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Matteo Bussola

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Aus dem Leben eines Familienvaters

Aus dem Italienischen
von Ingrid Ickler



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Die italienische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Notti in bianco, baci a colazione« bei Einaudi, Turin.

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1. Auflage 2017
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Matteo Bussola
License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
by Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Redaktion: Brigitte Lindecke
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN 978-3-328-10164-2
www.penguinverlag.de


V000

Für sie

Mein Beruf: Vater.
Mein Job: Comiczeichner.
Meine Leidenschaft: Schreiben.

Zeichnen liegt mir im Blut, zum Vater haben mich meine drei wunderbaren Töchter erzogen, die mittlerweile neun, fünf und drei Jahre alt sind. Und geschrieben habe ich schon immer gerne.

Dieses Buch ist die Synthese aus Beruf und Leidenschaft. Eine Art Tagebuch, in dem ich persönlich Erlebtes, spontane Gedanken und dies und das aus dem Alltag mit meinen Töchtern gesammelt habe. Sie wachsen, und ich mit ihnen, als ob das Vatersein einen besseren Menschen aus mir gemacht hätte, der sich auch beruflich mehr zutraut und ein aufmerksamerer Lebenspartner geworden ist. Allerdings auch ein ­müder Lebenspartner. Zum Glück trifft das auch auf Paola, die Mutter meiner Kinder, zu: Gemeinsam etwas aufzubauen, kostet eben Kraft.

Virginia, Ginevra und Melania sind die Brille, durch die ich die Welt betrachte. Sie haben meinen Blick verändert, mir eine neue Sichtweise geschenkt, selbst auf die Vergangenheit, auf das, was vor ihnen war. Man nennt das wohl »die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten«. Vieles ist schlicht eine Frage der Perspektive, die uns neue Horizonte eröffnet und uns verstehen lässt, dass wir, indem wir unsere Sicht auf die Dinge verändern, auch die Dinge selbst verändern. Und dass die unvorstellbarsten Dinge geschehen können, weil du an einem bestimmten Punkt, vielleicht ohne dir dessen bewusst zu sein, einen neuen Weg eingeschlagen hast. Und wenn der richtige Moment gekommen ist, musst du deine Angst überwinden und springen. Für mich war dieser Moment das Vaterwerden.

In meinem Leben mit chronischem Schlafmangel bin ich Vater, Kind, Freund, Koch, Gitarrist, Gärtner, Zeichner, Geliebter, Tellerwäscher, Bauklotzarchitekt und vieles mehr. Tag für Tag und immer in einer anderen Reihenfolge. Aber ich habe festgestellt, dass das Vatersein die einzige Rolle ist, die mich voll und ganz erfüllt.

Jeden Tag lerne ich etwas Neues, und dieses neue Wissen hilft mir, mein übriges Leben zu meistern. Meine Töchter ­geben mir Energie und erinnern mich daran, was Vatersein bedeutet: Das Gleichgewicht zu finden zwischen Verantwortung und Loslassen, zwischen Strenge und Zärtlichkeit. Und diese Maxime gilt für mein ganzes Leben. Was mir meine Töchter nicht beibringen, kommt von allein.

Winter

Was wiegt ein Elefant?

Es war im Januar 2007, ein Samstag wie heute, die Wolken ­hingen tief am Himmel.

Ich war im Krankenhaus, sah Ärzte an mir vorbeieilen, starrte auf Garderobenständer und Kaffeeautomaten. Ich würde zum ersten Mal Vater werden, und dieser Umstand sorgte dafür, dass ich mich nicht wie ich selbst fühlte, sondern wie ein Zuschauer im Leben eines anderen.

Es war Abend, und ich saß im Warteraum. Niemand rauchte. In den Filmen rauchen sie immer, dachte ich. Aber auch ich rauchte nicht. Was ebenfalls dazu beitrug, dass ich die Szenerie wie im Traum wahrnahm, wie durch einen Filter und in Zeitlupe.

Dieser Filter war ich selbst. Oder besser gesagt, meine ursprüngliche Vorstellung von mir, mein altes Leben, meine ­Lebensphilosophie, alles, was sich von nun an verändern und auf mich einprasseln würde wie schwere Tropfen aus Gewitterwolken.

