Das hier sind Geschichten von Lügnern, Phantomen, bewaffneten Straßenräubern und jungen Liebenden, die es nicht so richtig hinbekommen, die niemand Papa nennt, Chef oder Schatz und die in einem Land leben, das politisch einfach keine Ruhe findet – jede dieser Geschichten ein Ferngespräch mit der Vergangenheit und eine Suche nach der Zeit, als Ängste wie Träume maßlos und unbegründet waren.
»Stories wie Dynamit! Seltsam, klug und auf brillante Weise ehrlich.« JUNOT DÍAZ
»Satz für Satz ein riesiges Vergnügen.« THE NEW YORK TIMES
»Wenn ich an Zambra denke, freue ich mich einfach für die Zukunft der Literatur.« THE GUARDIAN
ALEJANDRO ZAMBRA, geboren 1975 in Santiago de Chile, gilt als einer der wichtigsten Autoren seiner Generation. Er ist für seine Lyrik, Essays und sechs Romane mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet worden. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt BONSAI (2015).
SUSANNE LANGE lebt als Übersetzerin (Cernuda, Lorca, Prieto, Rulfo, Marías) bei Barcelona. Bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, erhielt sie für ihre Neuübersetzung des Don Quijote allerhöchste Anerkennung.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
Mis Documentos bei Anagrama, Barcelona.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde durch Litprom e. V. mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017.
© 2014 Alejandro Zambra.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-518-75100-8
www.suhrkamp.de
Alejandro Zambra
Ferngespräch
Aus dem Spanischen von
Susanne Lange
Suhrkamp Verlag
INHALT
I
Eigene Dokumente
II
Camilo
Ferngespräch
Wahr oder falsch
Erinnerungen eines Personal Computers
III
Instituto Nacional
Ich rauchte hervorragend
IV
Danke
Der chilenischste Mann der Welt
Familienleben
Gedächtnisübung
I
EIGENE DOKUMENTE
für Natalia García
1
Einen Computer habe ich zum ersten Mal um 1980 gesehen, mit vier oder fünf Jahren, aber es ist eine verschwommene Erinnerung, womöglich vermische ich sie mit späteren Besuchen im Büro meines Vaters in der Calle Agustinas. Ich erinnere mich an meinen Vater, die unvermeidliche Zigarette in der Rechten, die schwarzen Augen auf meine gerichtet, wie er mir die Funktionsweise dieser riesigen Maschinen erklärt. Er erwartete Verblüffung, und ich täuschte Interesse vor, ging aber bei der nächstbesten Gelegenheit zum Spielen zu Loreto, einer Sekretärin mit langem Haar und schmalen Lippen, die sich meinen Namen nicht merken konnte.
Loretos elektrische Schreibmaschine war für mich dagegen ein Wunderwerk mit ihrem winzigen Bildschirm, auf dem sich die Wörter stauten, bis eine blitzschnelle Garbe sie aufs Papier nagelte. Der Mechanismus mochte dem eines Computers ähneln, aber dieser Gedanke kam mir nicht. Jedenfalls gefiel mir die Maschine besser, eine herkömmliche Olivetti in Schwarz, die ich gut kannte, weil zu Hause genau so eine stand. Meine Mutter hatte Programmieren studiert, war aber bald von den Computern abgekommen und bei dieser bescheideneren Technologie geblieben, die immer noch aktuell war, der Computer würde erst viel später zur Massenware werden.
Meine Mutter benützte die Schreibmaschine nicht für bezahlte Arbeiten, sie tippte die Lieder, Erzählungen und Gedichte meiner Großmutter ab, die ständig an Wettbewerben teilnahm oder an einem Projekt feilte, das sie endlich aus der Anonymität reißen sollte. Ich erinnere mich, wie meine Mutter am Esstisch saß, behutsam das Durchschlagpapier einspannte und Fehler sorgfältig mit Tipp-Ex korrigierte. Sie schrieb sehr schnell, mit allen Fingern, ohne auf die Tasten zu sehen.
Vielleicht kann ich es so ausdrücken: Mein Vater war ein Computer, meine Mutter eine Schreibmaschine.
