Buch
Windhaven – eine wunderschöne Wasserwelt, doch geplagt von gewaltigen Stürmen. Die Menschen leben verstreut auf vielen kleinen Inseln, und es ist fast unmöglich, Kontakt zueinander aufzunehmen. Dennoch – oder deswegen – ist auf Windhaven ein alter Traum wahr geworden: Menschen können fliegen. Doch die Flügel sind kostbar, und die Gilde der Flieger ist eine streng abgeschottete Elite. Trotzdem will sich Maris von Amberly ihren Traum vom Fliegen nicht nehmen lassen …
Autoren
George Raymond Richard Martin wurde 1948 in New Jersey geboren. Sein Bestseller-Epos Das Lied von Eis und Feuer wurde als die vielfach ausgezeichnete Fernsehserie Game of Thrones verfilmt. George R. R. Martin wurde u. a. sechsmal der Hugo Award, zweimal der Nebula Award, dreimal der World Fantasy Award (u. a. für sein Lebenswerk und besondere Verdienste um die Fantasy) und dreimal der Locus Poll Award verliehen. 2013 errang er den ersten Platz beim Deutschen Phantastik Preis für den Besten Internationalen Roman. Er lebt heute mit seiner Frau in New Mexico.
Lisa Tuttle veröffentlichte ihre erste Story in den 1970ern. Sturm über Windhaven war ihr erster Roman. Sie hat als Fernsehkritikerin und Journalistin gearbeitet und hat kreatives Schreiben unterrichtet. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach international ausgezeichnet.
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GEORGE R. R. MARTIN
&
LISA TUTTLE
STURM ÜBER
WINDHAVEN
ROMAN
Ins Deutsche übertragen
von Angelika Fuchs
Vollständig durchgesehen und überarbeitet
von Catherine Beck
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Windhaven« bei Pocket Books, New York.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 1981 by
George R. R. Martin & Lisa Tuttle
Published by agreement with the authors and the authors’ agent,
The Lotts Agency, Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Penhaligon
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Inkcraft
unter Verwendung eines Bildes von Helle/Shutterstock.com
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21890-4
V001
www.penhaligon.de
Wer einmal erlebt hat, was Fliegen heißt,
der wird auf Erden wandeln
mit himmelwärts gerichtetem Blick;
denn dort ist er gewesen,
und dorthin sehnt er sich zurück.
Leonardo da Vinci
Prolog
Der Sturm hatte nahezu die ganze Nacht gewütet. In dem breiten Bett, das es sich mit seiner Mutter teilte, lag das Kind unter einer kratzenden Wolldecke und lauschte. Gleichmäßig und unablässig prasselte der Regen auf die dünnen Zitronenholzbretter der Hütte. Manchmal hörte es das entfernte Grollen des Donners, und wenn der Blitz herabfuhr, drangen feine Lichtstrahlen durch die Fugen in den Fensterläden und erleuchteten den kleinen Raum. Wenn sie verschwanden, war es wieder dunkel.
Das Kind hörte, wie das Wasser auf den Fußboden tröpfelte. Das Dach war undicht, der Regen würde den fest gestampften Boden in Schlamm verwandeln – seine Mutter würde wütend sein, aber man konnte es nicht ändern. Die Mutter war im Ausbessern von Dächern nicht sehr geschickt, und sie konnten es sich nicht leisten, dass jemand diese Arbeit für sie übernahm. Eines Tages, hatte die Mutter gesagt, wird die alte Hütte unter der Gewalt des Sturms zusammenbrechen. »Dann werden wir deinen Vater wiedersehen.« Das Mädchen konnte sich kaum an den Vater erinnern, obwohl die Mutter oft von ihm sprach.
Ein heftiger Windstoß rüttelte an den Fensterläden, das Kind lauschte dem furchterregenden Geräusch brechenden Holzes und dem Trommeln des Regens auf dem Ölpapier, das ihnen als Fensterscheibe diente. Plötzlich hatte es Angst. Seine Mutter schlief ahnungslos weiter. Der Sturm dauerte an, aber die Mutter hatte von alldem nichts mitbekommen. Das Mädchen wagte nicht, sie zu wecken, denn die Mutter war leicht erregbar und mochte es nicht, wenn man sie wegen solcher Kleinigkeiten wie kindlicher Ängste aus dem Schlaf riss.
Die Wände knarrten und bewegten sich wieder. Blitz und Donner folgten unmittelbar aufeinander. Zitternd lag das Kind unter der Decke und überlegte, ob es vielleicht nicht schon heute Nacht seinen Vater wiedersehen würde.
Aber dem war nicht so.
Endlich ließ der Sturm nach, und der Regen hörte auf. Der Raum war dunkel und ruhig.
Das Mädchen rüttelte seine Mutter wach.
»Was?«, fragte sie. »Was ist los?«
»Der Sturm ist vorüber, Mutter«, sagte das Kind.
Die Frau nickte und stand auf. »Zieh dich an«, befahl sie dem Mädchen, während sie selbst im Dunkeln nach ihren Kleidern suchte. Es würde frühestens in einer Stunde zu dämmern beginnen, aber es war wichtig, so schnell wie möglich am Strand zu sein. Das Kind wusste, dass die Stürme Schiffe zerschmetterten; kleine Fischerboote, die zu lange draußen geblieben waren oder sich zu weit hinausgewagt hatten. Manchmal fielen ihnen sogar große Handelsschiffe zum Opfer. Wenn man nach einem Sturm hinausging, fand man oft an den Strand getriebene Dinge. Einmal hatten sie ein Messer mit einer gehärteten Metallklinge gefunden. Nachdem sie es verkauft hatten, konnten sie zwei Wochen gut essen. Wenn man etwas Wertvolles finden wollte, durfte man jedoch nicht faul sein. Ein fauler Mensch würde bis zur Dämmerung warten – und nichts finden.
Bevor sie nach draußen gingen, hängte sich seine Mutter einen leeren Leinensack für die Fundstücke über die Schulter. Das Kleid des Mädchens hatte große Taschen. Sie trugen beide Stiefel. Die Frau nahm auch eine lange Stange mit einem geschnitzten Holzhaken am Ende mit, falls sie etwas sahen, das außerhalb ihrer Reichweite im Wasser trieb. »Komm, Kind«, sagte sie. »Trödele nicht herum.«
Der Strand war kalt und dunkel. Ein frischer Wind blies beständig aus Westen. Sie waren nicht allein. Drei oder vier andere waren bereits auf und suchten den nassen Strand ab. In ihren Stiefelabdrücken sammelte sich sofort das Wasser. Gelegentlich bückte sich jemand, um irgendetwas genauer zu betrachten. Einer von ihnen trug eine Laterne. Früher, als ihr Vater noch lebte, hatten sie auch eine Laterne besessen, aber später hatten sie sie verkaufen müssen. Ihre Mutter hatte sich oft darüber beklagt. Nachts konnte sie nicht so gut sehen wie ihre Tochter. Manchmal stolperte sie in der Dunkelheit umher und übersah Dinge, die sie eigentlich hätte bemerken müssen.
