Martin Merz: Zwischenland
Die gesammelten Gedichte
Mit einer Hommage von Klaus Merz
und einem Nachwort von Elsbeth Pulver
Der Verlag dankt dem Regierungsrat des Kantons Aargau für die großzügige Unterstützung dieses Buches.
© 2003
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu
unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag
freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-3794-5
Umschlag: Benno Peter, Zeichnung von Heinz Egger
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Zum Gedicht „Nachtschatten“ meines Bruders Martin Merz
Salz ist im Meer.
Sterndämmer
reisst mich in die Tiefe.
Ich erwache
unter Stimmen,
die Lieder vom Meer
singen.
Grün leuchtend im
Grau des Regens
Bänder von Algen.
Braun falten Schnecken
die Fühler zum Gebet.
Der Sternenkranz
hat viele Lichter.
Stau vor dem Gotthardtunnel. Und beim mörderischen Radwechsel auf der italienischen Autobahn, Stunden später, bleiben die Sandalen im aufgeweichten Asphalt kleben. Die Fahrt zieht sich hin, bis wir, geteert und gerädert, gegen Abend endlich an der ligurischen Küste die Zimmer beziehen.
Aber all diese Strapazen erspart uns der Dichter und stellt uns schon mit dem ersten Satz in den Schatten. Ans Meer. Schneller kann man nicht reisen.
„Salz ist im Meer“, stellt er lapidar fest und reisst uns dann, noch bevor es in Wunden und Augen zu brennen anfängt, schnurstracks in die Tiefen seines Himmels hinab. Ohne Stau, ohne Schnorchel geraten wir in den Sog seiner Worte hinein. Aber wir haben ja alles dabei, was es für diesen Tauchgang braucht: Ein Gehör, zwei Augen, den geräumigen Kopf für die Bilder, ein Herz.
Wer auf dem Kopf gehe, habe den Himmel als Abgrund unter sich. Man erinnert sich unwillkürlich an den umwerfenden Satz aus Celans Büchnerrede. Und geht an ihm mit Lenz durchs Gebirg. — Oder sieht sich jetzt doch genötigt, dem innerfamiliären Interpreten ein wenig auf die Füsse zu schauen, weil man meint, da versteige sich einer. — Nein, da war bei diesem jungen Dichter aus dem Mittelland nichts mit Gehen und Steigen, sein Kopf war von Anfang an zu gross geraten, zu schwer, auch für eine ordentliche Schulbildung — jedoch mit Hallräumen versehen für die Lieder vom Meer.
Am ersten März 1974 hockt Martin am Tisch vor seiner meergrünen Olivetti und hackt den „Nachtschatten“, als diktiere ihm einer den Text, mit zwei Fingern aufs Blatt. Korrigiert wird im nachhinein, wie immer, kein Wort. Aber im Schreibfenster der Maschine zieht sich das abgewetzte Farbband nun unverhofft als grün leuchtende Alge durch den grauen Tag, und der Dichter kommt schreibend — und nur so — langsam wieder auf die Füsse. Er kriegt überwasser und entlässt uns, wie er uns zuvor mit dem ersten Satz in die Pflicht seiner Worte und Bilder genommen und in die Tiefe gerissen hat, mit einem augenzwinkernden letzten Satz rasch und ohne zu klammern — was nur absolut Schwindelfreien möglich ist aus der Zauberhaft seines Gedichts.
Die Demut der Schnecken, dieser eigenartig langsamen, ziemlich ortsgebundenen und doch autonomen Wesen, kommt über ihn. Und die Lichter der Gestirne, der anderen Welten treten jetzt deutlich aus ihrem anfänglichen Dämmer hervor: Sie markieren auch, eigenartig versöhnlich, die schillernden Stirnen der vielen Kostgänger des Herrn. Von ihm. Von uns.
Ich schwebe in zwei Welten.
Meine zweite Welt öffnet sich,
wenn andere Schlaf suchen.
Meine Gedanken leben,
wenn ich sie in meiner Stimme
ihre Worte suchen lasse.
Mitten in Nacht und Stille
werden die Gedanken zu Worten.
Ich lebe in zwei verschiedenen Welten.
Jede kennt die Gedanken der anderen.
Ich werfe die Samen aus,
die diese Welten erblühen lassen:
die Worte und Taten im Licht des Tages,
die Gedanken in der Finsternis.
Der Schlaf löscht das Licht des Tages.
Ich werde im Traum
die Gestalten erkennen.
Ich staune
über die Traumzeit,
die mich sucht.
Traumzeit
auf dem leuchtenden Zifferblatt
einer Uhr,
die still steht.
Ihr Stillstehn
ist schön.
Man denkt nicht an die Wirklichkeit.
Es würde mir leid tun.
Das Staunen meiner Kindheit:
Etwas,
das ich nie vergessen kann.
Ich
zwischen Tagen fast
auf Flügeln schwebend.
Meine Tränen zu Perlen erstarrt,
und eine Kette daraus gefügt.
Sie ist auf den Boden gefallen
und zerbrochen.
Alle Träume sind tot,
die Kette der Tränen
nicht mehr hier.
Ich werde sie nicht suchen.