2
Schnell lernte ich, meinen Namen zu tippen, ahmte auf der Tastatur aber lieber die Trommelwirbel der Märsche nach. Zur Militärkapelle zu gehören war für uns die höchste aller Auszeichnungen. Jeder wollte hinein, ich auch. Vormittags hörten wir in der Schule das ferne Dröhnen der Trommeln und Pfeifen, das Schnauben von Trompete und Posaune, die wundersam klaren Noten von Triangel und Glockenspiel. Die Kapelle probte zwei, drei Mal die Woche. Beeindruckt sah ich ihnen nach, wie sie in Richtung einer Koppel verschwanden, die an die Schule grenzte. Imponierend war vor allem der Tambourmajor, der nur bei wichtigen Anlässen zum Einsatz kam, weil er ein Ehemaliger der Schule war. Er führte den Tambourstab mit bewundernswertem Geschick, obwohl er einäugig war – er besaß ein Glasauge, und die Legende besagte, er habe es bei einem bösen Schlenker mit dem Stab verloren.
Im Dezember pilgerten wir immer zur Votivkirche. Von der Schule aus war es ein endloser Fußmarsch, zwei Stunden lang, allen voran die Kapelle, dann wir in absteigender Ordnung, vom Zusatzjahr der Oberstufe (wir waren ein technisches Gymnasium) bis zur ersten Klasse. Die Leute winkten aus den Fenstern, Frauen schenkten uns Orangen, damit wir nicht schlappmachten. Meine Mutter tauchte in Abständen am Wegrand auf. Sie parkte, suchte mich am Ende des Zugs, kehrte zum Auto zurück, hörte Musik, rauchte eine Zigarette, fuhr wieder ein Stück, um uns weiter vorne abzupassen und mich von neuem zu grüßen mit ihrem langen, glänzenden hellbraunen Haar, die schönste Mutter der Klasse, kein Zweifel, was mich eher in Bedrängnis brachte, denn einige Mitschüler stichelten, sie sei eine viel zu hübsche Mutter für einen so hässlichen Kerl wie mich.
Auch Dante kam, um mir zu winken, grölte dabei meinen Namen und blamierte mich vor den Klassenkameraden, die sich über ihn lustig machten und über mich auch. Dante war ein autistischer Junge, viel älter als ich, fünfzehn oder sechzehn vielleicht. Er war sehr groß, ein Meter neunzig, und wog über hundert Kilo, was er eine Zeitlang überall an den Mann bringen musste, und zwar immer exakt: »Hallo, ich wiege 103 Kilo.«
Dante streifte den ganzen Tag im Ort umher und versuchte, jedem einzelnen der Kinder die richtigen Eltern, Geschwister und Freunde zuzuordnen, was in einer Welt, in der Schweigen und Misstrauen vorherrschten, bestimmt nicht einfach war. Er verfolgte seine Gesprächspartner, die dann schneller ausschritten, aber er beschleunigte auch, bis er sie überholt hatte, ging rückwärts weiter und wiegte streng den Kopf, wenn er etwas begriff. Er lebte allein bei einer Tante, die Eltern hatten ihn anscheinend im Stich gelassen, aber davon sprach er nie; wenn man ihn nach seinen Eltern fragte, machte er ein verblüfftes Gesicht.
3
Abgesehen von den Märschen in der Schule hörte ich auch nachmittags zu Hause kriegerische Klänge, denn wir wohnten hinter dem Santiago-Bueras-Stadion, wo die Kinder anderer Schulen probten und ständig, vielleicht monatlich, die Militärkapellen gegeneinander antraten. So hörte ich tagaus, tagein Märsche, gewissermaßen die Musik meiner Kindheit. Aber nur zum Teil, denn die Musik hatte in meiner Familie schon immer eine wichtige Rolle gespielt.
Meine Großmutter war in ihrer Jugend Opernsängerin gewesen und sah es als ihre größte Enttäuschung an, dass sie nicht hatte weitersingen können, da beim Erdbeben von 1939, sie war damals einundzwanzig gewesen, ein Riss durch ihr Leben gegangen war. Ich weiß nicht, wie oft sie uns erzählte, wie sie Erde geschluckt und, wieder bei Bewusstsein, ihre Stadt Chillán Viejo zerstört vorgefunden hatte. Die Liste der Toten schloss ihren Vater, ihre Mutter und zwei ihrer drei Geschwister mit ein. Das dritte hatte sie aus den Trümmern befreit.