Paola wirkte entspannt, während ich mir vorkam wie ein Betrunkener, der ein Glas zu viel hatte. Ich hatte ein seliges ­Lächeln auf den Lippen, um mich herum schien sich alles
zu drehen. Die anderen im Warteraum mussten denken, ich hätte sie nicht alle.

Die Krankenschwester sagte erst, das Kind käme um acht, dann um neun, dann um zehn, dann um elf und schließlich spielte Zeit keine Rolle mehr.

Die Nacht wollte kein Ende nehmen. Während der langen Stunden des Wartens begegnete ich all meinen Ängsten und meiner Ohnmacht, meine Gefühle fuhren mit mir Achterbahn. Und schließlich entlud sich die ganze Anspannung in unbändiger Freude.

Während ich das hier schreibe, wird mir klar, dass ich eigent­lich gar keine Lust habe, diese Situation zu Papier zu bringen, diese Angst und die ihr innewohnende Kraft. Es ist schlichtweg unmöglich, oder zumindest bin ich nicht dazu in der Lage. Dazu kommt, dass es hier um ganz persönliche Erlebnisse geht, die für jeden, der sich schon einmal in der gleichen Situation befunden hat, höchst unterschiedlich sind. Für mich wird diese an sich natürlichste Sache der Welt immer etwas ganz Besonderes bleiben.

Was will ich eigentlich damit sagen? Warum tippe ich diesen Text hektisch in mein iPad, während ich die Kinder für den Kindergarten und die Schule fertig mache? Es ist die Erkenntnis, dass es im Leben eines Mannes zwei elementare Lebensphasen gibt: das Vorher und das Nachher.

Das Vorher und das Nachher ist bei jedem anders. Ich kenne Menschen, die haben sich im Nachher getrennt, andere haben geheiratet. Manche haben ihren Traumberuf gefunden, manche einfach nur einen Job. Einige sind mit »Ärzte ohne Grenzen« nach Haiti gegangen. Ich erinnere mich an ­einen alten Mann, den ich bei unserem Gespräch am liebsten die ganze Zeit im Arm gehalten hätte. Er hat mir erzählt, dass sein Nachher die Befreiung durch die Amerikaner gewesen
sei und dass es Dinge gebe, die alle Nachhers auslöschen und viele Vorhers verdunkeln.

Wenn du Vater wirst, wiegt dein Nachher etwa dreieinhalb Kilo. Du begreifst sofort, dass das ein endgültiges Nachher ist, das einzige in deinem Leben, von dem es kein Zurück mehr gibt. Auch wenn du es noch so sehr willst, deine Zukunft eigent­lich ganz anders geplant hattest: Dieses Nachher bleibt.

Und es verändert dich, vom ersten Tag an. Du spürst es in Armen und Beinen, wie eine Metamorphose, auch wenn du die Veränderung nicht genau in Worte fassen kannst.

Heute hat mein Nachher insgesamt etwa sechzig Kilo. Ich bringe die drei jeden Tag in Schule und Kindergarten und auch sonst überallhin. Ich bewege mich nicht mehr wie eine Gazelle, sondern wie ein Elefant.

Die Gazelle steht jeden Morgen auf, weil sie weiß, dass es den Löwen gibt. Und der Löwe tut das Gleiche, weil er weiß, dass es die Gazelle gibt.

Dem Elefanten dagegen ist das egal. Er flieht vor niemandem, und niemand flieht vor ihm. Der Elefant steht auch nach nur zwei Stunden Schlaf pflichtbewusst auf und tut, was getan werden muss. Klar, er ist der Elefant, ihm kann keiner was. Er beschränkt sich auf das Wesentliche und bewegt sich bedächtig und vorsichtig, auch in Porzellanläden.

Aber wenn er sich bewegt, dann nicht wegen der Löwen oder der Gazellen.

Er tut es, weil er zum Elefanten geworden ist. Mit Virginias Geburt hat das Nachher begonnen. Und dieses Elefanten-Nachher ist das einzige Nachher, das gleichzeitig auch ein Vorher ist, Beginn und Ende zugleich, alles zurück auf Anfang, Vorher und Nachher verschmelzen zu einem Jetzt.

