Das Buch
Die letzten Menschen haben eine sterbende Erde verlassen, um in den Tiefen des Alls ein neues Zuhause zu finden. Als sie auf den Planeten Eden stoßen, scheint ihnen das Glück sicher: ideale Konditionen und eine florierende Ökosphäre. Doch was sie nicht wissen – es waren bereits Menschen hier gewesen, vor langer Zeit. Menschen, die Eden als Versuchsplaneten für ein vermessenes Projekt künstlicher Evolution ausersehen hatten. Doch ihr Experiment damals hat ungeahnte Spuren hinterlassen, und nun treffen ihre Nachfahren auf die vergessenen Kinder ihres Versuchs. Wer von ihnen wird das Erbe von Eden antreten?
Der Autor
Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Mit seinem Roman Die Kinder der Zeit gewann er den Arthur C. Clarke Award. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.
ADRIAN TCHAIKOVSKY
DIE KINDER
DER ZEIT
ROMAN
Aus dem Englischen
von Birgit Herden
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
CHILDREN OF TIME
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Deutsche Erstausgabe 03/2018
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2015 by Adrian Czajkowski
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-21685-6
V006
diezukunft.de
INHALT
1 GENESIS
1.1 Ein Fass voller Affen
1.2 Tapfere kleine Jägerin
1.3 Die Lichter erlöschen
2 PILGERSCHAFT
2.1 Zweitausend Jahre von zu Hause entfernt
2.2 Die anderen Kinder der Erde
2.3 Enigma-Variationen
2.4 Arme Verwandte
2.5 All diese Welten sind euer
2.6 Metropolis
2.7 Exodus
3 KRIEG
3.1 Unsanftes Erwachen
3.2 Feuer und Schwert
3.3 Zwischen Pest und Cholera
3.4 An der Westsee
3.5 Flammenschwert
3.6 Dulce et Decorum est
3.7 Krieg im Himmel
3.8 Asymmetrische Kriegsführung
3.9 Erstkontakt
3.10 Gefallene Riesen
3.11 Das Insel-Gulag
3.12 Eine Stimme in der Wildnis
4 ERLEUCHTUNG
4.1 Die Höhle der Wunder
4.2 Der Tod kommt geritten
4.3 Eine kurze Geschichte von einem grauen Planeten
4.4 Kühne Gedanken
4.5 Die Träume der Altvorderen
4.6 Die innere Botin
4.7 Kein Prinz Hamlet
4.8 Zeit des Fortschritts
4.9 Ex Machina
5 SCHISMA
5.1 Der Gefangene
5.2 In Gottes Land
5.3 Alte Freunde
5.4 Das Recht auf Leben
5.5 Der älteste Mann im Universum
5.6 Ressourcenkrieg
5.7 Guyens Himmelfahrt
5.8 Der Eroberer
6 ZENITH / NADIR
6.1 Aufbruch
6.2 Alter Mann in schweren Zeiten
6.3 Kommunion
6.4 Offenbarung
6.5 Zerfall
6.6 Das Antlitz Gottes
7 KOLLISION
7.1 Kriegsrat
7.2 Welch wüste Bestie
7.3 Jungfrau, Mutter, Altes Weib
7.4 Endzeit
7.5 Manöver
7.6 Die Hülle aufbrechen
7.7 Der äußere Krieg
7.8 Der Krieg im Inneren
7.9 Das letzte Gefecht
7.10 Der Wert der Gnade
8 DIASPORA
8.1 Was nie ein Mensch zuvor gesehen hat
1
GENESIS
1.1
EIN FASS VOLLER AFFEN
Auf Brin-2 gab es keine Fenster – durch die Rotation war »draußen« immer gleichbedeutend mit »unten«, unter den Füßen, aus dem Sinn. Die Wandmonitore erzählten eine hübsche Geschichte, zeigten ungeachtet der ständigen Umdrehung eine zusammengesetzte Ansicht der Welt unter ihnen, so als würde der Planet bewegungslos im Raum schweben: ein grünes Juwel, entsprechend dem zwanzig Lichtjahre entfernten blauen Juwel ihrer Heimat. Zu ihrer Zeit war auch die Erde grün gewesen, wenngleich ihre Farbe seither verblasst war. Vielleicht nie derart grün wie diese so wunderbar beschaffene Welt, wo selbst die Ozeane, deren Phytoplankton den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre aufrechterhielten, smaragdfarben schimmerten. Welch eine vielfältige und heikle Aufgabe es doch war, ein solch lebendes Monument zu erschaffen, das ganze geologische Zeitalter überdauern sollte!
Abgesehen von ihrer astronomischen Kennzeichnung hatte die Welt noch keinen offiziellen Namen, auch wenn einige der weniger einfallsreichen Crewmitglieder für »Simiana« – die Affenwelt – plädierten. Doch als Doktor Avrana Kern nun auf den Planeten hinuntersah, sah sie darin nur Kerns Welt. Ihr Projekt, ihr Traum, ihr Planet. Der erste von vielen, entschied sie.
Das ist die Zukunft. Hier tut die Menschheit ihren nächsten großen Schritt. Das ist der Ort, an dem wir zu Göttern werden.
»Das ist die Zukunft«, sagte sie laut. Ihre Stimme würde im Hörzentrum eines jeden Crewmitglieds erklingen, bei allen neunzehn, auch wenn sich fünfzehn bei ihr im Kontrollzentrum befanden. Dabei handelte es sich natürlich nicht um das Zentrum der Station, nicht um diese lange Achse bar jeder Schwerkraft, um die sie alle kreisten und wo sich die Energieversorgung, die Prozessanlagen und ihre Ladung befanden.
»Hier tut die Menschheit ihren nächsten großen Schritt.« Die Rede hatte sie während der letzten beiden Tage mehr Zeit gekostet als jedes technische Detail. Beinahe hätte sie auch den Satz mit den Göttern gesagt, aber der war nur für sie selbst bestimmt. Viel zu kontrovers, bei all den Non-Ultra-Natura-Clowns zu Hause. Um Projekte wie ihres hatte es schon viel zu viel Geschrei gegeben. Immer tiefere Gräben taten sich zwischen den verfeindeten Lagern auf der Erde auf, ob gesellschaftlich, wirtschaftlich oder einfach als Abgrenzung zwischen wir und denen. Doch trotz der immer stärker werdenden Opposition hatte Kern es schließlich geschafft, dass sich Brin vor all den Jahren auf den Weg gemacht hatte.