Meine Eltern erzählten uns niemals Geschichten, sie jedoch schon. Ihre fröhlichen Geschichten gingen böse aus, denn die Figuren starben unweigerlich beim Erdbeben. Aber sie erzählte uns auch tieftraurige Geschichten, die gut ausgingen und für sie Literatur waren. Manchmal weinte meine Großmutter am Ende, und meine Schwester und ich schliefen über ihren Schluchzern ein oder schliefen eben nicht, und manchmal amüsierte sie selbst in den dramatischsten Momenten der Geschichte irgendein Detail, und sie brach in ein ansteckendes Lachen aus, und auch dann schliefen wir nicht.
Die Sätze meiner Großmutter hatten von jeher einen doppelten Boden oder eine schlagfertige Pointe, die sie selbst vorzeitig feierte. Sie sagte »Herr Hintern« statt »hinterher«, und wenn jemand fand, es sei kalt, entgegnete sie »vor allem ist es nicht warm«. Sie sagte auch »man muss die Kämpfe kämpfen, wie sie fallen«, und sie gab oft zurück »weder noch, wie der Fisch sagte« oder »wie der Fisch sagte« oder bloß »Fisch«, die Kurzversion des folgenden Satzes: »Weder noch, wie der Fisch sagte, als man ihn fragte, ob er lieber in den Ofen oder in die Pfanne wolle.«
4
Die Messe wurde in der Turnhalle einer Nonnenschule abgehalten, der Mater Purissima, aber immer war von der Pfarrkirche, die gerade errichtet wurde, die Rede wie von einem Traum. So lange ließen sie sich Zeit damit, dass ich bei ihrer Fertigstellung nicht mehr an Gott glaubte.
Zunächst ging ich mit meinen Eltern hin, später dann allein, weil sie zur Messe einer anderen Nonnenschule, der Ursulinerinnen, wechselten, die näher war und nur vierzig Minuten dauerte, denn der Pfarrer dort – ein winziger, kahl geschorener Mann mit einem Motorroller – spulte die Predigt mit sympathischer Geringschätzung ab, ja machte oft die Geste des Und-so-fort. Ich mochte ihn, zog aber den Pfarrer der Mater Purissima vor, einen Mann mit verwickeltem, unbezähmbarem Bart von makellosem Weiß, der sprach, als wollte er uns herausfordern, aufstacheln, mit dieser energischen und trügerischen Liebenswürdigkeit der Pfarrer und mit zahlreichen dramatischen Pausen. Ich kannte natürlich auch die Pfarrer meiner Schule wie Pater Limonta, den Direktor, einen äußerst athletischen Italiener – er war in seiner Jugend angeblich Turner gewesen –, der mit seinem Schlüsselbund Kopfnüsse verteilte, damit wir stramm in einer Reihe standen, ansonsten aber umgänglich, fast väterlich war. Seine Predigten fand ich jedoch ärgerlich und unangemessen, vielleicht war er zu pädagogisch, zu wenig ernst.
Mir gefiel die Sprache der Messe, aber ich verstand sie nicht richtig. Wenn der Pfarrer sagte »gehe hin und sieh, ob’s wohl stehe«, hörte ich »Gehen Unsinn obwohl Stehen« und zerbrach mir den Kopf über diesen paradoxen Stillstand. Den Satz »ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehest« sagte ich einmal zu meiner Großmutter, als ich ihr die Tür öffnete, und später zu meinem Vater, der mir sogleich mit einem sanften, strengen Lächeln entgegnete: »Danke, aber dieses Dach ist meines.«
In der Mater Purissima gab es einen Kirchenchor für sechs Stimmen und zwei Gitarren, der eine führende Rolle spielte, weil sogar die »danket dem Herrn« und die »großer Gott, wir loben dich«, selbst die »Herr, wir bitten dich, erhöre uns« gesungen wurden. Mein Ehrgeiz war es, in diesen Chor aufgenommen zu werden. Ich war noch nicht einmal acht, spielte aber schon relativ gut eine kleine Gitarre bei uns im Haus, schlug die Saiten mit Rhythmusgefühl, beherrschte Arpeggios, und obwohl mich beim Barré-Griff ein nervöses Zittern überkam, erreichte ich doch einen fast runden Ton, nur eine Spur unsauber. Sagen wir, ich hielt mich für gut oder für gut genug, eines Morgens nach der Messe, die Gitarre in der Hand, den Chor anzusprechen. Sie musterten mich abschätzig, wahrscheinlich war ich ihnen zu klein, oder sie waren eine verschworene Mafia, aber weder wiesen sie mich ab noch nahmen sie mich auf. »Erst müssen wir etwas von dir hören«, sagte mir verächtlich eine dunkelblonde Frau mit Ringen unter den Augen, die eine riesige Gitarre spielte. Wie wäre es jetzt gleich, schlug ich vor, ich hatte ein paar Lieder eingeübt, darunter das Vaterunser zur Melodie von »The Sound of Silence«, aber sie wollte nicht. »Nächsten Monat«, sagte sie.
