Ammianus-Verlag
Die Autorin
Isabella Benz wuchs einen Katzensprung von Wiesen, Wald und Feldern entfernt am Rande einer Kleinstadt in der Nähe Stuttgarts auf. Obwohl naturverbunden, zog es sie nach ihrem Abitur in Großstädte: zunächst in die Hauptstadt Kwa Zulu Natals, Pietermaritzburg, wo sie in südafrikanischen Townships mit Kindern und Jugendlichen arbeitete. Ihr Studium verschlug sie außerdem nach Berlin und für ein Jahr nach Rom. Hauptsächlich beschäftigt sie sich jedoch in dem vergleichsweise beschaulichen Tübingen mit Theologie, schwerpunktmäßig mit Kirchengeschichte. Mit ihrem ersten Werk Die Dämonen von Lorch legte sie den Grundstein für ihre Karriere als Autorin historischer Romane.
Weitere Informationen über die Autorin unter: www.isabella-benz.de
Inhalt
Europa im 12. Jahrhundert: Richard »Löwenherz« Plantagenet wird in Österreich gefangen genommen und an den Kaiser übergeben. Während die Verhandlungen über ein mögliches Lösegeld in vollem Gang sind, geschieht ganz in der Nähe ein Unglücksfall: Eine der Hofdamen stürzt von der Steinernen Brücke. Während der Bischof fest an Selbstmord glaubt, macht sich die Schwester der Toten auf die Suche nach einem Schuldigen.
Isabella Benz
Tod einer Hofdame
Eine königliche Ermittlung
Historischer Kriminalroman
Impressum
Erste Auflage April 2017
© 2017 Ammianus GbR Aachen
Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.
Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Lektorat: Melanie Kaesler
Satz: Michael Mingers
Fotos: Andreas Maier
Druck: tz-verlag
Printausgabe-ISBN: 978-3-945025-64-2
Ebook-ISBN: 978-3-945025-65-9
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Übersicht der Personen und Persönlichkeiten
*Richard »Löwenherz« Plantagenet König von England
(*)William Stagny Knappe des englischen Königs
*Wilhelm de L’Ètang englischer Ritter
*Heinrich VI Staufer, römisch-deutscher Kaiser
*Konstanze von Sizilien römisch-deutsche Kaiserin
*Heinrich von Kalden Reichsmarschall
Aleydis von Tettingen Hofdame
Lothar von Landenberg Marschall, Aleydis’ Gatte
Belanca von Tettingen Hofdame, Schwester von Aleydis
Rudwin von Gomaringen Reichsmundschenk, Belancas Gatte
Magnus von Tettingen deutscher Ritter, Bruder von Aleydis
*Leopold V. Herzog von Österreich
*Helena Herzogin von Österreich
*Hadmar II. von Kuenring Österreichischer Ministeriale
*Eufemia von Mistelbach Gattin Hadmars II
Kunigunde von Kuenring Schwester Hadmars II
Wendel von Liechtenstein Österreichischer Ritter
David Wagen von Wagensperg Österreichischer Ritter
Mit * sind historische Persönlichkeiten gekennzeichnet
Prolog
Erdberg (Wien), Dezember 1192
Der Wind heulte durch die Ritzen der Gaststube. Ab und an nahm er an Stärke zu, wurde höher und pfiff schrill. Richard sah zum Fenster, das von einer dunklen Tierhaut abgedichtet war. Vor dem Gasthaus rieselte Schnee herab. Er konnte es durch das Leder nicht erkennen, wusste aber, dass das weiße Ungeheuer ihre Unterkunft fest in seinen Klauen hielt. Eines der vielen Hindernisse, die ihm die Heimreise erschwerten. Eine heftige Böe wölbte die gegerbte Tierhaut nach innen, nahe an die Öllampe heran, deren Flamme unruhig flackerte. Schatten sprangen über das gegerbte Leder, erzählten Geschichten von wilden Schlachten und tapferen Männern. Im nächsten Herzschlag ebbte der Sturm ab und das monotone Heulen kehrte zurück. Richard ruhte in den aufgebahrten Kissen und starrte auf die nun schwächeren Schatten.
Unter das Tosen des Windes mischten sich andere Geräusche. Stimmengewirr? Rufe? Es mussten viele Menschen sein, andernfalls würden sie kaum einen solchen Lärm veranstalten. Richard verschränkte die Finger ineinander, um ihr Zittern zu unterbinden. Er verstand kein einziges Wort. Doch es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sich bei diesem Unwetter ein Trupp in ein kleines, unbedeutendes Dorf wie dieses aufmachte. Richard schlug die Decke beiseite und erhob sich viel zu schnell. Er bezahlte seinen Übermut sofort. Das Gebälk über ihm schwankte und auch die Truhe, über der sein Gewand hing, wollte nicht still halten. Er atmete tief ein und kämpfte gegen den Schwindel an, der seine Knie zittern ließ. Langsam griff er nach seinem Gewand und stülpte es über. Bei jedem Griff protestierten seine Glieder und der feurige Schmerz in seiner Stirn verhöhnte ihn. Er legte seinen Gürtel samt Schwert an, das ihm im Heiligen Land gute Dienste geleistet hatte.
Die aufgebrachten Rufe waren nun ganz nah.
Dielen knarzten, schwere Schritte trampelten vor seiner Stube und dann wurde die Tür aufgerissen. L’Ètangs Augen huschten durch den Raum und blieben an ihm hängen. Seine Wangen waren gerötet, sein Haar zerzaust und an seinen Stiefeln klebte Schnee. Er war von draußen hereingestürmt.
»Verzeiht meinen ungebührlichen Auftritt, Eure Majestät, aber wir müssen sofort verschwinden.« Während er sprach, trat der Ritter zur Truhe. »Der Wirt hält die Meute zurück. Wir können den Hinterausgang nehmen.« Die rostigen Scharniere ächzten, als er sie öffnete.
»Flieht, wenn Ihr es für richtig haltet«, flüsterte Richard und nahm den Mantel, den Wilhelm nebst einem Sack aus der Truhe geholt hatte.
