Zum Roman
Keine Männer – das ist die Regel. Die fünf Bewohnerinnen eines verwunschenen Hauses mitten in Paris haben der Liebe abgeschworen. Kater Jean-Pierre ist das einzige männliche Wesen, dem sie Zutritt zu ihrer Welt gestatten. Als Juliette einzieht, stellt sie das Leben der unterschiedlichen Frauen auf die Probe. Denn sie hat die Männer noch nicht aus ihrem Herzen verbannt …
»Ein unerhört scharfsinniger Roman. Danach versteht man die Frauen von heute … zumindest ein wenig.« Figaro Madame
Zur Autorin
Karine Lambert ist eine belgische Fotografin und Schriftstellerin und lebt in Brüssel. Ob in Bildern oder Worten, immer erzählt Karine Lambert von der Freude und der Liebe, von der Verletzlichkeit und den großen und kleinen Wahrheiten des Lebens. Ihr preisgekröntes Bestsellerdebüt Das Haus ohne Männer erscheint in zwanzig Ländern. Auch ihr Roman Und jetzt lass uns tanzen begeisterte Leser und Leserinnen und stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Im Anhang dieses E-Books beantwortet Karine Lambert drei Fragen zu ihrem Roman Das Haus ohne Männer.
KARINE LAMBERT
ROMAN
Aus dem Französischen
von Pauline Kurbasik
Für die nächste Liebe …
»Unmöglich, sagt der Stolz
Riskant, sagt die Erfahrung
Ausweglos, sagt die Vernunft
Versuchen wir es, murmelt das Herz.«
WILLIAM ARTHUR WARD
1
Letzter Aufruf für den Flug 542 nach Bombay. Alle Pas agiere werden zu Gate 7 gebeten.«
Das ist der Satz, vor dem sich die vier Freundinnen gefürchtet haben. Hektisch umringen die in Paris Zurückbleibenden die Reisende.
»Hast du deinen Pass, meine Beste?«
»Ja, liebe Simone.«
»Ich habe dir Mandeln in den Rucksack gepackt«, murmelt Rosalie.
»Du bist ein Engel. Ich werde also nicht verhungern, wenn die Stewardessen streiken.«
Sie sind viel zu früh am Flughafen angekommen, haben mehrere Tassen Kaffee getrunken, die Croissants und Chouquettes aber nicht angerührt, über allerlei Belanglosigkeiten gesprochen und dann geschwiegen. Als sie Abschied nehmen müssen, fallen ihnen plötzlich tausend wichtige Dinge ein, die sie unbedingt noch loswerden wollen. Wenn die eine kurz Luft holt, fällt ihr die andere sofort ins Wort, und die dritte, die schon seit einer Stunde dringend zur Toilette muss – nun ist es zu spät, sie will nicht die endlosen Gänge entlanghetzen und womöglich den Start verpassen –, schnattert gleich weiter. Gute Ratschläge und Fragen wechseln sich ab: »Beim Start musst du Kaugummi kauen. Auf keinen Fall im Ganges schwimmen! Wasser nur aus Flaschen trinken. Bring uns vier Saris mit. Bei grünem Curry muss man aufpassen. Heilige Kühe haben immer Vorfahrt. Nimm Ohrstöpsel, wenn es zu laut ist. Wie viele Einwohner hat Indien eigentlich? Wie viele Männer, die bloß mit einem Stofffetzen bekleidet sind? Melde dich, zumindest, wenn du angekommen bist. Und komm gesund wieder zurück.«
»Mädels, ihr wisst schon, dass ich siebenundvierzig bin, oder?«
»Schon, aber du fährst doch zum ersten Mal allein so weit weg.«
Neben ihnen tauchen wie aus dem Nichts ein Mann und eine Frau auf, die sich umarmen. Die vier Freundinnen stehen in der überfüllten Halle und sehen nur noch die beiden. Der Mann und die Frau tragen Weiß, küssen sich innig, ihre Haare fallen ineinander, die beiden sind wunderschön, verschmelzen zu einem einzigen Körper mit vier Händen. Vier Hände, die sich auf bekanntes Terrain wagen, sich vortasten, streicheln und festhalten. Die beiden lösen sich voneinander. Zwei Zentimeter weit. Flüstern. Dann nehmen sie sich wieder in die Arme, noch inniger als zuvor. Die Frauen fragen sich, ob sie sich Liebesschwüre zumurmeln, sich leise streiten oder trösten. Fliegt er, und sie bleibt, oder andersherum? Werden sie sich wohl jemals wiedersehen? Oder haben sie sich noch nicht entschieden? Die Freundinnen wissen es nicht.
