Das Buch
Black Spring ist ein beschauliches Städtchen im idyllischen Hudson Valley – das dachte der Arzt Steve Grant zumindest, als er sich vor zwanzig Jahren mit seiner Frau Joycelyn dort niederließ. Schnell musste er jedoch lernen, dass es in Black Spring nicht nur schöne Wälder, wunderbare Wanderwege und hübsche Einfamilienhäuschen gibt, sondern auch Katherine van Wyler – die dreihundert Jahre alte, blinde Black Rock Witch, die den Bewohnern von Black Spring gelegentlich einen kleinen Schrecken einjagt. Inzwischen haben sich Joycelyn und Steve an Katherines Anwesenheit gewöhnt, und ihre beiden Söhne Tyler und Matt kennen ein Leben ohne die Hexe gar nicht. Sollte Katherine aber jemals die Augen öffnen, ist Black Spring dem Untergang geweiht, so will es eine uralte Prophezeiung. Deshalb gelten strenge Regeln: kein Internet, kein Besuch von außerhalb, kein Wort über die Hexe verlieren – oder Katherines Fluch wird sie alle treffen. Als die Teenager des Ortes eines Tages genug von den ständigen Einschränkungen haben und ein Video von Katherine posten, bricht in Black Spring im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los …
Der Autor
Thomas Olde Heuvelt wurde 1983 in Nijmegen, Niederlande, geboren. Er studierte Anglistik und Amerikanistik an der Radboud-Universität Nijmegen und an der University of Ottawa in Kanada. Für seine Kurzgeschichte The Day the World Turned Upside Down wurde er mit dem Hugo Award ausgezeichnet. Sein Roman Hex war in den Niederlanden und den USA ein sensationeller Erfolg.
THOMAS OLDE HEUVELT
HEX
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
HEX
Deutsche Übersetzung von Julian Haefs
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Deutsche Erstausgabe 11/2017
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright © 2013 by Thomas Olde Heuvelt
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,
unter Verwendung von Motiven von
andreiuc88/Shutterstock und
Roman Sigaev/Shutterstock
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-21740-2
V001
www.heyne.de
Für Jaques Post,
meinen literarischen Schamanen
ERSTER TEIL
Heute angesagt?
#Steinigung
1
Steve Grant bog gerade rechtzeitig um die Ecke des Parkplatzes hinter dem Supermarkt von Black Spring, um Zeuge zu werden, wie Katherine van Wyler von einer antiken Niederländischen Drehorgel überrollt wurde. Kurz dachte er, es handle sich um eine optische Täuschung, denn statt rücklings auf die Straße geschleudert zu werden, verschmolz die Frau mit den verschnörkelten Schnitzereien, gefiederten Engelsflügeln und chromfarbenen Orgelpfeifen. Dahinter war Marty Keller zu sehen, der die Drehorgel mithilfe der Anhängerkupplung rückwärtsgeschoben hatte und nun auf Lucy Everetts Geheiß hin zum Stehen brachte. Obwohl weder ein Aufprall zu hören gewesen noch irgendwo Blut zu sehen war, kamen sofort von allen Seiten Leute mit jener Dringlichkeit angelaufen, die Dorfbewohner im Angesicht eines Unfalls auf offener Straße stets anzutreiben scheint. Nur ließ niemand die Einkaufstüten fallen, um der Dame aufzuhelfen … gab es nämlich eine Sache, welche die Bewohner von Black Spring noch mehr schätzten als Geschäftigkeit, so war es die achtsame Beharrlichkeit, sich so wenig wie irgend möglich in Katherines Angelegenheiten einzumischen.
»Nicht zu nah ran!«, rief Marty und streckte einem kleinen Mädchen die Hand entgegen, das sich mit zaghaften Schritten genähert hatte, augenscheinlich weniger von dem bizarren Unfall als von der Pracht der kolossalen Musikmaschine angezogen. Steve wusste natürlich, dass es sich nicht wirklich um einen Unfall gehandelt hatte. Im Schatten unterhalb der Drehorgel konnte er zwei schmutzige Füße und den schlammverkrusteten Saum von Katherines Kleid erkennen. Er lächelte gutmütig: Also war es tatsächlich eine optische Täuschung. Zwei Sekunden später schmetterte bereits das Leitmotiv des Radetzky-Marschs über den Parkplatz.
Steve wurde etwas langsamer. Am Ende seiner großen Runde war er zwar erschöpft, aber durchaus mit sich zufrieden: fünfzehn Meilen am Rand des Bear Mountain State Park bis nach Fort Montgomery und dann den Hudson hoch bis zur Militärakademie von West Point (die von den Leuten hier schlicht Der Point genannt wurde), wo er wieder heimwärts abgebogen war. Zurück zwischen die Hügel, tief in den Wald. Er fühlte sich wunderbar, und das nicht nur, weil Laufen der beste Weg war, all die Spannungen loszuwerden, die ein langer Unterrichtstag an der New York Med in Valhalla unweigerlich mit sich brachte. Es war vor allem die herrlich herbstliche Brise außerhalb von Black Spring, die ihn in solche Hochstimmung versetzte, durch seine Lunge wirbelte und den Geruch seines ehrlich erarbeiteten Schweißes gen Westen davontrug. Natürlich war das alles seelisch bedingt. Die Luft in Black Spring war vollkommen in Ordnung … zumindest hätte man mit wissenschaftlichen Analysen nichts Gegenteiliges feststellen können.
