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Dana Summer

Kiss me, Devil


Ein besonderer Dank geht an Nina, Sabrina, Silvia und Barbara. Danke für eure Geduld und euer Verständnis. Sei es beim Korrigieren des Textes, beim Cover gestalten, beim Klappentext feilen oder einfach nur fürs Zuhören. Danke Mädels!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

 

Manchmal ist es ein Augenblick, eine Millisekunde, die dein ganzes Leben verändert, und alles, was davor von Bedeutung war, ist plötzlich wie ausgelöscht. So, als ob jemand ein Rädchen in deinem Kopf dreht und alle Grundeinstellungen löscht.

Genauso ergeht es mir an diesem Morgen, als ich nichtsahnend und von Müdigkeit gezeichnet das erste Mal in diese eisblauen Augen sehe. Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Moment und ich bin völlig hypnotisiert, paralysiert von diesem herausfordernden, kalten Ausdruck, der mich regelrecht frösteln lässt. Doch sosehr ich mich auch bemühe, kann ich nicht wegsehen. Es ist ein unheimlicher Drang weiter in diese Augen blicken zu wollen, die eine solche Leuchtkraft haben, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Doch das ist nicht das Einzige, was mich so fasziniert. Nein, es ist die Art, wie dieser Junge mich ansieht, so, als ob er in jeden noch so kleinen Winkel meiner Seele dringen könnte.

 

Schau weg, Leah, ermahne ich mich im Stillen. Zwecklos. Stattdessen wächst der Wunsch in mir, auf ihn zuzugehen, um mich zu vergewissern, dass ich mir diese Leuchtkraft, diese Aura, die er ausstrahlt, nicht nur einbilde. Ich drücke mich von meinem Spind weg, trete einen Schritt nach vorne, nur um gleich darauf von jemandem am Arm gepackt zu werden. „Sag mal, bist du noch ganz dicht?“

Es ist die Stimme meiner Sitznachbarin und - wie ich insgeheim hoffe - bald meiner Freundin.

„Hm?“, fragend gucke ich Kelly an.

„Auch wenn du neu bist, solltest du niemals den Teufel so anstarren. Er ist gefährlich und…“, klärt sie mich auf.

„Wer?“, will ich wissen, hebe meinen Blick, um diesen fremden Jungen weiter anzusehen, nur um enttäuscht festzustellen, dass er weg ist. Verschwunden. Einfach abgehauen.

„Der Typ, den du gerade angestarrt hast… Das ist echt unheimlich.“ Kelly blickt sich sicherheitshalber um und fügt dann leise hinzu: „Du musst dich von ihm fernhalten. Er ist gefährlich, ein Außenseiter und ich denke, dein Vater wäre sicher nicht begeistert, dich mit ihm zu sehen. Das würde ein verdammt schlechtes Licht auf eure Familie und somit auch auf die Jobchancen deines Vaters werfen.

Fragend sehe ich sie an. Was genau versucht sie mir hier gerade zu verklickern? Diese ganze Heimlichtuerei macht mich nur noch neugieriger. In den wenigen Tagen, die ich hier zur Schule gehe, ist mir der „Teufel“, wie Kelly ihn gerade genannt hat, nie aufgefallen.

„Vertrau mir einfach, okay? Halt dich von ihm fern!“ Ihre Stimme ist leise, und doch spricht sie mit solchem Nachdruck, dass mir keine andere Wahl bleibt als zu nicken.

Seit jenem Tag bin ich dem Teufel verfallen. Oder, wie sich später herausstellt, nicht dem Teufel persönlich, sondern Devin! Ein Junge wie kein anderer und somit unerreichbar für mich.