5
Meine Mutter hatte in ihrer Jugend begeistert die Beatles gehört, daneben eine bunte Mischung chilenischer Volksmusik, war dann zu den Hits von Adamo, Sandro, Raphael und José Luis Rodríguez abgedriftet, die musikalische Kost, die man Anfang der Achtziger serviert bekam. Sie hatte nicht mehr nach Neuem – nach für sie Neuem – gesucht, bis sie auf die Platte des Konzerts stieß, das Paul Simon und Art Garfunkel im Central Park wieder vereint hatte. Von da an nahm ihr Leben eine andere Richtung. Beängstigend schnell füllte sich das Haus mit Platten, die schwer zu bekommen waren, und sie griff wieder zu ihren Englischlektionen, vielleicht nur, um die Texte zu verstehen.
Ich sehe sie vor mir, wie sie dem BBC-Kurs lauschte – aberdutzende Kassetten in einem Schuber – oder dem anderen Kurs im Regal, The Three Way Method to English: zwei Schachteln, eine rot, die andere grün, jede von ihnen mit einem Heft, einem Buch und drei Langspielplatten. Ich setzte mich neben sie und hörte zerstreut den Stimmen zu. Einige Fragmente habe ich noch in Erinnerung, etwa wenn der Mann sagte »These are my eyes« und die Frau antwortete »Those are your eyes«. Der Höhepunkt war, wenn die männliche Stimme fragte »Is this the pencil?« und die Frau antwortete »No, this is not the pencil, but the pen« und der Mann dann fragte »Is this the pen?« und sie antwortete »No, this is not the pen, but the pencil«.
Fast scheint mir, dass jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, im Wohnzimmer ein Song von Simon & Garfunkel lief oder von Paul Simon solo. Als 1986 Graceland herauskam, war meine Mutter zweifellos Simons glühendste Anhängerin in Chile, wusste über das Leben des Sängers Bescheid, etwa über seine gescheiterte Ehe mit Carrie Fisher oder seinen Cameo-Auftritt im Stadtneurotiker. Mein Vater wunderte sich, dass seine Frau auf einmal so fanatisch dieser Musik anhing, die ihm, der damals ausschließlich argentinischen Zamba hörte, nicht gefiel. »Ich brauche ein Zimmer für mich allein«, hörte ich meine Mutter eines Abends unter Tränen nach einem Streit sagen, der entbrannt war, weil sie Poster und Fotos im ehelichen Schlafzimmer aufgehängt hatte, zur wenig erstaunlichen Empörung meines Vaters, der sich am Ende dennoch mit dem Aufgebot fremder Männer über dem Ehebett abfinden musste.
6
Im Frühling, ja bis in den Sommer hinein gingen wir an den Wochenenden mit Onkel, Tante und Cousins auf den Cerro 15, um Drachen steigen zu lassen. Alles lief höchst fachmännisch ab. Mein Vater spannte die Schnur nun schon nicht mehr zwischen den Bäumen auf, um sie mit zerstoßenem Glas zu präparieren, sondern hatte sich eine Art Trommelrad mit Motor besorgt und präparierte sie zu Hause mittels eines komplizierten Mechanismus. Er baute auch seine eigenen Drachen. Bestimmt löste er damals die kompliziertesten Computerprobleme, aber das Bild meines arbeitenden Vaters bringe ich nur mit diesen Abenden zusammen, an denen er sich bemühte, den perfekten Drachen herzustellen.