Inzwischen war die ganze Idee zum Sinnbild und Sündenbock für die tiefe Zerstrittenheit der menschlichen Rasse geworden. Nichts als zankende Primaten, alle miteinander. Es geht doch um Fortschritt. Darum, das Potenzial der Menschheit auszuschöpfen, das Potenzial allen Lebens. Schon immer hatte sie vehement die wachsende konservative Bewegung bekämpft, deren extremste Vertreter die Non-Ultra-Natura-Terroristen waren. Wenn es nach denen ginge, würden wir alle wieder in Höhlen hocken. Oder auf Bäumen. Dabei besteht doch der ganze Sinn der Zivilisation darin, die Grenzen der Natur zu überschreiten, ihr erbärmlichen kleinen Primitivlinge.
»Natürlich stehen wir auf den Schultern anderer Menschen.« In aller wissenschaftlichen Bescheidenheit hätte es eigentlich »auf den Schultern von Riesen« heißen müssen, aber Avrana Kern hatte es nicht so weit gebracht, indem sie vor vergangenen Generationen niederkniete. Nur Zwerge, Heerschaaren von Zwergen, dachte sie und konnte nur mühsam ein Kichern unterdrücken – auf den Schultern von Affen.
Auf einen Gedankenbefehl hin erschien auf einem Wandmonitor eine schematische Darstellung von Brin 2, ebenso wie in den Inneren Augen der Crew. Sie wollte ungeteilte Aufmerksamkeit, alle sollten ihren Ausführungen folgen und Kerns Triumph – nun ja, ihrer aller Triumph – gebührend würdigen. Da war zunächst das Herzstück, die Nadel, um die der Ring aus Leben und Wissenschaft kreiste, der ihre Welt war. An einem Ende der Nadel der unschöne Knubbel der Wächterkapsel, die sie bald abstoßen würden, als den längsten und einsamsten wissenschaftlichen Außenposten des Universums. Am anderen Ende befanden sich das Fass und die Flasche. Der Inhalt: Affen, beziehungsweise die Zukunft.
»Ganz besonderen Dank schulde ich dem Ingenieursteam unter der Leitung von Doktor Fallarn und Doktor Medi, die in unermüdlicher Arbeit unseren Zielplaneten« – beinahe hätte sie »Kerns Welt« gesagt – »terraformt und damit diesem großartigen Projekt eine sichere und fruchtbare Heimstatt geboten haben.« Natürlich waren Fallarn und Medi längst wieder auf dem Weg zurück zur Erde – nachdem ihre fünfzehn Jahre währende Arbeit vollendet war, hatten sie ihre dreißigjährige Heimreise angetreten. Aber ihre Arbeit hatte sich ohnehin nur darum gedreht, die Bühne für Kern und ihren Traum zu bereiten. Bei dieser ganzen Arbeit geht es um uns … um mich.
Eine Heimreise über zwanzig Lichtjahre. Auf der Erde vergehen derweil dreißig Jahre, doch für Fallarn und Medi in ihren kalten Särgen sind es nur zwanzig. Aus ihrer Perspektive reisen sie fast mit Lichtgeschwindigkeit. Welche Wunder wir vollbringen!
Doch selbst Triebwerke, die nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnten, waren für Kern nur lahme Krücken, um sie durch das Universum zu befördern – ein Universum, das die irdische Biosphäre schon bald erben würde. Denn die Menschheit ist vielleicht viel verletzlicher, als wir uns vorstellen können, also werfen wir unsere Netze immer weiter aus …
Die Geschichte der Menschheit stand nun an einem entscheidenden Wendepunkt. Nach Jahrtausenden der Unwissenheit, der Vorurteile, des Aberglaubens und verzweifelten Strebens würden sie neues empfindungsfähiges Leben hervorbringen, ein Abbild ihrer selbst. Der Mensch wäre nicht mehr allein im Universum. Noch in einer unvorstellbar fernen Zukunft, wenn die Erde selbst zu Feuer und Staub zerfallen war, würde sich ihr Vermächtnis zwischen den Sternen ausbreiten, irdisches Leben in unendlicher Vielfalt, in einer solchen Fülle, dass es alle Schicksalsschläge überdauern konnte – bis zum Tod des gesamten Universums und vielleicht sogar darüber hinaus. Selbst wenn wir sterben, werden wir in unseren Kindern fortleben.
Sollen die NUNs mit ihrer »Alle-Eier-in-einen-Korb-Strategie« doch ihr erbärmliches Glaubensbekenntnis über die Reinheit und Überlegenheit der menschlichen Rasse predigen, dachte sie. Die Evolution wird sie besiegen, und bald werden sie nur noch eine Erinnerung sein. Diese wird die erste von Tausenden Welten sein, denen wir Leben einhauchen.
Denn wir sind Götter, und wir sind einsam, also werden wir zu Schöpfern …
Zu Hause lief es allerdings gar nicht gut, zumindest den zwanzig Jahre alten Bildern nach zu urteilen. Flüchtig und halbherzig hatte Avrana die Berichte über die Unruhen, die heftigen Auseinandersetzungen, Demonstrationen und Gewaltausbrüche verfolgt und dabei nur gedacht: Wie sind wir bei so vielen Dummköpfen im Genpool nur so weit gekommen? Die Non-Ultra-Natura-Lobby war nur die extremste Partei in einer Allianz aus Konservativen, ewiggestrigen Philosophen und unbelehrbaren Frömmlern, denen zum Thema Fortschritt nur einfiel, dass es irgendwann auch mal genug sein müsse, die sich mit Zähnen und Klauen gegen eine weitere Verbesserung des menschlichen Genoms wehrten, und die um jeden Preis die Beschränkungen künstlicher Intelligenz aufrechterhalten und Programme wie das von Avrana verhindern wollten.
