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Hellmut Flashar

Sophokles

Dichter
im
demokratischen
Athen

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Die erhaltenen Werke des griechischen Dichters Sophokles, zu denen beispielsweise König Ödipus und Antigone gehören, sind feste Bestandteile unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht auf zahlreichen Bühnen seine Tragödien aufgeführt werden und in ihrer überzeitlichen Aktualität immer wieder aufs neue Theaterbesucher mit Grundfragen des menschlichen Lebens konfrontieren.

In diesem Band stellt Hellmut Flashar, ein international renommierter Literaturwissenschaftler, den antiken Dichter, sein Leben, seine erhaltenen Tragödien und das einzige von ihm überlieferte Satyrspiel vor. Der Autor erläutert die politische, religiöse und zeitgeschichtliche Stellung der Stücke in der Lebenswelt der Athener. Er ordnet die Werke des Sophokles literaturgeschichtlich ein, bestimmt ihr Verhältnis zu jenen der beiden anderen bedeutenden Tragödiendichter Athens – Aischylos und Euripides – und skizziert ihre Rezeptionsgeschichte.

Die Darstellung ist gleichermaßen allgemeinverständlich, informativ und anregend. Sie richtet sich daher an alle Freunde der griechischen Tragödie – sei es, daß sie diese in erster Linie als Schauspiel genießen, als Studierende besser verstehen oder als Wissenschaftler tiefer ergründen wollen.

Über den Autor

Hellmut Flashar, Jahrgang 1929, lehrte von 1965 bis 1982 als Professor für Klassische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum und von 1982 bis zu seiner Emeritierung 1997 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat sich einen internationalen Ruf als vorzüglicher Kenner der griechischen Tragödien erworben. Im Verlag C.H.Beck liegt von ihm vor: Inszenierung der Antike (22009) und Aristoteles (32015).

Meinen Schülerinnen und Schülern gewidmet

Inhalt

Einleitung

 

    I. Die Tragödie

   II. Fest und Theater

  III. Das Leben

  IV. Aias

   V. Antigone

  VI. Die Frauen von Trachis

 VII. König Ödipus

VIII. Elektra

  IX. Philoktet

   X. Ödipus auf Kolonos

  XI. Die Spurensucher (Ichneutai)

 XII. Tragik

 

Literaturhinweise

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Die griechische Tragödie ist kein bürgerliches Trauerspiel, das dazu bestimmt gewesen wäre, zur Erbauung, Belehrung oder Erschütterung gelesen, gelegentlich im Theater aufgeführt oder gar von der Philologie analysiert zu werden. Und doch ist die griechische Tragödie und damit Sophokles schon früh zum Gegenstand antiker und dann in reichlicher Fülle moderner Gelehrsamkeit geworden. In der Tat ist die antike Tragödie ein uns zunächst fremdes Phänomen, so daß es schon der Vermittlung bedarf, um ihre Voraussetzungen und Eigenarten verständlich zu machen.

Angesichts der unübersehbaren Flut an gelehrter Literatur über die griechische Tragödie insgesamt und zu Sophokles im besonderen, über einzelne Dramen und Aspekte, mutet es fast unglaublich an, daß es eine deutschsprachige Monographie über Sophokles seit dem bedeutenden Buch von Karl Reinhardt (1933) nicht gegeben hat, – abgesehen von dem in die Forschungsgeschichte kaum eingegangenen Buch von Albrecht von Blumenthal (1936) und dem schmalen Taschenbuch des Theaterwissenschaftlers Siegfried Melchinger (1969). Zwar werden in allgemeinen Einführungen in die griechische Tragödie und in Literaturgeschichten die Dramen des Sophokles mitbehandelt, aber naturgemäß nur kurz, am ausführlichsten noch in dem auf ältere Vorlesungen (1966–1970) zurückgehenden Band Die griechische Tragödie von Wolfgang Schadewaldt (1991).

Reinhardt, dessen Buch in starkem Maße deutscher Denkweise und Tradition verpflichtet, gleichwohl aber zu Recht ins Englische übersetzt ist (1979), hatte gegenüber dem diffusen Sophoklesbild des 19. Jahrhunderts und den scharfsinnigen, nach Brüchen und Inkonzinnitäten Ausschau haltenden Analysen des jungen Tycho von Wilamowitz-Moellendorff (1917) eine bis dahin unerhörte Vertiefung der Interpretation erreicht. Er hat vor allem das scheinbar (nur) Technische und Szenische wie das Monologische und das Dialogische als innere Form und Ausdruck einer tragischen Situation gedeutet, in der der Mensch steht, aber nicht für sich, sondern im Horizont des Göttlichen, welches in unterschiedlicher Weise menschliches Handeln umschließt. Die darauf aufgebauten Analysen sind von großartiger Einseitigkeit – ganze Aspekte der Tragödien, übrigens auch die Chorlieder, bleiben außer Betracht – und erfüllt vom Nimbus des Numinosen.