Ich ließ nicht ungern Drachen steigen, tat es aber lieber mit unpräparierter Schnur, denn ich konnte einfach nicht lenken, ohne mir dabei die Fingerkuppen zu ruinieren, so schwielig sie vom Gitarrenspiel sein mochten. Aber es musste unbedingt eine präparierte Schnur sein, darum ging es: den Drachen fest am Himmel platzieren und sich dem Gegner stellen. Während mein Cousin Rodrigo immer kräftig sägte und jeden Nachmittag Dutzende von Drachen zu Boden schickte, konnte ich meinen nur mühsam in der Luft halten und verlor ständig die Kontrolle. Zwar versuchte ich es, doch bald schon setzte niemand mehr Hoffnungen in mich.
Wir hatten immer eine Kiste mit vielen herrlichen Drachen dabei, die Fabrikate meines Vaters und andere, die er bei einem Freund kaufte, der sich darauf spezialisiert hatte. Ich postierte mich immer möglichst weit weg von meiner Familie. Anstatt den Drachen steigen zu lassen, trug ich ihn samt Spule manchmal nur und legte mich zwei Stunden ins Gras, rauchte meine ersten Zigaretten und verfolgte die launischen Bahnen der gekappten Drachen am Himmel. »Was willst du für den Drachen«, fragte mich eines Nachmittags jemand. Es war Mauricio, der Ministrant. Ich verkaufte ihn und verkaufte bald noch andere an seinen Bruder und die Freunde seines Bruders.
Mauricio war so sommersprossig, dass es schon zum Lachen war, aber ohne sein weißes Chorhemd hatte ich ihn kaum erkannt. In meiner dumpfen Ahnungslosigkeit hatte ich die Ministranten für blutjunge Priester gehalten, die in Klausur lebten, oder etwas dergleichen. Er klärte meinen Irrtum auf und sagte, er werde lieber Akolyth als Ministrant genannt. Er lud mich ein, bei der Messe zu helfen, der andere Akolyth werde aufhören. Er fragte, ob ich schon die Erstkommunion empfangen habe, und ich weiß nicht, warum ich bejahte, denn es stimmte ganz und gar nicht, ich bereitete mich in der Schule gerade erst darauf vor. Mir war und ist noch immer nicht klar, ob das Voraussetzung für den Messdienst ist, aber für den Fall der Fälle, wie so oft in meinem Leben, log ich instinktiv. Ich sagte, ich wolle es mir überlegen, sei mir aber nicht sicher. Als ich zu Vater und Onkeln zurückkehrte, hatten sie mein Geschäft mit den Drachen entdeckt, doch keiner schimpfte mit mir.
7
Ich wartete noch immer, dass ich bei der Frau mit den Augenringen vorspielen durfte, aber jedes Mal, wenn ich danach fragte, wich sie aus. Um sie zu beeindrucken, das weiß ich noch, sagte ich, das Vaterunser sei in der englischen Fassung besser. »Die kann unmöglich besser sein als das Wort unseres Herrn Jesus Christus«, entgegnete sie. Aber die Neugier musste sie gepackt haben, denn im Gehen fragte sie, ob ich wisse, wovon der englische Text handele. »Von den Klängen des Schweigens«, sagte ich felsenfest überzeugt.
Des Wartens müde, ging ich ein, zwei Wochen nach der Begegnung auf dem Cerro 15 mit Mauricio zum Pfarrer, ich wolle Akolyth werden. Der Pfarrer musterte mich misstrauisch von Kopf bis Fuß, bevor er einwilligte. Ich war glücklich. Zwar würde ich nicht in der Messe singen, aber eine noch wichtigere Rolle übernehmen, würde zwar nicht die weißen Hosen der Militärkapelle tragen, aber dafür das weiße Chorhemd mit der steifen Kordel als Gürtel. Die Kleidung wollte mir Mauricio leihen, zu Hause erzählte ich nicht einmal, dass ich Ministrant sein würde, ich weiß nicht warum, vielleicht wollte ich einfach nicht, dass sie mich sehen kamen.
