft, über den schmalen Spalt.

In weniger als fünf Sekunden war sie wie eine Wolke, die am Mond vorüberzieht, von einem Haus zum anderen geglitten. Sie zog sich über die Brüstung auf den hübschen Balkon. Dann schob sie den Stab zusammen und steckte das Gerät wieder ein.

Nur einen Augenblick später berührte sie die mit Gardinen versehenen Glasfenstertüren an der Rückseite des Hauses. Ihre behandschuhten Finger bewegten sich schnell und leise, wie um der Tür zu versichern, dass alles in Ordnung sei. Sie tastete, bis sie ein Klick hörte.

Sie grinste zufrieden.

Aber wegen ihrer Maske war das nicht zu sehen.

Im Handumdrehen betrat sie das teuerste und am schwersten bewachte Haus in Brooklyn.

3. KAPITEL

Im Haus blieb sie sofort wie angewurzelt stehen.

Ihre Überraschung hatte nichts mit Alarmanlagen oder Warnzeichen zu tun. Sie lag an dem verblüffenden Unterschied zwischen dem Äußeren des Hauses und seiner luxuriösen Inneneinrichtung. Von außen sah das Haus wie ein überdimensionierter Kolonialbau in einer hübschen Straße in Brooklyn aus. Im Innern wirkte es jedoch eher wie das Taj Mahal, der Winterpalast oder das Schloss Versailles.

Es stank förmlich nach Reichtum und Überfluss.

Um sie herum erstreckte sich das Hauptschlafzimmer wie die Schatzhöhle von Ali Babas vierzig Räubern. Die schiere Größe des Raumes mit weißen Wänden und Parkettfußboden war unglaublich. Kozlow und seine Wachen hätten hier Basketball spielen können, so hoch war das Zimmer. Die Spitzgiebeldecke hatte abfallende Seiten mit vielen Dachluken. Jede war mit einer Blende versehen, die sich mit einem Motor justieren ließ. An einer Wand stand ein großes Doppelbett mit einem geschnitzten Mahagonirahmen. Kostbare Kommoden und Vertikos lösten einander ab. Das alles wurde von fein gearbeiteten Wandvertäfelungen eingefasst.

Noch während sie es bewunderte, zirpte eine Warnung in ihrem Ohr.

Jemand näherte sich.

Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann huschte sie durch den Raum und erreichte das dazugehörige Badezimmer genau in dem Moment, als sich die Schlafzimmertür öffnete. Mit stählernen Nerven kauerte sie sich neben die erhöhte Badewanne und versteckte sich im Dunkeln. Von dieser Position aus konnte sie den großen Badezimmerspiegel zu ihrem Vorteil nutzen.

Sie sah im Spiegel, wie zwei muskulöse Männer in teuren dunklen Anzügen das Schlafzimmer betraten. Sie schalteten das Licht ein und gingen durchs Zimmer auf das Balkonfenster zu, wo sie gerade noch gestanden hatte. Keiner der beiden Männer hatte sie gesehen.

»Stehen die Kunstwerke zur Auktion bereit?«, fragte einer der beiden auf Russisch.

Der andere schloss einen Schreibtisch in der Nähe des Fensters auf. »Da.«

»Alles?«, fragte der Erste.

Der andere nickte und nahm einen Schlüssel aus der Schublade.

Die beiden Männer eilten wieder aus dem Schlafzimmer, als wäre es nicht ratsam für sie, sich allzu viel Zeit zu lassen. Sie schalteten das Licht aus, dann schlossen sie hinter sich die Tür.

Sie atmete erleichtert aus, als die Gesprächsfetzen, die aus dem Flur zu ihr drangen, allmählich leiser wurden.

Sie hoffte, dass sich die Männer weit genug vom Schlafzimmer entfernt hatten, sodass sie den Flur benutzen konnte. Ansonsten würde sie gezwungen sein, das Haus über den Balkon wieder zu verlassen und sich eine andere Methode auszudenken, in das Haus einzudringen. Sie bewegte sich vorsichtig ins Schlafzimmer zurück und lauschte konzentriert an der Tür.

Stille.

Sie grinste und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Der Anblick war bemerkenswert.

Es sah aus wie der Hauptausstellungsraum eines Kunstmuseums. Ein kreisförmiger Wandelgang auf halber Höhe umrundete einen Innenhof. Er war mit einem reich verzierten, jadefarbenen Geländer versehen. An der Decke gab es ein facettiertes Oberlicht. Im Zentrum hing ein extravaganter, handgeschliffener Kristalllüster von der Decke. Glücklicherweise war der höher gelegene Wandelgang nicht hell ausgeleuchtet, sondern in ein sanftes, weißes Licht getaucht, das von den Wänden selbst auszugehen schien und nicht von den raffiniert versteckten, dezenten Leuchtkörpern.