Die Musik hatte auch den Koch von Rubys Rippchen hinter seinem Grill hervorgelockt. Er gesellte sich zu den übrigen Schaulustigen und starrte die mächtige Drehorgel argwöhnisch an. Steve ging um sie herum und wischte sich die Stirn am Ärmel trocken. Als er sah, dass die kunstvoll lackierte Seite des Leierkastens in Wahrheit eine Schwingtür war, die darüber hinaus offen stand, konnte er ein Grinsen nicht länger unterdrücken. Die Orgel war von Dach bis Achse vollkommen hohl. Als Lucy die Tür schloss und den Blick aufs Innenleben versperrte, stand Katherine noch immer reglos in der Dunkelheit. Jetzt war die Orgel wieder ganz Orgel – und Menschenskind, wie sie aufspielte.
»Hey«, sagte er, immer noch außer Atem, die Hände in die Hüften gestemmt. »Haben Mulder und Scully mal wieder Geld in die Stadtkasse gespült?«
Marty kam auf ihn zu und grinste. »Das sagst du so. Hast du ’ne Ahnung, was diese Scheißdinger kosten? Ich sag dir, da wird echt jeder Cent zweimal umgedreht.« Er bedachte die Drehorgel mit einer schnellen Kopfbewegung. »Das Teil ist nur ’ne Attrappe. Eine Replik der Orgel aus dem Altholland-Museum drüben in Peekskill. Ziemlich gut, was? Da ist ein stinknormaler Anhänger drunter.«
Steve war gebührend beeindruckt. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, genauer hinzusehen, bestand der Prospekt der Orgel offenkundig nur aus einem Sammelsurium kitschiger Porzellanfiguren und achtlos angeklebter Verzierungen – und war obendrein noch schlecht bemalt. Auch die Orgelpfeifen bestanden nicht aus Chrom, sondern aus mit Goldlack überstrichenem PVC. Selbst der Radetzky-Marsch entpuppte sich als Reinfall – eine billige Illusion, ohne das erbauliche Seufzen der Ventile oder das leichte Klatschen der Lochkarten, die man von solch einem Instrument vergangener Tage erwartet hätte.
Marty schien seine Gedanken erraten zu haben. »Ein iPod mit dicken Lautsprechern. Gut, dass wir die richtige Playlist laufen haben, sonst gäb’s hier jetzt Heavy Metal.«
Steve musste lachen. »Klingt so, als wäre das Ganze auf Grims Mist gewachsen.«
»So isses.«
»Ich dachte, der Sinn der Sache wäre, die Aufmerksamkeit von ihr weg zu lenken?«
Marty zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie der Meister gerne arbeitet.«
»Das Ding ist auch nur für öffentliche Veranstaltungen«, sagte Lucy. »Für den Jahrmarkt oder die Festspiele, wenn zu viele Leute von draußen hier sind.«
»Na dann, viel Erfolg«, sagte Steve, grinste und schickte sich an weiterzulaufen. »Vielleicht könnt ihr euch damit am Ende sogar noch ein Zubrot verdienen.«
Die letzte Meile bergab in Richtung Deep Hollow Road ließ er es ruhig angehen. Sobald er außer Hörweite war, dachte er nicht mehr an die Frau im Dunkeln, die Frau im Leib der Drehorgel, auch wenn der verklungene Radetzky-Marsch in seinem Kopf nachhallte und den Rhythmus seiner Schritte bestimmte.
Nach einer schnellen Dusche ging er runter ins Erdgeschoss und fand Jocelyn am Esstisch sitzen. Sie klappte den Laptop zu. Schenkte ihm das feinsinnige Lächeln, das vor dreiundzwanzig Jahren sein Herz erobert hatte und das sie wohl bis ans Ende ihrer Tage nicht verlassen würde, trotz wachsender Fältchen und Tränensäcke (ihre Mittvierziger-Taschen, wie sie sie nannte). »So, genug Zeitvertreib mit meinen Liebhabern. Jetzt ist mein Gatte an der Reihe.«
Steve grinste. »Wie hieß er noch gleich? Rafael?«
»Ja. Und Roger. Novak hab ich abserviert.« Sie stand auf und legte ihm die Arme um die Taille. »Wie war dein Tag?«
»Anstrengend. Fünf Stunden Vorlesung am Stück mit einer einzigen zwanzigminütigen Pause. Ich werd Ulmann sagen, er soll meinen Stundenplan ändern oder wenigstens ’ne Batterie im Rednerpult installieren.«
»Du bist wirklich bedauernswert, alter Streber«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. »Ich sollte dich vielleicht warnen, dass wir eine Voyeurin bei uns haben.«
Steve wich zurück und zog die Augenbrauen hoch.
»Grandma«, sagte sie.