8
Als ich das erste Mal bei der Messe half, warf ich anfangs Seitenblicke voll wilder Genugtuung in die Ecke, in der sich die blonde Frau befand, die meinen Triumph aber nicht bemerken wollte. Nur mit Mühe konnte ich mich auf die Rituale konzentrieren, die ich doch achtete und an die ich glaubte, denn im Rampenlicht war mir fast jedes Gefühl, jedes Echo, jeder Nachgeschmack von etwas Unverfälschtem abhandengekommen. Es gab glorreiche Minuten, als wir die Glöckchen läuteten oder dem Pfarrer beim Friedensgruß sekundierten. Doch gleich darauf folgte der schlimmste Moment, als der Pfarrer Mauricio das Abendmahl reichte und ich an der Reihe war – eigentlich hatte ich ihm sagen wollen, ich könne nicht zum Abendmahl, weil ich so lange nicht zur Beichte gegangen sei, hatte es aber vor der Messe vergessen, und nun war es zu spät. Ich versuchte, all das in eine für die Gläubigen hoffentlich unmerkliche Gebärde zu fassen, doch es gelang mir nicht, der Pfarrer stopfte mir die Hostie in den Mund, die mir schmeckte wie aller Welt: fade. Aber in dem Moment war mir der Geschmack egal, ich hatte das Gefühl, auf der Stelle sterben zu müssen, mit einem Blitz gestraft oder dergleichen. Nachher ging ich mit Mauricio und wollte ihm meine Sünde beichten, aber er war froh und beglückwünschte mich ein ums andere Mal zu meinem Mitwirken bei der Messe.
Wir erreichten sein Haus, nicht weit weg von der Mater Purissima. Mauricios älterer Bruder lud mich zum Mittagessen ein, sie waren alleine. Wir aßen Charquicán-Eintopf und hörten Pablo Milanés, von dem ich das Lied »Años« kannte, das ich lustig fand, und ebenso »El breve espacio en que no estás«, das ich sehr mochte. Mit einem Doppeldeck-Recorder hatten sie jedes Lied drei Mal hintereinander auf eine 90er-Kassette aufgenommen, vielleicht auch auf eine 120er (»die sind so gut, dass man sie sofort noch einmal hören möchte«, erklärte mir Mauricio).
Die Brüder sangen beim Essen schauderhaft mit, grölten schamlos, sogar mit vollem Mund, und das gefiel mir. Wenn jemand in Gegenwart meiner Großmutter falsch sang, sagte sie wie für sich, aber laut genug, dass alle sie hören konnten, Sätze wie »ich merke schon, dass wir nicht in der Oper sind« oder »da ist aber jemand mit dem falschen Ton aufgestanden« oder »der Sopran singt wohl mit dem Schnurrbart«. Aber meine Großmutter war nicht da, um die Brüder zu bremsen, die ungehindert und ungeniert drauflos sangen, in tief empfundenem Einverständnis. Man merkte, dass sie diese Lieder unendlich oft gesungen hatten, dass diese Musik ihnen ungeheuer wichtig war.
Während wir unser Cassata-Eis löffelten, stutzte ich beim Text von »Acto de fe« – »ich glaube an dich / glaube immer weiter / je mehr da fühlt und leidet«. Die letzte Zeile verblüffte mich. Es war ein Liebeslied, endete jedoch mit dem Wort revolución. Die Brüder sangen aus voller Brust: »Ich glaube an dich / Revolution.«
Obwohl ich ein Kind war, das Freude an den Wörtern hatte, hörte ich damals mit acht, oder vielleicht war ich schon neun geworden, zum ersten Mal das Wort Revolution. Ich fragte Mauricio, ob das ein Name sei, denn ich dachte, so heiße womöglich die geliebte Frau, Revolución González, Revolución Arratia. Sie lachten und sahen mich nachsichtig an. »Das ist kein Name«, erklärte mir Mauricios Bruder. »Weißt du wirklich nicht, was das Wort Revolution bedeutet?« Ich sagte, nein. »Dann bist du ein reiner Idiot.«
Es war als Scherz gemeint, so viel begriff ich, vielleicht um des Klanges willen. Anschließend gab mir Mauricios Bruder eine Nachhilfestunde in chilenischer und lateinamerikanischer Geschichte, die ich liebend gern wortwörtlich wiedergeben würde, aber es blieb davon nur das unbehagliche, abgrundtiefe Gefühl der Unwissenheit zurück. Ich wusste nichts von der Welt, rein gar nichts. Der Bruder ging aus, Mauricio und ich sahen in seinem Zimmer fern, schliefen ein oder dösten vor uns hin. Wir fingen an, einander zu befummeln, überall zu berühren, ohne uns zu küssen. Während der Jahre, die unsere Freundschaft dauerte, taten wir es nie wieder, erwähnten es auch nie.