Sie lauschte weiterhin konzentriert, hörte aber nichts mehr, nachdem die Wachen verschwunden waren: keine Gesprächsfetzen oder sonstige Geräusche wie das Schnarren eines Funkgeräts oder das Quäken eines Fernsehers. Die Stille machte die Sache für sie in mancherlei Hinsicht einfacher. Sie konnte so leicht bemerken, ob sich jemand näherte. Andererseits machte es ihre Mission aber auch schwerer. Jedes von ihr verursachte Geräusch würde auffallen in dem stillen Haus.

Sie bewegte sich wie ein Schatten, trat in den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich zu, dann eilte sie den Korridor entlang. Sie stoppte vor der verschlossenen Tür zum Nachbarzimmer, aber nur so lange, bis sie das Schloss mit einem Dietrich geöffnet hatte. Zehn Sekunden später stand sie in der Bibliothek und bewunderte die handgeschnitzten Regale und das Mahagoniparkett. Es war so schön, so opulent, dass sie für das, was sie tun musste, fast Schuldgefühle empfand.

Sie durchsuchte leise und effizient jeden Winkel des Raums.

Jede Seite jedes einzelnen Buches. Jedes Regal und jede Schublade. Jede Landkarte, jedes Bild, jeden Stuhl und jeden Zentimeter jeden Tisches. Sie checkte die einzelnen Elemente des Stäbchenparketts und jeden Zentimeter der Wände auf Geheimverstecke oder Safes. Sie kletterte sogar auf die Regale und Möbelstücke, um die Decke und die versenkten Lampen zu untersuchen.

Sie fand nichts. Die Bibliothek war sauber.

Unbeirrt verließ sie den Raum und steuerte auf das Treppenhaus zu. Die Wände waren so weiß, dass sich ihr komplett schwarzes Outfit davon abhob wie ein Neonschild. Sie hatte es nicht weit, doch sie wusste, dass sie äußerst leicht entdeckt werden konnte, bis sie im Parterre ankam.

Sie bewegte sich mit ruhiger Gewissheit.

Ohne innezuhalten. Ohne zu zweifeln.

Ohne auch nur für eine Sekunde über das Risiko nachzudenken.

In ihrem vorigen Job hatte sie Jahre an der Front verbracht, wo das Risiko für Leib und Leben noch ungleich größer gewesen war. Damals hatte sie ihr Geschick jedoch noch in den Dienst des Sternenbanners gestellt. Mittlerweile arbeitete sie auf eigene Rechnung. Das gefiel ihr bedeutend besser.

Sie erreichte ohne einen Zwischenfall den unteren Treppenabsatz. Dort blickte sie nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Als sie niemanden entdeckte, eilte sie weiter.

In der Lobby war ein Marmorfußboden verlegt. Davon gingen auf der einen Seite ein riesiges Wohnzimmer und auf der anderen ein ebenso großes Esszimmer ab. Die Räume wurden durch ein Tonnengewölbe voneinander getrennt, das von eleganten Säulen gestützt wurde und mit traditionellen Wandverkleidungen dekoriert war. Kristalllüster hingen im Zentrum eines jeden Raumes. Keiner war eingeschaltet, doch im Dämmerlicht funkelten sie wie Diamanten.

Wer hatte gesagt, dass sich Verbrechen nicht auszahlt?

Sie durchsuchte beide Bereiche nach Anzeichen für einen Einbausafe oder eine verborgene Tür, doch sie blieb auch diesmal erfolglos. Hier hätte sie jeder entdecken können, seien es Menschen, deren Aufgabe es war, Kozlow zu schützen, oder andere, die lediglich am Wochenende die Fußböden polierten.

Sie drang weiter vor und entdeckte die Küche, die sich dahinter befand. Wie zu erwarten war sie riesig und hatte alles doppelt: Herde, Spülbecken, Geschirrspüler und Kühlschränke – ganz so, als ob der biblische Noah die Küchengeräte bestellt hätte. Sie kannte den wahren Grund dafür: Kozlow musste eine ganze Armee durchfüttern.

Aus unerfindlichen Gründen kümmerten sich russische Gangster um ihre Leute wie treusorgende Mütter. Sie beherbergten sie, sie gaben ihnen zu essen und beschenkten sie. Im Gegenzug erwarteten sie uneingeschränkte Loyalität und äußersten Respekt. Schon beim kleinsten Anzeichen eines Verrats rollten Köpfe. Die Köpfe der Verräter. Die Köpfe ihrer Familie. Und sogar die Köpfe ihrer Haustiere. Es war schon einmal vorgekommen, dass sie sogar die Facebook-»Freunde« eines Verräters umgebracht hatten.