Sie trennten sich, wie sie es immer taten. Das Kind suchte den Strand in nördlicher Richtung ab, während seine Mutter ihre Suche im Süden aufnahm. »Mach dich auf den Rückweg, wenn es dämmert«, sagte die Mutter. »Du hast viel vor dir. Nach der Dämmerung wird nichts mehr zu finden sein.«
Das Kind nickte und begann eilig mit der Suche.
Die Beute heute Nacht war recht mager. Lange Zeit ging das Mädchen, die Augen auf den Boden gerichtet und angestrengt suchend, am Wasser entlang. Zu gern hätte es etwas gefunden. Wenn es mit einem Stückchen Metall oder vielleicht einem gelben, gebogenen und schrecklich anzusehenden Szylla-Zahn nach Hause käme, würde ihm die Mutter vielleicht ein Lächeln schenken und ihm sagen, was für ein gutes Kind es war. Das geschah nicht oft. Meistens schalt die Mutter, weil es zu verträumt war und törichte Fragen stellte.
Als sich der Himmel unmerklich aufhellte und gerade die Sterne zu schlucken begann, hatte es nur zwei Stücke milchiges Seeglas und eine Muschel in den Taschen. Die Muschel war schwer und so groß wie seine Hand. Die raue, genarbte Schale verriet, dass sie schwarzes, butterweiches Fleisch haben würde, das vorzüglich schmeckte. Aber es hatte eben nur eine gefunden. Alle anderen angespülten Gegenstände waren wertloses Treibgut.
Das Kind wollte gerade umkehren, so, wie es die Mutter befohlen hatte, als es das Aufblitzen von Metall am Himmel sah – einen plötzlichen Silberglanz, als wäre ein neuer Stern geboren, der alle anderen überstrahlte.
Es war nördlich von ihm, weit draußen über der See. Es starrte in die Richtung, wo es erschienen war, da blitzte es einen Augenblick später etwas links wieder auf. Es wusste, was es war: Die Flügel eines Fliegers hatten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne gefangen, noch bevor sie die Erde erreichten.
Das Kind wollte hinunterlaufen und alles weiter beobachten. Es sah gern dem Flug der Vögel zu, dem kleinen Regenkuckuck, den unbändigen Nachtfalken oder den Aasvögeln mit ihren großen Silberflügeln, aber die Flieger waren schöner als alle anderen Vögel. Doch die Dämmerung brach an, und die Mutter hatte befohlen, bei Tagesanbruch umzukehren.
Es rannte. Wenn es sich beeilte, so dachte es, und den ganzen Weg hin und den ganzen Weg zurück rannte, würde es vielleicht noch ein bisschen Zeit zum Zusehen haben, bevor die Mutter es vermissen würde. Deshalb rannte und rannte es, vorbei an den faulen Langschläfern, die gerade erst aufgestanden waren, um den Strand abzusuchen. Die Muschel in der Tasche sprang hin und her.
Der östliche Himmel war in blasses Orange getaucht, als es die Stelle erreichte, wo der Flieger kreiste. Hier war der Strand besonders breit. Die Stelle lag gleich unterhalb der Klippen, von denen die Flieger starteten. Das Kind kletterte gern die Klippen hinauf, um von oben alles sehen zu können. Der Wind spielte ihm dann im Haar, und die Beine baumelten über den Rand der Klippen. Aber heute hatte es keine Zeit. Es musste bald umkehren, sonst würde die Mutter böse sein.
Es war sowieso zu spät gekommen. Der Flieger setzte zur Landung an.
Er flog noch einen eleganten Bogen über dem Strand, und seine Flügel rauschten in nur dreißig Fuß Höhe über seinen Kopf. Mit großen Augen beobachtete das Kind ihn. Er legte sich über dem Wasser in die Kurve, einen silbernen Flügel nach unten, den anderen nach oben gerichtet. Plötzlich kam er in weitem Bogen heran. Dann änderte er die Richtung ein wenig und kam nun direkt auf es zu, senkte sich anmutig herab und berührte bei seiner Landung kaum den Boden.
Am Strand waren auch noch andere Leute – ein junger Mann und eine ältere Frau. Sie rannten dem Flieger entgegen und halfen ihm anzuhalten. Dann machten sie etwas an seinen Flügeln, woraufhin diese zusammenklappten. Anschließend falteten sie die Flügel langsam und sorgfältig, während der Flieger die Gurte löste, mit denen die Schwingen an seinem Körper befestigt waren.
Während das Mädchen die Szene beobachtete, erkannte es, dass es der Flieger war, den es besonders mochte. Es gab viele Flieger, und das Mädchen hatte gelernt, sie zu unterscheiden, aber nur drei von ihnen kamen häufig. Jene drei, die, wie es selbst, auf der Insel lebten. Das Kind stellte sich vor, dass sie oben auf den Klippen lebten, in Häusern, die Vogelnestern glichen, deren Wände aber aus unschätzbar wertvollem Metall bestanden. Einer der Flieger war eine ernste, grauhaarige Frau mit mürrischem Gesicht. Der zweite war ein dunkelhaariger, unglaublich hübscher Junge mit einer angenehmen Stimme. Ihn mochte sie lieber. Aber am liebsten mochte sie den Mann am Strand. Ein großer, starker Mann mit breiten Schultern, wie ihr Vater sie gehabt hatte. Er war glatt rasiert, hatte braune Augen und lockige, rötlich-braune Haare. Er lächelte viel und schien häufiger zu fliegen als die anderen.
»Du«, sagte er.
Das Kind blickte erschrocken auf. Er lächelte es an.
»Hab keine Angst«, sagte er, »ich tue dir nichts.«
Ängstlich wich es einen Schritt zurück. Oft hatte es die Flieger beobachtet, aber noch nie hatte man es bemerkt.
»Wer ist das?«, fragte der Flieger seine Helfer, die hinter ihm standen und seine Flügel falteten.