»Fast hätte ich’s vergessen, die Königin hat mir die hier für dich mitgegeben. Säe sie aus, wenn du an einem besonders schönen Ort bist, und denk dabei an uns.«
Carla nimmt das Tütchen mit den Bambussamen.
»Pass gut auf sie auf.«
»Aber selbstverständlich. Und nun ab mit dir …«, sagt Simone.
Sie umarmt die Freundin ein letztes Mal.
Giuseppina blickt Carla fest in die Augen.
»Buon viaggio!«
»Na, wenigstens eine, die daran gedacht hat. Grazie, bella!«
Rosalie umarmt die Abenteurerin.
»Vergiss uns nicht.«
So lange Carla noch zu sehen ist, blicken sie ihr hinterher, wie es alle tun, die einen geliebten Menschen begleiten, der für lange Zeit ans andere Ende der Welt fliegt, und dabei hoffen, dass er seine Meinung doch noch ändern wird. Aber das geschieht nie. Carla dreht sich um, lächelt und verschwindet.
Simone tippt auf einem Handy herum. Sie ruft die Dame an, die zu Hause im fünften Stock geblieben ist.
»So, sie ist weg. Ich habe ihr die Bambussamen mitgegeben, wir kommen jetzt nach Hause.«
Sie gehen Arm in Arm durch den Flughafen, Giuseppina mit ihrem lahmen Bein gibt den Takt vor. Sie haben die beiden Unzertrennlichen vergessen, hören nicht, wie sich die Frau lautstark weigert, für ihr Übergepäck zu bezahlen, bemerken die Mütter auf den Bänken im Wartesaal nicht, die Kinder, die ihre Kuscheltiere an sich drücken und die Erwachsenen, die auf ihre Tablets starren. Sie reden nicht, haben sich aber untergehakt und denken alle an dasselbe.
Sie setzen sich auf die Vorderbank des Lieferwagens. Die Ladefläche ist vollgestopft mit Tischchen, Sesseln und Bildern. Aber auch, wenn der Wagen leer gewesen wäre, hätten sie sich nebeneinandergesetzt.
»Erinnert ihr euch noch daran, als Carla eingezogen ist?«
»Sie trug einen Haarknoten und eine rote Brille.«
»Und sie hatte einen riesigen Koffer dabei.«
»Nicht zu vergessen Traviata, den Wellensittich!«
»Was für ein Drama …«
»Jean-Pierre war doch so stolz!«
»Ein einziger Happs.«
Carlas Geschrei hatte man im ganzen Viertel gehört. Sie hatten Traviata unter den Hortensien begraben. Die Königin verließ damals noch das Haus. Sie hatte einen ihrer typischen Haikus gedichtet und vor dem Beet aufgesagt.
Ein Vogel fliegt davon
Himmel und Wolken
Strahlender Frühling.
Carla wollte auf der Stelle wieder ausziehen, den riesigen Koffer und den leeren Käfig unterm Arm. Rosalie verabreichte ihr eine ayurvedische Stirnmassage, und Simone machte Apfelpfannkuchen. Das war Carlas Lieblingsnachtisch. Vier Jahre lang war sie geblieben. Vor einem Monat dann hatte sie ihnen eröffnet, dass sie nach Indien reisen werde und jemanden für die Wohnung gefunden habe. Sie sollten sich keine Sorgen machen, die Frau sei in Ordnung.
