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Das Buch

Seiner Königin schlägt man als Staatsdiener keine Bitte ab. Darum hat Thomas Pitt, Leiter des Staatsschutzes, keine andere Wahl, als den Auftrag der besorgten Herrscherin anzunehmen. Seine Aufgabe wird es sein, Informationen über einen dubiosen Vertrauten ihres Sohnes und Kronprinzen, dem Prince of Wales, zu liefern. Die Sache scheint schon deshalb obskur, weil der ursprünglich mit dieser Aufgabe Betraute bei einem Bootsunfall im Hyde Park ums Leben gekommen ist. Für Pitt wird der Fall extrem heikel. Auf dem für ihn ungewohnten höchsten gesellschaftlichen Parkett muss er sehr geschickt lavieren, um die Gefahr abzuwenden, die sogar das Empire bedrohen könnte.

»Anne Perry schreibt viktorianische Krimis, dass Charles Dickens die Luft wegbleiben würde.«

The New York Times

Die Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen England und begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland. In der Serie um Thomas Pitt sind zahlreiche Bücher im Heyne Verlag lieferbar. Zuletzt von Anne Perry erschienen ist Todesurteil im Old Bailey, der erste Band in ihrer neuen Serie um den Anwalt Daniel Pitt, Thomas Pitts Sohn. Mehr zur Autorin und ihren Büchern erfahren Sie auch unter www.anneperry.co.uk.

ANNE PERRY

LETZTE STUNDE
IM
HYDE PARK

Ein Thomas-Pitt-Roman

Aus dem Englischen
von K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe

MURDER ON THE SERPENTINE

erschien 2016 bei Headline Publishing Group, London

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Vollständige deutsche Erstausgabe 02/2018

Copyright © 2016 by Anne Perry

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von
© Look and Learn / Peter Jackson Collection / Bridgeman

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21808-9
V002

www.heyne.de

Mit Dank für Rita Keeley Brown

KAPITEL 1

Der tadellos gekleidete grauhaarige Herr stand in Pitts Büro vor dem Schreibtisch, den Unterlagen zu einem halben Dutzend Fälle bedeckten, mit denen Pitt gerade befasst war. Sofern es in all den Papieren so etwas wie eine Ordnung gab, war diese ausschließlich für Pitt zu erkennen. Der Besucher bildete einen deutlichen Gegensatz zu diesem Chaos, von seiner mustergültig sitzenden dezenten Regimentskrawatte bis hin zu seinen mit einem Wappen verzierten goldenen Manschettenknöpfen und seinem akkurat gescheitelten Haar.

»Ja, Sir«, sagte er würdevoll und mit ausdrucksloser Miene. »Ihre Majestät wünscht Sie so schnell wie möglich zu sprechen. Sie hofft, dass Sie unverzüglich kommen können.« Es war durchaus vorstellbar, dass sich niemand je einer solchen Aufforderung von ihm widersetzt hatte. Königin Victoria, die 1837 den Thron bestiegen hatte, herrschte inzwischen seit zweiundsechzig Jahren, und er war lediglich der letzte in einer langen Reihe von Abgesandten.

Ein Frösteln überlief Pitt, und die Kehle wurde ihm eng. »Selbstverständlich kann ich das«, brachte er mit mühsam beherrschter Stimme heraus. Er war der Königin zweimal begegnet, hatte aber zu jener Zeit noch nicht an der Spitze des Staatsschutzes Ihrer Majestät gestanden, dessen Aufgabe es war, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten.

»Danke«, sagte Sir Peter Archibald mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Die Kutsche wartet vor dem Haus. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir …«

Es konnte keine Rede davon sein, dass Pitt zuvor seine Papiere ordnete; die Zeit reichte lediglich, um seinem Mitarbeiter Stoker mitzuteilen, dass man ihn abgerufen hatte. Er sagte ihm nicht, wohin und warum.

»Ja, Sir«, sagte Stoker in einem Ton, als komme dergleichen täglich vor, doch seine Augen weiteten sich ein wenig. Er trat einen Schritt beiseite, damit die beiden vorbeigehen und durch die Tür in den Gang treten konnten.

Sir Peter ging Pitt die Treppe hinab voraus. Auf der Straße wartete in gewisser Entfernung eine hochherrschaftliche Kalesche mit Klappverdeck, aber ohne Wappen auf den Türen, vor einem Tabakladen. Der Kutscher nickte, als die beiden Männer einstiegen, und im nächsten Augenblick setzte sich das Gefährt in Bewegung.