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Eine kleine Muschelsucherin. Was weiß ich. Ich habe sie schon öfter hier gesehen. Soll ich sie verjagen?«
»Nein«, sagte der Mann. Wieder lächelte er das Kind an. »Warum bist du so ängstlich?«, fragte er. »Ich habe nichts dagegen, dass du zuschaust, kleines Mädchen.«
»Meine Mutter hat mir verboten, die Flieger zu stören«, sagte sie.
Der Mann lachte. »Oh, du störst mich nicht. Eines Tages, wenn du größer bist, kannst du den Fliegern helfen, so wie meine Freunde hier. Würde dir das gefallen?«
Das Mädchen winkte ab. »Nein.«
»Nein?«, fragte er erstaunt lächelnd. »Was würdest du denn gern tun? Fliegen?«
Das Kind nickte schüchtern.
Die ältere Frau kicherte, aber der Flieger warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Er ging auf das Kind zu, beugte sich zu ihm herab und nahm seine Hand. »Na«, sagte er, »wenn du fliegen möchtest, musst du aber viel üben, nicht wahr? Würdest du es gern einmal probieren?«
»Ja.«
»Du bist jetzt noch zu klein für die Flügel«, sagte der Flieger. Er fasste sie mit seinen starken Händen und hob sie auf seine Schultern. Seine Beine lagen auf seiner Brust, und die Hände fassten unsicher in sein Haar. »Nein«, sagte er, »du darfst dich nicht festhalten, wenn du ein Flieger sein willst. Deine Arme müssen deine Flügel sein. Kannst du die Arme ausstrecken?«
»Ja«, sagte es. Es hob die Arme und hielt sie wie ein Flügelpaar.
»Deine Arme werden müde«, warnte der Flieger, »aber du darfst sie nicht sinken lassen, nicht, wenn du fliegen willst. Ein Flieger braucht kräftige Arme, die niemals müde werden.«
»Ich bin stark«, sagte das Mädchen mit Nachdruck.
»Gut. Bist du bereit?«
»Ja.« Es begann mit den Armen zu schlagen.
»Nein, nein, nein«, sagte er. »Nicht schlagen. Wir sind doch keine Vögel. Ich dachte, du hättest uns beobachtet?«
Das Kind versuchte sich zu erinnern. »Drachen«, sagte es plötzlich, »ihr seid wie Drachen.«
»Manchmal«, sagte der Flieger erfreut. »Aber auch wie Nachtfalken und andere Gleitvögel. Weißt du, wir fliegen nicht richtig, wir gleiten wie Drachen. Wir reiten auf dem Wind. Deswegen darfst du nicht mit den Armen schlagen, du musst sie ausstrecken und versuchen, den Wind zu fühlen. Kannst du den Wind schon fühlen?«
»Ja.« Es war ein warmer, scharfer Wind, der nach See roch.
»Nun, versuche ihn mit deinen Armen zu fangen, lass dich treiben.«
Das Mädchen schloss die Augen und versuchte, den Wind auf den Armen zu fühlen.
Es fing an, sich zu bewegen.
Der Flieger lief über den Sand, als würde er vom Wind getrieben. Wenn der Wind umschlug, änderte er die Richtung. Das Mädchen hielt die Arme ausgestreckt. Der Wind schien stärker zu werden. Der Mann rannte, und das Mädchen hüpfte auf seinen Schultern auf und ab, es ging immer schneller.
»Du fliegst mich ins Wasser!«, rief er. »Dreh um!«
Sie neigte ihre Flügel, so, wie sie es oft bei den Fliegern beobachtet hatte. Eine Hand nach oben, die andere nach unten gerichtet. Der Flieger machte eine Drehung nach rechts und begann im Kreis zu laufen, bis sie ihre Arme wieder waagerecht hatte. Jetzt lief er wieder geradeaus, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Er lief und lief, und sie flog, bis beide atemlos waren und lachten.
Er hielt an. »Genug«, sagte er, »ein Anfänger sollte nicht zu lange fliegen.« Er hob das Mädchen von den Schultern und setzte es auf den Sand.
Die Arme der Kleinen schmerzten, aber sie war aufgeregt und überglücklich, obwohl sie wusste, dass zu Hause eine Tracht Prügel auf sie wartete. Die Sonne stand jetzt über dem Horizont. »Danke«, sagte sie, immer noch außer Atem.
»Ich heiße Russ«, sagte er. »Wenn du wieder fliegen möchtest, komm hierher. Ich habe sonst keine kleinen Flieger, um die ich mich kümmere.«
Das Kind nickte begeistert.
»Und du«, sagte er und klopfte sich den Sand von der Kleidung, »wer bist du?«
»Maris«, antwortete das Mädchen.
»Ein hübscher Name«, erwiderte der Flieger freundlich. »Nun, Maris, ich muss jetzt gehen. Aber vielleicht werden wir wieder einmal gemeinsam fliegen?« Er lächelte sie an, drehte sich um und ging den Strand entlang. Die beiden Helfer begleiteten ihn; einer trug seine gefalteten Flügel. Sie begannen zu sprechen, als sie sich von ihm entfernten, und sie hörte sein Lachen.
Plötzlich rannte sie hinter ihm her, hatte aber Mühe, seinen gewaltigen Schritten zu folgen und ihn einzuholen.
Er hörte das Mädchen kommen und drehte sich zu ihm um. »Ja?«
»Hier.« Sie griff in die Tasche und reichte ihm die Muschel.
Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht, die dann einem freundlichen Lächeln wich. Er nahm die Muschel feierlich entgegen.
Das Mädchen legte die Arme um ihn und drückte ihn überschwänglich. Dann lief es davon. Es hielt die Arme ausgestreckt und rannte so schnell, dass es zu fliegen schien.
Teil Eins
Stürme
Maris ließ sich von den Sturmböen über das Meer treiben. Sie zähmte die Winde mit breiten Flügeln aus Metallfolie. Waghalsig flog sie über die Wellen, die Gefahr und die Gischtspritzer bereiteten ihr Vergnügen, die Kälte störte sie nicht im Geringsten. Der Himmel hatte eine ominöse kobaltblaue Färbung angenommen, der Wind frischte auf, und sie hatte Flügel, das reichte ihr. Sie hätte jetzt sterben können und wäre glücklich gestorben, im Flug.
Sie flog besser als jemals zuvor. Sie wirbelte und glitt sorglos zwischen den Luftströmungen dahin und überließ sich geschickt den Aufwinden oder Fallwinden, die sie weiter oder schneller tragen konnten. Sie machte keinen Fehler, wurde nicht zu einem hektischen Gekurve dicht über dem aufgewühlten Ozean gezwungen. Es wäre sicherer gewesen, wie ein Anfänger höher zu fliegen, hoch und sicher vor ihren eigenen Fehlern über die Wellen zu gleiten. Aber Maris streifte wie ein Flieger über die See, wobei ein kurzes Absacken, ein sanftes Berühren des Wassers mit der Flügelspitze unweigerlich einen plumpen Sturz ins Wasser nach sich ziehen würde. Und den Tod, denn mit einer Flügelspannweite von zwanzig Fuß schwimmt man nicht besonders weit.