Warum Kinder in die Schule müssen

Ich sitze mit Ginevra und Melania im Auto und fahre sie in den Kindergarten, nachdem wir Virginia zum Schulbus gebracht haben.

»Papa, warum müssen Kinder in die Schule?«

»Weil es eben so ist, Ginevra.«

»Aber warum ist es so?«

»Weil das ihr Job ist. Der Job von Mamas und Papas ist die Arbeit, Kinder arbeiten in der Schule.«

»Aber wenn Kinder arbeiten, warum bekommen sie dafür kein Geld?«

»Sie bekommen doch Geld, die Mamas und Papas heben es für sie auf. Und wenn sie groß sind, bekommen sie es zurück.«

»Wie viel Geld?«

»Viel. Und wenn die Kinder gut in der Schule sind, sogar noch etwas mehr.«

»Mehr als ein Euro?«

»Ähm, klar, viel mehr.«

»Wie viel?«

»Zehn Euro.«

»Zehn Euro? So viel?«

»Ja.«

»Papa, zeigst du mir mein Geld, wenn wir wieder zu Hause sind?«

Ich denke mir: Gut, dass ich nicht fünfhundert gesagt habe.

»Klar.«

»Sag mal, bekommst du für deine Arbeit auch Geld, Papa?«

»Natürlich.«

»Auch zehn Euro?«

»Nein, ich bekomme mehr. Ich bin ja schon groß.«

»Und wie viel?«

»Zwanzig Euro.«

»Zwanzig? So viel Geld?«

»Na ja, Ginevra, so viel ist das nun auch wieder nicht.«

»Jawohl! Du bist reich, oder?«

Ich betrachte sie im Rückspiegel. Ich sehe ihre strahlenden Augen, neben ihr sitzt Melania und lutscht an ihrer Antirutschsocke.

»Ja, das bin ich wirklich.«

Das Fest

Paola ist auf Geschäftsreise, die beiden Kleinen sind bei den Großeltern, und Virginia und ich sind alleine zu Hause.

Gestern habe ich sie auf eine dieser furchtbaren Grundschul-Geburtstagsfeten begleitet. Gefeiert wurde im Keller des Gemeindehauses, das der Pfarrer freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. Die Atmosphäre war wie aus einem Horrorfilm: die Decke kaum zwei Meter hoch und anstelle von Fenstern nur Lichtschächte. An der Wand hingen ein paar zerknitterte Girlanden, daneben ein »Herzlichen Glückwunsch Mar a na«, die beiden fehlenden Buchstaben hatten die Kinder schon abgerissen. Die Mütter drängten sich wie aufgeregte Hühner in der hintersten Ecke des Raums, direkt neben dem Klo und einem niedrigen Tisch mit Chips und Flips.

Als ich den Raum betrat, starrten sie mich an wie einen halb nackten, betrunkenen Hunnen, der in ihr Idyll geplatzt war. Außer mir kein Vater weit und breit. Die Schockstarre dauerte allerdings nur einen winzigen Augenblick, denn im Grunde mögen mich Mütter.

Nach etwa drei Minuten erzählte mir Maria Carla von ihren Nackenproblemen, Mattias Mutter meinte, ich würde diesem, na, ich wüsste schon wem, ähnlich sehen, und die Mama des Geburtstagskinds brachte mir ein Salamibrötchen.

Ich wäre am liebsten gestorben. Vorausschauend hatte ich die Schuhe anbehalten und den Reißverschluss der Lederjacke bis unters Kinn gezogen, weltweit bekannte Zeichen für: »Ich lasse meine Tochter hier und hole sie später wieder ab, macht euch keine Illusionen, draußen steht mein Auto, der Motor läuft, und ich habe eine Leiche im Kofferraum.« Aber keine Chance. Sie hatten mich fest im Griff. Eine halbe Stunde lang musste ich ihr Geschwätz ertragen. Dann doch lieber dreißig Minuten Presslufthammer.