»Eine Spur zu kühl für einen Frühsommertag, finden Sie nicht auch?«, sagte Sir Peter im Gesprächston – ein typisch englischer höflicher Hinweis darauf, dass er Pitt nicht zu sagen gedachte, warum die Königin mit ihm sprechen wollte. Es war ohne Weiteres möglich, dass Sir Peter selbst den Grund dafür nicht kannte.

»Ja, ein wenig«, gab Pitt zurück, »aber wenigstens regnet es nicht.«

Nachdem Sir Peter etwas gemurmelt hatte, was wie eine Bestätigung klang, verlief die Fahrt von Lisson Grove bis zum Buckingham Palast in vollständigem Schweigen.

Ganz wie von Pitt vermutet, fuhren sie an der prachtvollen Fassade vorüber zur Rückseite des Palastes. Als die Kutsche vor den Stallungen ankam, merkte er, dass sich sein Magen zusammenkrampfte, und er musste sich Mühe geben, seine ineinander verschlungenen Hände zu lösen. Kutscher und Stallburschen waren dabei, Pferde und Kutschen für die Abendausfahrten von Angehörigen des königlichen Haushalts herzurichten. Die Tiere wurden ein letztes Mal gestriegelt, das Staatsgeschirr noch einmal einem prüfenden Blick unterzogen und nachpoliert. Fröhlich pfeifend ging ein Stallbursche mit einem Eimer Wasser an ihnen vorüber.

Die Abenddämmerung war noch nicht hereingebrochen, das Licht des Tages hatte lediglich ein wenig abgenommen, und die Schatten waren etwas länger geworden.

Die Kalesche hielt an, Sir Peter stieg aus, ohne ein Wort zu sagen, und Pitt folgte ihm auf dem Fuße. Noch immer ohne die geringste Vorstellung davon, worum es ging, bemühte er sich, seinen sich jagenden Gedanken Einhalt zu gebieten. Was mochte dahinterstecken, dass ihn die Königin auf so ungewöhnliche Weise dringlich und beinahe privat zu sich beorderte? In seiner Position als Leiter des Staatsschutzes unterstand er unmittelbar der Regierung, und da gab es für mehr oder weniger alle Eventualitäten offizielle Kanäle – wenn man es recht bedachte, sogar eher zu viele. Mitunter fühlte er sich durch die Zwänge der Bürokratie geradezu erstickt.

Er hielt sich dicht hinter Sir Peter, der ihm aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken voranging, und hatte den Eindruck, als könne der Mann diesen militärischen Schritt stundenlang durchhalten.

Nach wie vor schweigend, ging es über Treppen und durch endlose Gänge, an deren Wänden hier und da verblasste Drucke mit Sportszenen hingen, oder vielleicht waren dies auch die Originale.

Als Pitt sich gerade vage erinnerte, schon einmal in diesem Bereich des Palasts gewesen zu sein, blieb Sir Peter ruckartig stehen und klopfte an eine hohe getäfelte Tür. Sie wurde sogleich geöffnet, Sir Peter trat ein, wechselte einige Worte mit jemandem im Inneren des Raumes und bedeutete dann Pitt mit einer Handbewegung, er möge ihm folgen.

Sie traten in einen nicht sonderlich großen behaglich eingerichteten Wohnraum. Da die Vorhänge an den Fenstern noch nicht geschlossen waren, fiel der Blick auf einen herrlich angelegten Garten. Die Wände waren in mehreren Reihen übereinander nahezu vollständig mit Porträts in reich verzierten Rahmen bedeckt. Das Muster des Teppichs war durch jahrzehntelangen Gebrauch weitgehend verblasst. In einem Sessel am außergewöhnlich großen Kamin saß eine rundliche, ein wenig in sich zusammengesunkene Frau. Sie hatte eine leicht spitze Nase, dünnes, straff nach hinten gekämmtes Haar und war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, was sie noch älter aussehen ließ, als sie war. Sie wirkte erschöpft. Es war kaum noch etwas von der Energie und Lebenskraft zu erkennen, die er noch vor wenigen Jahren bei seinem Kampf gegen die Männer, die sie auf ihrem Landsitz Osborne House auf der Isle of Wight als Geisel festhielten, an ihr wahrgenommen hatte. Von diesem unangenehmen Vorfall allerdings war außer Pitt und einigen sehr engen Freunden kaum jemandem etwas bekannt.