Maris war kühn, aber sie kannte die Winde genau.
In einiger Entfernung entdeckte sie den Hals einer Szylla. Wie ein gewundenes dunkles Tau zeichnete sie sich gegen den Horizont ab. Ohne lange nachzudenken, reagierte sie. Ihre rechte Hand zog den ledernen Flügelgriff herunter, die linke drückte nach oben. Sie verlagerte ihr gesamtes Körpergewicht. Die großen Silberschwingen – hauchdünnes und federleichtes, aber ungeheuer zähes Material – veränderten ihre Stellung entsprechend ihrer Bewegung. Eine Flügelspitze streifte beinahe die Schaumkronen unter ihr, die andere hob sich. Maris gelang es, sich voll in den Aufwind zu legen; sie begann zu steigen.
Tod, der Himmelstod – oft dachte sie an ihn, aber so wollte sie nicht enden, nicht wie eine unaufmerksame Möwe, die ins Wasser stürzte und einem hungrigen Ungeheuer als Mahlzeit diente.
Minuten später hatte sie die Szylla erreicht. Spöttisch flog sie eine Schleife um das Tier, jedoch außerhalb seiner Reichweite. Aus der Höhe konnte sie den nur teilweise vom Wasser bedeckten Körper sehen, die Reihen schlüpfriger, schwarzer Flossen, die rhythmisch durch das Wasser schaufelten. Der kleine Kopf am Ende ihres langen Halses pendelte langsam hin und her und ignorierte sie. Vielleicht hat es schon früher mit Fliegern Bekanntschaft gemacht, dachte sie, und kann sich mit ihrem Geschmack nicht anfreunden.
Die Winde waren kälter geworden und schwer vom Salz. Ein Unwetter braute sich zusammen. Sie spürte ein Zittern in der Luft. Fast berauscht flog Maris weiter und ließ die Szylla schon bald weit hinter sich zurück. Dann war sie wieder allein. Ohne Mühe flog sie durch eine leere, dunkle Welt aus Meer und Himmel, in der nur das Rauschen des Winds vernehmbar war.
Einige Zeit später erhob sich die Insel aus dem Meer: ihr Ziel. Mit einem Seufzer bedauerte sie das Ende ihrer Reise. Maris ließ sich hinabgleiten.
Gina und Tor, zwei einheimische Landgebundene – Maris hatte keine Ahnung, was sie taten, wenn sie nicht gerade Fliegern halfen –, warteten pflichtbewusst auf der Landzunge, die als Landebahn diente. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, kreiste sie kurz über ihnen. Die beiden erhoben sich und winkten ihr zu. Als sie ein zweites Mal zur Landung ansetzte, waren sie bereit. Maris glitt immer tiefer, bis ihre Füße nur noch wenige Zentimeter über dem Boden schwebten. Gina und Tor rannten neben ihr, jeder parallel zu einer Flügelspitze, über den Sand. Ihre Zehen berührten den Boden, und in einer Wolke aus aufgewirbeltem Sand wurde sie langsamer.
Schließlich hielt sie an und blieb ausgestreckt auf dem kühlen, trockenen Sand liegen. Sie kam sich albern vor. Ein gelandeter Flieger gleicht einer Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Sie konnte allein aufstehen, wenn die Situation es erforderte, aber es war ein schwieriger, unwürdiger Vorgang. Dennoch war die Landung gut gelungen.
Gina und Tor begannen, die Flügel Stück für Stück zusammenzufalten. Als jede Verstrebung gelöst und auf das nächste Segment gelegt wurde, hing das dünne Gewebe zwischen ihnen schlaff herunter. Nachdem alle Streckstützen herausgezogen waren, hingen die Flügel in zwei losen Falten kraftlosen Metalls von der Mittelachse, die an Maris’ Rücken festgeschnallt war.
»Wir haben Coll erwartet«, sagte Gina, während sie die letzte Verstrebung zusammenlegte. Ihr kurzes dunkles Haar stand von ihrem Kopf ab wie Stacheln.
Maris schüttelte den Kopf. Vielleicht war Coll an der Reihe gewesen, aber sie hatte sich verzweifelt nach Luft gesehnt. Sie hatte sich die Flügel genommen – es waren immer noch ihre Flügel – und war hinausgegangen, bevor er aufgewacht war.
»Ab nächster Woche wird er ausreichend Gelegenheit zum Fliegen haben, glaube ich«, sagte Tor aufmunternd. Seine blonden Haare waren immer noch voller Sand, und er zitterte im kühlen Seewind, aber er lächelte. »So viel er will.« Er stellte sich vor Maris, um ihr beim Ablegen der Flügel zu helfen.
»Ich werde sie tragen«, erwiderte Maris abweisend. Sie war ungeduldig und ärgerte sich über seine Worte. Wie konnte er das verstehen? Wie konnte einer von ihnen das verstehen? Sie waren Landgebundene.
Sie ging über die Landzunge auf die Hütte zu. Gina und Tor folgten ihr. Sie nahm die üblichen Erfrischungen zu sich und stellte sich vor den offenen Kamin, um sich zu trocknen und aufzuwärmen. Sie antwortete nur einsilbig auf die höflichen Fragen und versuchte, ruhig zu bleiben und nicht daran zu denken, dass dies vielleicht ihr letzter Flug gewesen war. Die anderen akzeptierten ihr Schweigen, weil sie ein Flieger war, aber sie waren enttäuscht.
Für die Landgebundenen waren die Flieger die einzige Möglichkeit, etwas über die anderen Inseln zu erfahren. Die Meere, in denen die Szyllas, Meerkatzen und andere Räuber ihr Unwesen trieben und die täglich von Stürmen heimgesucht wurden, waren für längere Schiffsreisen zu gefährlich. Lediglich zwischen den Inseln einer Gruppe gab es einigermaßen regelmäßigen Schiffsverkehr. Die Flieger stellten somit die einzige Verbindung zur Außenwelt dar, deshalb erwartete man von ihnen den neuesten Klatsch, die neuesten Balladen, Ereignisse und Romanzen.
