Dritte Auflage, 2021
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
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Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH,
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Dritte Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0182-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8075-3 (ePUB)
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1Einleitung
1.1Fallbesprechungen im Kontext beruflichen Handelns
1.2Was verstehen wir unter Fall und Fallbesprechung?
1.3Zum Anliegen dieses Buches
2Historische Quellen und konzeptionelle Hintergründe
2.1Psychoanalyse und Balint-Gruppen
2.2Soziale Arbeit und Supervision
2.3Qualitative Sozialforschung und Fallbesprechungen
2.4Grundprinzipien qualitativer Forschung und ihre Bedeutung für Fallbesprechungen
2.5Hypothesenbildung unter Handlungsdruck
3Klientensystem, Hilfesystem und Beratungssystem – Funktionen und thematische Grenzen
3.1Das Klientensystem
3.2Das Hilfesystem
3.3Das Beratungssystem – andere thematische Grenzen und Regeln
3.4Fallbesprechungen über Arbeitsbeziehungen und Organisationsfragen
4Kontrakt und Setting – Soziale Situation und professionelle Rahmung
4.1Die Funktion von Fallbesprechungen zwischen Reflexion und kollegialer Kontrolle
4.2Geben und Nehmen als soziale Grundkonstellation von Fallbesprechungen
4.3Setting I: Fallbesprechung in einer offenen Gruppe – Gruppensupervision
4.4 Setting II: Fallbesprechungen in der Organisation
4.5Setting III: Fallbesprechungen in einer Ausbildungsgruppe
4.6Setting IV: Fallbesprechungen im Team
4.7Setting V: Fallbesprechungen zu zweit
4.8Formale Aspekte des Kontraktes: Was sollte geregelt werden?
4.9Anmerkungen zur Schweigepflicht
5Die Phasen der Fallbesprechung
5.1Die Phasen einer Fallbesprechung im Überblick
5.2Phase I: Einstieg und Anschluss an die letzte Sitzung
5.3Phase II: Sammeln der Fälle und Entscheidung für einen Fall
5.4Phase III: Erzählen und Aushandeln eines Auftrages
5.5Phase IV: Fragen – Was wollen die Beratenden noch wissen?
5.6Phase V: Bearbeitung des Falles – Ausweitung und Fokussierung des Blicks
5.7Phase VI: Nächste Schritte
5.8Phase VII: Sharing
5.9Phase VIII: Auswertung der Fallbesprechung – Ebenenwechsel
5.10Zum Einsatz von Methoden
6Der Fall als Erzählung – und wie sie verstanden werden kann
6.1Die Erzählung als Wirklichkeitskonstruktion der Falleinbringerin und anderer, abwesender Fallbeteiligter
6.2Die Erzählung als Beziehungsgestaltung im Hier und Jetzt
6.3Falldynamik im Da und Dort und Gruppendynamik im Hier und Jetzt – Das Spiegelungsphänomen als Modell wechselseitiger Beeinflussung
7Fallbesprechungen zwischen Falldynamik und Teamdynamik – Ein Fallbeispiel
7.1Struktur des untersuchten Teams und Bedingungen der Materialerhebung
7.2Die Präsentation des Falles
7.3Die Besprechung des Falls
7.4Abschluss der Fallbesprechung und Wechsel zur Teamdynamik
7.5Wie es weiterging
8Multiperspektivität des Verstehens – Interpretations- und Arbeitsebenen
8.1Innere Welten – Psychodynamik
8.2Zwischenmenschliche Welten
8.3Arbeitswelten
8.4Äußere Welten – Kontext
8.5Felddynamik
9Leitungsaufgaben und Leitungsprofile
9.1Die Aufgaben der Leitung in sechs Thesen
9.2Drei Leitungsprofile
9.3Wie lernt man das?
10Wirkungen
10.1Entlastung
10.2Berufliche Kompetenz
10.3Kooperation
10.4Fallbesprechungen als Instrument der Sicherung und Entwicklung von Qualität
10.5Fallbesprechungen und der Nutzen für die Klienten: Sich sicher machen
Literatur
Über die Autoren
Was ist der Fall, was steckt dahinter, und was heißt das für mein Tun? Auf diese drei Fragen versuchen Fallbesprechungen eine Antwort zu geben. Wie sie dies tun, davon handelt dieses Buch. Ein »Fall« ist dann z. B. Folgendes:
In einer Beratungsstelle eines Trägers der Jugendhilfe möchten in der Teamsitzung zwei Mitarbeiter, eine Frau und ein Mann,1 mithilfe der Kolleginnen verstehen, warum sie bei der Arbeit mit einer Mutter und ihrem elfjährigen Sohn, der ihr gegenüber massiv aggressives Verhalten zeigt, nicht weiterkommen, warum sie sich in einer solchen Sackgasse erleben.