Pitt blieb still stehen. Er hütete sich, unaufgefordert etwas zu tun oder zu sagen.

Hinter ihm schloss sich kaum hörbar die Tür.

»Guten Abend, Mister Pitt«, sagte die Königin leise. »Ich weiß es zu schätzen, dass es Ihnen möglich war, sich so kurzfristig herzubemühen. Hoffentlich halte ich Sie nicht von dringenden Aufgaben im Dienste der Öffentlichkeit ab?«

Ihm war bewusst, dass es sich bei diesen Worten lediglich um eine höfliche Einleitung handelte. Ihr gegenüber stand ein hölzerner Stuhl, doch dachte Pitt nicht im Traum daran, sich zu setzen. In Gegenwart der Monarchin blieb man stehen, ganz gleich, wie lange die Unterhaltung dauern mochte. Mr. William Gladstone hatte nicht einmal als Premierminister Platz nehmen dürfen. Dieses Privileg hatte sie lediglich Mr. Disraeli zugestanden, weil es ihm von Zeit zu Zeit gelungen war, sie zum Lachen zu bringen.

»In keiner Weise, Eure Majestät«, gab Pitt zur Antwort, wobei er den Blick ein wenig hob, ohne jedoch der Monarchin in die Augen zu sehen. »Gegenwärtig gibt es keine besonderen Unruhen.«

Sie stieß mit einem leisen Seufzer die Luft aus. »Sie wählen Ihre Worte mit großer Sorgfalt, Mr. Pitt«, gab sie zurück. »Wenn Sie behauptet hätten, es gebe gar keine, hätte ich Ihnen nicht geglaubt. Ich mag es nicht, wenn man mir etwas vormacht, weil man annimmt, ich sei außerstande, mich Schwierigkeiten zu stellen, zu alt oder zu erschöpft, um ihnen ins Gesicht zu sehen.«

Sie sagte das in einem Ton, der ihm zeigte, dass der Augenblick gekommen war, ihr ins Gesicht zu sehen. Ob sie eine Antwort von ihm erwartete? Dem Schweigen nach, das ihren Worten folgte, war das wohl der Fall. Was sollte er sagen? Er durfte ihr weder zustimmen noch widersprechen.

»Ich kann mich deutlich erinnern, Ma’am, dass ich vor nicht allzu langer Zeit gesehen habe, mit welchem Nachdruck Sie sich bewaffneten Männern widersetzt haben, die Sie gefangen hielten. Kümmernisse und die Zeit verschonen keinen von uns, aber nichts von all dem hat Ihren Lebensmut je brechen können.«

Sie nickte kaum wahrnehmbar und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Ihre neue Position hat Ihnen ein wenig Schliff beigebracht, Mr. Pitt. Wahrscheinlich ist das von Vorteil und hat Sie hoffentlich nicht zu einem der üblichen aalglatten Männer gemacht.« Das war weniger als Frage denn als Herausforderung gemeint, und doch ließ die kurze Pause, die sie eintreten ließ, keine Antwort zu. »Ich habe keine Zeit für beschönigende Floskeln, mit denen man höflich so lange um ein Thema herumredet, bis niemand mehr weiß, worum es überhaupt geht.«

»Gewiss, Ma’am«, gab er mit einem leichten Neigen des Kopfes zurück. Auf den ermattet wirkenden Zügen der Monarchin erkannte er den Ausdruck einer tiefen Angst, die sie offenkundig belastete. Sie war zwei gute Handbreit kleiner als er und hatte jede jugendliche Schlankheit eingebüßt. Die Jahre fortwährender Pflichterfüllung wie auch die Einsamkeit seit dem Tod ihres Gatten, des Prinzgemahls Albert, hatten sich unauslöschlich in ihr Gesicht eingegraben.

Sie sagte nichts darauf. Es war denkbar, dass sie sich insgeheim fragte, ob sie ihm trauen durfte. Es war aber auch möglich, dass sie überlegte, wie sie ihm am besten mitteilen könnte, worum es ging, und dass ihr das schwieriger erschien, als sie angenommen hatte. Jeden anderen hätte er gefragt, aber ihr gegenüber wäre das anmaßend gewesen.