Kapitel 1

10 Jahre später

 

*Leah*

 

Mit meiner neu gekauften Ledermappe unter dem Arm betrete ich Mori`s Coffeeshop. Direkt umfängt mich der Duft von gemahlenen Bohnen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Sofort schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, was nicht alleine mit meiner Sucht nach der braunen Flüssigkeit zu tun hat. Nein, auch weil ich Mori, meine beste Freundin, sehe, wie sie hinter ihrem Tresen steht und gutgelaunt einem Gast einen Pappbecher in die Hand drückt. Flüchtig lasse ich meinen Blick über die Besucher schweifen. Natürlich kein fremdes Gesicht. Was nicht ungewöhnlich ist, denn nur selten verirrt sich jemand in unser kleines Dörfchen Jeroma Hill mit den knapp 800 Einwohnern. Viel haben wir hier auch nicht zu bieten. Obwohl die Gegend wirklich traumhaft schön ist. Jeroma Hill liegt am Rande des Banff National Park, eingebettet zwischen einer wunderschönen Bergkette, kristallklaren Seen und dunklen Wäldern. Vom Highway aus muss man schon ganz genau auf die Straßenschilder achten, damit man überhaupt hierherfindet, und doch, für mich gibt es keine schönere Gegend, auch wenn sie bis auf den Lebensmittelladen, ein kleines Steakhouse und Mori‘s Coffeeshop keine weiteren Geschäfte bietet.
Eine knapp zehnminütige Autofahrt trennt uns von der nächsten Stadt, in der sich meine Arbeitsstelle und auch die der meisten anderen Dorfbewohner befindet.

Wie jeden Morgen ist der Coffeeshop gut besucht. Alle sechs Tische sind besetzt und auch an Moris Tresen lehnen zwei Arbeiter. Von hinten sehen sie aus wie die Brüder John und Ken, die ein kleines Unternehmen am Ort führen. Die beiden bieten unzählige Dienstleistungen an. Vom Hausbau bis hin zum Holzfällen ist alles dabei, was vermutlich auch der Grund ist, warum ihr Geschäft so gut läuft.

Überall bekannte Gesichter, und um nicht jeden Einzelnen begrüßen zu müssen, rufe ich ein lautes „Guten Morgen“ in den freundlich eingerichteten Raum. Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, wie viele Stunden wir damit verbracht haben, aus dem alten Schweinestall diesen Raum zu gestalten. Wie oft meine beste Freundin und ich bis spät in die Nacht an den Wänden herumgestrichen haben, bis der alte Putz endlich die neue Farbe annehmen wollte. Vom Fußboden mal ganz zu schweigen. Auch wenn es wirklich harte Arbeit war, uns alle viel Geduld gekostet hat, kann sich das Ergebnis jetzt sehen lassen. Nichts erinnert mehr an die ehemalige Behausung für Vierbeiner. Helle Fliesen, dunkle Holzbalken und drei große bodenhohe Fenster geben dem Café etwas Heimeliges.

„Lea!“, Moris Kopf schnellt hoch. Sofort lässt sie alles stehen und liegen und kommt zu mir. Schließt mich in ihre Arme und drückt mich fest an sich.

„Hat dich die große weite Welt also nicht in ihren Bann gezogen?“, will sie wissen und schiebt mich bestimmend auf den letzten freien Drehstuhl, direkt gegenüber ihrem Kaffeeautomaten und tatsächlich neben den zwei Brüdern. Kurz nicke ich ihnen zu und wende mich dann an meine Freundin, die sich wieder hinter den Tresen stellt: „Glaub mir, Ottawa ist nun wirklich kein Ort, zu dem es mich in irgendeiner Weise hinzieht.“

„Zum Glück, denn was würde ich wohl sonst ohne meine beste Freundin machen“, lächelt sie und hantiert an ihrer Maschine, um mir einen Cappuccino zuzubereiten.

„Seit wann sind deine Haare lila?“

Mori hat die Angewohnheit, ihr Haar innerhalb kürzester Zeit von pechschwarz in fuchsrot oder platinblond umzufärben. Hätte sie nicht ihr markantes Gesicht und ihre stattliche Größe von fast einem Meter achtzig, wäre sie manchmal kaum wiederzuerkennen.

„Ach das“, nickt sie und streicht sich durch ihr Haar, „seit ein paar Tagen.“

„Die arme Mrs. Gurny. Du bringst sie mit deinen Farbexperimenten noch ins Grab“, erwidere ich, greife nach der Tasse, die Mori mir reicht.