»Die Neue heißt Juliette.«
»Wann kommt sie denn?«
In etwas schärferem Ton als sonst bemerkt Giuseppina: »Wir sind schließlich kein Taubenschlag. Ich hoffe, dass sie uns keine Unannehmlichkeiten beschert.«
Rosalie lächelt.
»Sich aufs Glück einzustellen ist nicht jedermanns Sache.«
»Aber es ist doch so leicht. Du lebst bei uns. Dir kann nichts Schlimmes passieren«, erwidert Simone.
»Außer im Treppenhaus zu stolpern«, antwortet Giuseppina.
»Auf jeden Fall bist du sicher vor Liebeskummer«, schlussfolgert Rosalie.
Die anderen lachen.
»Langsam, es ist rot!«
Giuseppina sucht die Musik aus. Bei offenem Fenster singen sie lauthals mit. Giuseppina kann den Text auswendig, die anderen tun zumindest so: Lasciatemi cantare … con la chitarra in mano … lasciatemi cantare … sono un Italiano …
Auf Höhe der Porte de Bagnolet gerät der Verkehr ins Stocken. Aber sie sind nicht in Eile. Keine Kinder, keine Männer. Nur Jean-Pierre.
»Giuseppina, zeigst du uns irgendwann mal deine Heimat?«
»Hm«, murmelte die Angesprochene.
»Ich würde Syrakus so gerne einmal sehen.«
»Hm …«
»Dort unten ist es ganz schön heiß.«
»Also gut. Wir fahren mit meinem Sprinter. Ich seh zu, dass ich ihn vorher leerräume.«
Simone ist schon ganz aufgeregt.
»Wir könnten einen Anhalter mitnehmen.«
Rosalie legt ihr die Hand auf den Arm.
»Wozu das denn? Selbst wenn er eine Augenweide wäre, könnten wir ihn doch nicht einpacken und mit nach Hause nehmen.«
»Ich halte bei Kerlen immer einen Sicherheitsabstand ein«, sagt Giuseppina.
»Glaubt ihr, dass uns die Königin nach Sizilien begleiten würde?«, fragt Rosalie.
»Du weißt doch, dass sie ihren Bambus nicht allein lässt. Sie geht nicht mehr aus dem Haus. Erst, wenn man sie irgendwann mit den Füßen voran hinausträgt.«
Rosalie stellt die Musik leiser. Sie dreht sich zu den anderen um. »Manches will ich lieber gar nicht so genau wissen.«
Giuseppina parkt das Auto vor dem schmiedeeisernen Tor des Hauses. Alle drei steigen aus. Simone winkt dem Nachbarn zu, der sie hinter dem Vorhang hervor beobachtet.
»Monsieur Barthélémy ist wieder auf seinem Posten.«
»Der ist harmlos«, sagt Rosalie beschwichtigend.
Giuseppina baut sich vor ihnen auf.
»Jetzt hört mir mal gut zu, meine Damen! Man muss sich vor allen in Acht nehmen. Keiner ist harmlos, kein Einziger.«
2
Mist!«
»Was ist los?«
»Ich wäre fast die Treppe runtergefallen.«
»Mach das Licht wieder an …«
»Hab ich schon versucht.«
Im dunklen Treppenhaus hagelt es Kommentare.
»Das ist das dritte Mal in diesem Monat.«
»Wenn es nicht an der Zeitschaltuhr liegt, dann liegt es an der Elektrik.«
»Aber warum springt die Sicherung raus?«
»Beim letzten Mal war der Sandwichtoaster schuld.«
»Der ist ab sofort tabu! Sonst setzt es eine Geldstrafe.«
»Die Königin ist die Einzige, die sich davon nicht stören lässt. Ich höre Bach von oben.«
»Sie hat Batterien, sie ist immer auf alles vorbereitet.«
»Ich brauche keine Batterien, ich brauche frische Luft … ich ersticke!«
»Setz dich … atme ganz ruhig … tief in den Bauch …«
»Wir sollten eine Taschenlampe in die Flurkommode legen.«
»… stell dir eine Welle vor, sie rollt heran und zieht sich wieder zurück …«
»Hat schon jemand die Elektrikerin angerufen?«
»… beim Einatmen … und die Welle rollt heran …«
»Sie ist im Urlaub.«
»… und beim Ausatmen … zieht sie sich zurück.«
»Wird bestimmt nicht einfach, eine andere zu finden.«
»Ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt mehr als eine Elektrikerin in Paris gibt.«
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock klammern sie sich aneinander. Die hübsche Rosalie rezitiert ein Mantra. Giuseppina bittet sie, mit diesem Quatsch aufzuhören. Simone meint, dass ein vernünftiger Joint sie alle beruhigen würde.