L’Ètang blinzelte. »Ich bringe Euch in Sicherheit!«
Richard schüttelte den Kopf. »Wozu? Das Fieber macht mich schwach. Ich kann mich kaum mehr im Sattel halten. Selbst wenn es uns diesmal gelingen mag, wie lange wird es noch gut gehen?«
»Lange genug, um Böhmen zu erreichen. Heinrich der Löwe wird Euch vor dem Kaiser schützen und sicher nach England geleiten. Es ist nicht mehr weit«, beharrte der Ritter.
»Und doch zu weit.« Richard rang sich ein müdes Lächeln ab. »Sorgt Euch nicht, Sir L‘Ètang. Der Herr hat uns so oft geschützt und die Gefahr im letzten Moment von uns abgewendet. Er wird uns auch diesmal nicht im Stich lassen.« Seit sie Anfang Oktober von Akkon aufgebrochen waren, hatte das Unglück sie heimgesucht und doch waren sie stets vom Schlimmsten verschont geblieben. Sechs Wochen lang waren sie im Mittelmeer getrieben und von den Stürmen des Meeres gepeinigt worden. Kurz vor Marseille hatten sie erfahren, wie man sie auf dem Festland zu empfangen gedachte. Ausgerechnet Seeräuber hatte der Herr ihnen geschickt. Nach zähen Verhandlungen hatten die Verbrecher sie sicher an Land gebracht. Sie mussten über Feindesgebiet fliehen. Ihre einzige Hoffnung war, über Böhmen nach Sachsen zu gelangen, zu seinem Schwager Herzog Heinrich. Es war von Anfang an ein gefährliches Unterfangen gewesen. Zweimal waren sie den Häschern des Herzogs von Österreich entwischt. Doch war ihr Glück damit erschöpft? Oder hielt der Herr noch ein Quäntchen davon für sie zurück?
Die Meute schien immer lauter zu werden und Richard glaubte, bruchstückhaft zu verstehen, was sie riefen: »Engländer!« – »Zeig dich!« – »Feige!« – »Komm raus, Plantagenet!«
Er atmete tief durch, zog den Mantel über und wandte sich der Tür zu.
»Was habt Ihr vor?« Wilhelm eilte besorgt an seine Seite. »Eure Majestät, Ihr wollt Euch doch nicht mit dieser Übermacht anlegen?«
Richard umklammerte den Knauf der Waffe. »Sir Wilhelm von L’Ètang«, begann er und sprach leise, um seine Stimme nicht zu sehr anzustrengen. »Ihr ward den Plantagenets immer treu ergeben. Zuerst meinem Vater und dann mir. Vertraut Ihr mir?«
Aus den Augenwinkeln sah Richard, dass der Ritter mit dem ergrauten Haar ohne zu zögern nickte. Der Kampf im Heiligen Land und die beschwerliche Heimkehr waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Sorgenfalten zeichneten sein Gesicht und die dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dennoch klang er sicher: »Ich folge Euch bis in den Tod!«
»Dazu wird es nicht kommen«, erwiderte Richard leise. Entschlossen verließ er die Kammer und durchschritt die Gaststube so sicher es sein angeschlagener Gleichgewichtssinn zuließ. Erhobenen Hauptes trat er in den Schneesturm hinaus.
Die johlende und kreischende Menge verstummte augenblicklich.
Der Wirt, der bis eben noch mit einem Fremden debattiert hatte, wirbelte herum und erbleichte beim Anblick der beiden.
»So, so«, knurrte der Ritter und fügte etwas hinzu, bei dem Richard nur seinen Namen heraushörte. Auf der Brust des Wortführers prangte das Wappen des österreichischen Herzogs Leopold. Er war ein recht ansehnlicher Mann, der den zwanzigsten Sommer vor noch nicht allzu langer Zeit überschritten haben konnte. Schneeflocken hatten sich in seinem blonden Haar festgesetzt und die eisblauen Augen funkelten den Wirt bedrohlich an.
Der Herr des Gasthauses warf verzweifelt die Arme über den Kopf und rang nach Worten, doch der Ritter beendete das Gestammel mit einem harschen Befehl.
»Lasst ihn in Frieden«, verlangte Richard und bedeutete dem Wirt mit einem Handwink, sich zurückzuziehen.
Der dürre Mann, der in seinem Mantel zu ertrinken drohte, kam der Aufforderung augenblicklich nach und schlüpfte an Richard vorbei ins Innere. Der österreichische Ritter beäugte Richard und L‘Ètang misstrauisch. Ein nervöses Schweigen hing zwischen ihnen, das Richard nutzte, um die Begleiter des Ritters genauer in Augenschein zu nehmen. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, den er angeschleppt hatte. Da waren zwei Ritter, die wie der Blonde das Wappen des Herzogs von Österreich trugen, aber auch ein Schmied, der seinen Hammer schwang, dort ein Bauer mit seiner Mistgabel, und sogar einige junge Handwerksgesellen. Alle waren sie gekommen, um den Fall des englischen Königs mit eigenen Augen zu sehen. In ihrer Mitte hielten zwei Soldaten einen jungen Burschen an den Schultern fest. Blut rann aus seiner Nase über die Mundwinkel. Sein rechter Arm war seltsam verdreht und auf seiner Stirn glänzte eine Platzwunde. William! Richard betrachtete seinen Knappen mitleidig. Der Junge hatte viel erleiden müssen, ehe er unter der Misshandlung zusammengebrochen war und ihn verraten hatte.
Der Blonde zog etwas aus seinem Gürtel. Unwillkürlich zuckte Richards Hand zu seinem Schwertknauf. Doch statt eines Dolches präsentierte ihm sein Gegenüber ein Paar schwarzer Handschuhe, auf denen ein goldener Leopard prangte. Richard schluckte. Sein Emblem. Daran hatten sie den Knappen also erkannt. Welcher Teufel hatte ihn geritten, William die Handschuhe mitzugeben? Es war kalt gewesen. Er hatte verhindern wollen, dass der Junge fror, und ihn damit an die Schergen des Herzogs ausgeliefert.
»Sind dies Eure? Seid Ihr Richard Plantagenet, König von England?«, erkundigte sich der Ritter in fließendem Französisch.
Es war eine Formsache. Sie hatten ihn längst erkannt. Dennoch schloss sich Richard dem Spiel an und nickte. »Nennt mir auch Euren Namen, denn ich werde mich nicht einer namenlosen Rotte ausliefern«, forderte er.