Die russische Bratwa verstand keinerlei Spaß.

Sie verbannte diese Gedanken aus ihrem Kopf und öffnete die einzige Tür, die von der Küche abging. Durch sie gelangte man zu einer Betontreppe, die nach unten ins Dunkel führte. Sie überlegte kurz, dann schloss sie hinter sich die Tür und testete ihre Sicht.

Sie sah nichts. Absolut gar nichts.

Sie fluchte im Stillen.

In ihre Maske war ein Nachtsichtgerät eingebaut, doch es funktionierte nur, wenn noch etwas Licht vorhanden war. Im Keller gab es keins. Sie wusste, dass sie ein gewaltiges Risiko eingehen musste, wenn sie etwas sehen wollte. Sie zog zögernd eine kleine Taschenlampe aus ihrer Tasche, schaltete sie ein und folgte dem Lichtstrahl die Treppe hinunter. Der Keller bereitete ihr die nächste Überraschung. Nicht nur, weil ihn Kozlow trotz der Meeresnähe überhaupt gebaut hatte, sondern weil er das Gegenteil von allem war, was sie oben gesehen hatte.

Der rote Fußboden war nichts als angestrichener Beton. Die Wände und die Decken waren mit Kunststoff und Isoliermaterial verkleidet – vermutlich eher als Schallisolierung denn zur Wärmedämmung. Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, dass es hier geschäftlich mehr zur Sache ging als überall sonst im Haus. Es war die Art von Geschäften, bei denen man eine Zange, einen Baseballschläger und ein schreiendes Opfer brauchte.

Sie konzentrierte sich auf die graue Metalltür im Zentrum der gegenüberliegenden Wand. Sie befand sich neben einem komplizierten Kühlsystem, das in der Ecke eingebaut war. Baupläne und Materialbestellungen hatten sie vermuten lassen, dass es im hinteren Bereich des Kellers noch ein Zimmer gab.

Sekundenschnell begriff sie, dass es sich nicht um ein Zimmer handelte.

Es war ein begehbares Fleischlager.

4. KAPITEL

Es war nicht die riesige polierte Stahltür, die ihr verriet, dass es sich um einen Kühlraum handelte. Es war der übergroße Türriegel.

Sie war auf alle Arten von Türen vorbereitet gewesen. Selbst die einfachsten versteckten Tresorkammern waren durch irgendeine Art von Schloss gesichert. Die Stahlkammern von Banken und Casinos – wo traditionell Maßstäbe gesetzt wurden, wenn es um Tresore ging – verwendeten alles Mögliche, von analogen Stiftzylinder-Kombinationsschlössern bis hin zu hochmodernen biometrischen Schnittstellen wie Hand- oder Retinascannern. Es gab sogar Systeme, die Schweißabsonderung und Blutdruck erkannten. Falls jemand beim Versuch, den Tresorraum zu betreten, Anzeichen von Stress erkennen ließ, verweigerte die Software den Zugang – selbst wenn der eingegebene Code richtig war.

Sie hatte Glück, denn diese Tür war recht primitiv.

Ein einfacher Ruck reichte, um sie zu öffnen.

Eine Welle kalter Luft kam ihr entgegen, als sie in die Kühlkammer sah. An den Wänden befanden sich Stahlregale mit Behältern voller tiefgekühltem Gemüse, aber auch Fertigprodukte vom Discounter wie Nudelgerichte oder Nachspeisen.

Im Zentrum des Raums stand eine Schlachtbank – ein schwerer Stahltisch aus rostfreiem Stahl mit einer Auswahl von Sägen, Beilen und Fleischmessern. An zwei Seiten des stählernen Arbeitsplatzes hingen große Fleischstücke von der Decke. Große Stücke Rindfleisch ebenso wie ganze Wildschweine, Schafhälften, Hähnchen und Gänse baumelten an Haken wie ein Vorhang aus Fleisch.

Als sie die Tür hinter sich zuzog, zischte der Kompressor der Kühlanlage. Das Belüftungssystem leitete kühlere Luft ein, um den Effekt ihrer Körperwärme auszugleichen.

Sie zitterte, während die Feuchtigkeit in ihrer Atemluft kondensierte.