»Grandma?«
Sie zog ihn an sich, drehte den Kopf und nickte über ihre Schulter. Steve folgte ihrem Blick durch die geöffnete Glastür in Richtung Wohnzimmer. Tatsache. Direkt in der verlorenen Ecke zwischen Sofa und Kamin – Jocelyn nannte diese Ecke ihren Limbus, weil sie einfach nicht entscheiden konnte, was man mit diesem Nicht-Ort anstellen sollte – stand neben der Stereoanlage eine kleine, eingefallene Frau, spindeldürr und absolut regungslos. Im goldenen Licht des Herbstnachmittags wirkte sie vollkommen fehl am Platz. Dunkel, dreckig, ein Geschöpf der Nacht. Jocelyn hatte der Frau einen alten Spüllappen über den Kopf gehängt, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war.
»Grandma«, sagte Steve nachdenklich. Dann fing er zu lachen an. Er konnte nicht anders. Dank des Spüllappens bot sie einfach einen plumpen, lächerlichen Anblick.
Jocelyn errötete. »Du weißt doch, wenn sie uns so anstarrt, wird mir ganz anders. Ich weiß, sie ist blind, trotzdem hab ich manchmal das Gefühl, das ändert daran gar nichts.«
»Wie lange steht sie schon da? Eben war sie noch im Ort.«
»Keine zwanzig Minuten. Sie ist kurz vor dir aufgetaucht.«
»Was sagt man dazu? Ich hab sie auf dem Parkplatz hinterm Supermarkt gesehen. Die haben sie in einem ihrer neuen Spielzeuge versteckt, in einer verdammten Drehorgel. Offenbar hat ihr die Musik nicht besonders gefallen.«
Jocelyn lächelte und schürzte die Lippen. »Dann kann ich nur hoffen, dass sie auf Johnny Cash steht, denn die CD war eben noch im Player, und einmal an ihr vorbeizugreifen, um auf Start zu drücken, reicht mir vollkommen, schönen Dank auch.«
»Tapfere Aktion, Madame.« Steve vergrub die Finger oberhalb des Nackens in ihren Haaren und küsste sie.
Die Fliegengittertür zur Terrasse wurde aufgerissen, und Tyler betrat das Haus. Er hielt eine ausladende Plastiktüte in der Hand, die nach chinesischem Essen duftete. »Hee, keine Fummeleien hier, okay?«, sagte er. »Bis zum 15. März bin ich noch minderjährig, so lange darf meine zarte Seele nicht korrumpiert werden. Vor allem nicht von Leuten innerhalb meines eigenen Genpools.«
Steve zwinkerte Jocelyn zu und sagte: »Gilt das auch für dich und Laurie?«
»Man soll doch experimentieren«, sagte Tyler, stellte die Tüte auf dem Tisch ab und schlängelte sich aus der Jacke. »Das ist dem Alter angemessen. Sagt Wikipedia.«
»Und was sollen wir laut Wikipedia in unserem Alter anstellen?«
»Arbeiten … kochen … Taschengeld erhöhen.«
Jocelyn riss die Augen auf und lachte schallend. Hinter Tyler hatte sich Fletcher durch die Terrassentür geschlichen und trippelte mit aufgestellten Ohren durchs Esszimmer.
»Um Himmels … Tyler, halt ihn fest!«, sagte Steve, sobald er den Border Collie knurren hörte, aber da war es schon zu spät. Fletcher hatte die Frau in Jocelyns Limbus entdeckt. Er stieß ein ohrenbetäubendes Bellen aus, das sich in ein so schrilles, hohes Winseln verlagerte, dass sie alle drei vor Schreck fast aus der Haut fuhren. Der Hund sauste durchs Zimmer, rutschte aber auf den dunklen Fliesen aus; Tyler bekam gerade noch das Halsband zu fassen. Fletcher kam im Türrahmen des Wohnzimmers zum Stehen, bellte wie verrückt und ruderte mit den Vorderpfoten in der Luft.
»Fletcher, aus!«, schrie Tyler und riss hart an der Leine. Fletchers Gebell verebbte. Er wedelte nervös mit dem Schwanz und stimmte ein tiefes, kehliges Knurren an, das der Frau in Jocelyns Limbus galt … die sich nicht gerührt hatte. »Jesus, ihr hättet mir nicht sagen können, dass sie hier ist?«
»Tut mir leid«, sagte Steve und nahm Tyler die Leine ab. »Wir haben Fletcher nicht reinkommen sehen.«
Ein säuerliches Lächeln stahl sich in Tylers Gesicht. »Steht ihr aber gut, der Lappen.« Er warf seine Jacke über die nächste Stuhllehne und rannte ohne weiteren Kommentar nach oben. Nicht etwa, um Hausaufgaben zu machen, dachte Steve, denn diesbezüglich war Tyler wahrlich nie in Eile. Die einzigen Dinge, die ihn in solche Eile versetzen konnten, waren das Mädchen, mit dem er zusammen war (ein kesser kleiner Sonnenschein aus Newburgh, die ihn leider dank der Notverordnung nicht allzu oft besuchen konnte), und der Video-Blog auf seinem YouTube-Kanal, an dem er wahrscheinlich gesessen hatte, als ihn Jocelyn zum Chinarestaurant Des Kaisers Erste Wahl geschickt hatte. Mittwochs war ihr freier Tag, an dem sie es gerne so unkompliziert wie möglich hatte, auch wenn sämtliche Gerichte des einzigen Chinesen der Stadt ziemlich gleich schmeckten.