»Wendel von Liechtenstein. Ich komme im Auftrag Herzog Leopolds von Österreich. Wir werden Euch zu meinem Herrn geleiten. Ergebt Ihr Euch, König von England?«
Das Fieber sandte heiße Wellen durch seinen Körper. Schwarze und weiße Flecken tanzten vor seinen Augen, und es waren nicht nur die Schneeflocken, die ihm die Sicht auf den blonden Ritter verschleierten. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis seine Kräfte ihn verließen. »Sagt, Herr von Liechtenstein, ist es ein langer Weg zu meinem werten Freund, dem Herzog?«
Ein ungemütliches Raunen ging durch die Menge. Wie konnte er es wagen, ihren Herzog als Freund zu bezeichnen? Gerade er, der ihrem Herrn so große Schande bereitet und seine Fahne nach der Eroberung Akkons vom Burgturm herabgeworfen hatte? Wendels Miene hingegen blieb unbewegt. »Er weilt in Wien. Wir werden ihn noch vor Einbruch der Dämmerung erreichen.«
Richard nickte. »Dann wünsche ich, dass er geholt wird. Ich werde ihm mein Schwert aushändigen, doch nur ihm.«
Ohne eine Miene zu verziehen, erklärte Wendel: »Wie Ihr wünscht!« Er wandte sich um und winkte einen Soldaten zu sich, vermutlich, um ihm die nötigen Befehle zu erteilen.
»Ihr geht als ehrbarer Mann in die Gefangenschaft«, murmelte L’Ètang hinter ihm.
Ehrbar vielleicht, doch es bleibt eine Gefangenschaft. Schweigend legte Richard den Kopf in den Nacken und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Ihnen stand eine weiße Weihnacht bevor. Die erste Heilige Nacht, die er in Fesseln verbringen würde. Er betete inständig, dass sein Königreich diese Zeit überstehen möge.
Ein geheimnisvolles Treffen
Regensburg, Januar 1193
Hinter vorgehaltener Hand tuschelten die Hofdamen über allbekannte Geheimnisse. Die Herren unterhielten sich ebenso leise, einige darauf bedacht, kaum die Lippen zu bewegen. Aleydis bemühte sich gar nicht erst, einzelne Worte aus dem monotonen Summen herauszuhören, das den Empfangssaal schwängerte und bis in das hohe Gebälk hinauf zu dringen schien. Sie beobachtete die großen Torflügel. Warum bewegten sie sich nicht? Weshalb kamen die Gäste nicht? Kaiser Heinrich hatte Herzog Leopold bereits ankündigen lassen! Wieso dauert das denn so lange?, fluchte sie in Gedanken und ballte die Linke zur Faust.
Lothar griff nach ihrer Hand, lockerte sie und schlang ihre Finger ineinander, um Aleydis anschließend sanft zu drücken. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Du wirst sie sicher bald in die Arme schließen können.«
Aleydis schenkte ihrem Ehemann ein flüchtiges Lächeln. Seine goldbraunen Augen strahlten eine Ruhe aus, für die sie ihn ab und an beneidete. Lothar war stets gelassen und kümmerte sich mit viel Hingabe um sein Tagwerk. Als Marschall des Hofes war er direkt dem Reichsmarschall Heinrich von Kalden unterstellt. Zu Beginn ihrer arrangierten Ehe hatte Aleydis häufig versucht, ihn zu einem Wutanfall zu provozieren, jedoch ohne Erfolg. Stattdessen hatte Lothar ihr jeden Tag auf die eine oder andere Weise seine Aufwartung gemacht, bis sie sich ihre Gefühle eingestehen musste. Sie mochte den Mann mit der krummen Nase, dem vollen, braunen Haar und dem etwas schrägen Mund. Und obwohl sie sich hütete, ihm das zu sagen, war sie alles in allem froh über die Wahl ihrer Eltern. Nur wünschte sie sich ab und an, weniger Zeit am Hof zu verbringen. Sie gehörte nicht zu den Vertrauten der Kaiserin, im Gegenteil wurde Aleydis von der Sizilianerin und deren bevorzugten Damen geradezu gemieden. Sie drückte sich nicht gewählt genug aus und verkündete ihre Meinung zu schnell. Von Anfang an hatte sie sich damit bei den Damen des Hofes unbeliebt gemacht. So war sie dazu verdammt, die Handarbeit an Kleidern, die Lektüren der am Hofe beliebten Dichtungen und die Feste nahezu in Stille zu verrichten. Fürchterlich! Viel lieber hätte sie sich um die Besitztümer der Landenbergs gekümmert, wozu die Heirat sie berechtigte. Doch Lothar hatte sie gerne in seiner Nähe und überließ die Verwaltung der Ländereien daher seiner verwitweten Mutter. Aleydis blieb nichts anderes übrig, als sich in die Eintönigkeit des Hoflebens zu fügen. Gut daran war lediglich, dass sie so auch bei Belanca war. Normalerweise …
Rechts von ihr räusperte sich Magnus. »Es ist ja nicht so, als sei unsere herzallerliebste Schwester seit Monaten in Feindesland«, murrte er leise.
Wenn du wüsstest, dachte Aleydis, rang sich jedoch zu einem Lächeln durch und neckte ihn: »Gräme dich nicht! Wir haben dich während des Feldzugs nach Sizilien mindestens genauso vermisst.«
Magnus runzelte die hohe Stirn, deren Geheimratsecken den Anflug einer Glatze verrieten. Vermutlich ahnte er, dass ihre Worte nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Sie schätzte ihren Bruder, aber mit ihrer Schwester verband sie eine weitaus tiefere Freundschaft. Sie hatte sie aufwachsen sehen und sie in späteren Jahren häufig überredet, der strengen Erziehung der Mutter zu entfliehen, obwohl sie beide dafür jedes Mal einige Hiebe und ein karges, abendliches Mahl geerntet hatten. Auch wenn nur eine der beiden etwas angestellt hatte, hatten sie die Strafe stets gemeinsam verbüßt. Aleydis konnte sich kaum an eine Zeit aus ihrer Kindheit erinnern, die sie nicht mit ihrer Schwester verbracht hatte. Bis zu Belancas Heirat hatten sie sich sogar ein Zimmer geteilt. Magnus hingegen hatte das Gut der Eltern verlassen müssen, kurz nachdem sie ihren vierten und Belanca gerade einmal ihren zweiten Winter erlebt hatte. Ihrem Vater war es gelungen, den ältesten Spross der Familie als Pagen in die Lehre des Reichkämmerers Kuno von Münzberg zu geben. Stetig hatte ihr Vater seine Beziehung zum kaiserlichen Hof ausgebaut, sehr zu Aleydis’ Missfallen.