Und als ich mich endlich von Virginia verabschiedet und ihr ins Ohr geflüstert hatte: »Amüsier dich gut, ich hole dich um sieben wieder ab!«, kam der mit zwei Tabletts voller Sand­wiches beladene Vater des Geburtstagskinds herein. Er warf mir einen Blick zu, der an einen durchnässten Streuner nach einem Sommergewitter erinnerte: »Du Mistkerl, wohin willst du? Du kannst mich doch mit denen nicht alleine lassen! Es gibt für Fälle wie diesen ein ungeschriebenes Gesetz unter den Männern dieser Welt, und das weißt du auch, du bleibst verdammt noch mal hier, und wir stehen das gemeinsam durch, wie Brüder.« Ich erwiderte den Blick und giftete zurück: »Vergiss es, das ist dein Fest, und ich kann mich nicht erinnern, dich bei Virginias Geburtstagsfeier bei uns zu Hause gesehen zu ­haben. Deine Tochter schon. Du kannst von Glück sagen, dass ich dir kein Bein stelle und du nicht mitsamt den Sandwichs auf die Fresse fällst.« Und seine Augen bettelten: »Na gut, das war nicht in Ordnung. Gib deinem Herzen einen Ruck, jeder macht mal einen Fehler. Außerdem habe ich von dem Fest bei dir nichts gewusst, meine Frau hat bestimmt die Einladung
vor mir ­versteckt, entschuldige.« Ich habe mich schließlich ­erweichen lassen, bin auf ihn zugegangen, habe ihm ein Tablett abgenommen und auf den Tisch gestellt. Dann zwinkerte er mir komplizenhaft zu, stieß mir den Ellbogen in die Seite und sagte: »Bierchen? Was meinst du?« Und bereits beim »Bie« spürte ich einen Luftzug, weil sich vierundzwanzig Mütter zu ihm umdrehten und ihn mit Blicken durchbohrten, als hätte er in der Kirche, pardon, im Gemeindehaus, geflucht. »Schäm dich, Bier auf einem Kindergeburtstag!« Diese Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen, ich legte ihm mitfühlend die Hand auf den Arm und sagte: »Danke, aber ich habe zu Hause eine Minestrone auf dem Herd stehen, und einkaufen muss ich auch noch.« Schlagartig verwandelten sich die vierundzwanzig anklagenden Blicke in gerührt schimmernde Augen­paare, und als ich an ihnen vorbeiging, schienen mich acht­undvierzig Augenbrauen zu streicheln, denn die Mütter hatten gerade einen Mann das Wort »Minestrone« sagen hören, und zwar in Kombination mit »ich« und »zu Hause auf dem Herd«.

Ich küsste Virginia auf die Stirn, verabschiedete mich ein zweites Mal und stand endlich draußen in der kühlen Abendluft. Während ich zum Auto ging, warf mir ein Junge einen Knallfrosch zwischen die Füße, sodass ich vor Schreck fast ­gestürzt wäre. Eine Warnung des Vaters? »Komm gefälligst wieder rein, oder es wird ein böses Ende nehmen, vergiss nicht, wir haben deine Tochter!«

Aber ich ließ mich nicht einschüchtern, stieg entschlossen ins Auto und fuhr direkt in den Supermarkt, wo ich wie ein emanzipierter Mann den Einkauf erledigte. Dann fuhr ich nach Hause, machte den Abwasch, beantwortete drei Mails, fütterte die Hunde, und schon war es wieder Zeit, Virginia ­abzuholen.

»Hat es Spaß gemacht?«, fragte ich, als ich ihr half, den Mantel anzuziehen.

»Ja, Papa. Machst du heute Abend Pizza?«

»Heute Abend ist es zu spät, der Teig wird nicht mehr fertig, aber morgen, versprochen.«

Ich lächelte sie an, wir verabschiedeten uns, und während wir die Treppe hochrannten, sah uns Maria Carla nach, als wollte sie sagen: »Nehmt mich mit, zur Not auch im Kofferraum, neben der Leiche.« Die Mutter des Geburtstagskinds schrie ihren Mann an, weil er gerade das letzte Mortadella­brötchen gegessen hatte. Ohne vorher zu fragen.