So modern er auch war, vor der Kälte konnte sie ihr Overall kaum schützen. Andererseits war es aber nicht die Eiseskälte, der ihr Interesse galt, sondern der Raum an sich. Er war zwar groß, aber trotzdem viel kleiner, als sie geglaubt hatte. Dieser Raum hätte fast ein Drittel des gesamten Kellers ausmachen müssen, war aber nicht annähernd so groß. Entweder stimmten die Pläne nicht, oder es steckte noch mehr hinter diesem Kühlraum, als auf den ersten Blick ersichtlich war.

Fünf Minuten später hatte sie die Antwort.

Wegen der vereisten Wände war die zweite Tür hinten im Kühlraum nahezu unsichtbar. Allerdings waren da Scharniere, mit denen man die Regale vor der Tür nach vorne drehen und zur Seite schwingen konnte. Nachdem sie das Tiefkühlgemüse weggeschoben hatte, entdeckte sie einen kleinen Schlitz in der Metalloberfläche der hinteren Wand. Es war ein Magnetkartenschloss, wie man sie für die Zimmertüren teurer Hotels verwendet.

Sie nahm ein flaches Gerät aus einer ihrer vielen Taschen, schlug den Deckel auf und führte das Gerät in den Kartenleser ein. Es passte perfekt. Eine Vielzahl von Zugangscodes flimmerte über den kleinen Screen. Sie hob eine Braue, als der Mikrocomputer auch nach der vierten richtigen Ziffer weiterarbeitete. Geldautomaten benötigen lediglich eine vierstellige PIN-Nummer, deshalb wirkte eine fünfte Stelle etwas übertrieben. Als ihr Gerät die zehnte und letzte Ziffer erreichte, war sie überaus fasziniert.

Was zum Teufel bewahrt er hier auf?

Die Bundeslade?

Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Sie hakte die Finger um die Türkante und zog sie in ihre Richtung. Sie rechnete mit Geldbündeln, Kokainbergen oder etwas anderem, das die Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigte.

Das Einzige, was sie stattdessen sah, war ein Riese.

Mit einer Größe von über zwei Metern und zirka zweihundert Kilo Gewicht füllte der russische Wächter buchstäblich den ganzen Türrahmen aus. Als er der trainierten Ninja von Angesicht zu Angesicht – beziehungsweise Brust zu Angesicht – gegenüberstand, reagierte er panisch und griff nach seiner Pistole, anstatt einfach die Arme um sie zu schlingen und ihr innerhalb von Sekunden das Leben aus dem Leib zu quetschen.

Ein Fehler, den er sehr bald bedauerte.

In dem Moment, als er seine Waffe zückte, stieß sie ihm die rechte Hand in die Kehle, als schleuderte sie einen Speer. Es war ein Knöchelstoß – Straßenschläger nennen so etwas »Bärenkralle«, in der Kampfkunst ist es als »Pantherfaust« bekannt. Ihr Daumen war fest angelegt, die Handfläche gestreckt und die vier Finger gekrümmt, um eine härtere Schlagfläche zu bekommen. Dieser Schlag konnte unter das Kinn treffen, wie kein normaler Faustschlag es vermochte.

Es war die perfekte Wahl für einen größeren Gegner.

Ihr Schlag war so brutal und präzise, dass er seine Luftröhre zusammendrückte und dabei auch seine Stimmbänder in Mitleidenschaft zog, wodurch er vorübergehend stumm wurde. Wichtiger noch war, dass die Kraft, mit der der Schlag erfolgt war, und der Schmerz, den er auslöste, den Griff um seine Pistole lockerte. Sie flog ihm aus der Hand und rutschte in die hintere Ecke des geheimen Raumes – zu weit weg, um sie gleich wieder erreichen zu können.

Allerdings machte ihn das nur zorniger.

Wutentbrannt senkte der Gigant die Schultern und griff an. Er schob sie zurück zur Schlachtbank. Sie blickte kurz nach hinten, als sie rückwärts stolperte. Er ging mit solcher Kraft auf sie los, dass sie fürchten musste, ihre Wirbelsäule würde an der scharfen Kante des Tisches brechen. Deshalb ließ sie sich auf den Boden fallen und nahm in Kauf, dass der Kraftprotz sie unter den Tisch trat. Sie rutschte über den Boden und sprang rasch wieder auf die Füße, starrte über den Tisch auf den mächtigen Wächter und wartete seine nächste Attacke ab.

Sie brauchte nicht lange zu warten.

Der Russe schnappte sich ein großes Fleischermesser vom Hauklotz. Mit der anderen Hand fasste er die Ecke des schweren Stahltisches und schleuderte diesen quer durch den Raum. Vier Männer waren nötig gewesen, um ihn in den Kühlraum zu bringen. Ihn dagegen kostete es kaum mehr Mühe, den Tisch beiseitezuschieben, als eine Fliege zu zerquetschen.