»Du meinst den Feldzug, der mir keine Zeit ließ, mich von meiner Frau und dem tot geborenen Kind zu verabschieden?«, fragte Magnus leise, und riss Aleydis aus ihren Gedanken.
Sie blinzelte und brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verstehen. Dann begriff sie, dass sie seine Mimik falsch gedeutet hatte. Nicht die geschwisterliche Neckerei, sondern die Erinnerung an seinen Verlust hatte ihm die Verbitterung ins Gesicht getrieben.
»Verzeih«, nuschelte Aleydis.
Magnus verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich der Tür zu. Er sprach nicht über die Todesfälle, deren Nachricht ihn zu Beginn des Feldzuges erreicht hatte. Ein ganzes Jahr war seitdem vergangen, doch sie hätte wissen müssen, dass ihr Bruder den Tod der jungen Frau, die sie selbst nur ein einziges Mal auf der Hochzeitszeremonie gesehen hatte, noch nicht überwunden hatte. Andernfalls wäre er längst wieder verheiratet. Bei seiner hochgewachsenen Statur und den breiten Schultern erhielt er viele Avancen. Sein Kinn war scharfkantig und seine Gesichtszüge seit dem Italienfeldzug wohl definiert. Das Einzige, was Aleydis beinahe gruselte, waren seine schwarzblauen Augen, aufgrund derer sie sich manchmal fragte, ob ihre Mutter ihren Vater mit einem Südländer betrogen haben mochte.
Die Tür schwang auf und lenkte Aleydis von ihrem Bruder ab. Sofort verstummten die Gespräche und die Aufmerksamkeit galt den Neuankömmlingen. Mehrere Soldaten marschierten herein. Der Vorderste trug eine Standarte und Aleydis erhaschte einen Blick auf das Wappen: Auf schwarzem Grund prangten fünf goldene Adler, das Fünfadlerwappen des österreichischen Herzogs.
Sie beugte sich vor, um an der voluminösen Hofdame vorbei in den Gang zu sehen, doch Beatrice, die Gesellschafterin der Kaiserin, hatte nichts Besseres zu tun, als im gleichen Moment ihren Hintern vorzuschieben. Empört richtete Aleydis sich wieder auf. Meine Güte! Mussten die denn alle so gaffen? Als ob es nichts Wichtegeres gab als diesen König. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und reckte den Hals. Die ersten Ritter kamen an ihr vorbei. Bronzene Schnallen blitzten an ihren Gürteln. Sie hielten ihre Blicke starr nach vorne gerichtet. Ihnen folgte ein fülliger Herr, dessen mürrische Gesichtszüge von seinem vollen Bart unterstrichen wurden. Die Dame neben ihm trug denselben Mantel wie er. Braunes Haar lugte aus dem Schleier und umspielte ihre bleich geschminkten Wangen. Herzog Leopold und seine Gemahlin Helena ähnelten sich abgesehen von der Kleidung nicht im Geringsten. Ihnen folgte ein hagerer Mann mit rötlicher Nase, dunkelbraunem, kurz geschorenem Haar und einem unverkennbaren Bierbauch. Rudwin, ihr Schwager, konzentrierte seine Aufgabe als Mundschenk des Kaisers für ihren Geschmack allzu sehr auf Wein und Bier. Sehr zum Leidwesen ihrer Schwester, die dank der Trunksucht ihres Gatten häufig mehr als nur ein paar Hiebe ertrug. Aleydis musste sicher sein, dass ihr Schwager Belanca während der letzten Wochen nichts Schlimmeres angetan hatte. Wo steckte sie bloß? Warum ging sie nicht an Rudwins Seite? Ihn hatte sie doch begleiten müssen, um den Badenberger und seinen Gefangenen nach Regensburg zu laden. Aleydis wurde noch nervöser, als statt der Schwester nun ein ihr fremder Mann an ihr vorbei stolzierte. Sein Gang war hoheitsvoll, das Haupt stolz erhoben. Beatrice stieß ihre Nebenfrau an, tuschelte erneut und diesmal verstand Aleydis, was sie sagte:
»Das ist er. Das ist Richard Plantagenet.«
Aleydis musterte den englischen König. Dafür, dass er seit fast zwei Wochen in Gefangenschaft war, wirkte er sehr selbstsicher. Seine Kleidung saß korrekt, das Haar war ordentlich frisiert und die Haut wies einen gesunden Ton auf. Gerüchten zufolge war Richard Plantagenet bei seiner Gefangennahme krank gewesen, doch wie es schien, hatte der Herzog seine Geisel gut gepflegt. Vier weitere Soldaten beendeten den Aufmarsch. Belanca war immer noch nirgends zu sehen und allmählich bekam Aleydis Angst. Hatte Rudwin es mit der häuslichen Züchtigung endgültig übertrieben?
»Herzog Leopold von Badenberg«, verkündete Heinrichs Herold.
Der feiste Mann stand links des Kaisers und der Kaiserin, die beide auf einer Empore thronten. Kaiserin Konstanze lächelte, wie sie es immer tat: gütig und gleichzeitig undurchschaubar. Sie trug ein blaues Gewand, das mit dem Umhang ihres Mannes harmonierte. Die Arme locker auf die Lehne gestützt wartete sie stumm auf die folgende Zeremonie. Ihr Gatte hingegen klammerte die Hände um seinen Thron. Seine kleinen braunen Augen waren starr auf die Mitte des Pulks gerichtet. Er sah vorbei an Herzog Leopold und dessen Gemahlin und beachtete auch seinen Mundschenken Rudwin nicht, den er nach Dürnstein entsandt hatte, da ohnehin Verhandlungen über Weinlieferungen mit dem Kremstal nötig gewesen waren. Das Interesse des Kaisers galt nur einem: dem Engländer!