Der erste Zahn

Ginevra hat gestern ihren ersten Milchzahn verloren. Stolz präsentiert sie allen ihre Zahnlücke vorne und sagt begeistert: »Schau mal!«, als hätte sich etwas Entscheidendes in ihrem ­Leben verändert. Melania ist eifersüchtig und hat die ganze Nacht auf meinem Bauch geschlafen und mich dabei ständig ins Gesicht geboxt. Nach dem Aufwachen wollte sie ihre Milch erst nicht, dann doch, und als sie fast fertig angezogen war, ­beschloss sie, dass sie keine Hose und auch keine Schuhe brauchte. Bei den Schuhen habe ich nachgegeben und sie schließlich die Treppe zum Kindergarten hochgetragen, wobei ich mit den Händen ihre Füße wärmte. Als ich sie der Kindergärtnerin in den Arm drückte, begann sie so heftig zu weinen, als würde sie mich nie wiedersehen. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, aber die Zeit drängte, ich musste Ginevra in die Vorschule bringen und konnte nicht bleiben. Auf der Treppe schaute Ginevra mich an.

»Papa, weißt du, warum Melania so geweint hat?«, fragte sie.

»Ich glaube, sie vermisst die Mama ein bisschen. Aber heute kommt sie ja wieder, und dann wird es sicher besser.«

»Nein«, widersprach sie.

»Nein?«

»Nein«, wiederholte sie, »Meli weint, weil sie ihre Wut entdeckt hat.«

Ich blieb auf der Treppe stehen, verblüfft darüber, wie scharfsinnig und unumstößlich ihr Urteil war.

»Woher willst du das wissen, Ginevra?«

»Weil ich jetzt groß bin«, antwortete sie.

Sie lächelte mich an und zeigte selbstbewusst ihre Zahn­lücke. Wieder eine Etappe, die zu Ende ist, dachte ich. Als die Mama wieder zu Hause war, bat Ginevra sie um das Geschenk von der Zahnfee, denn sie wusste schon lange, wer für die ­Geschenke der Fee zuständig war. Heute Nacht wird Paola es ihr unters Kopfkissen legen, da bin ich sicher. Gestern hat Ginevra auch mich nach dem Geschenk vom Zahnkobold ­gefragt. Sie weiß, dass der Zahnkobold sehr großzügig ist. Aber das wissen die Zahnfeen nicht.

Garrett
(oder: Vom gesunden Menschenverstand)

Wir haben zwei Hunde. Vor einigen Jahren waren es noch fünf, aber dann kamen uns drei Kinder dazwischen.

Der Größere der beiden heißt Garrett, zu Ehren eines gemeinsamen Freundes, der damals, als wir ihn bekamen, beim Lucca Comics Festival eine Serie von Kurzcomics mit diesem Titel vorgestellt hat.

Garrett ist ein toskanischer Schäferhund, und ich habe ihn bei ebenjenem Festival adoptiert. Paola war gerade mit Virginia schwanger und wollte abseits des Trubels zu Mittag essen. Kurz entschlossen fuhren wir aufs Land und stellten fest, dass es auch außerhalb der Stadtmauern Spuren von Zivilisation gab. Wir fanden ein nettes Lokal namens ScusaAmeri, wo Paola einen gemischten Wurstteller mit Pommes bestellte. Das Lokal gibt es übrigens heute noch, ich habe das überprüft. Während der Schwangerschaft aß sie keinen Salat, ich erklärte mich solidarisch und verzichtete ebenfalls darauf, obwohl ich nicht schwanger war.

An der Wand hinter mir hing eine Pinnwand mit Kleinanzeigen. Zwischen »Verkaufe Tuareg-Motorrad, Baujahr 1986, wie neu« und »Gibts Gott oder nicht?« entdeckte ich das Foto eines Hundes mit einer witzigen Schnauze, der aussah wie eine Mischung aus einem Trüffel und Fozzie Bär aus der »Muppet Show«. Paola nahm die Anzeige ab, ihre Augen schim­merten feucht. Unter dem Foto stand: »Welpe, drei Monate alt, sucht neues Zuhause. Ich kann ihn nicht mehr behalten, und wenn ich niemanden finde, muss er ins Tierheim.« Danach folgte die Telefonnummer einer gewissen Eleonora.