Der Geschäftsführer eines großen sozialen Unternehmens bringt in einer Supervisionsgruppe für Führungskräfte die Frage ein, warum er bisher eine bestimmte Mitarbeiterin nicht für eine anstehende Veränderung in der Organisation gewinnen konnte; er habe doch alles richtig gemacht und jetzt erlebe er diesen Widerstand.
Eine Beraterin ist damit beschäftigt, warum ihre Klientin, eine mittlere Managerin in einem internationalen Konzern, ihre dritte Coachingsitzung zunächst abgesagt und sich dann gar nicht mehr gemeldet hat, und bringt dies in einer Supervisionsgruppe ein.
Wer professionell mit Menschen arbeitet, stößt immer wieder an Grenzen: Die Arbeit entwickelt sich nicht wie erwartet, stagniert oder bricht ab; die Akteure fühlen sich verwickelt, wissen aber nicht wirklich, wie und warum; Gefühle von Ratlosigkeit, Zweifel an der eigenen Kompetenz, Resignation oder Ärger stellen sich ein. Manchmal mag ein Gespräch mit einer Kollegin zwischen Tür und Angel weiterhelfen. Vielleicht hilft ein Buch über Ablöseprozesse bei Scheidungskindern, die nächste Fortbildung über Mitarbeiterführung, eine Studie über Frauen in Führungspositionen oder das abendliche Gespräch mit dem Ehepartner. Ob dabei das zur Sprache kommt, »was der Fall ist«, und brauchbare Ideen entstehen bezüglich dessen, »was dahintersteckt«, bleibt dem Zufall überlassen. Genau darauf zielt eine Fallbesprechung ab: Es wird eine Gesprächssituation geschaffen, in der ein »Fall«, d. h. eine spezifische berufliche Situation in ihrer Besonderheit, besprochen werden kann, damit vor einem erweiterten Verständnis mögliche nächste Schritte und Handlungsoptionen entwickelt werden können.
Entstanden ist die Fallbesprechung in den beruflichen Feldern der Sozialen Arbeit und der Psychotherapie als Hilfe für die Helfer. Im Verlauf ihrer Entwicklung und Professionalisierung rückt in diesen Handlungsfeldern die helfende Beziehung selber in die Aufmerksamkeit. Es entsteht eine Beziehungsdiagnostik, die nicht nur auf die Lebenslage der Hilfesuchenden schaut, sondern zugleich die Bedingungen der Hilfe berücksichtigt, ihre institutionelle und organisatorische Rahmung und die konkrete Beziehung zwischen den Professionellen und den Adressaten der Hilfe. Fallbesprechungen sind der Ort, an dem all dies reflektiert werden kann. Begrifflich zu unterscheiden ist die Fallbesprechung von der (Einzel-)Fallarbeit als einem spezifischen Instrument der Sozialen Arbeit.
Parallel zur Professionalisierung der helfenden Berufe dringt seit den 1930er-Jahren psychosoziales Wissens auch in andere berufliche Felder vor. Die anfangs genannte Führungskraft muss sich z. B. Gedanken machen, warum die Vermittlung einer organisatorischen Veränderung an eine Mitarbeiterin nicht gelingt, es reicht nicht, sie einfach anzuordnen. In Zeiten schneller Veränderung müssen die Arbeitsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, in Teams und Projektgruppen immer wieder neu gestaltet werden. Auch außerhalb der Sozialen Arbeit etablieren sich damit verschiedene Formen der Fallbesprechung.
Konzeptionell wollen wir das Spezifische von Fallbesprechungen gegenüber anderen Formen der Beratung oder beruflichen Qualifizierung anhand von fünf Kriterien beschreiben. Sie müssen erfüllt sein, damit in unserem Sinne von einem Fall und einer Fallbesprechung gesprochen werden kann.