Sie holte tief Luft und wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der Gegenwart zu.

»Sie dürfen sich setzen, Mr. Pitt. Ich habe Ihnen viel zu sagen, und ich möchte nicht zu Ihnen aufblicken müssen. Davon bekomme ich Nackenschmerzen.«

»Gewiss, Ma’am.« Fast hätte er ihr gedankt, doch gerade rechtzeitig fiel ihm noch ein, dass auch das unpassend wäre. Aufrecht setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber und stellte beide Füße fest auf den Boden.

Ein Lächeln huschte über ihre Züge, ein Anflug von Belustigung, als habe er damit in ihr eine Erinnerung wachgerufen, doch schon im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. Während sie sprach, sah sie ihn aufmerksam an.

»Der Kronprinz hat sich vor Kurzem für einen neuen Berater in gewissen Angelegenheiten entschieden; in erster Linie geht es dabei um Rennpferde, wie ich vermute, aber es hat den Anschein, als ob sich der Mann auch mit anderen Dingen beschäftigt und an vielen Orten auftaucht.« Ihr Blick wurde schärfer, als habe sie auf Pitts Zügen eine gewisse Überraschung bemerkt. »Selbstverständlich braucht Edward Freunde, wie wir alle«, fügte sie rasch hinzu, »aber er wird eines Tages König sein, und zwar … ziemlich bald. Er kann es sich unter keinen Umständen leisten, seine Freunde auf gut Glück auszuwählen.« Sie blickte Pitt aufmerksam an, ohne auf seine Reaktion zu warten. Sie war nicht auf seine Meinung angewiesen, wollte aber wohl sehen, ob er ihr zuhörte.

Wollte sie mit Hilfe des Staatsschutzes mehr über diesen Freund ihres Sohnes in Erfahrung bringen? Schon immer hatte der Kronprinz eine Schwäche für Pferde und Galopprennen gehabt. Daher lag es nahe, dass er sich seine Freunde im Kreise von Menschen suchte, die diese Leidenschaft teilten.

Nachdem sich die Königin davon überzeugt hatte, dass Pitt ihren Worten aufmerksam folgte, fuhr sie fort: »Ich habe den Eindruck, dass dieser Mann, er heißt Alan Kendrick, keinen günstigen Einfluss auf meinen Sohn ausübt. Er ist ein …« Sie suchte sichtlich nach dem treffenden Wort. »… ein Mann von überzeugendem Wesen«, beendete sie ihren Satz. »Auch seine Frau sagt mir nicht sonderlich zu. Ihr ist nicht klar, wohin sie gehört, sie hat eine scharfe Zunge und benimmt sich gelegentlich ungehörig. Aber vielleicht vertrete ich ja auch altmodische Ansichten …« Sie sah einen Augenblick lang beiseite, und Pitt begriff, dass ihr schmerzliche Erinnerungen gekommen waren, vielleicht solche an die glücklichen Jahre ihrer Ehe. Auch ihr war Eigensinn nicht fremd, aber sie war nun einmal die Königin. Sie war erst achtzehn Jahre alt gewesen, als man sie mitten in der Nacht geweckt hatte, um ihr mitzuteilen, dass König William IV. gestorben und sie seine Nachfolgerin sei.

Erneut sah sie zu Pitt, mit unsicherem Blick, wie ihm schien. »Ich möchte wissen, ob meine Besorgnis zu Recht besteht, und würde mich freuen, wenn sich herausstellen sollte, dass es sich anders verhält«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Es gibt nur wenige Menschen, denen ich in solch heiklen Angelegenheiten trauen kann. Ich habe lange überlegt, wer so verschwiegen ist, dass ich ihn bitten kann, sich diesen Mr. Kendrick genauer anzusehen. Sie verstehen?« Es war klar, dass sie eine Antwort auf diese Frage erwartete.

»Gewiss, Ma’am«, sagte Pitt rasch. Sein Herz sank. Diese Angelegenheit ging den Staatsschutz nicht im Geringsten etwas an. Gab es eine Möglichkeit, ihr das klarzumachen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen? Verweigerte man seiner Königin je einen Dienst? Er saß in der Falle.

»Sie scheinen sich unbehaglich zu fühlen, Mr. Pitt«, hielt sie ihm vor.

Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er hatte nicht angenommen, so leicht durchschaubar zu sein.

»Wissen Sie etwas über den Mann?«, fragte sie.

»Nein, Ma’am.«

Sie brummte etwas vor sich hin, und er hätte nicht sagen können, ob sie damit ihr Missvergnügen oder lediglich ihre Ungeduld ausdrückte.

Sie sah ihn durchdringend an, als müsse sie sich unbedingt ein genaues Bild von ihm machen. Vielleicht aber hatte auch die Sehschärfe der Achtzigjährigen gelitten, und sie bemühte sich einfach, sein Gesicht deutlich zu sehen.

»Ich hatte meinen alten vertrauten Freund Sir John Halberd gebeten, sich diesen Kendrick genauer anzusehen und mir zu berichten, welchen Eindruck er von ihm hatte.« Während sie den Blick auf ihre Hände richtete, die fest ineinander verschränkt in ihrem Schoß lagen, öffnete und schloss sie die Augen in rascher Folge, offensichtlich darum bemüht, gegen eine tiefe Gemütsbewegung anzukämpfen.

Mit einem Mal empfand Pitt das Bedürfnis, sie zu trösten. Er erwartete, dass sie sagen würde, Halberd habe ihr etwas äußerst Schmerzliches mitgeteilt. Doch was auch immer das sein mochte und einen wie negativen Einfluss dieser Kendrick auch auf den Kronprinzen ausübte – es war auf keinen Fall etwas, wogegen der Staatsschutz etwas ausrichten konnte. Was Halberd zu sagen hatte, war für die Königin möglicherweise enttäuschend, wenn nicht gar peinlich gewesen, aber sicherlich waren ihr doch die Ausschweifungen ihres Sohnes nicht unbekannt? Jeder wusste davon. Außerdem hatte es ganz den Anschein, als habe er sich erkennbar gemäßigt, und das keineswegs nur wegen seines zunehmenden Alters und der damit verbundenen körperlichen Schwäche, sondern auch im Hinblick darauf, dass er dem Thron immer näher kam.

Das Schweigen wurde belastend. Die Königin schien auf Pitts Reaktion zu warten.

»Hat Ihnen Sir John berichtet, wie er den Mann einschätzt, Ma’am?«, fragte er daher.

»Nein«, sagte sie überraschend unvermittelt. »Er hat mir eine Mitteilung des Inhalts geschickt, dass er mich dringend sprechen müsse. Sie hat mich spät am Abend erreicht, und da ich mich unwohl fühlte, habe ich ihm ausrichten lassen, er könne mich am nächsten Tag zu jeder ihm genehmen Stunde aufsuchen. Mein Wohlergehen hat ihm stets besonders am Herzen gelegen.« Erneut hielt sie inne und kämpfte unübersehbar mit starken Empfindungen.

Pitt fürchtete sich vor dem, was sie als Nächstes sagen würde. Wäre sie ein Mensch wie jeder andere gewesen, hätte er den Versuch unternommen, es ihr zu erleichtern, aber seiner Königin schnitt man nicht das Wort ab. Voll Unbehagen wartete er darauf, dass sie weiter sprach.

»Er ist nicht gekommen«, sagte sie schließlich kaum hörbar.

Pitt sog scharf die Luft ein.

Sie sah ihm in die Augen, fast, als stünden sie auf einer gesellschaftlichen Stufe, eine tief bekümmerte alte Frau und ein etliche Jahre jüngerer Mann, der ihr, wie sie hoffte, helfen konnte.

Sie nickte mit fest zusammengepressten Lippen und sagte dann, was sie erkennbar große Mühe kostete: »Man hat ihn am Vormittag des besagten Tages tot aufgefunden. In einem Ruderboot auf dem Serpentine-See im Hyde Park. Oder vielmehr im Wasser daneben, das dort gar nicht tief ist. Man hat die Vermutung geäußert, dass er das Gleichgewicht verloren hat, weil er aus irgendeinem Grund aufgestanden ist. Dabei soll er, wie es heißt, mit dem Kopf auf den Bootsrand geprallt, ins Wasser gefallen und ertrunken sein.«

»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte Pitt in mitfühlendem Ton.