Und doch verlieren sie.
Auch anderswo würde es Terraforming geben. Kerns Welt war nur einer von vielen Planeten, die Typen wie Fallarn und Medi sich vorknöpften: Einen unbelebten und unwirtlichen Felsbrocken, der Erde nur in Größe und Abstand zur Sonne ähnlich, verwandelten sie in ein ausbalanciertes Ökosystem, in dem Kern problemlos ohne Schutzanzug hätte herumspazieren können. Auch die anderen Juwele würde Kern noch aufsuchen, sobald die Affen und die Wächterkapsel abgesetzt waren. Im ganzen Universum werden wir die Saat der Erde ausbringen.
Geistesabwesend ging sie in ihrer Rede die Liste weiterer Namen durch, mit Leuten von hier und von zu Hause. In Wahrheit wollte sie vor allem sich selbst danken. Sie hatte für dieses Projekt gekämpft, hatte nie lockergelassen und dank ihrer verlängerten Lebensspanne die Debatte über mehrere Generationen vorangetrieben. In den Konferenzräumen der Geldgeber hatte sie dafür gestritten und in Forschungseinrichtungen, auf akademischen Tagungen und in den Feeds der Massenmedien darum geworben, dass dieses Projekt Wirklichkeit wurde.
Ich war es, ich habe das vollbracht. Gebaut habe ich mit euren Händen, gemessen mit euren Augen, aber der Geist ist allein meiner.
Ihr Mund folgte dem vorgefertigten Kurs, und die Worte langweilten sie noch mehr als – vermutlich – ihre Zuhörer. Die wahren Adressaten ihrer Rede würde sie erst in zwanzig Jahren erreichen: eine endgültige Bestätigung für die Leute zu Hause, dass es nun tatsächlich losging. In Gedanken nahm sie Kontakt zum Kontrollzentrum von Brin 2 auf. Fass-Systeme überprüfen, gab sie über ihre Verbindung zum Computer durch. Der Check war in letzter Zeit schon zu einem nervösen Tick geworden.
Innerhalb des Toleranzbereichs, kam die Antwort. Wenn sie der nichtssagenden Aussage nachginge, bekäme sie präzise Daten über das Landevehikel und dessen Einsatzbereitschaft, bis hin zu den Vitalwerten der Ladung aus zehntausend Primaten, den wenigen Auserwählten, die zwar nicht die Erde, aber doch diesen Planeten erben würden, wie auch immer man ihn nennen würde.
Wie auch immer die Affen ihn nennen würden, wenn erst das Uplift-Virus ihre Entwicklung weit genug vorangetrieben hatte. Nach Schätzungen der Biotechnologen würden sie schon in dreißig bis vierzig Affengenerationen in der Lage sein, mit der Wächterkapsel und ihrem einsamen menschlichen Bewohner Kontakt aufzunehmen.
Neben dem Fass befand sich die Flasche: Das Abwurfvehikel für das Virus, das die Evolution der Affen beschleunigen würde – in bloß ein oder zwei Jahrhunderten würden sie sowohl körperlich als auch geistig eine Entwicklung durchmachen, für die die Menschheit in einer feindlich gesinnten Welt Millionen einsame Jahre gebraucht hatte.
Noch mehr Leute, denen gedankt werden muss – sie selbst war keine Biotechnologin. Doch sie hatte sich die Spezifikationen und Simulationen angesehen, und ein ganzer Verbund aus Experten hatte die Theorie geprüft und sie so zusammengefasst, dass ein Universalgenie wie sie die Sache verstehen konnte. Das Virus war eine wahrhaft eindrucksvolle Konstruktion, so viel hatte sie begriffen. Die infizierten Individuen würden Nachkommen mit allerlei segensreichen Mutationen hervorbringen: größere und komplexere Gehirne, größere Körper, um diese aufzunehmen, flexiblere Verhaltensweisen, steilere Lernkurven … Das Virus würde sogar die Infektion anderer Individuen der gleichen Spezies erkennen, um so eine gezielte Zuchtwahl zu ermöglichen – die Besten der Besten würden immer noch Bessere in die Welt setzen. Die mikroskopisch kleine Hülle barg eine ganze Zukunft – auf seine spezielle, beschränkte Art war das Virus fast so schlau wie die Kreaturen, die es vorantreiben würde. Es würde sich tief ins Genom seiner Wirte eingraben und sich in deren Zellen wie ein neues Organell vervielfältigen, würde auf ihre Nachkommen überspringen, bis die gesamte Spezies unter seiner wohltätigen Herrschaft stünde. Egal, wie sehr sich die Affen veränderten, das Virus würde sich anpassen, sich auf jedes Partner-Genom und jedes Erbe einstellen, immerfort analysierend, modellierend, improvisierend – bis schließlich etwas entstanden wäre, das seinen Schöpfern in die Augen sah und verstand.
Den Menschen zu Hause hatte sie die Sache verkauft, indem sie ihnen ausmalte, wie Kolonisten schließlich den Planeten erreichen würden. Göttergleich würden sie von den Himmeln zu ihrem neuen Volk hinabsteigen, und anstelle einer rauen, ungezähmten Welt würde eine Rasse gelifteter, empfindungsfähiger Helfer und Diener ihre Schöpfer willkommen heißen. So hatte sie es in den Vorstandsetagen und Komitees auf der Erde erklärt, doch ihr selbst war es bei dem Unternehmen immer um etwas anderes gegangen. Ihr ging es um die Affen und um das, was aus ihnen werden würde.
Das gehörte zu den Dingen, über die sich die NUNs am heftigsten empörten. Sie plärrten etwas von Superwesen, in die man die tumben Tiere verwandeln würde. In Wahrheit hatten sie, wie verwöhnte Kinder, einfach ein Problem damit, zu teilen. Die Menschheit war nun mal ein Einzelkind und lechzte nach der ungeteilten Aufmerksamkeit des Universums. Wie so viele andere Projekte, die zum Politikum wurden, war die Entwicklung des Virus von Protesten, Sabotage, Terrorismus und Mord überschattet gewesen.