Steve brachte den knurrenden Fletcher in den Garten und band ihn in seinem Zwinger an, wo er sofort gegen den Maschendraht sprang und dann begann, rastlos auf und ab zu tigern. »Komm mal runter«, fauchte Steve, vielleicht etwas giftiger als nötig. Aber der Hund ging ihm auf den Wecker, und er wusste genau, dass er locker eine halbe Stunde brauchen würde, um sich wieder einzukriegen. Es war schon eine Weile her, dass Grandma zuletzt unangemeldet aufgetaucht war, aber sooft sie auch kommen mochte, Fletcher schien sich einfach nicht an sie gewöhnen zu können.
Steve ging zurück ins Haus und half Jocelyn beim Tischdecken. Gerade entfaltete er die Pappbehälter mit Hühnchen Chow Mein und Tofu à la General Tso, als die Küchentür abermals aufgerissen wurde. Matts Reiterstiefel trampelten über die Fliesen. Draußen bellte Fletcher immer noch ohne Unterlass. »Mann, Fletcher!«, hörte Steve seinen Jüngsten rufen. »Was ist los mit dir?«
Matt betrat das Esszimmer, die Baseballkappe schief auf dem Kopf, die zerknautschte Reiterhose über den Arm gehängt. »Ooh, mjamm, Chinesisch«, sagte er und bedachte seine Eltern im Vorbeigehen mit einer flüchtigen Umarmung. »Ich komm gleich wieder!« Dann rannte auch er nach oben.
Steve betrachtete das Esszimmer zu dieser Tageszeit als Epizentrum des Grant’schen Familienlebens, als den Ort, an dem sich die ausgefüllten Tagesabläufe der einzelnen Familienmitglieder wie tektonische Platten übereinanderschoben und für kurze Zeit zum Stillstand kamen. Was nicht nur daran lag, dass es ihnen allen wichtig war, so oft wie möglich gemeinsam zu essen; es hatte auch mit dem Raum selbst zu tun. Ein vertrautes Fleckchen im Haus, mit Stützbalken aus mächtigen alten Eisenbahnschwellen und einem unbezahlbaren Blick auf Pferdestall und Reitzirkel an der Rückseite des Gartens. Dahinter erstreckte sich die steile Wildnis der Philosophenklamm.
Als Steve gerade die Sesamnudeln verteilte, kam Tyler zurück ins Esszimmer. Er hatte die GoPro-Sportkamera dabei, die sie ihm zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Das rote Aufnahme-Lämpchen leuchtete.
»Mach das Ding aus«, sagte Steve mit Nachdruck. »Du weißt genau, wie die Regeln lauten, wenn Grandma hier ist.«
»Ich filme sie ja auch nicht«, sagte Tyler und setzte sich ans andere Ende des Tischs. »Siehst du? Ich krieg sie von hier aus nicht mal ins Bild. Und in Innenräumen rührt sie sich so gut wie nie von der Stelle.« Er schenkte dem Vater ein unschuldiges Lächeln und schmiss seine typische YouTube-Stimme an (Sprachmelodie 1.2, Begabung 2.0): »Und nun ist es an der Zeit, dir für mein Statistikreferat – très important – eine Frage zu stellen, oh höchstehrwürdiger Erzeuger.«
»Tyler!«, rief Jocelyn.
»Um Vergebung, oh doppelt verehrungswürdige Nachwuchsausträgerin.«
Jocelyn betrachtete ihn mit freundlicher Bestimmtheit. »Das schneidest du raus«, sagte sie. »Und nimm die Kamera aus meinem Gesicht. Ich sehe furchtbar aus.«
»Pressefreiheit.« Tyler grinste.
»Schutz der Privatsphäre«, schoss Jocelyn zurück.
»Aussetzen der häuslichen Pflichten.«
»Taschengeldkürzung.«
Tyler richtete die GoPro auf sich selbst und setzte eine Leichenbittermiene auf. »Herrje, so was muss ich mir hier dauernd anhören. Freunde, ich hab’s schon öfter gesagt und muss es einmal mehr wiederholen: Ich lebe in einer Diktatur. Die Elterngeneration hat mich in der Hand und unterminiert mein Recht auf freie Meinungsäußerung aufs Ärgste.«
»So sprach der Messias«, sagte Steve, der gerade den Tofu à la General Tso auf den Tellern verteilte und genau wusste, dass Tyler den Großteil sowieso wieder rausschneiden würde. Tyler komponierte gewitzte Zusammenschnitte seiner Meinung zu verschiedenen Themen, gewürzt mit allerlei Absurditäten und Bildmaterial aus der Nachbarschaft, alles unterlegt mit eingängiger Popmusik und flotten Effekten. Er war richtig gut. Und er erzielte beeindruckende Resultate: Als Steve den YouTube-Kanal seines Sprösslings zuletzt besucht hatte, hatte es TylerFlow95 auf gut 340 Abonnenten und über 270.000 Aufrufe gebracht. Tyler verdiente sich sogar etwas Taschengeld (allerdings absurd wenig, wie er selbst zugab) über die Werbeeinnahmen dazu.