»JEAN-PIERRE! Du hast mich erschreckt!«
»Jean-Pierre? Ich dachte, hier wohnen nur Frauen!«
»Wer spricht denn da?«
»Die Stimme kommt aus Carlas Wohnung.«
»Ich bin’s, Juliette. Ich bin gestern Abend angekommen. Wer ist denn Jean-Pierre?«
»Gestern Abend schon!«, ruft Giuseppina.
»Jean-Pierre ist der einzige Mann im Haus.«
»Schade, dass er keine Sicherungen wechseln kann.«
»Der braucht kein Licht, er kann im Dunkeln sehen.«
»Jean-Pierre, komm her, mein Schatz. Sie sind bloß neidisch, weil du bei mir im Bett schläfst.«
»Ein Kater hat noch nie einen Mann ersetzt!«
»Sagen Sie mal, liebe Neue, hat Carla Ihnen die Hausregeln erklärt?«
»Im Großen und Ganzen.«
»Hier herrschen strenge Sitten! Keine Ehemänner, keine Liebhaber, keine Klempner, keine Elektriker.«
»Keine Pizzalieferanten.«
»Keine Männer!«
»Keine Männer?«, stammelt Juliette.
Giuseppina wird ungeduldig.
»So lautet die Regel. So, was machen wir denn nun?«
»Wenn wir im ganzen Viertel Stromausfall haben, können wir das Kino vergessen«, antwortet Rosalie.
»Wunderbar, schon wieder Scrabble bei Kerzenschein«, führt Simone den Gedanken zu Ende.
»Na schön, aber diesmal mogelst du nicht schon wieder.«
»Ich habe nicht geschummelt, ich habe mit ›Zephyr‹ gewonnen.«
»Mit dreifachem Wortwert …«
»Und ganz zufällig hattest du das Z und das Y!«
»Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.«
»Das blinde Huhn bist ja wohl du, so wie du die Treppe raufstolperst.«
»Wir gehen zu dir, Giuseppina. Das ist am nächsten.«
Sie halten sich am Treppengeländer fest. Simone hängt sich bei Rosalie ein.
»Na komm, Jean-Pierre.«
»Sie kommen zurecht, Juliette?«
Juliette bleibt auf der fünften Stufe sitzen.
Keine Männer!
3
Ein seltsames Haus. Eine Königin, die Bach verehrt. Eine ungewöhnliche Begegnung mit körperlosen Stimmen. Juliette wusste immer noch nicht, wie die anderen Mieterinnen aussahen. Der Stromausfall war noch nicht behoben, im Haus blieb es dunkel. Das Empfangskomitee war Scrabble spielen gegangen, und sie hatte sich im Dunkeln schlafen gelegt.
Dennoch hatte sie tiefen Frieden verspürt, als sie zum ersten Mal in die Sackgasse eingebogen war. Die ausgeblichenen Fassaden und die Backsteinhäuser, die mit Efeu oder Blauregen bewachsen waren und sich mit kleinen Gärten oder begrünten Innenhöfen schmückten, verliehen dem 20. Arrondissement ein ländliches Aussehen. In der Ruhe, die dieses Inselchen ausstrahlte, wo die Zeit stillzustehen schien, hatte sie ihre Schritte verlangsamt, den Himmel betrachtet und den Vögeln gelauscht. Als sie das schmiedeeiserne Gitter von Nummer fünfzehn aufgestoßen hatte, war ihr diese Geste gleich vertraut vorgekommen. So ein Déjà-vu, das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben, hatte sie in den Tagen danach immer wieder. Sie war endlich am richtigen Ort angekommen. Hier und nirgendwo sonst sollte sie leben.