Und doch triumphieren wir am Ende über unsere niedere Natur, stellte Kern mit Befriedigung fest. Natürlich steckte in den wilden Anschuldigungen der NUNs auch ein Körnchen Wahrheit, denn sie scherte sich ja wirklich nicht um Kolonisten oder um die neoimperialistischen Träume ihrer Mitmenschen. Sie wollte neues Leben erschaffen, nach ihrem Ebenbild und dem der gesamten Menschheit. Sie wollte herausfinden, was die Evolution hervorbringen und welche Gesellschaft, welche Erkenntnisse entstehen würden, wenn sie die Affen sich selbst überließ … Das war für Avrana Kern der Hauptgewinn, die Belohnung für all die Mühen, die ihr Genie zum Wohle der Menschheit auf sich genommen hatte, das Experiment, dieses »Was wäre wenn« in Planetenform. Eine ganze Reihe terraformter Welten war durch ihr Betreiben auf den Weg gebracht worden, aber der erstgeborene Planet gehörte wahrhaft ihr, als Heimstatt für ihr neu erschaffenes Volk.
Das erwartungsvolle Lächeln der anderen machte ihr bewusst, dass sie am Ende ihrer Rede angelangt war; sie schienen ihr Schweigen für eine Kunstpause zu halten, um dem Augenblick überflüssigerweise noch mehr Dramatik zu verleihen.
»Mr. Sering, sind Sie in Position?«, fragte sie über die offene Verbindung, sodass alle sie hören konnten. Sering war der Freiwillige, der Mann, den sie zurücklassen würden. Gefangen im Kälteschlaf, würde er in langen Jahren ihr planetengroßes Laboratorium umkreisen, bis seine Zeit als Mentor einer neuen Primatenrasse gekommen war. Beinahe beneidete sie ihn, denn er würde Dinge sehen, hören und erleben, wie es noch keinem Menschen vergönnt gewesen war. Er würde der neue Hanuman sein, der Affengott.
Doch sie beneidete ihn nur beinahe, denn letzten Endes zog Kern es vor, zu neuen Projekten aufzubrechen. Sollten doch andere Götter einer einzigen Welt werden. Sie selbst würde nach den Sternen greifen und ein ganzes Pantheon anführen.
»Nein, ich bin nicht in Position.« Offenbar fand auch Sering, dass er ein größeres Publikum verdiente, denn er sendete auf dem allgemeinen Kanal.
Ein Anflug von Gereiztheit überkam Kern. Ich kann nicht alles allein machen. Warum funktionieren die Leute nie so, wie ich es erwarte? Nur für Serings Ohren fragte sie: »Erklären Sie mir auch, warum?«
»Ich hatte gehofft, ein paar Worte sagen zu können, Doktor Kern.«
Für lange Zeit würde das sein letzter Kontakt zu seiner Spezies sein, das war ihr bewusst, also schien die Bitte angemessen. Wenn er eine gute Vorstellung ablieferte, würde das ihren Ruhm nur noch mehren. Allerdings musste sie die Kommunikation kontrollieren und ihn mit ein paar Sekunden Verzögerung senden, nur für den Fall, dass er weinerlich wurde oder etwas Unpassendes sagte.
»Dies ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit.« Serings wie immer leicht klagende Stimme erreichte zuerst sie und dann auch die anderen. Sie alle hatten sein Bild vor ihren geistigen Augen, in seinem leuchtend orangefarbenen Schutzanzug, den Kragen bis zum Kinn hochgezogen. »Wie Sie sich denken können, habe ich, bevor ich mich zu dieser Sache entschloss, lange und gründlich nachgedacht. Aber manche Dinge sind einfach zu wichtig. Manchmal muss man einfach das Richtige tun, egal, wie hoch der Preis.«
Kern nickte, durchaus angetan. Sei ein guter Affe, Sering, und komm bald zum Schluss. Manche von uns wollen noch an ihrem Vermächtnis arbeiten.
»Wir haben es weit gebracht, doch noch immer fallen wir in unsere ältesten Fehler zurück«, fuhr Sering beharrlich fort. »Hier stehen wir, das Universum zum Greifen nah, doch anstatt unser Schicksal in die Hand zu nehmen, setzten wir alles daran, uns auf die Müllhalde der Geschichte zu befördern.«
Sie war in Gedanken etwas abgeschweift, und als ihr klar wurde, was er gesagt hatte, hatten seine Worte schon die Crew erreicht. Sie vernahm ein Raunen, auch besorgte Stimmen ganz in ihrer Nähe. Zur gleichen Zeit erreichte sie auf einem anderen Kanal eine Warnung von Doktor Mercian: »Warum ist Sering im Maschinenkern?«
Sering hätte sich nicht im Maschinenkern der Nadel befinden dürfen. Er hätte in der Wächterkapsel stecken sollen, bereit, zu seinem Platz im Orbit – und in der Geschichte – aufzubrechen.
Sie schnitt Sering von der Crew ab und schickte ihm eine erboste Anfrage, was ihm einfiele. Für einen Augenblick sah sein Avatar sie an, dann bewegte er synchron zu Serings Stimme die Lippen.
»Jemand muss Sie aufhalten, Doktor Kern. Sie und ihr ganzes Gezücht – Ihre neuen Menschen, Maschinen, Ihre neuen Spezies. Wenn Sie hier Erfolg haben, dann wird es andere Welten geben, das haben Sie selbst gesagt – die werden ja jetzt schon terraformt, das weiß ich. Aber hier ist Schluss. Non Ultra Natura! Nichts geht über die Natur!«
Kostbare Sekunden, in denen sie vielleicht etwas hätte ausrichten können, verschwendete sie auf persönliche Beleidigungen, bis er weiter fortfuhr: »Ich habe Sie abgeschnitten, Doktor. Tun sie das Gleiche bei mir, wenn sie wollen, aber jetzt spreche erst mal ich, und Sie werden mich nicht unterbrechen.«
Sie versuchte, ihn abzuschalten, jagte durch die Kontrollen der Computersysteme, versuchte herauszufinden, was er getan hatte, doch er hatte sie elegant und gezielt ausgesperrt. Ganze Bereiche von Brin-2 tauchten in ihren mentalen Schaltplänen gar nicht mehr auf, und als sie den Computer nach ihnen fragte, schien er von deren Existenz nichts zu wissen. Nichts davon war für die Mission entscheidend – nicht für das Fass, nicht für die Flasche, noch nicht einmal für die Wächterkapsel –, deswegen gehörte nichts davon zu den Systemen, die sie täglich zwanghaft überprüft hatte.