„Die alte Hexe soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern“, schnaubt sie und verdreht dabei die Augen.

„Die Gute hat aber keine anderen Angelegenheiten als sich über die Einwohner von Jeroma Hill das Maul zu zerreißen“, kläre ich Mori auf und sehe dabei zu, wie mein Würfelzucker langsam in der braunen Flüssigkeit verschwindet. Als dieser abgetaucht ist, nehme ich meinen Löffel und rühre um. Meine beste Freundin lebt erst seit drei Jahren hier und ist der Liebe wegen von Los Angeles hierhergezogen. In ein Dorf, wo schmutzverzierte Autos die engen Straßen entlangfahren, die nächste Shoppingmeile erst in fünfundzwanzig Minuten zu erreichen ist und es nichts gibt außer einen Wald, Berge und noch mal Wald. Doch zum Glück ist sie geblieben. Denn erst seit sie hier ist, habe ich das Gefühl, ich selbst sein zu können und nicht mehr die Bürgermeistertochter spielen zu müssen, so wie mein Vater es von mir verlangt. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich von den Erwartungen, die sie an mich stellen, erdrückt werden. Dass sie mich mit Jace, meinem sieben Jahre älteren Bruder, vergleichen, der, ganz so wie mein Vater es sich wünscht, seine Zukunft in der Politik sieht.

„Das wird sich bald ändern“, unterbricht Mori meine Gedanken und bereitet sich ebenfalls ein heißes Getränk zu. Fragend hebe ich die Augenbrauen. Was will sie mir damit sagen? Was könnte die gute alte Mrs. Gurny davon abhalten, den Dorfklatsch auszuschmücken und weiterzuerzählen?

„Na, ER ist wieder hier?“, Mori sieht mich an, als ob ich schwer von Begriff wäre. Was ich in diesem Moment auch wirklich zu sein scheine. Denn ich habe absolut keine Ahnung, was sie mir damit sagen will. Wen meint sie mit „ER“?

„Ich bitte dich. Du wirst doch gehört haben, dass ER wieder da ist?!“ Mori verdreht die Augen und beugt sich zu mir, um leise weiterzusprechen. „Dieser Junge, der damals einfach verschwunden ist. Wie hat Tom noch gesagt, hieß er?“ Tom ist Moris Freund und Verlobter.

Die Rädchen in meinem Kopf beginnen sich in einer höllischen Geschwindigkeit zu drehen, und nicht nur die. Ich spüre, wie mir leicht schwummrig wird, als mir kommt, von wem hier die Rede ist.
Nein, das kann nicht sein. Das muss ein Scherz sein. Irgendjemand erlaubt sich mit diesem Gerücht einen üblen Streich.

Strafend sehe ich sie an. „Es ist Montagmorgen und du weißt, dass dies die schlechteste Zeit ist, um mich auf den Arm zu nehmen.“

„Ich nehme dich nicht auf den Arm. Er ist wirklich hier. Tom hat es bestätigt und, ... verdammt, wie hieß dieser Typ denn noch mal?“ Ihre Stirn runzelt sich vom angestrengten Überlegen, und da ich Gewissheit brauche, dass meine Vermutung richtig ist, spreche ich den Namen aus, der doch eigentlich verboten ist, zumindest früher in der High School.

„Devin“, seinen Name laut auszusprechen, ist seltsam. Denn ich weiß nicht, wie oft ich genau diesen in meinen Gedanken schon vor mich hingesagt habe. Damals.