Wir haben es immer mit dem Fall einer konkreten Person zu tun, die den Fall zu einem solchen macht. Die jeweilige Geschichte – die Erzählung und Darstellung eines Falles – kann nur in Zusammenhang mit dem Erzählenden gehört und verstanden werden. Professionelle Helfer und Berater und Führungskräfte unterschiedlichster Art wählen aus einer Vielzahl von Personen und Situationen eine besondere aus und bestimmen damit, welchen Ausschnitt ihres beruflichen Handelns sie zum Gegenstand einer Beratung machen wollen. Bei ihrer Darstellung handelt es sich um eine subjektive Beschreibung aus der jeweiligen Perspektive der Erzählenden. Damit wird die Frage hinfällig, ob das Erzählte stimmt oder nicht, »richtig« oder »falsch« sei. Der Fall existiert nicht auf objektive Weise, unabhängig vom Erzähler, sondern nur in Zusammenhang mit ihm. Die Erzählenden gehören zum Fall und müssen beim Versuch, ihn zu verstehen, mit einbezogen werden.
Fallbesprechungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Falleinbringenden Teil der Situation sind, von der sie erzählen. Sie können dabei unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten einnehmen, sei es als Leiterin oder Berater, sei es als Teammitglied, Kollegin, Teilnehmer. Auch können mehrere Personen an einem Fall beteiligt sein. Dann stehen mehrere Erzählungen nebeneinander, die sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Es reicht jedoch nicht, wenn die Erzählenden nur Beobachter oder unbeteiligte Augenzeugen waren, über Dritte davon gehört oder davon gelesen haben. Die Erzählenden müssen selbst dabei gewesen sein und über eigenes Erleben und eigene Eindrücke verfügen.
Es bedeutet einen grundlegenden Unterschied, ob man sich bei der Untersuchung sozialer Situationen vom Allgemeinen zum Besonderen oder vom Besonderen zum Allgemeinen bewegt. Schaut man zuerst auf das Allgemeine, so geht es um Klassifizierungen oder Typen von Personen. Bei den Beispielen könnte man folgende Fragen stellen: Wie gehen Vorgesetzte mit dem Veränderungswiderstand von Mitarbeiterinnen um? Wie können sich Eltern gegen gewalttätiges Verhalten ihrer Kinder wehren? Was kann zum Abbruch von Beratungsbeziehungen führen? Eine Fallgeschichte in unserem Sinne beschreibt im Unterschied dazu einen Einzelfall mit konkreten Personen in einer konkreten Situation. Das Besondere und Einzigartige dieser Situation soll untersucht und verstanden werden: Der Geschäftsführer fragt nach dem Umgang mit dieser spezifischen Mitarbeiterin bei der anstehenden Veränderung; das Team der Jugendhilfe fragt nach einer bestimmten Familie; die Beraterin würde gerne die Situation mit ihrer Klientin besser verstehen. Wer, wie in diesen Beispielen, personenbezogene soziale Dienstleistungen erbringt, also professionell als Lehrer, Pädagogin, Therapeut, Führungskraft, Supervisorin arbeitet, hat es immer mit Individuen und Gruppen mit ihrer jeweiligen Geschichte und speziellen Dynamik zu tun. Sie gilt es zu verstehen und zu gestalten. Zwar greifen Professionelle dafür auf ihre jeweiligen Wissensbestände zurück, ihre Professionalität liegt aber gerade darin, ihr Wissen falladäquat umsetzen zu können und die Kluft zwischen Theorie und Praxis immer wieder neu zu überbrücken. Fallbesprechungen sind von zentraler Bedeutung dafür, diese professionelle Fertigkeit zu erwerben, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.
Fälle werden nicht ohne eine Absicht erzählt. In der Arbeitswelt können viele Motive hinter den Erzählungen über berufliche Situationen stehen: die Darstellung der eigenen Leistung und der eigenen Erfolge; das Weitergeben wichtiger Erfahrungen an neue oder unerfahrene Kolleginnen und Mitarbeiter; die Fallübergabe an Kollegen, die einen vertreten oder den Fall übernehmen. Zu einer Fallbesprechung in unserem Sinne wird die Erzählung eines Falles erst durch eine Frage. Die Führungskraft will z. B. herausfinden, ob die Situation für ihn unlösbar ist; die beiden Mitglieder des Jugendhilfeteams wollen verstehen, warum ihre Arbeit mit der Mutter und ihrem Sohn bisher so wenig bewirkt hat, um daraus alternative Vorgehensweisen abzuleiten; die Beraterin möchte klären, was sie selbst dazu beigetragen hat, dass ihre Klientin nicht mehr kommt. Die Frage ist die Einladung an die Zuhörenden, an der Klärung einer Problemsituation mitzuwirken. Die Frage bezeugt, dass die Situation, mag sie auch lange zurückliegen oder schon abgeschlossen sein, die Erzählenden beschäftigt. Wer keine Frage zum eigenen Fall einbringen kann, hat häufig auch keinen Beratungsbedarf, sondern andere Motive, von dem Fall zu erzählen. Die Fragen zum Fall können sich aber im Verlauf der Fallbesprechung verändern. Damit ist sogar zu rechnen. Eine gute Fallbesprechung kann auch darauf hinauslaufen, dass die Falleinbringerin am Ende die Frage formulieren kann, die es zu stellen lohnt.