Zu dieser Zeit hatten wir bereits drei Hunde. Nicht zuletzt deshalb waren wir in ein ziemlich baufälliges altes Haus mit riesigem Garten gezogen.

Paola sah mich mit großen Augen an. Ich hatte irgend-
wo gelesen, dass es besser war, schwangeren Frauen keinen Wunsch abzuschlagen. Ich dachte an die fünfzehnhundert Quadratmeter Fläche und die mächtigen alten Pinien. Und an meine Eltern, die empört sagen würden: »Was? Ihr habt doch schon drei!« Und an die Scheißhaufen, die ich zusätzlich zu entsorgen hätte. Und ich dachte an unsere Tochter, die bald auf die Welt kommen und unser Leben derart durcheinanderwirbeln würde, wie wir es uns jetzt nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten. Und dennoch: Mit einem Anflug von Liebe und Zärtlichkeit sinnierte ich: »Ein Haufen mehr oder weniger? Was solls!«

»Na gut, ruf an.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein, ruf an. Wir können ihn uns zumindest mal anschauen.«

Paola schlang mir die Arme um den Hals und rief an, vielleicht war es auch in umgekehrter Reihenfolge.

Keine Viertelstunde später hielt der Ford Fiesta einer jungen Frau vor uns. Sie öffnete den Kofferraum, und der Welpe vom Foto sprang heraus. Süß, niedlich, in einem Satz: der schönste Hund der Welt. An ihm stimmte einfach alles, außer den riesigen Pfoten, die nicht so richtig zum Rest des Körpers passen wollten. Einen Moment lang blickte ich Paola verwirrt an.

»Aber der bleibt schon so, oder?«, fragte ich.

»Ähm – ja. Doch. Das ist eine ziemlich kleine Rasse …«, antwortete Paola etwas zögerlich.

»Ah, na gut.«

Wir bedankten uns bei der jungen Frau, Küsschen, Austausch von Telefonnummern und Adressen und so weiter. Ehe wir wussten, wie uns geschah, hatten wir einen Hund, ­unseren vierten.

Auf der Rückfahrt von Lucca nach Hause benahm sich ­Garrett vorbildlich. Kein Bellen, kein Knurren, kein Pipi im Auto. Er saß mit einem seligen Ausdruck auf dem Rücksitz, genau wie Fozzie Bär.

Zu Hause angekommen, beschnupperte er misstrauisch seine zukünftigen Gefährten, dann pinkelte er als Willkommensgruß erst einmal auf den Teppich.

»Er ist eben noch ein Baby, das muss er noch lernen«, sagte Paola.

Am nächsten Tag kackte er ins Büro.

Von solchen kleinen Unfällen einmal abgesehen, lebte sich Garrett schnell ein. Lana ignorierte ihn komplett, Skippy auch, außer wenn Garrett versuchte, auf ihn zu klettern, während sich unsere Hündin Lippa über den neuen Spielgefährten freute. Binnen zwei Wochen war Garrett genauso groß wie sie. Nach drei Monaten war er ein Koloss von fünfunddreißig Kilo, mit Flausen im Kopf und einer nächtlichen Leidenschaft für Katzen. Berühmt-berüchtigt in der ganzen Nachbarschaft.

Er durchstreifte das hohe, ungemähte Gras bei uns im Garten, hielt die Ohren in den Wind und verfolgte alles, was sich bewegte: Amseln, Bienen, Schmetterlinge, Briefträger.

Das Allergrößte für ihn aber war der Mittwochnachmittag. Er war immer pünktlich, setzte sich am Zaun in Position und wartete. Nach einer Weile kam ein Mädchen auf dem Fahrrad, etwa acht oder neun, ich habe sie nicht gefragt. Garrett sprang mit seinen riesigen Pfoten auf das niedrige Mäuerchen und reckte mit stolzgeschwellter Brust seinen Kopf. Das Mädchen ließ das Rad zu Boden fallen, sprang auf das Mäuerchen und umarmte ihn innig.