„Ja, genauso heißt der Kerl.“ Mori, die keine Ahnung von dem Wirbelsturm hat, der sich gerade tief in meinem Inneren ausbreitet, schnappt sich einen Lappen, um die Oberfläche des Tresens zu säubern. Nur am Rande bekomme ich mit, wie John und Ken mir zum Abschied kurz zunicken und dann aus dem Café gehen. Diese Neuigkeit zieht mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weg und ich bin gottfroh, dass ich sitze. Denn würde ich es nicht tun, müsste ich mich spätestens nach dieser Information setzen. Er ist wieder hier. Ich kann es nicht glauben. Es kommt mir vor wie in einem Traum. All die Jahre habe ich an ihn gedacht. An den Jungen, in den ich heimlich verliebt war. Niemand wusste von meiner Schwärmerei. Wem hätte ich es auch sagen können? Freunde, richtige Freunde hatte ich hier nicht und meiner Mutter hätte ich mich nie anvertrauen können. Sie hätte es sofort meinem Vater erzählt und dieser, ... es wäre ein Skandal für ihn gewesen. Devin war der böse Junge, der Bad Boy, den alle den Teufel nannten. Und ich?! Ja, ich war die brave, schüchterne, wohlerzogene Tochter, die ihn aus der Ferne angehimmelt und sich nie getraut hatte, ihn anzusprechen. Vermutlich wäre es auch bei diesem einen Gespräch geblieben. Devin hätte sich nie mit mir abgegeben. Nein, er war einer dieser Jungs, die nicht auf brave unschuldige Mädchen standen. Nein, er gab sich lieber mit Mädchen wie Cendra ab. Die mehr Busen als Hirn hatte und sich so aufreizend kleidete, dass sie hier bald tagtäglich das Gesprächsthema Nummer eins war. So verbrachte ich die Tage damit, von ihm zu träumen, mir auszumalen, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Bis zu dem Tag, an dem er einfach verschwunden war. Von heute auf morgen. Weg.

„Stell dir nur das Gerede vor. Ein Ex-Knasti, der sich hier in unserem schönen, idyllischen Dörfchen aufhält“, unterbricht Mori meine Erinnerungen, legt den nassen Lappen zurück in die Spüle und räumt das benutzte Geschirr in die Maschine.

Mein Atem stockt, mein Herzschlag beschleunigt sich und meine Hände krallen sich an dem kalten Holz fest.

„Woher weißt du es?“

„Habe ich dir doch gerade gesagt. Von Tom. Er hat gesehen, wie dieser Devin sein Gepäck aus seinem Wagen geholt und in sein Elternhaus gebracht hat.“ Noch immer nichtsahnend fährt sie fort: „Angeblich ist seine Mutter die Treppen hinuntergestürzt, hatte wohl einen Herzinfarkt. Er kümmert sich um das Geschäft, bis seine Mutter wieder fit ist.“

„Nein“, meine leise Stimme lässt Mori nun doch zu mir sehen.

„Himmel, was ist denn mit dir los? Du bist weißer als jede Wand. Ist dir nicht gut?“

„Es ist ... nur mein Kreislauf“, und das ist noch nicht einmal gelogen. Tatsächlich wird es mir noch schwummriger.

„Hier, nimm das!“ Keine Ahnung, woher sie plötzlich einen Traubenzucker hat, aber ich nehme ihn und schiebe ihn mir in den Mund. „Wird es besser?“, besorgt sieht sie mich an.

„Alles gut. Ich habe nur noch nicht gefrühstückt und ...“

„Dann solltest du das schleunigst nachholen. Deine Schüler wären bestimmt nicht begeistert, wenn der Unterricht bei ihrer Lieblingslehrerin heute ausfällt.“
Und ehe ich mich versehe, hat sie schon einen selbstgebackenen Blaubeermuffin auf einen Teller gelegt und schiebt ihn mir zu. „Danke.“ An Essen kann ich im Moment am wenigsten denken, und nur um Moris aufforderndem Blick zu entkommen, zupfe ich mir ein klein wenig von dem Gebäck ab.
Ich kann nicht glauben, dass ER tatsächlich wieder hier ist.

Der sonst so leckere Muffin schmeckt plötzlich wie Pappe und mit einem Schluck von meinem Kaffee spüle ich ihn hinunter. Ein klopfender Schmerz macht sich hinter meinen Augen breit. Auch das noch. Wie soll ich den ganzen Tag heute überstehen, wenn ich, noch bevor ich mit dem Unterricht anfange, schon an Kopfschmerzen leide? Und wie um alles in der Welt soll ich meinen Schülern irgendetwas beibringen, wenn alle meine Gedanken sich nur um das eine drehen?