Sie schluckte. »Ich wünsche, dass Sie feststellen, ob sein Tod wirklich auf einen Unfall zurückgeht und, sofern Ihnen das möglich ist, was er mir über diesen Kendrick mitteilen wollte. Von früheren Begegnungen mit Ihnen weiß ich, dass Sie ein erstklassiger Kriminalist sind.«

Sie ging nicht näher auf die beiden Fälle ein, auf die sie sich mit diesen Worten bezog, hatte aber ihre kurze Gefangenschaft in Osborne House offenbar nicht vergessen. »Jetzt verfügen Sie über den Apparat, die Vollmachten und das Geheimwissen des Staatsschutzes. Ich möchte die Wahrheit wissen, Mr. Pitt, wie auch immer sie aussieht. Was hat Sir John Halberd herausbekommen – und hat man ihn womöglich im Zusammenhang mit seinen Nachforschungen ermordet?«

Einen Augenblick lang war er sprachlos.

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Mr. Pitt«, sagte sie mit Nachdruck, »und zwar sowohl aufgrund Ihrer Fähigkeiten als auch aufgrund Ihrer Verschwiegenheit.« Sie unterließ es, von Ergebenheit zu sprechen. Das mochte daran liegen, dass sie die für selbstverständlich hielt. Wahrscheinlicher aber war, dachte er, dass es ihr zu schmerzlich gewesen wäre, sie in Zweifel zu ziehen. Halberd war womöglich gerade wegen seiner Ergebenheit umgekommen. Sie verlangte viel von Pitt, weniger in seiner Eigenschaft als Leiter des Staatsschutzes als auf persönlicher Ebene. Und sie hatte von Verschwiegenheit gesprochen – war das ein versteckter Hinweis darauf, dass er ausschließlich mit ihr über die Angelegenheit sprechen durfte? Da er das genauer wissen musste, fühlte er sich berechtigt, sie darauf anzusprechen.

»Wem soll ich berichten, Ma’am?« Er sah sie offen an und erkannte in ihren Augen einen so tiefen Kummer, dass es ihn förmlich erschreckte. War da noch mehr, vielleicht sogar Schuldbewusstsein? Befürchtete sie, mit ihrem Ansinnen einen alten Vertrauten in den Tod geschickt zu haben? Kaum dass ihm der Gedanke gekommen war, hielt er es für sicher, dass es sich so verhielt.

»Ausschließlich mir, Mr. Pitt«, gab sie gefasst zurück. »Erstatten Sie mir Bericht. Informieren Sie Sir Peter Archibald, wenn Sie mit mir sprechen wollen. Ich werde Sie dann sogleich durch ihn holen lassen. Sie werden die Sache mit größtem Takt behandeln, und das nicht nur um meinetwillen, sondern auch um Ihrer selbst willen. Sind wir uns in dem Punkt einig?«

»Ja, Ma’am.«

Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln – genau genommen war es nichts weiter als ein leichtes Entspannen ihrer Lippen – erklärte sie: »Ich danke Ihnen. Sie können jetzt gehen. Sir Peter wird Sie zu Ihrer Kutsche bringen. Gute Nacht.«

Er stand auf und verneigte sich. »Gute Nacht, Eure Majestät.«

Draußen auf dem Gang straffte er sich. Als er etwa ein Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, tauchte Sir Peter auf, ebenso gelassen und höflich wie zu Anfang. Ob der Mann eine Vorstellung von dem hatte, was die Königin von Pitt erwartete?

»Ich lasse den Kutscher sogleich rufen, Sir«, sagte der Hofmarschall so gleichmütig, als handelte es sich um eine alltägliche Angelegenheit.

»Danke«, gab Pitt zurück.

Mit einem flüchtigen Lächeln erwiderte Sir Peter: »Wenn Sie mir gütigst folgen wollen, Sir …«

Auf dem Heimweg wirbelten Pitt die Gedanken durch den Kopf, sodass er nichts von seiner Umgebung wahrnahm. Auch wenn es keine Möglichkeit gegeben hatte, den Auftrag abzulehnen, war er ihm zuwider. Er erinnerte sich an die kurze Zeitungsnotiz über Halberds Tod. Ein hoch angesehener Mann, der in der Öffentlichkeit kaum je in Erscheinung getreten war. In der Notiz hatte es lediglich geheißen, er sei bei einem Unfall umgekommen und hinterlasse keine Angehörigen. Von der Art des Unfalls war keine Rede gewesen. An dieser Stelle würde Pitt ansetzen müssen.