Vielleicht nicht entscheidend für die Mission, aber entscheidend für Brin-2.
»Er hat die Sicherungssysteme des Reaktors außer Kraft gesetzt«, berichtete Mercian. »Was ist da los? Warum ist er überhaupt im Maschinenkern?« Er klang alarmiert, aber nicht panisch, ein guter Hinweis auf die allgemeine Stimmung der Crew.
Er ist im Maschinenkern, weil sein Tod dort augenblicklich eintreten und daher schmerzfrei sein wird, ahnte Kern. Zur Überraschung der anderen hatte sie sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie stieg nach oben, kletterte in den Zugangsschacht, der zur Nadel führte, weg von dem äußeren Boden, der nur »unten« bedeutete, solange man sich in seiner Nähe befand; kletterte hinaus aus dem scheinbaren Gravitationsloch, hinauf zu dem langen Pylonen, um den sie alle kreisten. Nun überschlugen sich die besorgten Nachrichten. Hinter ihr wurden Rufe laut. Manche würden ihr folgen, so viel war klar.
Sering redete unbekümmert weiter: »Das ist noch nicht einmal der Anfang, Doktor Kern.« Sogar in der Rebellion war sein Ton noch respektvoll. »Zu Hause hat es sicher längst begonnen, da ist die Sache wahrscheinlich schon gelaufen. Vielleicht noch ein paar Jahre, dann werden Sie hören, dass die Erde und unsere Zukunft wieder den Menschen gehören. Keine gepimpten Affen, Doktor Kern. Keine gottgleichen Computer. Keine menschliche Freakshow. Das Universum wird wieder uns allein gehören, so wie es immer unsere Bestimmung war. Ob im Sonnensystem oder weiter draußen, in allen Kolonien sind unsere Leute inzwischen in Aktion. Wir werden die Macht übernehmen – und wir haben die Mehrheit hinter uns, das wissen Sie, Doktor Kern.«
Sie wurde nun immer leichter, zog sich auf ein »Oben« zu, das zu einem »Innen« wurde. Eigentlich hätte sie Sering verfluchen sollen, aber welchen Sinn hatte das, wenn er sie nicht hörte?
Die Schwerelosigkeit im Inneren der Nadel war rasch erreicht. Dann hatte sie die Wahl: entweder zum Maschinenkern, wo Sering zweifellos Maßnahmen ergriffen hatte, um jede Einmischung zu verhindern, oder in die entgegengesetzte Richtung. Sich abkehren, in einem sehr endgültigen Sinn.
Sie würde alles überwinden können, was Sering ihr in den Weg legte, da hatte sie volles Vertrauen zu ihren überlegenen Fähigkeiten. Doch das würde Zeit kosten. Wenn sie in diese Richtung der Nadel weiterging, hin zu Sering und seinen Fallen und verschlüsselten Barrieren, dann würde die Zeit gegen sie arbeiten.
»Und wenn die Machthaber uns aufhalten wollen, Doktor Kern«, fuhr die abscheuliche Stimme in ihrem Ohr fort, »dann werden wir kämpfen. Wenn wir nur mit Gewalt wieder Herr über unser Schicksal werden können, dann soll es so sein.«
Sie schenkte seinen Worten kaum Beachtung, doch eiskalte Furcht kroch in ihr hoch – nicht wegen der Gefahr, die Brin 2 und ihr selbst drohte, sondern wegen dem, was er über die Erde und die Kolonien gesagt hatte. Ein Krieg? Unmöglich. Noch nicht einmal die NUNs … Doch tatsächlich hatte es einige Zwischenfälle gegeben – Anschläge, Aufstände, Bomben. Die gesamte Mondbasis auf Europa war beeinträchtigt gewesen. Aber die NUNs waren doch nur ein bisschen Spucke im tosenden Sturm des unaufhaltsamen Wandels. Daran hatte sie immer geglaubt. Solche Ausbrüche waren doch nicht mehr als die letzten Zuckungen der Zurückgebliebenen.
Sie hatte nun die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, weg vom Maschinenkern – als ob es auf der Brin genügend Platz gäbe, um der bevorstehenden Explosion zu entkommen. Doch ihre Entscheidung war völlig rational. Sie wusste genau, was sie tat.
Vor ihr lag die Luke zur Wächterkapsel. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ein Teil ihres Verstands – der Teil, auf den sie sich bei komplexen Berechnungen verließ – die gegenwärtige Situation bereits vollständig begriffen und die eine kleine Chance auf ein Entkommen erkannt hatte.
Hier hätte Sering eigentlich sein müssen, in dieser gemächlichen Fähre, die er – in einer vernünftigen Zeitlinie – in die Zukunft hätte steuern sollen. Sie gab der Luke das Kommando zum Öffnen und stellte erleichtert fest, dass die Kapsel, der eine Teil der Ausrüstung, der Sering tatsächlich etwas anging, anscheinend von seinen Manipulationen verschont geblieben war.
Die erste Explosion kam, und kurz glaubte sie, es würde auch die letzte sein. Die ganze Brin-Station erbebte, doch der Maschinenkern schien standzuhalten – ansonsten hätte es sie längst in tausend Stücke gerissen. Sie blendete die chaotische und verzweifelte Kommunikation ihrer Crew wieder ein: Sering hatte die Rettungskapseln sabotiert. Niemand sollte dem Schicksal, das er sich selbst zugedacht hatte, entkommen. Hatte er dabei irgendwie die Wächterkapsel vergessen?