Das Buch von Reinhardt hat in der Folgezeit viel Anerkennung, aber wenig Nachfolge gefunden; am ehesten noch bei Wolfgang Schadewaldt (1944; zugänglich in 1970, 385–401; und in den 1991 publizierten Vorlesungen). Sophoklesmonographien entstanden ohnehin erst wieder seit den Fünfziger Jahren und für mehrere Dezennien nahezu ausschließlich im angelsächsischen Bereich. In den Arbeiten von C. Whitman (1951) und B. M. W. Knox (1964), die sich in der Zielrichtung ähneln, ist aus der tragischen Situation› Reinhardts eine ‹heroic situation› geworden. Im Vordergrund steht die Analyse der Situation des tragischen Helden, dessen «heroic humanism» (Whitman) in einer Selbstdestruktion besteht, die in einen Konflikt sowohl mit den Göttern als auch mit der menschlichen Umgebung führt. Der sophokleische Held ist isoliert, entscheidet nur aus seiner inneren Natur heraus und ist in der Konzeption des Dichters nicht eine Weiterentwicklung der Art, wie Aischylos den tragischen Held gezeichnet hat, sondern knüpft an Homer an, insbesondere an die Gestalt des Achill in der Ilias (Knox).

Natürlich sind seit langem auch zahlreiche andere Aspekte der sophokleischen Tragödie im einzelnen untersucht, so Fragen der Struktur des Dramas, teilweise unter dem Eindruck des französischen Strukturalismus in der Analyse von Polaritäten und Ambiguitäten (so Ch. P. Segal 1981), einzelner Bauelemente der Tragödie, der Sprache, der Metrik und Textkritik, der Gestalten, des Verhältnisses von Mensch und Gottheit usw.

Diese und ähnliche Arbeiten sind gewiß eine Bereicherung im Verständnis der Tragödien des Sophokles, aber nahezu ausschließlich literarisch orientiert. Erst seit ca. 1980 werden in der allgemeinen Tragödienforschung international mit wachsender Intensität diejenigen Aspekte herausgearbeitet, die über das rein Literarische hinaus zu den Besonderheiten der griechischen Tragödie gehören. Es sind dies:

• die kultisch-rituelle Dimension. Die Tragödie ist eingebunden in das Fest der Großen Dionysien und den Kult des Gottes. Die Tragödie hat darin einen unverwechselbaren ‹Stellenwert› und enthält ihrerseits ‹metatheatralische› Rückbezüge auf den Gott des Festes (A. Bierl 1991).

• die politische Dimension. Die Tragödie ist im weitesten Sinne ‹politisch›. Sie ist Bürgertheater auf dem Boden der attischen Demokratie; sie ist eingebunden in Akte der politischen Selbstdarstellung; sie fordert die Bürger – im Rückbezug des tragischen Geschehens auf den Mythos – zu Reflexionen über politisches Denken, Handeln und Entscheiden auf. Ihre Dichter, insbesondere Sophokles, waren als Bürger dieser Polis ‹politisch› aktiv (Ch. Meier 1988).

• die kommunikative Dimension. Die Tragödie ist für eine Aufführung und für ein dem Dichter bekanntes Publikum und Theater konzipiert. Sie ist in einer Kultur, die durch ein Ineinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt ist, primär mündlich rezipiert worden; sie ist «performative Mündlichkeit» (W. Rösler 1980). Zum Literaturwerk ist sie erst durch das Absterben der aktuellen Bezüge im vierten Jahrhundert geworden, als die Schriftkultur sich endgültig durchgesetzt hatte. Das wichtigste Zeugnis dafür ist die Poetik des Aristoteles (vgl. S. 189).

Das vorliegende Buch sucht diese Fragestellungen in die Interpretation der Tragödien des Sophokles einzubeziehen. Es will aber vor allem informieren und wendet sich nicht nur an Philologen und Theaterwissenschaftler, sondern an jede(n), der (die) etwas vom Werk des Sophokles erfahren möchte, und zwar im wörtlichen Sinne. Die Darstellung soll daher ganz aus sich heraus verständlich sein; alle Begriffe, die dem Fernerstehenden fremd sind, werden erläutert. Auf griechische Zitate und Anmerkungen wird ganz verzichtet.

Die Interpretation der einzelnen Dramen ist jeweils in vier Abschnitte unterschiedlicher Länge eingeteilt. In einem ersten Abschnitt werden Fragen der Datierung, der literarischen Quellen und des zeitgeschichtlichen Hintergrundes behandelt. Es schließt sich ein tabellarischer Überblick über den Inhalt des Dramas an, der der raschen Orientierung dient und den Hauptteil der Untersuchung, der den dritten Abschnitt ausmacht, von einfachen Angaben zum Inhalt bis zu einem gewissen Grade entlasten kann. Schließlich folgen einige Angaben zur Nachwirkung des Stückes in sehr kurzer Form, die man ausführlicher in den Insel-Bänden findet, die die Übersetzungen von W. Schadewaldt enthalten, und bei H. Flashar, Inszenierungen der Antike (1991), hier im Hinblick auf die Rezeption im Theater.