Ob die Königin mit ihrer Vermutung recht hatte? Sie war alt, vom Kummer über den Tod zweier ihrer Kinder und den Verlust des von ihr bewunderten Gatten in der Blüte der Jahre gebeugt. Viele ihrer Töchter hatten in die regierenden Häuser Europas eingeheiratet und lebten daher fern von ihr. Sie mochte Freunde haben, doch unter diesen befand sich niemand, der ihr gleichgestellt war. Als Königin und Kaiserin, die über ein Viertel der ganzen Welt herrschte, nahm sie ihre Verantwortung sehr ernst. Mit ihren über achtzig Jahren würde ihr wohl nicht mehr sehr viel Zeit bleiben. Es war denkbar, dass sie auch gar nicht mehr viel länger leben wollte. Was ihren Nachfolger anging, hatte sie keine Wahl – gemäß einer jahrhundertealten Tradition würde das ihr ältester Sohn sein.

Sie trauerte um Halberd, und unter Umständen fühlte sie sich auch an ihr eigenes Ende gemahnt. Zu vieles von all dem, was sie je geliebt hatte, lag in der Vergangenheit begraben. Sie hatte Halberd gebeten, ihr zu helfen, und er hatte den Tod gefunden, als er das versucht hatte. Dass sie daran mitschuldig zu sein glaubte, ging sicherlich auf ihre Einsamkeit zurück. Würde es ihren Seelenfrieden wiederherstellen und sie beruhigen, wenn Pitt der Nachweis gelang, dass es sich tatsächlich um einen Unfall handelte, wie er jederzeit hätte vorkommen können?

Bis die Kutsche vor seinem Haus in der Keppel Street anhielt, hatte er sich eingeredet, dass es sich so verhalten dürfte. Er stieg aus, dankte dem Kutscher und ging die Stufen zur Haustür empor.

Im Inneren umgab ihn sogleich ein Gefühl der Wärme, das nichts mit dem linden Sommerabend zu tun hatte. Es ging auf Vertrautheit zurück, auf Erinnerungen an Freundschaft, zahllose Gespräche, die sich weit in die Vergangenheit erstreckten. Auch Kummer hatte es gelegentlich gegeben, im Großen und Ganzen aber hatten Liebe und Zuneigung vorgeherrscht.

Er hängte sein Jackett an die Garderobe im Flur. Charlotte hatte sie in einem Trödelladen gekauft und ihm zum ersten Weihnachtsfest nach ihrer Eheschließung geschenkt, als bei ihnen im Hause das Geld knapp war. Der Kerzenleuchter aus Zinn stammte von seiner Mutter. In diesem Haus hatte er Erfolge gefeiert und sich von der einen oder anderen Niederlage erholt. Hier hatten seine engsten Freunde bis spät in die Nacht um den Küchentisch gesessen und über Gott und die Welt geredet.

Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich, und Charlotte trat heraus. Bei seinem Anblick leuchteten ihre Augen auf. Sie kannten einander inzwischen seit neunzehn Jahren, aber noch immer musste er lächeln, wenn er sie sah, die Rundung ihrer Wangen, die Anmut, mit der sie sich bewegte.

Er beugte sich ein wenig vor, um sie zu küssen, und hielt sie einen Augenblick lang fest an sich gedrückt.

Sie schob ihn von sich. »Was ist los mit dir?«, fragte sie in ruhigem Ton, aber mit gerunzelter Stirn.

Über ihre Schulter hinweg sah er zu der großen Standuhr hinüber.

»Ich bin doch gar nicht so spät dran«, gab er zurück.

Einen Augenblick lang schien sie belustigt zu sein, doch dann trat ein Ausdruck von Besorgnis auf ihre Züge. Er wusste genau, was sie dachte: er war ihrer Frage ausgewichen. Als er noch im Polizeidienst gewesen war, hatte er oft mit ihr über seine Fälle gesprochen. Ja, er hatte sie sogar im Zusammenhang mit einer Serie von Mordfällen kennengelernt, zu denen es in ihrer Nachbarschaft gekommen war. Eines der Opfer war ihre älteste Schwester gewesen, und aus dieser Tragödie war das größte Glück seines Lebens erwachsen. Nie im Leben hätte er angenommen, dass er, der Sohn einer Wäscherin und eines – zu Unrecht – wegen Wilderei verurteilten Wildhüters, die Tochter eines wohlhabenden Bankiers heiraten würde.