Auf jeden Fall würden die explodierenden Rettungskapseln die Station von ihrer Position abbringen, entweder auf den Planeten zu oder hinaus ins offene All. Sie musste hier weg.
Die Luke hatte sich auf ihr Kommando hin geöffnet, und sie ließ die Wächterkapsel eine Diagnose der Abwurfvorrichtung erstellen. Es gab kaum Platz hier drinnen, nur den Sarg für den Kälteschlaf – stell ihn dir nicht als Sarg vor! – und die Displays der verschiedenen Systeme.
Der Zentralcomputer der Kapsel bombardierte sie mit Fragen – weder war sie hier der richtige Mensch, noch trug sie die übliche Ausrüstung für langen Kälteschlaf. Aber ich habe auch nicht vor, hier Jahrhunderte auszuharren; nur so lange, bis sich der Sturm verzogen hat. Rasch setzte sie sich über alle Spitzfindigkeiten hinweg. Inzwischen hatte der Diagnosecheck Serings Sabotage lokalisiert beziehungsweise per Ausschlussverfahren die Teile der Abwurfvorrichtung identifiziert, die er aus der Systemanzeige gelöscht hatte. Die lauter werdenden Geräusche legten nahe, dass sie wohl am besten das Schließen der Tür anordnete und die Systeme verriegelte, damit niemand von draußen eindringen konnte.
Sie stieg in den Kälteschlaf-Tank, und etwa zu dieser Zeit begann das Gehämmer – es waren die Crewmitglieder, die nur wenig später die gleichen Schlüsse gezogen hatten wie sie. Sie blockierte ihre Nachrichten. Auch Sering blockierte sie, denn der würde ihr nun sicher nichts Nützliches mehr mitteilen. Besser, sie teilte ihren Kopf mit niemandem als den Kontrollsystemen der Steuerung.
Sie hatte keinerlei Vorstellung, wie viel Zeit ihr noch blieb, doch sie arbeitete mit jener Mischung aus Schnelligkeit und Sorgfalt, für die sie bekannt war und die sie so weit gebracht hatte. Sie hat mich an die Spitze von Brin 2 gebracht und auch hierher, in diese Kapsel. Was für ein schlauer, todgeweihter Affe ich doch bin. Das gedämpfte Gehämmer wurde drängender, doch in der Kapsel gab es nur Platz für eine Person. Sie war weiß Gott nie zartbesaitet gewesen, doch jetzt musste sie ihr Herz noch mehr verhärten, durfte nicht an all die Namen und Gesichter denken, an ihre treuen Kollegen, die von ihr und Sering zu einem explosiven Ende verdammt wurden.
Dem ich selbst noch nicht entkommen bin, rief sie sich in Erinnerung. Doch dann war sie endlich so weit, hatte eine notdürftige Abwurfsequenz erstellt, die Serings Geistersysteme umging. Würde es funktionieren? Sie hatte weder die Möglichkeit für einen Probelauf, noch blieben ihr andere Optionen. Und vermutlich auch keine Zeit mehr.
Abwurf, befahl sie dem Computer und brüllte dann alle vorprogrammierten Versionen von »Sind Sie sicher?« nieder, bis sie spürte, wie sich der Abwurfmechanismus in Bewegung setzte.
Der Computer wollte sie wie geplant sofort in den Kälteschlaf versetzen, aber sie gebot ihm Einhalt. Wenn die Kapitänin schon nicht zusammen mit ihrem Schiff unterging, dann würde sie dem Ende wenigstens aus der Ferne beiwohnen. Welche Entfernung ist dafür wohl nötig?
Inzwischen schrie ein Sturm aus Nachrichten nach ihr und verlangte Aufmerksamkeit. Jedes Mitglied der Crew wollte mit ihr sprechen, sie aber hatte keinem von ihnen etwas zu sagen.
Auch in der Wächterkapsel gab es keine Fenster. Wäre es ihr Wunsch gewesen, hätte sie der rasch kleiner werdenden Station durch ihr Inneres Auge hinterherblicken können, während die kleine Kapsel mit ihrer lebendigen Fracht auf die vorausberechnete Umlaufbahn hinunterfiel.
Noch einmal nahm sie Kontakt zum Brin-System auf, ihr Helmfunksender wurde von der Wächterkapsel verstärkt. Fass abwerfen, befahl sie.
Als nichts geschah, dachte sie kurz an einen fürchterlichen Zufall, doch dann wurde ihr klar, dass sie es vermutlich mit Serings erster und besonders subtiler Sabotage zu tun hatte – die mechanischen Abwurfvorrichtungen von Flasche und Fass waren ihr einfach zu banal erschienen, um sie je zu überprüfen. Auf den Schultern anderer Menschen, so hatte sie es ausgedrückt, dabei aber nicht wirklich an die Leute gedacht, die in der Pyramide der Errungenschaften unter ihr standen. Auch der Geringste musste doch bereit sein, ihr Gewicht zu tragen, damit nicht alles in sich zusammenfiel.
Die Eruption selbst sah sie nicht in ihrem Inneren Auge, lediglich ein kurzes Aufflackern von Schadensberichten der Brin-2-Computer nahm sie wahr, und mit einem Schlag waren all ihre Kollegen, die Station samt dem Verräter Sering sowie ihre gesamte Arbeit nur noch eine auseinandertreibende Trümmerwolke, dazu der Geisterhauch einer verwehenden Atmosphäre mit ein paar unkenntlichen organischen Überbleibseln.
Kurs korrigieren und stabilisieren. Sie hatte eine Schockwelle erwartet, doch die Wächterkapsel hatte sich schon zu weit entfernt, und Energie und Materie von Brin 2 waren im Vergleich zu den Distanzen so unerheblich, dass kaum eine Anpassung notwendig war, um die Kapsel auf ihrer programmierten Umlaufbahn zu halten.
Zeig es mir. Sie wappnete sich gegen den Anblick, aber aus dieser Entfernung schien es ein Nichts – ein kurzes Aufblitzen, ein winziges Boot, mit dem all ihre Ideen und Freunde verbrannt waren.