»Mein Kaiser.« Der Herzog deutete eine Verbeugung an, während die Soldaten auseinanderstrebten und Heinrich einen besseren Blick auf die Geisel boten. »Richard Plantagenet, der König von England.«
Hinter Aleydis erklang ein Geräusch, das sie an das Knurren eines angriffslustigen Hundes erinnerte. Es jagte ihr einen unangenehmen Schauder über den Rücken. Irritiert wandte sie sich um. Magnus wirkte verbissen. Er stierte dem englischen König in den Nacken, als könne er ihn dadurch dazu bringen, vor Kaiser Heinrich auf die Knie zu fallen.
»Alles in Ordnung?«, wisperte Aleydis ihm zu.
Das brachte ihn offenbar ins Hier und Jetzt zurück, denn er blinzelte erstaunt und nickte anschließend hastig. Aleydis schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Gerade wollte sie sich wieder nach vorne wenden, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, eine zierliche Hand, die sich schüchtern erhob. Aleydis spürte die zentnerschwere Sorge von ihrer Brust weichen. Gott sei Dank!
»Wir sollten das Geschäftliche klären«, sagte Kaiser Heinrich, während Aleydis ihrer Schwester strahlend zunickte und sich zwang, nicht vor lauter Freude sofort zu ihr zu rennen. In solchen Momenten verabscheute sie die höfische Etikette.
»Die endgültige Höhe des Lösegeldes ist selbstverständlich noch auszuhandeln«, ergriff nun Kaiser Heinrich das Wort, »doch würde ich vorschlagen, dass Herzog Leopold 20 000 Gulden zustehen. Seid Ihr einverstanden?«
Kaiser Heinrich duldete keinen Widerspruch. Und so erwartete Aleydis, dass auch der Herzog zustimmen würde, der Herold die Zeremonie rasch beenden würde und sie sich endlich mit ihrer Schwester in ihre Kammer zurückziehen konnte, um sicherzugehen, dass Rudwins Verhalten sich nicht verschlimmert hatte. Wobei sie sie in dem Fall vielleicht überzeugen konnte, wenigstens die Kaiserin von den Launen ihres Gatten zu unterrichten. Viel Zeit blieb ihnen kaum. Kaiserin Kunigunde würde Belanca, die zu ihren Lieblingsdamen zählte, als bald als möglich zu sich rufen, damit sie ihr von den Vorkommnissen in Dürnstein berichtete.
»Nein, das bin ich nicht«, antwortete Leopold und Aleydis horchte überrascht auf. »Meine Forderungen wünsche ich, in Ruhe mit Euch zu besprechen, mein Kaiser, in einer privaten Audienz.«
Für einen Herzschlag lang schienen die Höflinge alle gleichzeitig die Luft anzuhalten, dann setzte überraschtes Gemurmel ein, das der Kaiser geflissentlich ignorierte. Aleydis legte den Kopf schräg und blickte neugierig zu ihrem Herrscher. Heinrich saß unbewegt aufrecht, ließ nicht erkennen, was er von der Forderung des österreichischen Herzogs hielt. Nur bei genauerem Hinsehen erkannte man das Pochen über seiner linken Schläfe. Die englische Geisel durch Waffengewalt an sich zu reißen, war keine Option. Der Kaiser konnte es sich nicht erlauben, den Herzog und womöglich noch weitere Fürsten gegen sich aufzubringen. Er brauchte ihre militärische Stärke für den Feldzug nach Sizilien, um das Erbe seiner Frau zu erobern, das sie dank der Usurpation ihres unehelichen Neffen Tankred bislang nicht anzutreten vermochte. Und sofern zutraf, was Lothar ihr im Vertrauen erzählt hatte, benötigte der Kaiser eben dazu auch Richard Plantagenet.
Kaiserin Konstanze legte ihrem Mann fürsorglich eine Hand auf den Unterarm, neigte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas zu.
Wiederwillig nickte der Kaiser und bedeutete dem Herzog und seinen Vertrauten, sich in das Konferenzzimmer nebenan zurückzuziehen. Der Herzog wandte sich einem seiner Ritter zu, einem blonden, hochgewachsenen Kämpfer, und gab ihm einen kurzen Befehl. Dann erst folgten er und einige seiner Krieger dem Kaiser und dessen Vertrauten, unter denen sich neben dem Bischof auch Rudwin befand, ins Nebenzimmer. Der Ritter, mit dem er zuvor kommuniziert hatte, marschierte mit dem Gefolge der übrigen Männer samt Richard Plantagenet aus dem Empfangssaal.
»Was für eine Frechheit«, empörte sich die beleibte Beatrice.
Und eine Dame, deren kugelrundes Gesicht aussah, als sei es eingedrückt worden, stimmte ihr zu: »Ein viel zu kurzes Treffen. Eine Schande.«
Sie hatten erwartet, Plantagenet, den berühmten bewaffneten Pilgerfahrer, König von England, Freund der Heiden und Mörder, wie es hieß, ausgiebiger begutachten zu können. Nun war die Konferenz jäh unterbrochen.
»Denkst du, er wird Befehl geben, den Engländer entführen zu lassen?«, fragte ihr Bruder leise.
Aleydis zuckte mit den Schultern, während Lothar antwortete: »Er wird sich hüten. Solange Leopolds Forderungen in irgendeiner Weise tragbar sind, wird er auf sie eingehen und ihn sich nicht zum Feind machen.«
Magnus lachte. »Der Badenberger sollte sich besser in Acht nehmen. Er ist hier auf schwäbischem Grund und Boden und sollte seinen Herrn nicht verärgern.«
Aleydis verdrehte die Augen. Ehe ihr Ehemann zu einer Erwiderung ansetzen konnte, kam sie ihm zuvor: »Ihr entschuldigt mich.« Mit ihrer Hand wies sie auf Belanca, die still wie eh und je am Rand der Menge verharrte, die Finger vor ihrem Übergewand ineinander verschränkt, als würde sie beten. Nachdem ihr Ehemann ihr mit einem Nicken sein Einverständnis erteilt hatte, zwängte Aleydis sich an ihm vorbei durch die Menge. Über Belancas helle Lippen huschte ein Lächeln und ihre himmelblauen Augen leuchteten vergnügt mit der goldenen Brosche um die Wette, die ihr Dekolleté zierte. Als Aleydis bei ihr angelangt war, knickste sie höflich, doch Aleydis überging den Ritus, griff nach der Hand ihrer Schwester und zog sie kurzerhand am Rand der Menge entlang zu einer Seitentür. Nachdem sie den Raum endlich verlassen hatten, atmete Aleydis tief durch.