„Kennst du diesen Devin?“, will Mori nun auch noch von mir wissen.

„Nicht direkt. In der High School sind wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen“, weiche ich dem Thema aus. Im Moment kann und möchte ich nicht von ihm reden. Denn noch immer bin ich von dieser Neuigkeit geschockt.

„Tom hat mir erzählt, dass ihn früher alle den ‚Teufel‘ nannten.“ Während sie das sagt, trocknet sie ein Glas ab und sieht mich verschwörerisch an. „Er soll wohl irgendwelches satanistisches Zeug praktiziert haben.“
Davon hatte ich auch gehört, und doch glaubte ich dem Gerücht damals schon nicht. Gut, er trug gerne schwarze Kleidung, hatte, wie man sagt, ein paar Tattoos und hörte gern Heavy Metal, aber das alles machte ihn noch lange nicht zu einem Tiermörder oder was auch immer.

„Blödsinn“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.

„Tom meint, dass dieser Typ damals einfach verschwunden sei. Von heute auf morgen. Wohl wegen diesem Unfall ...“

„Ich muss jetzt los. Wir telefonieren, ja?“, unterbreche ich sie. Ohne auf ihre Antwort zu warten, gehe aus dem Café und spüre, wie ihr Blick mir folgt. Dieser abrupte Abgang passt so gar nicht zu mir und genau das weiß auch Mori. Spätestens heute Nachmittag wird sie mich mit Fragen löchern und bis dahin muss ich meine Gedanken, meine aufsteigenden Gefühle, die doch eigentlich längst begraben sein sollten, unter Kontrolle bekommen. Devin O´Cuinn ist tabu. Das war er schon immer und wird es auch bleiben.

 

Innerlich bin ich völlig aufgewühlt und meine Hände krallen sich krampfhaft um das Lenkrad meines alten Fords. Mein Gehirn ist wie leergefegt und ich frage mich, wie um alles in der Welt ich heute unterrichten soll. Immer wieder versuche ich, nicht an ihn zu denken. Mir nicht vorzustellen, wie er jetzt, mehr als zehn Jahre später wohl aussieht. Doch es ist vergebene Mühe. Ich kann nicht anders, und anstatt in Gedanken meinen Unterricht durchzugehen, rufe ich mir Devin in Erinnerung. Ob er immer noch so gut aussieht? Ob seine Augen noch immer diese faszinierende Ausstrahlung haben? Allein die bloße Vorstellungskraft genügt, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.
Viel zu früh taucht vor mir der Lehrerparkplatz, das große rote Schulgebäude auf und ich sehe, wie eine Handvoll Schüler mir zuwinkt, als ich mein Auto auf einen freien Parkplatz abstelle. Kurz winke ich zurück, angle nach meiner Tasche und sehe aus dem Augenwinkel, wie Tyler, der neue Sportlehrer, auf mich zukommt.

Auch das noch, denke ich im Stillen. Seit Tyler vor ein paar Monaten angefangen hat hier zu unterrichten, vergeht beinahe kein Tag, an dem er nicht mit mir flirtet. Was an und für sich nicht schlimm ist, mir sogar sehr schmeichelt, denn Tyler ist attraktiv und er scheint ein anständiger, netter Kerl zu sein. Doch jetzt, nach diesen Neuigkeiten, mit meinen Kopfschmerzen, möchte ich einfach nur noch ein paar Minuten Ruhe haben.

„Einen wunderschönen guten Morgen, hübsche Frau!“, begrüßt er mich und hält mir meine Autotür auf, als ich aussteige. Ich sehe zu ihm empor, zu seinen verwuschelten dunkelbraunen Locken, zu der Strähne, die ihm in diesem Moment über seine Stirn fällt und die er beiläufig wieder zurückstreicht. Seine rehbraunen Augen suchen meinen Blick, und als sie diesen gefunden haben, zwinkert er mir kokett zu.