Letztendlich auch nur ein Fass voll überentwickelter Affen. Aus diesem Abstand, vor der gewaltigen, gleichgültigen Kulisse von allem anderen ließ sich kaum noch sagen, warum irgendetwas davon eine Rolle gespielt hatte.
Notsignal, ordnete sie an. Schließlich mussten sie auf der Erde erfahren, was passiert war. Sie mussten kommen und sie holen, sie aufwecken wie Dornröschen. Immerhin war sie Doktor Kern. Die Zukunft der menschlichen Rasse, genau hier. Sie brauchten sie.
Zwanzig lange Jahre, bis ihr Signal die Erde erreichen würde. Weit länger, bis die Rettung kam, selbst mit den besten Fusionsantrieben, die drei Viertel der Lichtgeschwindigkeit erreichten. Aber ihr schwacher Körper konnte so lange im Kälteschlaf überdauern – und auch noch länger.
Einige Stunden später sah sie dem Ende zu: Das Fass traf auf die Atmosphäre.
Die Feuersbrunst auf Brin 2 hatte es auf eine Tangente der geplanten Flugbahn katapultiert und beinahe hinaus ins offene All geschleudert. Für die Fracht hätte es am Ende keinen Unterschied gemacht. Es ging nun in Flammen auf, zog wie ein Meteor durch die Atmosphäre der grünen Welt. Der Gedanke an den verständnislosen Schrecken, den die Primaten vor ihrem Flammentod durchleben mussten, berührte sie irgendwie mehr als der Tod ihrer Mitmenschen. Und hätte Sering nicht eben darin den Beweis gesehen, dass er im Recht war?
Aus reiner Gewohnheit, aus überflüssig gewordener professioneller Gründlichkeit suchte sie nach der Flasche, sah zu, wie der Kanister in einem flacheren Winkel durch die Atmosphäre fiel und seine virale Fracht auf einer Welt ablud, auf der es keine Affen gab, für die das Virus bestimmt gewesen war.
Ich kann neue Affen besorgen. Es war ein seltsames Mantra, das ihr aber guttat. Der Uplift-Virus würde Jahrtausende überstehen. Das Projekt würde den Verrat und den Tod seiner Schöpfer überleben. Dafür würde sie eigenhändig sorgen.
Achte auf Veränderungen in den Funksignalen. Weck mich auf, wenn du welche registrierst, ordnete sie an.
Der Computer der Kapsel war darüber nicht glücklich. Er verlangte genauere Parameter. Kern grübelte über potenziell relevante Entwicklungen nach. Sie alle aufzulisten, wäre genauso vergeblich, wie die Zukunft vorhersagen.
Dann gib mir Optionen.
Eine lange Liste lief über ihr Helmvisier. Der Computer der Kapsel war ein hochentwickeltes Stück Technologie, so komplex, dass er Empfindungsfähigkeit zumindest vortäuschen konnte.
Upload-Einrichtung, forderte sie an. Die Idee war ihr nicht ganz geheuer, aber hatte sie nicht immer schon gesagt, wie viel einfacher das Leben wäre, wenn sie alles selbst erledigen könnte? Die Kapsel konnte ein Abbild ihres Bewusstseins hochladen. Zwar nur eine unvollkommene Kopie, doch so würde ein Kern-Computer-Verbundsystem entstehen, das durch eine Simulation ihres eigenen Urteils auf äußere Ereignisse reagieren konnte. Sie überflog die Warnungen und Anmerkungen – noch eine bahnbrechende Technologie, die sie dringend vorantreiben mussten. Laut der Prognose würde die KI die hochgeladene Kern immer weiter integrieren, sodass das Verbundsystem nach und nach zu feineren Unterscheidungen imstande sein würde. Das Endergebnis war potenziell intelligenter und leistungsfähiger als die bloße Summe von Mensch und Maschine.
Ausführen, ordnete sie an. Dann legte sie sich hin und wartete darauf, dass die Kapsel mit dem Gehirnscan begann. Wenn nur die Rettungsmannschaft bald eintrifft.
1.2
TAPFERE KLEINE JÄGERIN
Sie ist Portia, und sie ist auf der Jagd.
Sie ist acht Millimeter groß, aber in ihrer winzigen Welt ist sie ein Tiger, wild und listenreich. Wie bei allen Spinnen besteht ihr Körper aus zwei Teilen. Im kleinen Unterleib befinden sich die Buchlunge und der Großteil der Gedärme. Der Kopf-Körper wird von zwei riesigen Augen dominiert, die für perfektes Binokularsehen nach vorne ausgerichtet sind; zwei kleine Büschel darüber krönen sie wie ein Paar Hörner. Sie ist struppig, ihr Haarkleid von schwarz-braunen Mustern durchzogen. Für Fraßfeinde sieht sie mehr nach totem Blatt aus als nach lebender Beute.
Sie wartet. Die Beißklauen unter ihren furchterregenden Augen werden von zwei weiteren Mundwerkzeugen flankiert: den blendend weißen Kiefertastern, die, lang gestreckt wie Gliedmaßen, einem zitternden Schnurrbart ähneln. Die Wissenschaft hat sie Portia labiata getauft; sie ist nur eine unter vielen Arten von Springspinnen.
Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt einer anderen Spinne, die in ihrem heimischen Nest lauert. Es handelt sich um Scytodes pallida, langbeiniger und buckliger als Portia und in der Lage, giftig-klebrige Seide zu speien. Die Scytoden sind darauf spezialisiert, Springspinnen wie Portia zu fangen und zu fressen.
Portia wiederum versteht sich darauf, spinnenfressende Spinnen zu fressen – die meisten davon größer und stärker als sie selbst.
Bemerkenswert sind ihre Augen: Die stecknadelkopfgroßen Scheiben mit beweglichen Kammern dahinter haben die Sehschärfe eines Primaten und setzen die Welt um sie herum zusammen.