9
Ich kam nach Hause, als es gerade dunkel geworden war. Ganz gegen meine Gewohnheit betete ich diese Nacht lange, ich brauchte Gottes Hilfe. An einem einzigen Tag hatte ich zwei gewaltige Sünden angehäuft, obwohl mir das erschlichene Abendmahl schwerer im Magen lag als die Spielereien mit Mauricio.
Meine Großmutter sah mich vor der Christusfigur im Wohnzimmer knien und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ich fragte, worüber sie lache, und sie sagte, ich solle es nicht übertreiben, ein Vaterunser reiche. Meine Großmutter ging nie in die Kirche, sie sagte, die Pfarrer führten ihre Augen zu gern spazieren, aber sie glaube an Gott. »Gebete aufsagen ist nicht nötig«, erklärte sie mir an dem Abend, »es reicht, wenn man sich vor dem Schlafengehen ganz frei mit Jesus unterhält.« Ich fand das seltsam und beängstigend.
Obwohl ich auf eine katholische Schule ging, verband ich das religiöse Empfinden nicht mit dem, was dort praktiziert wurde. Es widerstrebte mir, wenn wir in der Schule zur Messe gehen mussten, ebenso diese öden Stunden in der Kirche neben dem Hauptgebäude, in denen man uns mit blödsinnigen Fragebögen auf die Erstkommunion vorbereitete, als lernten wir Verkehrsregeln auswendig. Aber schuldbeladen, wie ich war, beschloss ich am nächsten Vormittag mitten in der Pause, dass ich, obwohl ich die Erstkommunion noch nicht empfangen hatte, zur Beichte gehen oder wenigstens mit einem Priester über meine Sünden sprechen musste, und ich machte mich zum Büro von Pfarrer Limonta auf, der in ein Rechnungsbuch vertieft war, vielleicht gerade ein paar Zahlen schönte. Als er aufblickte, sah er mich mit martialischer Strenge an, und ich erstarrte stumm – ich weiß schon, weshalb du kommst, sagte er, und zitternd stellte ich mir vor, dass der Pfarrer irgendeine Eilverbindung zu Gott hatte. Mir wurde fast schwarz vor Augen, schwindlig. »Es geht nicht«, sagte Limonta endlich, »alle Kinder wollen das Gleiche, du bist noch zu klein für die Kapelle.« Erleichtert lief ich zum Unterricht zurück.
Am selben Tag, glaube ich, besuchten die Klassenlehrerin und ein Pfarrer, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, mit uns ein Heim für geistig zurückgebliebene Kinder. Der Ausflug sollte uns vor Augen führen, wie gut wir dran waren, und um der Dramatik willen war er sogar streng durchinszeniert: Die Kinder traten nacheinander auf, damit die Lehrerin ihnen ihre Zuneigung zeigen konnte, die nicht körperlich war, keine Umarmung, nicht einmal eine Berührung – »wir lieben dich, Jonathan«, sagte die Frau, während ein Kind mit verzogenem Mund, verdrehten Augen und Rotzfäden etwas Unverständliches murmelte. Ein Auftritt war schauriger als der andere, und am Ende kam Lucy, eine vierzigjährige Frau, die im Körper eines kleinen Mädchens gefangen war und nur den Kopf wandte, als der Pfarrer ein Glöckchen erklingen ließ. Ich weiß noch, dass mir Dante in den Sinn kam, der verglichen damit normal war, auch wenn man ihn im Ort den Mongolen nannte.
Bis dahin hatte sich meine Vorstellung vom Leid auf Dante und die Kinder der Telethon-Spendengala beschränkt, eine unerschöpfliche Quelle der Ängste und Albträume. Jahr für Jahr sah ich mir mit meiner Schwester die Sendung an, bis wir vor Müdigkeit umsanken, wie fast alle Kinder, und wochenlang stellten wir uns vor, keine Arme oder Beine zu haben.
10
»Nicht der Rede wert«, sagte meine Großmutter nach dem Erdbeben von 1985 und umarmte mich. Die Schule fing ein paar Monate später an, und man verlegte uns in ein Klassenzimmer, das man in aller Schnelle hinter der Turnhalle eingerichtet hatte; dort blieben wir das ganze Jahr über.