„Hey Tyler“, begrüße ich ihn, und obwohl ich viel lieber allein sein würde, lässt es mein Anstand nicht zu, ihn wegzuschicken. Stattdessen drücke ich mich an seiner Hand, die auf dem Rahmen der Autotür lehnt, und seinem Körper, der mir fast den Weg versperrt, vorbei.

„Wie war es in Ottawa?“, will er wissen und sieht mir dabei zu, wie ich aus meinem Kofferraum eine Kiste mit Bastelutensilien hole.

„Es war ... okay.“ Was soll ich auch sonst sagen? Dass es spannend war? Eher nicht. Ich wollte mehr von unserer Hauptstadt sehen als irgendwelche relevanten Gebäude, die mit Politik zu tun haben. Wollte sehen, wie die Leute leben, wie ihr Alltag abläuft. Doch stattdessen bekam ich nur Einblicke in das tadellose Leben meines Bruders. Ja, seine Wohnung war schön, ja, die Restaurants, die er uns gezeigt hatte, waren edel mit grandiosem Essen. Und doch wollte ich mehr sehen und hören als Politik. Dabei hatte ich mich so auf den Familientrip gefreut. Mein letztes Wiedersehen mit Jace lag fast ein Jahr zurück. Dabei liebe ich meinen großen Bruder. Wir haben ein wunderbares Verhältnis. Wir die ganze Familie Martin. Doch seit Jace uns verkündet hat, sich für den Posten als Senator zu bewerben, hat sich alles verändert. Wir, die vorbildhafte Familie, müssen noch perfekter werden.

„Begeistert hört sich das nicht an“, stellt Tyler fest und ich nicke. „War es auch nicht.“

„Was hast du dir denn angesehen?“, versucht mein Kollege das Gespräch am Laufen zu halten, lässt meine Wagentüre ins Schloss fallen. Dann kommt er zu mir, sodass wir nebeneinander den Lehrerparkplatz verlassen. Der hämmernde Schmerz hinter meinen Augen nimmt zu und erneut spüre ich, wie mir übel wird.

„Dies und das“, will ich die Unterhaltung damit beenden, um schnellstmöglich in mein Klassenzimmer zu kommen und aus meiner Mappe eine Schmerztablette zu holen. Doch als ich seinen zerknirschten Gesichtsausdruck sehe, füge ich schnell hinzu: „Wie waren denn deine Ferien?“

„Ich war viel wandern. Die Gegend ist einfach traumhaft und ich bereue es keine Sekunde, von London hierhergezogen zu sein“, erwidert er und sein Gesicht bekommt einen verträumten Ausdruck. „Früher, als ich mir immer die Bilder von Kanada angesehen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Farben, diese unheimliche Ruhe, die der Wald auf den Fotos ausstrahlt, tatsächlich echt sind. Und weißt du was? Es ist Realität. Es ist noch schöner, als ich mir vorgestellt habe.“

„Es freut mich, dass es dir hier gefällt“, ich nicke ein paar Schülern zu, die mich lautstark grüßen, als wir das Schulgebäude betreten, und murmele mehr zu mir selbst als zu meinem Kollegen: „Vielleicht hätte ich auch lieber wandern gehen sollen.“

„Du gehst gerne wandern?“, will er wissen und seine Schritte verlangsamen sich. Aus dem Augenwinkel betrachte ich ihn. Sehe, wie sich sein Gesichtsausdruck verändert. So, als ob er seit ewiger Zeit auf diesen Augenblick wartet und dann, bevor ich recht kapiere, was los ist, sagt er: „Dann lass uns doch zusammen eine Tour machen.“

„Ich, ... also ...“ Mist, genau das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Tyler ist nett, keine Frage, und dass er mich gern näher kennenlernen möchte, ist mir auch schon des Öfteren aufgefallen. Hätte er mich letzte Woche oder heute Morgen gefragt, bevor ich in Moris Café aufgetaucht bin und diese eine Neuigkeit erfahren habe, die mich komplett aus der Bahn geworfen hat, hätte ich sofort „Ja“ gesagt. Doch jetzt, mit dem Wissen, dass in meinem Kopf noch ein anderer Mann herumspukt, kann ich Tyler wohl kaum zusagen. Oder doch?