»Der Landmann möchte dich sprechen, wenn du dich ausgeruht hast«, sagte Gina und berührte Maris vorsichtig an der Schulter. Maris wandte sich ab. Dir genügt es, einem Flieger zu dienen, dachte sie. Du hättest gern einen Flieger zum Ehemann, Coll vielleicht, wenn er erwachsen ist – du hast ja keine Ahnung, was es für mich bedeutet, dass Coll der Flieger sein wird und nicht ich. Aber sie sagte nur: »Ich bin jetzt fertig. Es war ein leichter Flug, der Wind hat die ganze Arbeit gemacht.«
Gina führte sie in ein anderes Zimmer, wo der Landmann bereits auf ihre Botschaft wartete. Ein loderndes Feuer prasselte in einem großen Steinofen. Auch dieses Zimmer war lang und schmal und kaum möbliert. Der Landmann saß in einem bequemen Sessel am Feuer. Als Maris eintrat, erhob er sich. Flieger wurden immer wie Gleichwertige begrüßt, sogar auf den Inseln, wo die Landmänner über göttliche Macht verfügten und wie Götter verehrt wurden.
Nach dem Begrüßungsritual schloss Maris die Augen und übermittelte die Botschaft. Sie wusste nicht, was sie sagte, und es war ihr auch gleichgültig. Man bediente sich ihrer Stimme, ohne ihr Bewusstsein zu belasten. Etwas Politisches, wenn sie sich nicht täuschte. In jüngster Zeit ging es meist um Politik.
Als Maris fertig war, öffnete sie die Augen und lächelte den Landmann an – auch aus Trotz, denn sie hatte gemerkt, dass ihre Botschaft ihn irgendwie beunruhigt hatte. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und erwiderte ihr Lächeln. »Danke«, sagte er ein wenig schwach. »Du hast gute Arbeit geleistet.«
Man lud sie ein, über Nacht zu bleiben, aber sie lehnte ab. Es war möglich, dass der Sturm gegen Morgen abflaute, außerdem liebte sie Nachtflüge. Tor und Gina begleiteten sie nach draußen und führten sie den felsigen Pfad zur Fliegerklippe hinauf. Alle paar Fuß waren Laternen aufgestellt, um den Aufstieg in der Nacht sicherer zu machen. An der höchsten Stelle der Klippe befand sich ein natürlicher Sims, den Menschenhände verbreitert hatten. Der Felsen fiel achtzig Fuß ab, in der Tiefe dröhnte die Brandung. Gina und Tor entfalteten die Flügel und befestigten die Streben. Die dünne Metallfolie spannte sich glatt und silbrig. Maris sprang in die Tiefe.
Der Wind fing sie auf und trug sie höher. Sie schwebte wieder zwischen der dunklen See und dem Sturmhimmel. War sie erst einmal gestartet, sah sie sich niemals nach den sehnsüchtigen Blicken der Landgebundenen um, die ihr folgten. Zu bald würde sie eine von ihnen sein.
Sie dachte nicht daran, nach Hause zu fliegen. Stattdessen ließ sie sich von heftigen Sturmböen nach Westen tragen. Wenn das Gewitter losbrach, musste sie höher steigen, über die Wolken, wo die Gefahr gering war, dass ein Blitz sie traf. Zu Hause würde es ruhig sein, der Sturm war dort längst vorüber. Am Strand würden einige Leute nach Treibgut suchen, ein paar Fischer ruderten vielleicht in der Hoffnung hinaus, dass der Tag nicht ganz verloren war.
Der Wind sang ihr in den Ohren und riss an ihr. Anmutig glitt sie durch die Weite des Himmels. Dann aber kam ihr Coll in den Sinn, und plötzlich geriet sie aus dem Gleichgewicht. Sie sackte ab, kam ins Trudeln, fing sich dann und gewann wieder an Höhe. Sie verfluchte sich. Es war alles so gut gelaufen – sollte es jetzt so enden? Wahrscheinlich war dies ihr letzter Flug, und er sollte der schönste sein. Aber es hatte keinen Zweck, sie hatte ihre Sicherheit verloren. Der Wind und sie waren kein Paar mehr.
Sie fing an, verbissen gegen die Strömung anzukämpfen, und wehrte sich, bis sich ihre Muskeln verkrampften und schmerzten. Dann versuchte sie, Höhe zu gewinnen. Wenn man nicht das richtige Gefühl für den Wind besaß, war es besser, die Nähe des Wassers zu meiden.
Sie war erschöpft und des Kampfes müde, als sie die Felswand von Eyrie erblickte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, welche Strecke sie zurückgelegt hatte.
Eyrie war lediglich ein gewaltiger Felsen, der aus dem Meer ragte, ein zerklüfteter, den wütenden Angriffen des Wassers ausgesetzter Gesteinsturm, an dessen mächtigen, steilen Wänden sich die Wellen brachen. Es war keine richtige Insel, hier wuchsen nur ein paar harte Flechten. In den zerborstenen Nischen und Spalten nisteten Vögel, und auf der höchsten Spitze hatten sich die Flieger ein Nest gebaut. Hier, wo kein Schiff festmachen konnte, hier, wo nur Flieger – seien es Vögel oder Menschen – hingelangten, hier stand die dunkle Felshütte.
»Maris!«
Als sie ihren Namen hörte, blickte sie auf. Dorrel glitt ihr lachend entgegen. Seine Flügel zeichneten sich dunkel gegen die Wolken ab. Im letzten Augenblick tauchte sie unter ihm weg. Er jagte sie um Eyrie herum. Die unbändige Freude des Fliegens ließ sie Müdigkeit und Schmerzen vergessen.
Als sie endlich landeten, fegte von Osten ein Regenschauer über sie hinweg. Er peitschte in ihre Gesichter und schlug hart gegen die Flügel. Maris spürte, dass sie beinahe starr vor Kälte war. Ohne fremde Hilfe landeten sie in einer weichen Sandkuhle, die zwischen den Felsen aufgeschüttet worden war. Maris rutschte zehn Fuß durch den Schlamm, bevor sie endgültig anhalten konnte. Vorsichtig befestigte sie die Flügel an einem Halteseil und begann, die Flügel nach und nach zusammenzufalten.
Als sie endlich fertig war, klapperten ihre Zähne, und ihre Arme waren schwer wie Blei. Dorrel sah sie skeptisch an.