Auch der Lehrer war neu. Als Erstes sagte er uns seinen Namen, Juan Luis Morales Rojas, und leise wiederholte er ihn in neutralem Tonfall, zwei, drei, zwanzig Mal – jetzt ihr, verlangte er, alle wiederholen: Juan Luis Morales Rojas, Juan Luis Morales Rojas, Juan Luis Morales Rojas, und wir wiederholten seinen Namen, lauter und lauter, spielten mit den Grenzen des Erlaubten oder versuchten zu begreifen, ob es eine Grenze gab, und bald schon schrien und hüpften wir, während er die Hände wie ein Dirigent oder ein Sänger schwang, der gern das Publikum den Text mitsingen hört. »Jetzt weiß ich, dass ihr meinen Namen nie vergessen werdet«, war sein einziger Kommentar, als wir es müde waren, zu schreien und zu lachen. Ich erinnere mich an keinen glücklicheren Moment in all den Jahren, die ich auf diese Schule ging.
Wochen später, vielleicht auch am selben Tag, erklärte uns Juan Luis Morales Rojas, was Wahlen waren und was der Präsident, der Vizepräsident, der Minister oder Schatzmeister für Aufgaben hatten. In einer der ersten Schülersprechstunden sollten wir eine Liste unserer Probleme zusammenstellen, und zunächst fiel uns nichts ein, aber dann erwähnte jemand, dass wir Viertklässler nicht in die Militärkapelle aufgenommen wurden. Die Idee kam auf, die Namen derer aufzuschreiben, die in der Kapelle mitspielen wollten, damit man mit Pfarrer Limonta darüber sprechen konnte. Ich wollte schon die Hand heben, zögerte aber einen Moment; nein, ich spürte es ganz deutlich, ich wollte nicht mehr zur Kapelle gehören.
11
Ok Computer
1999 gab das Notebook, das mir mein Vater geschenkt hatte, ein schwarzes IBM mit einem kleinen roten Ball im Zentrum der Tastatur, der als Maus diente (die Informatiker nannten ihn »Klitoris«), endgültig seinen Geist auf. Ich erwarb in vielen Ratenzahlungen einen riesigen Olidata. Inzwischen wohnte ich in der Vicuña Mackenna 58 im Souterrain eines großen alten Hauses. Nachts arbeitete ich als Telefonist, nachmittags schrieb ich und sah mir durchs Fenster die Beine und Schuhe der Passanten an. Da ich in diesem Winter weder Ofen noch Wärmflaschen hatte, umklammerte ich während mancher Nächte beim Schlafen das Computergehäuse.
2005 wurde das Präparieren der Drachenschnur verboten, es hatte eine Reihe von Unfällen gegeben, und ein Motorradfahrer war vor einigen Jahren zu Tode gekommen. Aber damals hatte sich mein Vater bereits aufs Fliegenfischen gestürzt.
Im August 2008 starb meine Großmutter. Vor ein paar Tagen sind meine Mutter und ich ihre Erzählungen durchgegangen, die sie inzwischen in den Computer getippt hatte, in der Schrift Comic Sans MS, Schriftgrad 12, doppelter Zeilenabstand. Den Beginn von »Ninette« kenne ich auswendig: »Diese Geschichte handelt von einer Familie mit vornehmem Stammbaum, die von Tag zu Tag stolzer wurde, bis auf das Mädchen, die einzige Tochter, die war lieb und gut.«
Heute ist der 5. Juli 2013. Meine Mutter hat keine Poster mehr im ehelichen Schlafzimmer, interessiert sich aber immer noch für Paul Simon. Heute Morgen haben wir am Telefon über ihn gesprochen, wie wohl sein Leben inzwischen aussehen mag, ob er mit Edie Brickell glücklich ist. Ich sagte, ich sei überzeugt davon, denn auch ich wäre glücklich mit Edie Brickell.
Jetzt ist es Nacht, immer ist es Nacht am Ende eines Textes. Ich lese noch einmal, ändere Sätze, korrigiere Namen. Versuche, mich besser zu erinnern: genauer und besser. Ich schneide aus und füge ein, vergrößere den Schriftgrad, ändere den Font, den Zeilenabstand. Eigentlich will ich diese Datei schließen und für immer im Ordner Eigene Dokumente speichern. Aber ich werde und will sie veröffentlichen, auch wenn sie noch nicht abgeschlossen ist, es niemals sein kann.
Mein Vater war ein Computer, meine Mutter eine Schreibmaschine.
Ich war ein leeres Heft, und jetzt bin ich ein Buch.