Ich sehe, wie er mich ehrlich anlächelt, wie dabei auf seinen glatt rasierten Wangen zwei kleine Grübchen entstehen, und bringe es kaum übers Herz, ihm einen Korb zu geben. Dazu noch dieser Hundeblick, mit dem er mich in diesem Moment ansieht. Wie um alles in der Welt kann ich da „Nein“ sagen?

„Klar, warum nicht“, tue ich es ab und ringe mir ein Lächeln ab, welches aber nicht annähernd so vor Begeisterung Funken sprüht wie das des Sportlehrers neben mir.

„Gleich dieses Wochenende? Samstag?“ Nun ist er kaum noch zu bremsen: „Das Wetter soll toll werden und ich habe eine wunderschöne Strecke, die an einem kleinen See vorbeiführt und dir bestimmt gefallen wird.“

„Okay“, bringe ich mühevoll hervor. Dabei ziehe ich jeden einzelnen Buchstaben in die Länge.

„Wunderbar!“

Bilde ich es mir ein oder hat er gerade tatsächlich einen kleinen Hüpfer gemacht? Wir kommen in meinem Klassenzimmer an. Wieder hält er mir die Türe auf und lässt sie offen, als er sich dann verabschiedet „Bis später, Leah.“

Kurz hält er inne, fährt sich durch sein Haar und erneut legt sich eine Strähne über sein Auge, während auf seinem markanten Gesicht ein Lächeln erscheint, das noch breiter wird und mich ein wenig an die Grinsekatze aus „Alice im Wunderland“ erinnert. Dann dreht er sich um und ich starre ihm hinterher, wie er zielstrebig den Flur entlanggeht. Dabei frage ich mich, ob diese Wanderung tatsächlich eine gute Idee ist.
„Gib ihm eine Chance! Tyler ist nett und wirkt anständig. Er könnte genau der Mann sein, den du dir immer gewünscht hast“, meldet sich meine innere Stimme zu Wort.

Tja, das könnte er wirklich. Doch noch bevor ich richtig darüber nachdenken kann, huschen auch schon die ersten schreienden Kinder in den Klassenraum.

 

*Devin*

 

In all den Jahren, die vergangen sind, habe ich Jeroma Hill nie vermisst. Keinen einzigen verfluchten Tag, und obwohl ich mir geschworen habe, nie wieder in dieses gottverlassene Nest zurückzukehren, stehe ich nun hier und starre empor zu dem Haus auf dem Hügel. Mein Elternhaus. Jener Ort, der mir eigentlich das Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Liebe vermitteln sollte. Doch stattdessen machen sich wieder diese alten, viel zu bekannten Gefühle in mir breit. Gefühle, die ich nicht zulassen will. Es kostet mich unheimliche Kraft, meine aufsteigende Aggression unter Kontrolle zu halten. Am liebsten würde ich jetzt, in diesem Moment, in mein Auto steigen und wieder abreisen. All die Probleme, die in den letzten Tagen wie eine Flut auf mich eingeströmt sind, hinter mir lassen. Doch weglaufen kommt nicht infrage. Nicht für mich. Nein, ich muss stark sein. Stark für sie. Für meine Mutter. Viel zu viel musste sie in den letzten Wochen durchmachen. Alleine. Ohne jegliche Unterstützung, und ich spüre, wie sich bei diesen Gedanken meine Hände erneut zu Fäusten ballen. Dabei weiß ich nicht, auf was ich wütender sein soll. Auf diese verfluchte Krankheit, die Tag für Tag mehr von ihrer Kraft nimmt, oder auf ihn. Jenen Menschen, der so rücksichtslos, so gefühlskalt ist, dass es mich nur noch anwidert. Wie konnte er ihr das nur antun? Wie konnte er einfach abhauen und sie in diesem Zustand zurücklassen? Was mir schon vor Jahren klar war, ist nun endlich Gewissheit und wieder einmal frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich meiner Mutter schon viel früher von meiner Vermutung erzählt hätte. Aber damals war ich noch ein halbes Kind. Ein verdammt unglückliches, das für ein bisschen Liebe und Aufmerksamkeit viel zu viel Mist baute. Wer hätte mir also geglaubt? Meine Mutter sicher nicht. Dafür war sie ihm viel zu hörig. Selbst jetzt, nach allem, was passiert ist, nimmt sie diesen Scheißkerl immer noch in Schutz. Ein Zeichen, wie hilflos und emotional gestört sie ist.