Woher kam diese Sicherheit, wenn sie doch nur wenige Monate hierbleiben würde? Vielleicht war es die Bank, auf der ein älteres Paar offenbar täglich saß. Die alte Dame war ganz zierlich und nicht mehr so gut zu Fuß. Er war rüstiger und stützte sie am Ellbogen. Juliette hatte gesehen, wie er mit einem Taschentuch sorgfältig ihren Platz abwischte, ehe sie sich setzte. Dann verweilten sie schweigend. Manchmal strich er seiner Begleiterin mit unendlicher Zärtlichkeit eine weiße Strähne hinters Ohr … Vielleicht lag es auch an den Hortensien, die dieses Jahr früh blühten. Sie hatte diese Blumen immer schon gemocht, und in dem gepflasterten Hof wuchsen riesige Büsche, himbeerfarben, blasslila und ein Stück weiter ein schillerndes Indigoblau, so besonders, weil die Pflanzen erst blau blühten und dann rosafarben wurden … Vielleicht war es auch dieser putzige winzige Teufel mit den spitzen Ohren, der in die Holztür geschnitzt war. Sie musste jedes Mal schmunzeln, weil er die Zunge herausstreckte. Bei genauerem Hinsehen war es eine Teufelin … Vielleicht lag es auch an der Kommode aus Birnenholz in der Eingangshalle und der Vase aus Opalglas voller Hahnenfuß, der sich verneigte.
Womöglich rührte das wohlige Gefühl auch gar nicht von diesen charmanten Kleinigkeiten her, sondern eher von der romantischen Geschichte dieses großen, alten Gebäudes. Ein liebestoller Italiener hatte es einst der derzeitigen Eigentümerin geschenkt. Eines Abends war er auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Nachdem Carla ihr das Viertel beschrieben hatte, hatte sie einfach hinzugefügt: »Deine zukünftigen Nachbarinnen sind faszinierende Frauen, die vom Wesen her sehr unterschiedlich sind. Was uns vereint, ist dieselbe Entscheidung: In unseren Leben gibt es keine Männer, weil wir das so wollen.«
Juliette hatte die Wortwahl gefallen.
4
In der ersten Etage lebt Giuseppina Volpino. In ihrer Heimat trug sie den Spitznamen Cosetta, was im Dialekt ihrer Gegend »kleines Ding« bedeutet. Sie wollte nie wieder so genannt werden. Als sie auf die Wohnungsannonce hin hergekommen war, hatte sie der Königin die Geschichte in einem Rutsch erzählt, als wollte sie sich ihrer für immer entledigen. Mit einer vom Rauchen rauen Stimme hatte sie erklärt, warum es in ihrem Leben keine Männer geben würde.
»Finito! Basta!«
Wenn man in Caltanissetta zur Welt gekommen war, auf einem Hügel hundert Kilometer vor Catania, und einen Vater und drei Brüder hatte, gab es nicht viel Spielraum. Die Männer hatten das Sagen. Und das einzig richtige Verhalten war das, was ihre Regeln und ihr Ruf vorschrieben. Ohne ihre Erlaubnis durfte man nicht einmal atmen. Die sizilianische Familie: un polpo con tentacoli!
Dann wurde ihr Land zu trocken, die Volpinos mussten ihre Weinberge und die Olivenbäume verlassen und in nordfranzösischen Bergwerken arbeiten. Aber sie lebten weiterhin wie Sizilianer und bewahrten den wertvollsten Teil von sich: die Seele. Marcello, der Padre, lächelte nie. Jeden Tag riskierte er in den Stollen sein Leben, und das machte ihn nicht sanfter. Mit Hunderten Kubikmetern Erde über sich hatte er Angst, zerquetscht zu werden wie eine Feige ganz unten im Einkaufskorb. Nach der Arbeit traf man ihn stets im Bistro, sommers wie winters, die Mütze schien ihm am Kopf festgewachsen. Er war wortkarg und rechtfertigte seine Entscheidungen nicht; wenn er eine Augenbraue ein klein wenig hob, reichte das, um seine Missbilligung kundzutun. Bei der Mamma waren Körper und Herz gleichermaßen rau. Sie ruhte niemals aus, arbeitete von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang für die Männer der Sippe. Das Denken konnte man ihr zwar nicht verbieten, aber sie musste still sein. Nur einmal, nach dem Abendessen – der Vater und alle vier Kinder, die sie in fünf Jahren bekommen hatte, waren beisammen –, hatte sie gewagt, etwas zu sagen.