Belanca kicherte. »Du erstickst doch nicht, oder, liebste Schwester?«, erkundigte sie sich.
Aleydis schüttelte den Kopf. »Nur genervt von all den Weibern, die nichts Besseres zu tun haben, als sich nach dem Plantagenet so den Kopf zu verdrehen, dass sie sich ihre Hälse brechen. Seit ihr aufgebrochen seid, wird am Hof von nichts anderem mehr gesprochen. Ich habe wirklich genug davon. Wenn ich den Namen Richard Plantagenet nur höre …«
Belanca lachte leise.
Aleydis’ Stimmung hellte sich unwillkürlich auf. Sie hatte ihre kleine Schwester wirklich vermisst. »Nun erzähl, wie war es in Dürnstein? Ich will alles ganz genau wissen, du darfst nichts auslassen!«
Belancas Lächeln brach ab. Peinlich berührt wich sie Aleydis’ Blick aus und trat an einen großen Fensterbogen, durch den man einen guten Blick auf den äußeren Hof der Residenz von Regensburg hatte. »Es gibt nicht wirklich etwas zu berichten«, druckste sie herum. Ein frischer Wind kam auf und spielte mit dem weißen Schleier und den blonden Strähnen, die sich aus Belancas Reisezopf gelöst hatten.
Der Wind ließ Aleydis frösteln. »Wollen wir uns in meine Kammer zurückziehen?«, schlug sie vor. »Bei einem warmen Wein und einem heißen Feuer erzählt es sich bestimmt viel leichter.«
Belanca griff nach ihrer Brosche. Ihre Mutter hatte ihr das Schmuckstück zur Hochzeit vermacht. Seitdem trug sie es täglich, und wenn sie unsicher war, streichelte ihr Daumen über den blauen Edelstein, der in die goldene Fassung eingelassen war. Wie auch jetzt. Auf und ab. Auf und ab. Unablässig.
Allmählich wurde Aleydis ungeduldig. Sie hatten doch sonst keine Geheimnisse voreinander! Warum redete Belanca nicht mit ihr? »War etwas mit Rudwin?« Aleydis trat einen Schritt näher an ihre Schwester heran und packte sie am Oberarm in der festen Absicht, sie zu zwingen, ihr ins Gesicht zu sehen.
Belanca sog scharf die Luft zwischen die Zähne ein und Aleydis ließ ihre Schwester sofort los. In ihren blauen Augen schimmerten Tränen. Sie berührte die Stelle, an der Aleydis sie gepackt hatte, und wich deren Blick aus.
»Er hat dich wieder geschlagen«, erkannte Aleydis und Wut flammte in ihr auf. Mehr als einmal hatte sie bereits erwogen, ihren Schwager nach seinem Saufgelage mit einem Becher Wein zu empfangen, den sie mit einer Brise Eisenhut gewürzt hatte. Nach der Menge, die er abends gerne zu sich nahm, hätte er den bitteren Beigeschmack sicherlich nicht bemerkt.
»Es ist nicht so schlimm«, versuchte Belanca sie zu beschwichtigen.
Aleydis schnalzte mit der Zunge. »Deine Worte in Gottes Ohr. Ich hoffe, er lässt deinen Mann bald in eine ganz tiefe Grube stürzen.«
»Rede doch nicht so! Was, wenn dich jemand hört?«, rief Belanca bestürzt.
»Nun, dann sollten wir unser Gespräch dringend in meiner oder deiner Kammer fortführen«, schlug Aleydis erneut vor und drehte sich diesmal um, ohne eine Antwort von ihrer Schwester abzuwarten.
Belanca schloss eilig zu ihr auf. Ihre Holzschuhe hallten monoton auf dem steinernen Gang. Aus den Augenwinkeln beobachtete Aleydis ihre Schwester, die es jedoch tunlichst mied, den Blick zu erwidern. Hatte Belanca abgenommen? Unter den dicken Stoffschichten war dies schwerlich zu erkennen. Zierlich war ihre Schwester schon immer gewesen, beinahe zerbrechlich. Es war eine Schande, dass ihre Eltern das hübsche Kind ausgerechnet an einen grobschlächtigen Kerl wie Rudwin verheiratet hatten. Das Einzige, was Aleydis ihrem Vater zugutehalten konnte, war, dass er nicht hatte wissen können, wie brutal der angesehene Mundschenk tatsächlich war.
Sie verließen das Empfangsgebäude und wandten sich den Unterkünften der kaiserlichen Höflinge zu. Keine zwei Schritte trennten sie mehr vom Trakt mit ihren Kammern, als dessen Tür aufschwang und ein Mann herauskam. Belanca blieb wie angewurzelt stehen. Auch der Ritter schien sie nun zu erkennen, und in seiner Miene las sie die Freude darüber, jemanden gefunden zu haben, den er lange gesucht hatte. Mit ausholenden Schritten kam er auf sie zu. Er war nicht übermäßig stämmig und groß, doch er überragte Aleydis um einen guten Kopf und Belanca immer noch um einen halben. Seine Haut war von Pickelnarben zerfurcht, ein gestutzter Kinn- und Wangenbart umrandete seine Lippen, und die Brauen waren dicht zusammengewachsen. An seiner Hüfte baumelte ein Schwert. Da er kein Schild mit Wappen bei sich trug, zögerte Aleydis. Kannte sie ihn? Oder gehörte er zu Herzog Leopold?
Der Ritter blieb vor ihnen stehen und verbeugte sich. »Fräulein Belanca«, begrüßte er ihre Schwester, und die Art, wie er das »r« rollte verriet Aleydis, dass er zum Herzog gehörte.
»Grüß Euch Gott, Herr Wagen von Wagensperg«, erwiderte sie.
Nur kurz huschten die dunklen Augen des Ritters zu Aleydis, ehe er sein Wort erneut an Belanca richtete: »Richard Plantagenet schickt nach Euch. Unser Herzog verlangt von uns, den König nach Dürnstein zurückzubringen. Wir werden in der nächsten Stunde aufbrechen, daher solltet Ihr Euch beeilen.«
Aleydis runzelte die Stirn und sah fragend zu ihrer Schwester.