Die Fallerzählung hat nicht nur eine soziale Situation zum Gegenstand, sie ist selber eine. Fallbesprechungen finden auch in vielen dyadischen Beratungsformaten mit nur einem Gegenüber statt. Die bevorzugte Form, um die es in diesem Buch vor allem geht, ist die mit einer Gruppe als Gegenüber. Die Vielfalt von Wahrnehmungen und Beschreibungen und die daraus entstehende Multiperspektivität macht sie als Resonanzraum für Fallbesprechungen besonders gut geeignet. Für die Bearbeitung komplexer Probleme und Fragestellungen braucht es eine angemessene Komplexität des beratenden Systems. In einer Gruppe gibt es zudem bei jeder Interaktion immer die Position einer Dritten, die diese Interaktion beobachten und kommentieren kann, um so die Wahrscheinlichkeit von Reflexivität zu erhöhen. Doch so oder so, in der Dyade wie in der Gruppe kann eine Fallbesprechung nur dann professionell gelingen, wenn der Kontext, in dem sie stattfindet, mitgedacht wird. D. h., eine Fallbesprechung muss beides in den Blick nehmen: den erzählten Fall und die Situation bzw. die Beziehungskonstellation, in der die Erzählung stattfindet. Die Tradition der Fallbesprechung, in die wir uns stellen, versteht dies nicht als notwendiges Übel. Gerade das Auftauchen bzw. die Spiegelung der Falldynamik in der fallbesprechenden Gruppe kann zu einem vertieften Verstehen führen. Wie dies in einer Gruppe geschieht, gesteuert und gestaltet werden kann, davon handelt dieses Buch.
Fallbesprechungen finden in unterschiedlichen Kontexten und Formen statt: als kollegiale Beratung, als Gruppensupervision, als Praxisanleitung für neue oder auszubildende Mitarbeiter, als Fallkonsultation im Gesundheitsbereich etc. In unserem Buch schreiben wir über Fallbesprechungen aus unserer Perspektive als Supervisoren, die für »Beziehungsarbeiter« in den verschiedenen Feldern helfender und erziehender Berufe, für Führungskräfte, Projektleiter, Personalverantwortliche etc. und im Zusammenhang mit der Aus- und Fortbildung von Beraterinnen, Gruppendynamikern und Supervisorinnen über lange Jahre Fallbesprechungen geleitet haben.
Die Begriffe »Fallbesprechung« und »Fallsupervision« liegen eng beieinander. Ersterer betont eher die Feldkompetenz, letzterer die supervisorische Kompetenz für die Dynamik der Besprechungssituation selber. Wir verwenden die Begriffe weitgehend synonym, aber eben unter einer spezifischen Voraussetzung. Zentral für unser Verständnis von Fallbesprechungen in Gruppen ist, dass der Fall aus dem »Dort und Damals« im »Hier und Jetzt« der Gruppe besprochen wird und daher auf die Gruppe und den Fall geachtet werden muss. Wollen Fallbesprechungsgruppen beiden Perspektiven gerecht werden, benötigen sie nach unserer Einschätzung eine professionelle Leitung. Alles andere wäre eine Überforderung. Es geht uns im Folgenden darum, das Spezifische dieser Arbeitsform zu beschreiben.
Wir haben vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen dieses Buch sowohl für Menschen geschrieben, die als Mitglieder an solchen Gruppen teilnehmen, wie für diejenigen, die Fallbesprechungen leiten oder die dies erlernen wollen, also für Supervisorinnen, für Coachs und für erfahrene Fachkräfte, die z. B. als Praxisanleiterinnen Fallbesprechungen durchführen. Das Verständnis für Leitungsaufgaben und -funktionen ist für alle wichtig, Mitglieder wie Leitung.