»Ich geh jetzt«, hatte der Vater erklärt und dabei geprüft, ob die Mütze auch richtig saß.
»Säufer!«, entfuhr es da der Mutter durch die zusammengepressten Zähne.
Er hatte die randvolle Espressokanne genommen und sie seiner Frau samt der kochend heißen Flüssigkeit an den Kopf geworfen. Im Sommer wurde die Narbe von der Bräune kaschiert, aber im Winter zog sich ein Schatten vom Hals bis zum Dekolleté.
Die Familie tat so, als gäbe es die Narbe nicht. Giuseppina war bei diesem Vorfall noch sehr klein gewesen, dennoch verfinsterte sich ihr Blick auch vierzig Jahre später noch, wenn sie an das Gesicht der Mutter dachte.
Ihre Brüder, Tiziano, Angelo und Fabio, ähnelten sich: Das schwarze Haar mit Pomade nach hinten gekämmt, ein Dreitagebart, und aus dem aufgeknöpften Hemd schauten buschige Brusthaare heraus, auf denen eine Kette mit einem goldenen Kreuz funkelte. Enge Hosen, die Hände in den Taschen, so schlenderten sie lässig umher, blickten Frauen mit einer Mischung aus Begehrlichkeit und Arroganz nach und betrachteten andere Männer als Rivalen. Und wehe dem, der sie für Italiener hielt, das war für einen Sizilianer die schlimmste Beleidigung.
Giuseppinas Leibgarde folgte ihr auf Schritt und Tritt und erklärte ihr den lieben langen Tag: »Nessuna confidenza con i ragazzi!« Keine Vertraulichkeiten mit den Jungs!
Ein anständiges Mädchen trinkt nicht, raucht nicht und geht nicht aus. Ein Mädchen ist ein Muster an Tugend. Und an jenem Tag, als sie mit einem Knutschfleck am Hals aus der Schule nach Hause gekommen war, hatten sie sie geohrfeigt. Drei Mal. Eine Ohrfeige von jedem Bruder. Sie waren entwurzelt, die Schwester war der letzte Grashalm, der sie noch mit Sizilien verband, deswegen durfte sie sich auf keinen Fall in Unkraut verwandeln. Mit ihren dreizehn Jahren hatte sie kerzengerade vor ihnen gestanden und ihnen mit brennenden Wangen fest in die Augen geblickt, ohne zu weinen.
Die Miete war günstig, aber die Bewohnerinnen mussten der Eigentümerin gefallen. Der Königin hatte die Willensstärke imponiert, die aus der Erzählung der Frau mit dem humpelnden Gang und dem insektenähnlichen, ausgemergelten Körper hervorging. Eine graue Strähne im schwarzen Haar, dunkle Augen, lebendiger Blick. Sie trug, obwohl tiefster Winter war, Strumpfhosen mit Blumenmuster und ein Seidenkleid aus den Fünfzigerjahren, darüber eine alte, viel zu große Wildlederjacke. Ein endlos langer violetter Schal von jemandem, der offenbar noch nie etwas von Perlmuster gehört hatte, rundete das Bild ab.
Giuseppina ist alles andere als ein kleines Ding. Sie steht jeden Tag – ob bei Regen oder Sonnenschein – um fünf Uhr auf, klettert mit einer Muratti im Mundwinkel in ihren Lieferwagen und fährt zu ihrem Stand auf dem Flohmarkt, sucht nach Trödel oder durchstöbert Dachböden.
Die Königin hatte sofort Ja gesagt und es niemals bereut. Giuseppina noch weniger.