Belanca nickte. Offenbar überraschte sie die Aufforderung des Ritters nicht halb so sehr wie Aleydis.
»Was will er von dir?«, rutschte es ihr heraus.
Woraufhin der Ritter empört ausrief: »Mit Verlaub, werte Dame, aber ich denke nicht, dass Euch das etwas angeht.«
Aleydis lag eine schnippische Erwiderung auf der Zunge, doch Belanca drückte beruhigend ihren Oberarm. »Lass gut sein«, bat sie. »Ich komme in spätestens einer Stunde zu deiner Kammer.« Die himmelblauen Augen flehten sie an.
Aleydis schluckte ihren Ärger und nickte stumm.
Dankbar lächelte Belanca. Anschließend bedeutete sie dem österreichischen Ritter, ihr vorauszugehen. Er führte Belanca aus dem Hof und diese drehte sich nicht einmal mehr zu ihr um. Besorgt sah Aleydis den beiden nach, bis sie vom Hof verschwunden waren. Was in Dreiteufelsnamen wollte der englische König von ihrer Schwester? Was war in Dürnstein vorgefallen, dass er ausgerechnet nach Belanca verlangte? Aleydis hatte ein ungutes Gefühl dabei gehabt, als Rudwin Belanca mitgenommen hatte. Eigentlich, weil ihre Schwester in der Fremde den Launen ihres Ehemannes noch mehr ausgeliefert war als hier am Hofe. Nun beschlich sie erneut eine ungute Vorahnung.
Sie schüttelte den Kopf und wehrte sich gegen die lähmenden Vermutungen, die wilde Purzelbäume schlugen. Belanca würde ihr in einer Stunde Rede und Antwort stehen und Ausflüchte konnte ihre Schwester nach diesem Geschehnis getrost vergessen.
Aleydis saß am Fensterbrett und nutzte die letzten Strahlen der winterlichen Sonne, um den silbernen Faden in ihre Borte einzuarbeiten. Einzelne Wolken tummelten sich am Himmel. Sobald sich eine vor die Sonne schob, kroch die Kälte bis in Aleydis’ wollenes Unterkleid. Mehr und mehr war sie versucht, die Fensterläden zu schließen und ihre Arbeit am Kamin fortzusetzen. Leider war der Feuerschein bei weitem nicht so gut geeignet, einen ordentlichen Stich zu Stande zu bringen, wie das natürliche Licht der Sonne.
Streng genommen hatte sie die Stickerei nur aus Langeweile hervorgeholt. Die Borte war ihr im Getümmel der weihnachtlichen Messe gerissen und musste geflickt werden. Bis zum österlichen Hochfest brauchte sie das Festgewand nicht, und so hatte sie sich eigentlich vorgenommen, es in Speyer einer Schneiderei zu überlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kaiser Heinrich dort länger residieren würde, war weit größer als sein vorübergehender Aufenthalt in Regensburg, und ihre Handwerksfähigkeiten ließen leider zu wünschen übrig. Da sich die Angelegenheit um Richard Plantagenet aber verkompliziert hatte, würde sich vermutlich auch der Aufenthalt in Regensburg verlängern. Sie rang mit sich. Sollte sie das Kleid doch besser geübteren Fingern überlassen?
Aleydis seufzte schwer und legte die Borte auf ihrem Schoß ab. Wieder einmal betrachtete sie die Tür gegenüber dem Fenster. Wo blieb Belanca? Sie wusste nicht, wie oft sie sich diese Frage in den letzten beiden Stunden gestellt hatte. Kaum erklangen Schritte, horchte sie auf. Doch meist ertönte kurze Zeit später eine fremde Stimme, und es waren Höflinge, die ihre Bleibe aufsuchten. Zweimal waren Gesandte der Kaiserin gekommen, gleich zu Beginn und vor kurzem eine weitere Dame. Schroff hatte sie die zweite abgewiesen: Sie würde Belanca zur Kaiserin schicken, sobald diese zurückgekehrt sei. Und mir meine Fragen beantwortet hat, hatte sie in Gedanken hinzugefügt.
»Komm schon, Belanca«, murmelte sie, als ob sie die Audienz ihrer Schwester bei Richard Plantagenet dadurch beschleunigen könnte. Lothar wird nicht ewig fortbleiben.
Es war ein Wunder, dass er bislang nicht in ihr gemeinsames Gemach zurückgekehrt war. Ihr Mann nahm meist Rücksicht darauf, wenn sie mit ihrer Schwester allein sein wollte, doch in der Regel schaute er nach einiger Zeit vorbei, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Vorausgesetzt, er war nicht anderweitig beschäftigt. Hatte Heinrich von Kalden ihn in die Pflicht genommen?
Es klopfte.
Eilig legte Aleydis die Borte, Nadel und Faden beiseite, rutschte von der Fenstersitzbank und eilte zur Tür. Ihr pochendes Herz wurde noch eine Spur schneller, als sie tatsächlich ihre Schwester vorfand. Sie packte sie an ihrem eiskalten Handgelenk, zog sie ins Innere und schloss die Tür.
»Wo warst du so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht«, empfing sie Belanca vorwurfsvoll. Die Stunde war längst verstrichen.
»Entschuldige. Ich habe die Männer aus Österreich zum Hafen begleitet und es hat alles länger gedauert als gedacht.«
»Zum Hafen?«, wiederholte Aleydis verwirrt.
»Sie bringen Plantagenet wieder nach Dürnstein. Herzog Leopold fürchtet wohl, unser Kaiser könne den Gefangenen entführen lassen, um so seinen Forderungen zu entgehen. Nicht ganz unbegründet, meines Erachtens nach.« Belanca trat zum Feuer, dessen kleine Flamme an einem Holzscheit leckte, und hielt ihre Finger den glühenden Kohlen entgegen. Sie fror.
»Du hättest den Engländer nicht zum Hafen begleiten müssen. Du holst dir noch das Fieber«, tadelte Aleydis.
Belanca zuckte mit den Schultern und schwieg beharrlich.