»Was wolltest du fragen?«, sagte Steve, woraufhin die Kamera augenblicklich in seine Richtung schwenkte.
»Wenn du jemanden sterben lassen müsstest, wie würdest du dich entscheiden: dein Kind oder ein ganzes Dorf im Sudan?«
»Was für eine hinfällige Frage.«
»Mein Kind«, sagte Jocelyn.
»Hee!«, rief Tyler mit dramatischer Geste. Draußen setzte Fletcher wieder zu seinem rastlosen Gebell an. »Habt ihr das gehört? Meine eigene Mutter würde mich erbarmungslos ans Messer liefern, um irgendein hypothetisches Dorf in Afrika zu retten. Handelt es sich hier um ein Zeichen ihres Mitgefühls für die Dritte Welt – oder um einen Hinweis auf unsere dysfunktionalen Familienbande?«
»Beides, Schatz«, sagte Jocelyn und ging zum Fuß der Treppe. »Matt! Essen fassen!«
»Aber jetzt mal im Ernst, Papa. Sagen wir, vor dir wären zwei Knöpfe. Wenn du den einen drückst, stirbt dein Kind – moi, in diesem Fall –, und wenn du den anderen drückst, stirbt ein komplettes Dorf irgendwo im Sudan. Wenn du bis zehn keine Entscheidung triffst, werden automatisch beide Knöpfe gedrückt. Wen würdest du retten?«
»Die ganze Situation ist absurd«, sagte Steve. »Wer sollte mich je zu so einer Entscheidung zwingen wollen?«
»Darum geht’s doch gar nicht.«
»Selbst wenn – es gibt keine richtige Antwort. Wenn ich dich rette, wirst du mir vorwerfen, dass ich ein ganzes Dorf habe sterben lassen.«
»Wenn du dich nicht entscheidest, sterben wir alle«, wiederholte Tyler mit Nachdruck.
»Natürlich würde ich eher das Dorf sterben lassen als dich. Wie könnte ich meinen eigenen Sohn opfern?«
»Ernsthaft?« Tyler pfiff anerkennend. »Selbst wenn es ein ganzes Dorf voller extrem unterernährter Kindersoldaten ist, mit aufgeblähten kleinen Bäuchen und Fliegenschwärmen um die Augen und armen, missbrauchten, AIDS-kranken Müttern?«
»Auch dann. Jede dieser Mütter würde dasselbe für ihr Kind tun. Wo bleibt Matt? Ich hab Hunger.«
»Und wenn du die Wahl hättest, mich sterben zu lassen oder den gesamten Sudan?«
»Tyler, du solltest solche Fragen wirklich nicht stellen«, sagte Jocelyn, klang allerdings wenig zuversichtlich. Sie wusste genau: Sobald ihr Mann und ihr Sohn einmal mit Eifer bei der Sache waren, hatten Eingriffe von außen etwa so viel Aussicht auf Erfolg wie … tja, wie jeder Eingriff auf der großen politischen Bühne.
»Nun, Vater?«
»Den Sudan«, sagte Steve. »Worum geht’s bei dem Referat überhaupt? Unsere Verwicklungen in Afrika?«
»Ehrlichkeit«, sagte Tyler. »Wer auch immer sagt, er würde den Sudan retten, lügt. Und wer nicht antworten will, versucht bloß, politisch korrekt zu sein. Wir haben alle Lehrer befragt, und nur unsere Philosophielehrerin, Miss Redfearn, war ehrlich. Und du.« Er hörte seinen kleinen Bruder die Treppe herabpoltern und rief: »He, Matt, wenn du jemanden sterben lassen müsstest, wen würdest du nehmen: den gesamten Sudan oder unsere Eltern?«
»Sudan«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Jenseits des Bildausschnitts der Kamera nickte Tyler in Richtung Wohnzimmer und zog mit zwei Fingern den Reißverschluss über seinem Mund zu. Steve warf Jocelyn einen zögerlichen Blick zu, sah aber an der Art, wie sie sich auf die Lippe biss, dass sie bereit war, die Sache laufen zu lassen. Eine Sekunde später ging die Tür auf, und Matt kam herein, augenscheinlich schnurstracks aus dem Badezimmer und mit nichts als einem Handtuch um die Hüften bekleidet.
»Hey, Mann, du hast mir soeben locker tausend Klicks mehr verschafft«, sagte Tyler. Matt schnitt der GoPro eine alberne Grimasse und wackelte verführerisch mit den Hüften.
»Tyler, der Junge ist dreizehn!«, sagte Jocelyn.
»Ernsthaft. Das Video, wo ich mit Lawrence und Burak oben ohne Playback zu den Pussycat Dolls gemacht habe, hatte über fünfunddreißigtausend Klicks.«
»Das war auch hart an der Grenze zum Porno«, sagte Matt und setzte sich neben Tyler, den Rücken zum Wohnzimmer – und zu der Frau in Jocelyns Limbus. Steve und Tyler wechselten einen belustigten Blick.