Er griff sie an, und in seinen Augen glühte der Zorn. Er schwenkte das Messer in einem großen Bogen, dann brachte er sich wieder ins Gleichgewicht. Darauf holte er ein zweites Mal nach ihr aus und benötigte erneut einen Moment, um sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. Er war zwar unbeholfen, aber sie wusste, dass er sie nur ein einziges Mal zu treffen brauchte. Er war so wütend und stark, dass er ihr mit einem einzigen Hieb den Kopf vom Rumpf trennen würde.

Nach seinem dritten Schwung schlug sie zurück. In dem Moment, als die Klinge an ihr vorbeischlitzte, machte sie einen Schritt vorwärts und verpasste ihm einen bösen Tritt in den Unterleib. Der Bastard zuckte kaum, deshalb änderte sie ihre Taktik und schlug ihm ins Gesicht. Sie zielte auf seinen Nasenrücken, doch sie traf seine Augenhöhle. Es fühlte sich an, als hätte sie eine Betonwand getroffen. Sein Auge schwoll fast augenblicklich zu. Über seine Wange tropfte Blut aus einer klaffenden Wunde unter der Braue, doch er ignorierte es wie ein Boxer im Ring.

Er holte wieder nach ihr aus, doch diesmal wehrte sie den Schlag ab. Sie wusste, dass sie es unmöglich schaffen konnte, den Schwung seines Arms völlig zu stoppen, doch sie konzentrierte ihre Abwehr auf sein Handgelenk und konnte ihn entwaffnen. Vom Aufprall flog das Messer quer durch den Raum. Der Wächter reagierte mit einem Hieb in ihre Rippen, der sie quer durch den Raum in die entgegengesetzte Richtung schleuderte.

Der Hüne nutzte die Gelegenheit, sich in das Geheimzimmer zurückzuziehen. Er ließ den Blick über den Boden schweifen, fand, wonach er gesucht hatte, und griff nach der Pistole.

Er hatte eindeutig vor, die Sache zu Ende zu bringen.

Als er in der Tür zwischen den beiden Räumen stand, wunderte er sich. Er hatte damit gerechnet, sie zusammengekrümmt in einer Ecke des Kühlraums liegen zu sehen. Von seinem Schlag hätte sie eigentlich Blut spucken müssen. Doch sie war nicht da, und er konnte sie auch sonst nirgends sehen.

Sie war unbemerkt über den Boden gekrochen und hatte hinter der Tür Zuflucht gesucht. Im selben Augenblick, als er ganz im Kühlraum stand, knallte sie die Tür hinter ihm zu. Dunkelheit schluckte sie beide.

Ohne Licht mussten sie sich auf die Geräusche verlassen, und das Einzige, was sie hören konnten, war das angestrengte Atmen des anderen. Der Gigant richtete die Waffe auf die Tür und feuerte. Er hielt den Atem an und hoffte, sein Opfer wimmern zu hören, aber ihm antwortete nur Stille. Er feuerte wieder … und wieder … und wieder.

Jedes Mal zielte er in eine andere Richtung.

Jedes Mal erfolglos.

Ihr mattschwarzer Overall half ihr, sich in dem Labyrinth der von der Decke baumelnden Tierkörper zu verbergen. Bei jedem Mündungsblitz bewegte sie sich näher und näher an ihren Gegner heran. Als sie den Abstand auf weniger als einen Meter verringert hatte, schlug sie ihm ein Bein weg. Er krachte auf den Boden, und sie sprang hoch, umklammerte eine hängende Rinderhälfte, als wäre sie ein Schaukelseil, und kappte die Nylonschnur, an der das Fleisch hing, mit einem Beil. Das kombinierte Gewicht von ihr und dem Stier krachte auf den Wächter. Seine Hüfte bekam beim Aufprall das meiste ab und zerbrach wie Porzellan.

Sie stand auf und leuchtete mit ihrer Taschenlampe. Das verzerrte Gesicht des Wächters verriet den unerträglichen Schmerz, den ihm seine gebrochene Hüfte bereitete. Tränen strömten über seine fleischigen Wangen.

Glücklicherweise verfügte sie über das geeignete Mittel, ihn seinen Schmerz vergessen zu lassen.

Sie wickelte die Finger um die Schlagringe, ohne die sie nie aus dem Haus ging. Sie hatte noch keinen Mann getroffen, der mehr als einen guten Treffer überstand. Sie holte aus und versetzte dem Wächter mit aller Kraft einen Kinnhaken.

Das Riesenbaby legte sich sofort schlafen.

Zeit, nachzusehen, was er beschützt hatte.