Ich beobachtete das Ganze vom Bürofenster aus, und ich hatte das gute Gefühl, dass ich, auch wenn ich schon morgen sterben sollte, in meinem Leben wenigstens ein Wesen glücklich gemacht hatte. Das konnte mir niemand mehr nehmen. Und das nur, weil ich, ohne nachzudenken, gegen das gehandelt hatte, was man gesunden Menschenverstand nennt.

Nach dem gleichen Prinzip habe ich mich mit flatternden Nerven entschieden, meinen Job zu kündigen und Comic­zeichner zu werden. Im Jahr darauf haben wir unsere Hündin Cordelia aufgenommen und nach einer Figur aus »Anne auf Green Gables« benannt. Und schließlich haben wir uns, ­warum auch immer, entschieden, ein zweites und sogar ein drittes Kind zu bekommen. Schlaf wird ohnehin überbewertet.

A!

Melania ist fast zwei, aber das einzige Wort, das sie sagt ist: »A!«

Unsere Große beherrschte schon mit einem Jahr Zun­genbrecher wie: »Brautkleid bleibt Brautkleid und Blaukraut bleibt Blaukraut.«

Die Mittlere konnte mit dreizehn Monaten Shakespeare ­rezitieren.

Melania aber ist das egal. Wozu auch sprechen, wenn sich die ganze Welt mit einem einzigen Vokal beherrschen lässt? Unglaublich, aber wahr, sie kann sich mit »A!« immer und überall verständigen, sie muss nur den Tonfall verändern.

Beispiel gefällig?

»A!« (Hallo!)

»Aa!« (Nimm mich gefälligst auf den Arm!)

»AaA!« (Ich habe doch gesagt, du sollst mich auf den Arm nehmen, SOFORT!)

»AaaaaaaaaAAAA!« (Wie schön!)

»AAAAAAAAAAAAAAAAAA!« (Igitt!)

»AaaaaaAA.A!« (Hunger!)

Und so weiter und so fort.

Die einzige Ausnahme in ihrer fabelhaften Welt der Vokale ist Wasser. Wenn Melania Wasser möchte, sagt sie »snasa«. Sie rümpft die Nase, verzieht die Augen zu Schlitzen, atmet hastig ein und aus und sieht dabei aus wie ein schnüffelnder Spürhund. Das heißt: »Ich habe Durst.«

In dem Kindergarten, in den sie jeden Tag geht, sind auch größere Kinder, die schon sehr gut sprechen. Wir hatten die Hoffnung, dass Melania sich von ihnen inspirieren lassen und ihren Wortschatz erweitern würde (nicht den Tonfall, sondern das Vokabular). Resultat? Jetzt sagen alle Kinder, auch die größeren, »snasa«, wenn sie etwas trinken möchten.

Paola und ich geben natürlich nicht offen zu, dass wir die Situation eigentlich ganz witzig finden. Denn diese »Entwicklungsverzögerung« weckt bei uns die Illusion, dass wir noch ein ganz kleines Kind haben und wir uns somit jung fühlen können. Aber davon abgesehen rennt Melania schnell wie der Blitz, futtert wie ein Scheunendrescher, klettert wie ein Affe auf jedes Regal und erreicht alles, was sie will. Sie kann alleine Oma und Opa anrufen, und letzte Woche hat sie mit einem von Paola gemopsten Buntstift das Sofa vollgemalt. Unsere jüngste Tochter könnte das Double von Stewie Griffin aus der Zeichentrickserie »Family Guy« sein. Natürlich als weibliche Ausgabe, versteht sich.

Der Fotoapparat

Wir haben Virginia eine gebrauchte Digitalkamera geschenkt. Das war vor etwa einer halben Stunde. Seitdem hat sie mindestens dreißig Fotos von mir und bestimmt zwanzig von Melania gemacht. Bereits nach dem fünften Foto war ich fast blind. Beim fünfundzwanzigsten hat sie herausgefunden, wie man den Blitz ausschaltet. Inzwischen hat sie die Videofunktion entdeckt und macht ein Interview mit mir, während ich auf dem iPad schreibe. Ein Interview der besonderen Art.