»Kannst du am Tisch nicht wenigstens ein paar Klamotten anziehen?«, fragte Jocelyn mit leisem Seufzen.
»Ihr wolltet doch, dass ich zum Essen runterkomme! Meine Klamotten riechen nach Pferd, und ich hab nicht mal Zeit zum Duschen gehabt. Hey, ich hab dein Album geliked, Mom.«
»Was?«
»Auf Facebook.« Mit einem Mund voll Nudeln stieß er sich von der Tischkante ab und balancierte den Stuhl auf den Hinterbeinen. »Du bist echt cool, Mom.«
»Ich hab’s gesehen, Liebling. Alle viere auf den Boden, okay? Sonst fällst du wieder hin.«
Matt ignorierte sie und wandte sich Tylers Objektiv zu. »Ich wette, du willst gar nicht erst wissen, was ich dazu sagen würde.«
»Nein, will ich nicht, Bruder-der-nach-Pferd-riecht. Mir wäre lieber, du würdest duschen.«
»Das ist Schweiß, kein Pferd«, sagte Matt unerschütterlich. »Ich finde deine Frage zu einfach. Viel spannender wäre die Frage: Wenn du jemanden sterben lassen müsstest, wen würdest du nehmen: dein Kind oder ganz Black Spring?«
Draußen stimmte Fletcher ein tiefes Knurren an. Steve schaute durch die Terrassentür in den Garten und sah, dass der Hund direkt am Maschendrahtzaun seinen Kopf dicht an den Boden drückte und die Zähne wie ein wildes Tier gefletscht hatte.
»Alter, was stimmt denn mit dem Hund nicht?«, fragte Matt. »Abgesehen davon, dass er sowieso vollkommen plemplem ist.«
»Grandma ist nicht zufällig in der Nähe, oder?«, fragte Steve betont unschuldig.
Jocelyn ließ die Schultern hängen und sah sich im Zimmer um. »Ich hab sie heute noch nicht gesehen.« Mit gespielter Hast spähte sie vom einen Ende des Gartens bis zur gespaltenen Roteiche am anderen Ende des Grundstücks, wo der Pfad den Hügel hinaufführte. Am Stamm der Roteiche waren drei Überwachungskameras montiert, die verschiedene Bereiche der Philosophenklamm observierten.
»Grandma ist nicht zufällig in der Nähe.« Matt grinste mit vollem Mund. »Was wohl Tylers Follower davon halten?« Jocelyns Mutter war nach langer Zeit schweren Alzheimers vor anderthalb Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Steves Mutter war schon seit acht Jahren tot. Was YouTube natürlich nicht wusste; trotzdem schien sich Matt darüber zu amüsieren.
Steve wandte sich seinem ältesten Sohn zu und sagte mit einer Strenge, die ganz und gar nicht seiner Art entsprach: »Tyler, das schneidest du raus, verstanden?«
»Klar, Dad.« Er setzte wieder die TylerFlow95-Stimme auf. »Dann lasst uns die Frage etwas direkter stellen. Wenn du jemanden sterben lassen müsstest, o padre mio, wen würdest du wählen: dein Kind oder den Rest unseres Städtchens?«
»Würde der Rest meine Frau und mein anderes Kind einschließen?«, fragte Steve.
»Ja, Dad«, sagte Matt und lachte geringschätzig. »Wen willst du retten? Tyler oder mich?«
»Matthew!«, rief Jocelyn. »Das reicht jetzt langsam.«
»Ich würde euch beide retten«, sagte Steve mit düsterer Miene.
Tyler grinste. »Das war die politisch korrekte Antwort, Dad.«
In diesem Augenblick lehnte sich Matt auf den hinteren Stuhlbeinen zu weit zurück. Er ruderte wild mit den Armen und verspritzte mit seinem Löffel überall rote Sauce, doch der Stuhl kippte mit lautem Krach hintenüber, und Matt rollte über den Boden. Jocelyn sprang auf und erschreckte Tyler, dem die GoPro aus der Hand glitt. Sie fiel mitten in das Hühnchen Chow Mein auf seinem Teller. Steve sah, dass Matt, immer noch gelenkig wie ein Kind, den Sturz mit dem ausgestreckten Ellbogen abgefangen hatte. Jetzt lag er da auf dem Rücken, kicherte hysterisch und versuchte, mit der anderen Hand das Handtuch um die Hüften festzuhalten.
»Kleiner Bruder über Bord!«, johlte Tyler. Er richtete die GoPro auf den Boden, um ein paar brauchbare Aufnahmen abzubekommen, und wischte mit dem Finger die Sauce von der Kamera.
Plötzlich begann Matt zu zittern, als hätte er einen Stromschlag erlitten. Sein Gesichtsausdruck wurde zu einer Maske blanken Entsetzens; er schlug mit dem Schienbein gegen das Bein des Esstischs und stieß einen lauten Schrei aus.