Es ist uns ein besonderes Anliegen, eng an der Praxis entlang zu schreiben. Wir wollen beschreiben, was in Fallbesprechungen geschieht – und nicht in erster Linie das, was dort geschehen sollte. Unser Ausgangspunkt ist kein normatives Modell, sondern – wie bei einer guten Fallbesprechung auch – die erlebte Praxis. An konkreten Beispielen soll erläutert werden, wie wir Fallarbeit verstehen und wie man sie gestalten kann. Neben vielen kleineren Fallvignetten im gesamten Text präsentiert daher Kapitel 7 eine Fallbesprechung in einem Team, die mit Tonband aufgenommen und transkribiert wurde. Die Interpretation dieses Materials macht deutlich, wie komplex bei näherem Hinsehen das Geschehen sein kann. Unser Text versucht, Schritt für Schritt auf diese Vielschichtigkeit hinzuführen. Eng an der Praxis entlang zu schreiben ist durchaus konzeptionell voraussetzungsvoll, man braucht ein Konzept für Fallbesprechungsarbeit, um diese Praxis überhaupt untersuchen und beschreiben zu können. In unserem Fall ist dies die Triade von Gruppendynamik, systemischen Ansätzen und qualitativer Sozialforschung.
Das Buch ist in einer Form aufgebaut, die es sinnvoll macht, von vorne nach hinten lesen. Wir beginnen mit den historischen und konzeptionellen Wurzeln von Fallbesprechungen und lassen Überlegungen zur Struktur der Beratungssituation folgen, um uns dann den praktischen Erfordernissen und Phänomenen zuzuwenden. Wen einzelne Themen und Fragen interessieren, der schaue bitte in das ausführliche Inhaltsverzeichnis, das dafür die Stichworte bereitstellt.
Zentral für Fallbesprechungen ist die Entwicklung einer forschenden Haltung dem Fall gegenüber; Fallbesprechungen leben von der Neugierde und der Entdeckungslust der Teilnehmenden und ihrer Bereitschaft, sich selber als Teil des Untersuchungsgegenstandes zu verstehen. Eine gute Fallbearbeitung, bei der ein neues, überraschendes Bild der Situation und der eigenen Handlungsmöglichkeiten entsteht, kann dann wie ein kleines Kunstwerk sein, das man beglückt mit in die Praxis hinübernimmt. Fallbesprechungen sind selten langweilig, wenn sich Teilnehmer und Leiter auf eine Forschungsexpedition einlassen, bei der sie einen neuen Kosmos sozialer Realität kennen- und verstehen lernen. Gleichzeitig geht es darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass alle Ergebnisse von Fallbesprechungen vorläufig sind. Es bleibt der Autonomie der Praxis vorbehalten – Klienten wie ihren Helfern, Kunden wie ihren Beraterinnen –, über das Gelingen einer Fallbesprechung zu entscheiden.
Wir danken unseren Kolleginnen Cornelia Edding, Irmengard Hegnauer Schattenhofer und Tomke König für die Kommentare und die fachlichen Diskussionen. Ein Dank gilt auch unseren Erstlesern Ruth Back und Jörg Zimmermann, deren Ideen und Kommentare zu mehr Übersichtlichkeit und Verständlichkeit beigetragen haben.
Oliver König & Karl Schattenhofer
Köln/München, im Juni 2016/März 2021
1Um die Lesbarkeit zu erhalten, aber gleichzeitig im Hinblick auf Geschlecht sprachsensibel zu sein, haben wir uns entschieden, die männliche und weibliche Form jeweils abwechselnd zu verwenden, außer wenn explizit von Männern oder Frauen die Rede ist.
In Adrian Gärtners historischer Darstellung zur Gruppensupervision (1999, S. 21 ff.) wird eine Arbeit von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, als eine Vorform der Fallbesprechung aufgeführt. In der Analyse des kleinen Hans leitet Freud dessen Vater, einen ärztlichen Kollegen, bei der Therapie der Ängste seines Sohnes an. Er lässt sich vom Vater Verhalten und Reaktionen des Sohnes schildern und gibt ihm dann Hinweise für den weiteren Umgang mit dem Sohn. Sicherlich könnte man dies auch als eine frühe Form der Familientherapie mit Vater und Sohn verstehen. Doch »diese merkwürdige Konstellation« gewinnt ihre Bedeutung dadurch,
»dass Freud die therapeutische Zweipersonenbeziehung um ein Verfahren der indirekten Analyse erweitert hat, das dem Modell der Supervisionsbeziehung bereits weitgehend entspricht« (ebd., S. 21).