Mein Entschluss steht fest. Ich muss hierbleiben. Auch wenn dieser Ort der letzte ist, an dem ich freiwillig sein will.

Ungeduldig zerre ich mein Handy aus der Hosentasche und drücke auf den Kontakt, der auf meiner Anrufliste ganz oben steht. Bereits nach dem zweiten Freizeichen wird abgenommen.

„Endlich. Ich dachte schon, du meldest dich überhaupt nicht mehr!“, erklingt die vorwurfsvolle weibliche Stimme.

„Ich bin erst seit zwölf Stunden hier.“

„Ich weiß, und trotzdem geht es hier zu wie im Irrenhaus.“ Die Hintergrundgeräusche von den Kindern sind so laut, dass die Frauenstimme kaum zu hören ist. „Die Jungs fragen nach dir. Sie wollen, dass du zurückkommst.“

„Ich weiß, Alice. Aber so, wie es im Moment aussieht, muss ich die nächsten Wochen hierbleiben.“ Dass ihr und den Jungs das nicht gefällt, ist mir klar.

Ich warte auf eine Antwort von ihr, die aber leider nicht kommen will. Stattdessen werden die Hintergrundgeräusche nur noch lauter.

„Bist du noch da?“, hake ich nach.

„Natürlich bin ich das. Habe ich das eben richtig verstanden. Du hast vor, dort oben zu bleiben?“

„Ich fürchte ja. Ich habe keine Wahl.“ Ich starre in die rot-braunen Baumwipfel, betrachte das Farbenspiel, das mich umgibt.

„Und wie stellst du dir das vor? Was soll ich den Jungs sagen?“, schnaubt sie ins Telefon.
Meine Schultern zucken nach oben. Als mir klar wird, dass sie das nicht sieht, füge ich hinzu: „Keine Ahnung. Lass dir etwas einfallen.“

„Und wer übernimmt dann deine Aufgaben?“

Himmel, Alice stellt sich aber auch an. Man würde kaum glauben, dass sie eine Frau von Anfang dreißig ist. Sonst ist sie doch auch nicht so hilflos. Ganz im Gegenteil. Sie ist die erste Frau, die mit meiner Art klarkommt. Was nur daran liegt, dass sie selbst einen ziemlich ähnlichen Charakter hat.

„Ruf deinen Bruder an! Er weiß schließlich auch, was zu tun ist“, befehle ich ihr.

„Aber Evan fliegt morgen für drei Wochen nach Miami“, antwortet sie, als ob mir diese Tatsache entgangen sei.

„Himmel, dann muss er seinen Trip eben absagen!“, knurre ich ins Telefon. Mein Geduldsfaden wurde an diesem Tag schon genug strapaziert.

„Okay. Wie du meinst. Aber er wird nicht begeistert sein“, klärt sie mich auf.

„Glaub mir, auch meine Begeisterung hält sich sehr in Grenzen“, sage ich nun gefährlich leise.

„Das weiß ich doch, Devin. Das mit deiner Mum tut mir leid.“ Ich höre ihr an, wie sie nach den richtigen Worten sucht. Als ihr keine passenden einfallen wollen, sagt sie: „Ich kümmere mich hier um alles. Mach dir darüber keinen Kopf. Die Jungs werden es verstehen.“

„Danke“, mit dem Wort lege ich auf und gehe zurück zum Haus. In einer guten Stunde wird der Arzt hier sein und davor sollte ich mich abreagieren. Irgendwo in meinem Zimmer müsste noch mein alter Boxsack sein, und genau diesen werde ich jetzt suchen.