Aleydis ballte verärgert die Linke zur Faust. Wie konnte ihre Schwester so seelenruhig am Feuer stehen? »Warum hat er dich überhaupt zu sich gerufen? Was habt ihr miteinander zu schaffen?«
»Gar nichts«, antwortete Belanca.
»Und das soll ich dir glauben?«
Als ihre Schwester nicht auf die Frage reagierte, gab Aleydis sich einen Ruck. Entschlossen marschierte sie zum Fenster, beugte sich hinaus und zog die Klappläden zu. Der Riegel rastete ein, sperrte die winterliche Sonne, aber auch den beißenden Wind aus. Aleydis trat neben Belanca und hielt ihre Finger ebenfalls der Glut entgegen.
»Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du«, flüsterte Aleydis ihrer Schwester zu.
Belanca stand steif. Ein seltsamer Schatten tanzte über ihr Gesicht, sie öffnete den Mund, zögerte. Und dann bekräftigte sie schlicht ihre vorherigen Worte: »Es ist wirklich nichts.«
Aleydis schnaubte. »Hat er dich umgarnt?«, fragte sie unumwunden. »Hast du dich ihm hingegeben? Wollte er dich deshalb sehen?«
»Ich würde Rudwin niemals betrügen«, widersprach Belanca. »Das ist eine Todsünde.«
Ja, und leider hinderte das ihre fromme Schwester auch daran, irgendetwas gegen ihren gewalttätigen Ehemann zu unternehmen. Ungeniert riet Aleydis weiter: »War es unfreiwillig?«
»Hör auf!«, fuhr Belanca sie leise an. Ihre Wangen schimmerten rötlich, doch das konnte auch vom warmen Feuerschein kommen. »Plantagenet hat mich nicht angerührt. Er ist ein ehrbarer Mann. Ihm war langweilig. Wir haben uns unterhalten, mehr nicht.«
»Wieso ausgerechnet mit dir?«
»Weil er mich amüsant fand?«
»Aber wie habt ihr euch überhaupt kennen gelernt?«
Belanca stöhnte und begann, ihre Schläfen zu massieren, wobei sie ihr Kopftuch verzog. »Deine Fragerei macht mich schwindelig. Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass es nun einmal so war?«
»Nicht, wenn du mich anlügst«, schoss Aleydis zurück.
»Ich lüge dich nicht an. Zwischen Richard Plantagenet und mir ist nichts weiter vorgefallen«, beharrte sie, während Daumen und Mittelfinger rechts und links weiter an ihrer Stirn kreisten.
»Dann zwischen dir und irgendwem anders«, mutmaßte Aleydis. »Wir sind hier unter uns.«
»Könntest du bitte damit aufhören? Es gibt nichts zu erzählen. Und selbst wenn es etwas gäbe und ich damit zum Ausdruck brächte, dass ich nicht darüber reden will, wie du offenbar annimmst, könntest du das wenigstens akzeptieren.«
Du wirst es bestimmt noch herausfinden, wiederholte eine Stimme in ihrem Kopf und in Gedanken fügte sie hinzu: Aber nicht allein.
Lothar beugte sich vor, die Augen geschlossen und die Lippen zu einem Kuss gespitzt. Aleydis hielt ihn zurück. »Magnus ist im Zimmer nebenan, sagst du? Rechts oder links?« Bei dieser Angelegenheit konnte Lothar ihr nicht helfen. Sie brauchte Magnus. War Belanca etwas Unanständiges zugestoßen, brachte das besser ihr Bruder als ihr Schwager in Erfahrung.
»Rechts?«, antwortete Lothar irritiert.
»Warte einen Moment, ich bin sofort zurück.« Eilig knotete sie die gelösten Schnüre wieder zu. Dann zwängte sie sich an ihrem Ehemann vorbei und ignorierte sein frustriertes Seufzen. An der Tür der Kammer rechts von ihrer klopfte sie an. Sofort ertönten Schritte und ihr Bruder streckte den Kopf heraus. Seine Miene hellte sich auf, als er Aleydis erkannte.
»Lässt du mich ein?«, bat sie.
Er trat beiseite, sodass sie hineinschlüpfen konnte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er, während sie die Tür eilig schloss.
»Ich muss mit dir über Belanca sprechen«, erwiderte Aleydis. Die Klappläden der Kammer waren verschlossen, Magnus hatte offenbar an einem Brief gesessen, denn eine kleine Öllampe stand auf dem Tisch samt einem Tintenfass, einer Feder und einem Bogen Papier.
»Was ist mit ihr?«, fragte Magnus. »Ist unserer Schwester irgendetwas zugestoßen?«
»Das musst du für mich herausfinden«, erklärte Aleydis.
Magnus hob seine Brauen und forderte Aleydis stumm auf, fortzufahren.
Sie trat einen Schritt näher an ihren Bruder heran und senkte die Stimme: »Vorhin, als wir uns in die Kammer zurückziehen wollten, kam uns ein österreichischer Soldat entgegen. Er hat darauf bestanden, dass Belanca ihn zu Richard Plantagenet begleitet, anscheinend hat der nach ihr verlangt.«
Magnus zuckte unwillkürlich zusammen. »Dieser englische Eidbrecher?«
Aleydis überging den Einwand: »Jedenfalls hat sie ihn wohl bis zum Hafen begleitet. Sie meinte, sie hätten sich nur unterhalten, ein freundliches Gespräch.«
»Aber du glaubst ihr nicht«, erriet er mühelos.
Aleydis zögerte. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Belanca verschweigt mir etwas, das sehe ich ihr an. Ich habe keine Ahnung, ob es wirklich etwas mit Plantagenet zu tun hat, oder ob es doch um etwas ganz anderes geht.«
»Und ich soll das in Erfahrung bringen? Denkst du wirklich, sie redet eher mit mir als mit dir?«
»Mag sein, dass sie mir mehr vertraut als dir. Aber du bist immer noch ihr älterer Bruder. Du hast ihr gegenüber weit mehr Autorität als ich. Das Vertrauen zu mir will sie nicht nutzen. Vielleicht musst du sie nun dazu zwingen. Zu ihrem eigenen Wohl, Magnus. Es geht ihr nicht gut und sie ist unsere Schwester!«
Magnus nickte langsam: »Ich werde sehen, was ich tun kann.«