Er hatte seine Flügel bereits gefaltet und über die Schulter gelegt. »Warst du lange unterwegs?«, fragte er. »Wir hätten sofort landen sollen. Schwieriges Flugwetter. Ich selbst habe nur die Ausläufer mitbekommen. Bist du in Ordnung?«
»Na klar. Etwas müde zwar, aber ich fühle mich gut. Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben. Es war ein aufregender Flug, so was habe ich jetzt gebraucht. Der letzte Teil der Reise war etwas ungemütlich, ich dachte schon, ich würde abstürzen. Aber ein guter Flug ist mehr wert als eine Ruhepause.«
Dorrel lachte und legte ihr den Arm um die Schultern. Seine Körperwärme machte ihr bewusst, wie entsetzlich sie fror. Er drückte sie fest an sich. »Lass uns hineingehen, bevor du erfrierst. Garth hat einige Flaschen Kivas von Shotan mitgebracht. Eine davon ist inzwischen bestimmt heiß. Wir und der Kivas werden dich sicher wieder auf die Beine bringen.«
Der Gemeinschaftsraum der Hütte war wie immer warm und einladend, aber fast leer. Nur Garth, ein gedrungener, muskulöser Flieger, etwa zehn Jahre älter als Maris, saß am Feuer. Er blickte auf und hieß sie willkommen. Maris wollte antworten, aber sehnsüchtiges Verlangen schnürte ihr die Kehle zu, ihre Zähne waren zusammengepresst. Dorrel führte sie ans Feuer.
»Wie ein Idiot habe ich sie in der Kälte herumgejagt«, sagte Dorrel. »Ist der Kivas heiß? Schenk uns ein.« Behände zog er sich seine nassen, schmutzigen Sachen aus und holte zwei Handtücher von einem Stapel neben dem Kamin.
»Warum sollte ich meinen Kivas an dich vergeuden?«, polterte Garth. »Bei Maris mache ich natürlich eine Ausnahme, sie ist wunderschön und eine ausgezeichnete Fliegerin.« Er verbeugte sich schwungvoll vor ihr.
»Du müsstest froh sein, dass ich das Zeug überhaupt trinke«, sagte Dorrel und rubbelte sich trocken, »oder wäre es dir lieber, wenn ich es auf den Fußboden gieße?«
Das Geplänkel ging weiter, aber Maris achtete nicht darauf. Sie kannte die raue Sprache der Flieger. Sie rieb ihr Haar trocken und beobachtete dabei das Muster, das durch die herabfallenden Tropfen auf dem Fußboden entstand und wieder verschwand.
Sie sah Dorrel an und versuchte, sich sein Aussehen einzuprägen: den muskulösen Körper – der Körper eines ausgezeichneten Fliegers – und das lebhafte Mienenspiel, wenn er auf Garth einredete. Als er merkte, dass sie ihn anstarrte, drehte er sich um. Garth hörte auf zu sticheln. Dorrel streichelte Maris und zeichnete sanft die Linie ihres Kinns nach.
»Du zitterst ja immer noch«, sagte er und wickelte sie in ein Handtuch. »Garth, nimm die Flasche vom Feuer, bevor sie explodiert, und gib uns zu trinken.«
Der Kivas, ein heißer Gewürzwein, der nach Rosinen und Nüssen schmeckte, wurde in großen Steinkrügen serviert. Der erste Schluck gab Maris das Gefühl, als flösse Feuer durch ihre Adern. Ihr Schüttelfrost ließ nach.
Garth lächelte ihr zu. »Das tut gut, nicht wahr? Eigentlich viel zu schade für so einen Banausen wie Dorrel. Ich habe die Flaschen einem ekligen alten Fischer abgeluchst, der sie in einem Wrack fand und nicht wusste, welche Kostbarkeit er besaß. Seine Frau hat sich geweigert, das Zeug in der Hütte aufzubewahren. Ich gab ihm dafür ein paar lumpige Metallperlen, die ich für meine Schwester besorgt hatte.«
»Und was bekommt nun deine Schwester?«, erkundigte sich Maris und nahm noch einen Schluck.
Garth zuckte die Schultern. »Sie? Es sollte eine Überraschung sein. Ich bringe ihr eben von meinem nächsten Flug nach Poweet etwas mit. Vielleicht bemalte Eier.«
»Wenn du sie auf dem Heimflug nicht wieder verhökerst«, sagte Dorrel. »Falls deine Schwester jemals ein Geschenk von dir bekommt, wird ihr Schreck größer sein als ihre Freude. Du bist eine echte Krämerseele. Ich glaube, wenn dir jemand ein gutes Angebot macht, verschacherst du sogar deine Flügel.«
Garth räusperte sich empört. »Halt den Schnabel, du Plappergans.« Er wandte sich Maris zu. »Wie geht es deinem Bruder? Man sieht ihn so selten.«
Maris nahm noch einen Schluck und presste die Hände um den Krug. »Nächste Woche wird er flugjährig«, sagte sie zögernd. »Dann gehören die Flügel ihm. Ich kümmere mich nicht darum, was er treibt. Vielleicht will er nichts mit dir zu tun haben.«
»Hu«, machte Garth. »Aber warum?« Seine Stimme klang gekränkt.
Maris winkte ab und zwang sich zu lächeln. Sie hatte ihn bloß hänseln wollen.
»Ich mag ihn gern«, fuhr Garth fort. »Wir alle mögen ihn, nicht wahr, Dorrel? Er ist jung und ausgeglichen. Vielleicht ein bisschen zu vorsichtig, aber er wird sich verbessern. Er ist irgendwie anders als wir, aber er kann Geschichten erzählen und singen. Die Landgebundenen werden beim Anblick seiner Flügel in Ekstase geraten.« Garth schüttelte verwundert den Kopf. »Wo lernt er all diese Lieder? Ich bin viel weiter herumgekommen als er, aber …«
»Er dichtet sie selbst«, sagte Maris.
»Selbst?«, wiederholte Garth beeindruckt. »Er wird unser Sänger sein. Beim nächsten Sängerwettstreit werden wir den Östlichen Inseln den Preis abnehmen. Die Westlichen Inseln haben zwar immer die besten Flieger«, sagte er stolz, »aber unsere Sänger haben noch keine Furore gemacht.«
»Beim letzten Treffen habe ich die Westlichen Inseln vertreten«, widersprach Dorrel.