»Thomas!« Sie sah ihn fest an, wobei sich der Ausdruck von Besorgnis in ihren Augen vertiefte.

»Man hat mir soeben einen äußerst heiklen Fall anvertraut, von dem ich noch nicht weiß, wie ich an ihn herangehen soll«, erklärte er. Seit er von der Polizei zum Staatsschutz gewechselt hatte, durfte er nicht mehr mit ihr über seine Arbeit sprechen, obwohl er es in manchen Fällen liebend gern getan hätte. Denn sie war nicht nur klug, sondern kannte sich auch bestens in den höheren Kreisen der Gesellschaft aus, denen sie einst angehört hatte, in denen er hingegen sein Leben lang fremd sein würde. Dort gab es, wie er oft genug gemerkt hatte, eine Fülle von Verhaltensweisen, schwer durchschaubaren Besonderheiten, gewissen Ausdrücken, die ihm nicht zu Gebote standen. Jeder Versuch, sich ihrer zu bedienen, hätte nur unbeholfen gewirkt.

Sie traten in das Wohnzimmer. Die Fenstertüren zum Garten waren wegen der kühlen Abendbrise geschlossen, aber die Vorhänge noch nicht zugezogen. Auch hier umgab ihn das Gefühl der Vertrautheit. Dazu genügte ihm schon der Anblick des ruhigen Seestücks an der Wand mit seinen gedämpften Blautönen. Der Kauf der geschnitzten hölzernen Kohlenschütte war damals ein Luxus gewesen, den sie sich genau genommen nicht hatten leisten können. Auf einem Regal standen Fotos von Daniel und Jemima im Alter von zwei und fünf Jahren neben einer Reihe von Erinnerungsstücken: Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatten, einem glatten Stück Treibholz von einem Urlaub am Meer.

»Sicher wird dir Stoker helfen«, sagte Charlotte zuversichtlich. »Sag Bescheid, wenn du essen möchtest. Die Kinder haben bereits zu Abend gegessen, aber ich habe auf dich gewartet.«

Das geschah so oft, dass es kaum der Erwähnung wert war, und dennoch empfand er Dankbarkeit. Er aß nicht gern allein.

»Auch mit ihm darf ich nicht darüber reden«, antwortete er ihr, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und die langen Beine von sich streckte. »Aber vielleicht spreche ich Narraway darauf an.« Victor Narraway hatte an der Spitze der Abteilung Staatsschutz gestanden, als man Pitt von seiner Stellung als Leiter der Polizeiwache in der Bow Street entbunden hatte. Als man Narraway nahegelegt hatte, wegen Misshelligkeiten und Intrigen im Fall O’Neill von seinem Posten zurückzutreten, hatte er zur Überraschung vieler Pitt als Nachfolger empfohlen. Zahlreiche Persönlichkeiten in hohen Ämtern hatten sich offen gegen Pitts Ernennung ausgesprochen, weil sie andere für fähiger hielten. Nichtsdestotrotz hatte Narraway sich schließlich durchgesetzt.

Charlotte machte ein unglückliches Gesicht. »Aber du weißt doch …«

»Was soll ich wissen?«

»Dass Narraway und Tante Vespasia sich auf einer Kreuzfahrt nach Rom und Ägypten befinden. Bestimmt kommen sie erst in einigen Monaten zurück.«

Daran hatte er gar nicht gedacht. Der Gedanke traf ihn wie ein Schlag. Er würde den Fall lange vor ihrer Rückkehr gelöst haben müssen. Doch vielleicht ging Halberds Tod ja tatsächlich auf einen Unfall zurück, sodass er die Königin würde beruhigen können. Zwar würde sie dann immer noch um ihn trauern und Kendrick zweifellos nach wie vor nicht ausstehen können, aber daran ließe sich dann eben nichts ändern.

Mit unübersehbarer Besorgnis wartete Charlotte auf seine Antwort.

Lächelnd räumte er ein, dass er das in der Tat vergessen hatte. »Vielleicht sollte ich gar nicht erst nach einer einfachen Lösung suchen. Ich würde jetzt gern essen, damit es nicht so spät wird.« Immer noch lächelnd, stand er auf, bemüht, an andere Dinge zu denken.