»Signor Bussola, fühlen Sie sich in diesem Haus wohl?«

»Ja.«

»Und sind Sie glücklich mit Ihren drei Töchtern?«

»Sehr.«

»Und sind Sie glücklich mit der Mama, die wir haben?«

»Unbedingt.«

»Sehr schön, jetzt folgt die wichtigste Frage zum Schluss.«

»Ich höre.«

»Gibt’s heute Abend Pizza?«

Karma

Als ich noch bei der Stadtverwaltung beschäftigt war, hatte ich viel mit der Konzeption von öffentlichen Plätzen zu tun.

Was ist eigentlich Stadtplanung?, wird sich manch einer ­fragen. Und die wenigen, die es verstehen, wissen, dass nicht nur bebaute, sondern auch unbebaute Flächen wichtig sind, manchmal sogar wichtiger. Öffentliche Plätze und Parks schenken uns Raum zum Atmen und sind eine fundamentale Komponente im Stadtbild, wenngleich sie in Italien eher eine untergeordnete Rolle spielen. Aber lassen wir das.

Jedes Projekt begann immer mit einem »Brainstorming«, »wir brauchen einen Plan«. Danach übernahmen die Ver­walter das Ruder. Sie verlangten einen »Machbarkeits-Check«, diesen Begriff hatten sie wohl aus dem Fernsehen aufgeschnappt.

Ein Beispiel:

»Alles okay?«, fragte einer von ihnen und streckte den Kopf durch meine offene Zimmertür.

»Alles okay«, antwortete ich. Bloß keine Unsicherheit zeigen.

Wenn das Projekt dann beschlossene Sache war, musste ich mich mit einer ganzen Reihe von elementar wichtigen Einwänden herumschlagen, wie:

»Nein, hier kein Brunnen, da verstopfen die Oleanderblätter den Filter.«

»Man muss die Blätter eben alle zwei Wochen entfernen.«

»Nein, nein, an dieser Stelle besser keinen Brunnen. Und auch keinen Oleander.«

Solche Sachen eben.

Nachdem diese Hürde genommen war, wartete schon die Stadtplanungskommission.

Das Hauptproblem waren jedoch nicht die Verwaltungs­beamten, sondern die Bürgerversammlung, denn bei wich­tigen Entscheidungen hatten die Bürger Mitspracherecht.

Die größte Schwierigkeit bestand darin, den Anwesenden Sinn und Zweck des Vorhabens in allgemein verständlichen Worten darzulegen. Wenn ich meine Ideen nicht überzeugend vermitteln konnte, gab es wenig Hoffnung auf Zustimmung.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einen wütenden Bürger überzeugen konnte, dass es entgegen seiner Meinung sinnvoll war, mehr Mittel für kulturelle Zwecke zur Verfügung zu stellen.

»Die Leute können doch von ihrem eigenen Geld Bücher kaufen und zu Hause lesen!«

Es gelang mir, ihn umzustimmen, indem ich ihm erklärte, dass das Geld nicht nur für Lesungen, sondern auch für das Salami-Fest eingeplant war. Ein Volltreffer! Risotto mit Salami war sein Lieblingsessen. Er stimmte begeistert zu. Gewusst, wie.

Kommen wir zu den öffentlichen Plätzen zurück. Bei einer Bürgerversammlung an einem kalten Winterabend kritisierte ein Anwesender den seiner Meinung nach übertriebenen ­Aufwand für Planung und Konzeption: »Das ist reine Zeit­verschwendung! Einfach durchziehen und fertig! Was sollen wir denn über zwei Bäume und drei Bänke diskutieren?«

Eines der drei Dinge, die mir auf dieser Welt wirklich auf die Nerven gehen, ist unsachliche Kritik am Sinn und Zweck meiner Arbeit. Und meine Arbeit war es damals, öffentliche Plätze zu konzipieren.

Ich nahm das Mikro.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte ich.

»Ich arbeite in einer Bar.«

»Sehr gut. Wie mischt man einen Negroni?«

»Was soll das?«

»Es ist nur eine Frage. Wie mischt man einen Negroni? Wissen Sie es oder nicht?«, fragte ich provokant.