»Ja eben.«
»Du kreischst wie eine Seekatze.«
»Ja«, sagte Garth, »ich behaupte ja auch nicht, dass ich Talent besitze.«
Maris hatte Dorrels Antwort überhört. Ihre Gedanken richteten sich nicht auf das Gespräch. Sie hatte die Hände um den Krug gelegt und sah nachdenklich in die Flammen. Hier oben in Eyrie hatte sie ihren inneren Frieden wiedergefunden, obwohl Garth Coll erwähnt hatte. Sie fühlte sich seltsam geborgen. Hier oben auf dem Fliegerfelsen lebte niemand, und doch strahlte er eine heimelige Atmosphäre aus. Es war ihr Zuhause. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie nie wieder hierherkommen sollte.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie das erste Mal nach Eyrie gekommen war. Es war vor sechs Jahren gewesen, einen Tag nachdem sie flugjährig geworden war. Sie war ein schüchternes dreizehnjähriges Mädchen gewesen und stolz darauf, so einen weiten Flug allein gewagt zu haben, aber auch verängstigt und scheu. Als sie angekommen war, hatte gerade ein Fest stattgefunden. Mehr als ein Dutzend Flieger waren am Feuer versammelt gewesen und hatten in ausgelassener Stimmung getrunken. Nachdem sie eingetreten war, waren alle verstummt und hatten sie angelächelt. Garth war damals ein stiller Bursche und Dorrel ein magerer Junge gewesen, kaum älter als sie selbst. Sie hatte niemanden gekannt. Helmer, ein Flieger mittleren Alters von den Nachbarinseln, war dabei gewesen und hatte sie einander vorgestellt. Noch heute erinnerte sie sich an die Gesichter und Namen. An die rothaarige Anni von Culhall, Foster, der später das Fliegen aufgab, weil er zu fett wurde, Jamis senior und besonders an einen mit dem Spitznamen Rabe, ein junger Angeber, stets in schwarzes Fell und schwarze Metallfolie gekleidet, der den Fliegerwettstreit schon dreimal für die Östlichen Inseln gewonnen hatte. Auch konnte sie sich an eine schlanke Blondine von den Äußeren Inseln erinnern. Ihr zu Ehren hatte das Fest stattgefunden, denn es geschah selten, dass jemand von so weit herkam.
Alle hatten Maris begrüßt, und bald war es ihr vorgekommen, als kümmerten sich alle nur um sie. Obwohl sie damals noch so jung gewesen war, hatten sie ihr Wein zu trinken gegeben, und sie hatte mit ihnen singen müssen. Dann hatten sie ihre Fliegergeschichten zum Besten gegeben. Die meisten davon hatte sie zwar gekannt, aber sie hatte sie noch nie von den Fliegern selbst gehört. Später, als sie gespürt hatte, dass sie dazugehörte, ließ man wieder von ihr ab, und das Fest ging seinen normalen Gang.
Es war ein fremdartiges, unvergessliches Fest gewesen, und ein Ereignis hatte sich ganz besonders in ihr Gedächtnis gegraben. Rabe, der als Einziger von den Östlichen Inseln stammte, hatte eine Menge Sticheleien zu hören bekommen. Als ihm dann der Wein zu Kopf gestiegen war, hatte er sich zur Wehr gesetzt. »Ihr nennt euch Flieger«, hatte er in herausforderndem Ton gesagt, den Maris nicht vergessen würde, »los, kommt mit. Ich zeige euch, was ein richtiger Flieger kann.«
Die ganze Gesellschaft war auf die Sprungklippe, die höchste von allen, hinausgegangen. Sechshundert Fuß fiel sie senkrecht ab, bis ganz unten die Felsen wie Raubtierzähne aus dem Wasser ragten. Rabe war mit zusammengefalteten Flügeln auf den Sims getreten. Dort hatte er die ersten drei Abschnitte eines jeden Flügels geöffnet und sie an den Armen festgeschnallt, ohne jedoch die Streben zu arretieren. Die Flügelgelenke hatten sich bei jeder Regung von ihm bewegt. Die anderen, noch nicht ausgebreiteten Abschnitte hatte er mit den Händen festgehalten.
Maris hatte nicht geahnt, was er vorhatte, es aber kurz darauf erfahren. Er hatte Anlauf genommen und war mit einem gewaltigen Satz von der Klippe gesprungen, ohne die Flügel zu entfalten.
Sie hatte geschrien und war an den Klippenrand gelaufen. Die anderen waren gefolgt, einige blass, andere grinsend. Dorrel hatte neben ihr gestanden.
Rabe war in die Tiefe gefallen wie ein Stein, die Arme an den Körper gelegt. Seine Flügel hatten sich aufgebauscht, als wären sie ein Cape. Kopfüber war er in die endlose Tiefe gestürzt.
Als er die Felsen fast erreicht hatte – als sie schon den Aufprall zu spüren glaubte –, hatten seine Silberflügel im Sonnenlicht aufgeblitzt. Flügel aus dem Nichts. Der Wind hatte sich darin verfangen, und Rabe war dahingeglitten.
Maris war tief beeindruckt gewesen. Aber Jamis senior hatte nur gelacht. »Rabes Kunststück«, hatte er abwertend kommentiert. »Ich habe ihm schon zweimal dabei zugesehen. Er ölt seine Flügelgelenke sorgfältig. Wenn er tief genug gefallen ist, öffnet er die Flügel mit dem größtmöglichen Ruck. Sobald eines der Gelenke eingerastet ist, gibt es den Impuls an die nächsten weiter. Sieht großartig aus. Er hat sicherlich lange geübt, bevor er den Trick in der Öffentlichkeit vorgeführt hat. Aber eines Tages wird sich etwas verklemmen, und wir sind von seinem Gerede erlöst.«
Doch seine Worte hatten den Zauber nicht zerstören können. Maris hatte schon oft Flieger gesehen, die ungeduldig die fast geöffneten Flügel über den Kopf gehoben und mit einem Ruck ganz ausgespreizt hatten. Das war meist geschehen, wenn die Helfer am Sprungfelsen zu langsam gearbeitet hatten. Aber gegen Rabes Kunststück war das nichts gewesen.
Als sie ihn später an der Landekuhle abgeholt hatten, hatte er nur herablassend gelächelt. »Wenn ihr das könnt«, hatte er sie herausgefordert, »könnt ihr euch Flieger nennen.« Gewiss, Rabe war ein arroganter, leichtsinniger Bursche gewesen, aber von diesem Moment an hatte Maris jahrelang geglaubt, wahnsinnig in ihn verliebt zu sein.
Traurig schüttelte sie den Kopf und trank den letzten Kivas. Das alles schien jetzt so albern. Rabe war zwei Jahre nach dem Fest gestorben, einfach spurlos verschwunden. Jedes Jahr starben ein Dutzend Flieger und nahmen ihre wertvollen Flügel mit ins Grab. Die einen stürzten durch Ungeschick ins Meer, andere, die sich zu nah an die Wasseroberfläche wagten, wurden von Szyllas in die Tiefe gezerrt. Stürme konnten sie vom Himmel fegen, Blitze verfolgten ihre metallhaltigen Flügel – ja, ein Flieger konnte auf viele Arten sterben. Die meisten, vermutete Maris, verirrten sich einfach und verfehlten ihr Ziel. Blindlings flogen sie weiter, bis die Erschöpfung sie übermannte. Einige wenige fielen wohl auch der größten Gefahr des Himmels zum Opfer: der Windstille. Maris wusste heute, dass Rabe von Anfang an ein Todeskandidat gewesen war, ein Flieger, der aus Angeberei die Grundregeln der Vernunft außer Acht ließ.