Portia hat keine Gedanken. Im Vergleich zu den hundert Milliarden Nervenzellen eines Menschen ergeben ihre sechzigtausend Neuronen kaum ein Gehirn. Und doch geht in dem winzigen Gewebsknoten etwas vor sich. Ihren Feind hat sie bereits erkannt, sie weiß, dass ein Frontalangriff der Speispinne tödlich wäre. Sachte hat sie am Rande von deren Netz herumgespielt, hat der Scytode allerlei taktile Lügen geschickt, versucht, sie aus der Reserve zu locken. Ihre Feindin hat das eine oder andere Mal gezuckt, lässt sich jedoch nicht täuschen.
So viel leisten ein paar Zehntausend Nervenzellen: Vergeblich hat Portia Variante um Variante durchprobiert, immer auf der Suche nach der größtmöglichen Reaktion – nun wird sie die Sache anders angehen.
Mit ihren scharfen Augen hat sie die Umgebung des Netzes, die Äste und Zweige darüber und darunter taxiert. Irgendwo in ihrem winzigen Nervenknoten ist in akribischer Detailarbeit eine dreidimensionale Karte entstanden, penibel hat sie einen Kurs festgelegt, auf dem sie sich wie ein winziger Assassine von oben auf die Scytode stürzen kann. Der Plan ist nicht perfekt, doch etwas Besseres gibt die Umgebung nicht her, und in der Theorie hat ihr kleiner Fetzen von Gehirn bereits alles vorausberechnet. Über den Großteil des Wegs wird sie die Scytode nicht sehen können, doch auch ohne Sichtkontakt bleibt die Beute in ihrem winzigen Verstand gespeichert.
Ginge es um etwas anderes als eine Scytode, dann hätte sie eine andere Taktik gewählt – oder so lange experimentiert, bis etwas geklappt hätte. In der Regel gelingt ihr das.
Über Jahrtausende haben Portias Ahnen gerechnet und Entscheidungen getroffen, jede Generation um ein Winziges raffinierter, denn die besten Jägerinnen legen die meisten Eier.
So weit die Natur, und gerade will sich Portia auf den Weg machen, als eine Bewegung sie ablenkt.
Ein weiteres Mitglied ihrer Spezies ist eingetroffen: ein Männchen. Auch dieses hat die Scytode beobachtet, nun mustert es sie mit scharfem Blick.
Normalerweise würden Angehörige ihrer Art jetzt entscheiden, dass das kleine Männchen ein weniger riskantes Mittagsmahl darstellt als die Scytode und ihre Pläne entsprechend ändern. Doch irgendwas ist nun anders. Die Präsenz des Männchens spricht zu ihr als eine neue, komplexe Erfahrung. Mit einem Mal bedeutet die kauernde Gestalt auf der anderen Seite des Scytodes-Netzes nicht einfach Beute/Paarungspartner/irrelevant. Eine unsichtbare Verbindung spannt sich zwischen ihnen auf. Zwar erfasst sie nicht ganz, dass das Männchen etwas wie sie ist, aber in ihrer strategischen Planung tut sich eine neue Dimension auf. Eine neue Kategorie erweitert ihre Möglichkeiten um ein Hundertfaches: Verbündeter.
Minutenlang studieren die beiden Jägerspinnen ihre mentalen Landkarten, während die geduldige Scytode nichts ahnend dazwischen hängt. Dann sieht Portia zu, wie das Männchen langsam ein Stück über den Rand des Netzes krabbelt. Es wartet, ob auch sie sich bewegt. Das tut sie nicht. Wieder macht das Männchen ein paar vorsichtige Schritte. Schließlich befindet es sich dort, wo seine Anwesenheit ihre instinktive Berechnung der Erfolgschancen verändert.
Sie startet auf ihrem vorausberechneten Kurs, krabbelt, springt, lässt sich an einem Faden herab; die dreidimensionale Welt behält sie fortlaufend im Gedächtnis, ebenso wie die beiden anderen Spinnen.
Zu guter Letzt ist sie in Stellung über dem Netz der Scytode, das regungslose Männchen ist nun wieder in Sicht. Sie wartet, bis es mit seinem Spiel beginnt. Ganz vorsichtig tritt das Männchen auf die seidenen Stränge. Seine Bewegungen sind mechanisch, eine monotone Wiederholung, als wäre es nichts als ein Stück totes Blatt, das im Netz gelandet ist. Die Scytode bewegt sich kurz, verharrt dann wieder. Eine Brise lässt das Netz schaukeln, und versteckt im Rauschen der zitternden Stränge eilt das Männchen vorwärts.
Jetzt springt und tanzt es auf und nieder, spricht laut und deutlich in der Sprache des Netzes: Beute! Hier, eine Beute versucht zu entkommen!
Blitzartig setzt sich die Scytode in Bewegung, und nun schlägt Portia zu, lässt sich hinter ihrem Feind herunterfallen, versenkt ihre Beißklauen in dessen Fleisch. Ihr Gift lässt die andere Spinne jäh erstarren. Die Jagd ist zu Ende.
Kurz darauf kehrt das Männchen zurück, und die beiden betrachten einander, versuchen sich ein neues Bild der Welt zu machen. Sie fressen. Immer wieder will sie das Männchen verjagen, doch diese neue Dimension der Gemeinschaft gebietet ihren Klauen Einhalt. Das Männchen ist Beute – es ist keine Beute.
Später jagen sie wieder gemeinsam. Sie sind ein gutes Team. Zusammen meistern sie neue Situationen und überwinden Feinde, wo jeder einzeln zurückgewichen wäre.
Von Beute/keine Beute wird es schließlich zum Gatten befördert, denn was Männchen angeht, ist Portias Verhaltensrepertoire beschränkt. Nach der Paarung nehmen andere Instinkte überhand, und die Partnerschaft endet.
Sie legt ihre Eier, das große Gelege einer sehr erfolgreichen Jägerin.
Ihre Kinder werden schön und schlau sein und zum Doppelten ihrer Größe heranwachsen, infiziert mit dem Nanovirus, den sowohl Portia als auch das Männchen in sich tragen. Künftige Generationen werden noch größer und klüger und erfolgreicher werden, eine nach der anderen wird sich, viral beschleunigt, weiterentwickeln, und wer die neuen Vorteile am geschicktesten nutzt, wird den Genpool dominieren.
Portias Kinder werden die Welt erobern.