Vorab: Die Bilder, die Tylers GoPro in diesem Moment aufnimmt, wird nie jemand zu Gesicht bekommen. Was zu schade ist, denn nähme sie jemand genau unter die Lupe, würde dieser Jemand Zeuge einer sehr seltsamen, vielleicht gar verstörenden Begebenheit werden – um es zurückhaltend zu formulieren. Die Aufnahme ist gestochen scharf, und Bilder lügen nicht. Auch wenn es nur eine kleine Kamera ist, fängt die GoPro die Realität in erstaunlichen sechzig Bildern pro Sekunde ein und produziert so beispielsweise spektakuläre Aufnahmen von Tylers Mountainbike-Ritt den Mount Misery hinab oder vom Schnorcheln mit Freunden im Popolopen-See, selbst wenn das Wasser trüb ist.
Diese Aufnahme zeigt Jocelyn und Steve, die entgeistert an ihrem jüngsten Sohn vorbei ins Wohnzimmer starren. Mitten im Bild befindet sich ein Fleck aus geronnenen Nudeln und Eigelb. Die Kamera zuckt zur Seite. Matt liegt nicht länger auf dem Boden. Er fährt mit einer spastischen Zuckung des gesamten Körpers hoch, weicht zurück und stößt gegen den Esstisch. Irgendwie hat er es fertiggebracht, das um die Hüften gewickelte Handtuch nicht zu verlieren. Kurz wirkt es so, als stünde man auf dem schwankenden Deck eines Schiffs, denn die Welt steht schief, als sei das ganze Esszimmer aus den Fugen geraten. Dann richtet sich der Bildausschnitt wieder auf, und obwohl der Nudelklecks den Großteil des Objektivs verdeckt, kann man dahinter eine hagere Frau ausmachen, die durchs Wohnzimmer in Richtung der Glastür zur Küche geht. Bislang stand sie regungslos in Jocelyns Limbus, jetzt hat sie sich plötzlich in Bewegung gesetzt, als wolle sie dem gestürzten Matt aufhelfen. Der Spüllappen ist ihr vom Kopf gerutscht, und für den Bruchteil einer Sekunde – es können kaum mehr als ein paar Einzelbilder sein – sieht man, dass ihre Augen zugenäht sind, ebenso ihr Mund. Alles geht so schnell, dass es vorbei ist, ehe man es verarbeiten kann, aber es handelt sich um jene Sorte Anblick, die sich einem ins Hirn brennt – nicht nur genug, um einen temporär aus der geistigen Komfortzone zu zerren, sondern auch, um sie gänzlich zu zerrütten.
Dann hechtet Steve durchs Bild und zieht die Glastür zum Wohnzimmer mit einem Ruck zu. Hinter dem halb durchlässigen Buntglas sieht man die hagere Frau innehalten. Sogar das Vibrieren des Glases ist schwach zu hören, als sie leicht gegen den Türrahmen stößt.
Steves gute Laune ist verflogen. »Mach das Ding aus«, sagt er. »Sofort.« Er klingt todernst, und obwohl sein Gesicht nicht zu sehen ist (nur sein T-Shirt, die Jeans und ein Finger, der wie eine Speerspitze auf die Kamera zielt), ist unschwer zu überhören, was für einen Blick er gerade aufgesetzt haben muss. Das Bild wird schwarz.
»Sie ist direkt auf mich zugekommen!«, schrie Matt. »So was hat sie noch nie gemacht!« Er stand noch immer neben dem gefallenen Stuhl und hielt das Handtuch fest, damit es ihm nicht von den Hüften rutschte.
Tyler fing an zu lachen – in erster Linie vor Erleichterung, dachte Steve. »Vielleicht steht sie auf dich.«
»Uää, widerlich, willst du mich verarschen? Sie ist uralt!«
Jetzt stimmte auch Jocelyn in das Gelächter ein. Sie genehmigte sich einen Mundvoll Nudeln, ohne zu merken, wie viel scharfe Sauce sie auf dem Löffel hatte. Sofort traten ihr Tränen in die Augen. »Tut mir leid, Schatz. Wir wollten dich nur ein bisschen erschrecken. Sieht aber ganz so aus, als hättest du sie erschreckt. Das war echt komisch, wie sie da auf dich zugekommen ist. So was macht sie sonst nie.«
»Wie lange stand sie schon da?«, fragte Matt pikiert.
»Die ganze Zeit«, sagte Tyler grinsend.
Matt fiel die Kinnlade herunter. »Jetzt hat sie mich nackt gesehen!«
Tyler sah ihn mit einer Mischung aus vollkommener Verblüffung und jener Sorte Ekel an, der an eine Art mitfühlende Liebe grenzt – ein Gefühl, das großen Brüdern ihren jüngeren, begriffsstutzigen Geschwistern gegenüber vorbehalten ist. »Sie kann nicht sehen, Blödmann«, sagte er. Er wischte die Linse der GoPro ab und betrachtete die blinde Frau jenseits der Buntglastür.