Dorrels Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen. »Maris«, sagte er, »he, schlaf uns nicht ein.«
Maris stellte den leeren Krug auf den Tisch zurück. Noch immer suchten ihre Hände die Wärme des rauen Steins. Energisch zog sie die Hand zurück und griff nach ihrem Pullover.
»Er ist noch nicht trocken«, protestierte Garth.
»Ist dir kalt?«, fragte Dorrel.
»Nein, aber ich muss zurück.«
»Du bist viel zu müde«, sagte Dorrel, »bleib über Nacht.«
Maris entzog sich seinem Blick. »Ich muss. Sie werden sich Sorgen machen.«
Dorrel seufzte. »Dann zieh dir wenigstens trockene Sachen an.« Er stand auf, ging in die gegenüberliegende Ecke des Gemeinschaftsraums und öffnete die Türen eines hölzernen Kleiderschranks. »Komm her und such dir etwas aus.«
Maris rührte sich nicht. »Ich nehme besser meine eigenen Sachen. Ich komme nicht mehr zurück.«
Dorrel fluchte leise. »Maris, stell dich nicht an … du weißt doch … sei vernünftig, nimm die Sachen. Du weißt, dass du sie behalten kannst, außerdem haben wir ja deine als Ersatz. Ich lasse dich nicht in nassen Kleidern gehen.«
»Schon gut«, sagte Maris.
Garth lächelte sie an, während Dorrel auf sie wartete.
Langsam erhob sie sich und zog das Handtuch fester, während sie sich vom Feuer entfernte. Die Spitzen ihrer kurzen, dunklen Haare fielen feucht und kalt gegen ihren Hals. Gemeinsam mit Dorrel suchte sie etwas Passendes aus dem Kleiderstapel heraus. Endlich fand sie eine Hose und einen braunen Wollgraspullover, die ihrer schlanken, drahtigen Figur entsprachen. Dorrel sah ihr beim Anziehen zu und ergriff schnell seine eigenen Sachen. Dann nahm sie ihr Fluggestell vom Ständer neben der Tür. Prüfend fühlte Maris mit ihren langen, starken Fingern über die Streben. Die Flügel versagten selten, aber wenn ein Schaden auftrat, dann meist an den Scharnieren. Die Metallfolie schimmerte weich und stark, wie zu jener Zeit, als die Sternensegler sie auf diese Welt gebracht hatten. Zufrieden schnallte sie die Flügel fest. Sie waren in gutem Zustand. Coll würde sie jahrelang tragen können, und auch seine Nachkommen konnten sie übernehmen.
Garth war neben sie getreten. Sie sah ihn an.
»Mir fällt es nicht so leicht, die richtigen Worte zu finden, wie Coll oder Dorrel«, begann er. »Ich … also. Leb wohl, Maris.« Er errötete und sah jämmerlich drein. Flieger sagten sich nicht Lebewohl. Aber ich bin kein Flieger, dachte sie, umarmte und küsste Garth und sagte ihm Lebewohl, den Abschiedsgruß der Landgebundenen.
Dorrel begleitete sie nach draußen. Hier oben blies immer ein kräftiger Wind, aber der Sturm war vorüber. Ein feiner, salziger Sprühnebel lag in der Luft, und die Sterne blinkten.
»Bleib wenigstens zum Essen«, bat Dorrel. »Garth und ich würden darum kämpfen, dich bedienen zu dürfen.«
»Du solltest sie tragen«, sagte Jamis. »Die alten Gesetze gelten nicht mehr, und du hast sie wirklich verdient. Bis wir die Akademie ins Leben gerufen haben, gibt es außer dir und Devin niemanden, der sie tragen könnte. Und du wirst sie sicherlich besser hüten als Devin.«
Sie streckte die Hände aus, um die Flügel entgegenzunehmen. Sie gehörten wieder ihr. Sie lächelte und war nicht mehr müde. Das vertraute Gewicht in ihren Händen gab ihr Sicherheit.
»Oh, Vater«, sagte sie, und Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie und Russ sich umarmten.
Als die Tränen getrocknet waren, gingen sie mit einigen anderen zur Sprungklippe. »Lasst uns nach Eyrie fliegen«, schlug sie Dorrel vor. Und plötzlich stand auch Garth in der Gruppe. »Garth, komm mit uns. Wir werden ein Fest feiern!«
»Ja«, sagte Dorrel, »aber ist Eyrie dazu der beste Ort?«
Maris wurde rot. »Nein, natürlich nicht, du hast recht!« Sie sah sich in der Menge um. »Nein, wir gehen nach Klein Amberly, zu uns nach Hause, und alle sind eingeladen. Wir und Vater werden dabei sein, der Landmann und Jamis. Barrion wird für uns singen, das heißt, wenn wir ihn finden, und …« Und dann sah sie Coll. Mit strahlendem Gesicht rannte er auf sie zu.
»Maris! Maris!« Er lief ihr entgegen und umarmte sie lachend.
»Wo bist du gewesen?«
»Ich war mit Barrion unterwegs, ich musste einfach: Ich schreibe ein Lied. Ich habe zwar erst den Anfang, aber ich fühle, dass es gut wird. Es ist ein Lied über dich.«
»Über mich?«
Er war stolz auf sich. »Ja, du wirst berühmt werden. Jeder wird es singen, und alle werden dich kennen.«
»Das tun sie bereits«, sagte Dorrel. »Glaub mir.«
»Oh, aber ich meine, für alle Zeiten. Solange dieses Lied gesungen wird, wird man sich an dich erinnern – an das Mädchen, das die Welt veränderte, weil es so gern fliegen wollte.«
Vielleicht hat er recht, dachte Maris später, als sie ihre Flügel entfaltete und gemeinsam mit Dorrel und Garth in den Wind sprang.
Aber die Welt schien nicht halb so wichtig oder so wirklich wie der Wind in ihrem Haar. Das vertraute Spannen der Muskeln und das geliebte Fliegen waren nicht für sie verloren. Sie hatte ihre Flügel wieder, und sie hatte den Himmel. Sie war wieder in ihrem Element. Sie war glücklich.