»Setz dich hin, Matt«, sagte Steve mit angespannter Miene. Matt leistete beleidigt Folge. »Und Tyler, du löschst diese Aufnahme sofort.«
»Ach, komm schon! Ich kann sie einfach rausschneiden …«
»Sofort. Und ich will sehen, wie du das tust. Du kennst die Regeln.«
»Wo sind wir hier, Pjöngjang?«
»Ich sag’s nicht noch mal.«
»Aber da war richtig geiles Material dabei«, murmelte Tyler ohne große Hoffnung. Er wusste genau, wann sein Vater es ernst meinte. Und er kannte die Regeln in der Tat. Widerstrebend hielt er das Display so, dass Steve es sehen konnte, wählte die letzte Datei aus und drückte erst auf LÖSCHEN, dann auf OK.
»Braver Junge.«
»Tyler, kannst du sie bitte in der App melden?«, sagte Jocelyn. »Ich wollte das vorhin schon erledigen, aber du weißt ja, wie toll ich mit der Technik umgehen kann.«
Steve ging vorsichtig über den Flur ins Wohnzimmer. Die Frau hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie stand immer noch da, direkt vor der Tür, das Gesicht gegen die Glasscheibe gedrückt – als hätte sie dort jemand zwecks eines makabren Scherzes anstelle einer Stehlampe oder einer Zimmerpflanze deponiert. Die strähnigen Haare hingen reglos und verfilzt unter dem Kopftuch hervor. Falls sie bemerkte, dass jemand mit ihr im Zimmer war, ließ sie es sich nicht anmerken. Steve näherte sich, achtete jedoch darauf, sie nicht direkt anzusehen, sondern vielmehr ihre Gestalt aus dem Augenwinkel wahrzunehmen. Man tat gut daran, sie nicht aus der Nähe zu betrachten. Allerdings konnte er sie jetzt auch riechen: den Gestank einer anderen Ära, nach Schlamm und Vieh in den Straßen, nach Krankheit. Sie schwankte sachte hin und her, sodass die schmiedeeisernen Ketten, die ihre Arme eng an den eingefallenen Körper banden, mit dumpfem Rasseln gegen den lackierten Türrahmen stießen.
»Sie wurde zuletzt um siebzehn Uhr vierundzwanzig von den Kameras hinter dem Supermarkt erfasst«, hörte er Tylers Stimme undeutlich durch die geschlossene Glastür. Was Steve ebenfalls hören konnte, war das leise Flüstern der alten Frau. Er wusste, dass es eine Frage von Leben und Tod war, nicht auf das Flüstern zu hören, deshalb konzentrierte er sich auf die Stimme seines Sohnes und auf die von Johnny Cash. »Es gibt vier Bestätigungen von anderen Leuten, die sie gesehen haben, danach aber nichts mehr. Und irgendwas über eine Drehorgel. Dad … alles in Ordnung?«
Mit hämmerndem Herzen kniete sich Steve neben die Frau mit den zugenähten Augen und griff nach dem Spüllappen. Er stand wieder auf. Als er mit dem Ellbogen die Eisenkette der Frau berührte, drehte sie ihm das entstellte Gesicht zu. Steve legte ihr den Spüllappen über den Kopf und verließ hastig das Zimmer. Seine Stirn war schweißgebadet; von draußen erklang Fletchers wildes, aufgebrachtes Bellen.
»Spüllappen«, sagte er zu Jocelyn. »Gute Idee.«
Die Familie widmete sich wieder ihrem Essen, während die Frau mit den zugenähten Augen regungslos hinter der bunten Glastür stand.
Nur einmal bewegte sie sich kurz. Als Matts schrilles Gelächter aus dem Esszimmer an ihr Ohr drang, neigte sie leicht den Kopf.
Als lausche sie ihm.
Nach dem Essen räumte Tyler die Spülmaschine ein, und Steve wischte den Tisch ab. »Zeig mal bitte, was du ihnen geschickt hast.«
Tyler hielt ihm sein iPhone mit dem Logbuch der HEX-App unter die Nase. Der letzte Eintrag lautete wie folgt:
Mi. 19.09.12, 19:03, vor 16 Min.
Tyler Grant @gps 41.355287 N, 74.003907 W
#K @ Wohnzimmer, Deep Hollow Road 188
omg ich glaub sie steht auf meinen kleinen bruder
Später am Abend lümmelten Steve und Jocelyn im Wohnzimmer herum – nicht an ihrem angestammten Platz auf der Couch, sondern auf dem Diwan in der anderen Ecke des Zimmers – und sahen sich The Late Show auf CBS an. Matt war schon im Bett. Auch Tyler war oben in seinem Zimmer und saß noch am Laptop. Das fahle Licht des Fernsehers flackerte über die Eisenketten um den Körper der alten Frau, jedenfalls über die wenigen Kettenglieder, die noch nicht verrostet waren. Unter dem Spüllappen zuckte kaum merklich das tote Fleisch in ihrem Mundwinkel. Es zog an den schartigen schwarzen Nähten, die ihren Mund fest verschlossen hielten – bis auf einen einzigen losen Faden, der wie ein verbogenes Stück Draht hervorstand. Jocelyn gähnte und räkelte sich an Steve. Er ging davon aus, dass sie in wenigen Minuten einschlummern würde.
Als sie eine halbe Stunde später die Treppe hoch ins Schlafzimmer gingen, war die blinde Frau noch immer da, ein Wesen aus tiefster Nacht, nun in deren Schoß zurückgekehrt.