Diese Einteilung vermag einen ersten Hinweis auf das methodische Konzept des Buches zu geben. Die Darstellung sucht weitgehend ohne die Kategorien der Poetik des Aristoteles auszukommen, deren Grundlegung und Anwendung bis in die neueste Forschung hinein die Tragödie schematisiert und auf Handlungsstrukturen reduziert (Näheres S. 190). Sie stellt ferner nicht in den Mittelpunkt das, was Reinhardt «die tragische Situation» und Schadewaldt (1991) «das Dämonische» genannt hat. Es ist schwer zu fassen und nicht immer dort vorhanden, wo man es aufzuspüren glaubt. Der Begriff des Dämonischen verleitet zudem zu einer gewissen Unschärfe der Analyse und zur Ausblendung anderer Aspekte der Tragödie. Er leistet einer Mystifizierung Vorschub, die das tragische Geschehen in den Nebel des Irrationalen zu tauchen droht.

Im übrigen ist auf Polemik nahezu ganz verzichtet worden. Positionen der Forschung sind stärker, als auf den ersten Blick erkennbar, eingearbeitet, aber nur in wichtigen Fällen explizit dokumentiert.

Aus der riesigen Literatur zu Sophokles kann, dem Charakter des Buches entsprechend, nur eine kleine Auswahl genannt werden. Alle zitierten Übersetzungen aus den Tragödien des Sophokles stammen von Wolfgang Schadewaldt; sie liegen jetzt komplett vor.

Der relativ rasche Abschluß des Manuskriptes wäre nicht möglich gewesen ohne die unermüdliche, über das Technische weit hinausgehende Hilfe von zwei jungen Wissenschaftlerinnen, Dagmar Adrom und besonders Annette Mäurer (die auch das kommentierte Register erstellt hat), denen ich herzlich dankbar bin. Ihre Tätigkeit hat die Fritz Thyssen Stiftung finanziert; auch dafür danke ich sehr.

Mein aufrichtiger Dank gilt dem Verlag C.H.Beck für das humane Vertrauen, das er seinen Autoren gewährt, und dem Verlagslektor, Dr. Stefan von der Lahr, für die kompetente und unkomplizierte Betreuung des Buches.

Gewidmet ist es meinen Schülerinnen und Schülern, mit denen ich über viele Jahre die hier behandelten Fragen erörtern konnte und von denen ich immer wieder Anregungen empfangen habe.

I. Die Tragödie

Die Formen des tragischen Spiels

Wer die griechische Tragödie kennenlernen will, muß zunächst zur Kenntnis nehmen, daß ihr eine ganz bestimmte, vom modernen Drama abweichende Form zugrunde liegt, die sich aus ihrer Entstehung ergeben hat. Über die Entstehung der Tragödie gibt es viele antike und moderne Hypothesen. Die Wurzeln liegen in Ritus und Kult, offenbar von Anfang an im Dionysoskult. Die Vorgänger des Aischylos haben aus einfachen Kultliedern durch Einführung eines ‹Antworters› (das war der erste Schauspieler) eine Frühform der Tragödie gemacht, die dann mit der Etablierung im Dionysostheater zu Athen einen qualitativen Sprung vollzog. Aischylos (525–456) hat den zweiten Schauspieler eingeführt und der Tragödie eine feste Form gegeben, die Sophokles durch die Hinzufügung des dritten Schauspielers und die Erhöhung der Chormitglieder von zwölf auf fünfzehn vollendete. Nun hatte die Tragödie ihre «natürliche Wuchsform» (physis) erreicht, wie Aristoteles bemerkt (Poetik 4, 1449a 15). Die Hauptbestandteile lagen fest; der Gestaltungsspielraum für die ca. fünfzig Tragiker des fünften Jahrhunderts im Formalen war eng. Er lag in winzigen Variationen vorgegebener Elemente, wie es ähnlich auch bei der Entwicklung des griechischen Tempels ist. Undenkbar, daß ein griechischer Tragiker auf den Gedanken gekommen wäre, alles ganz anders zu machen und völlig frei zu verfahren. Die Gliederung der Tragödie war also weitgehend fixiert, wenn auch die einzelnen Bauformen eine gewisse Entwicklung durchgemacht haben. Der griechischen Tragödie wohnt eine starke Handwerklichkeit inne.

Die Tragödie beginnt in aller Regel (bei Aischylos gibt es Ausnahmen) mit einem Prolog, der bei Sophokles aus einer oder drei (merkwürdigerweise nie aus zwei) Szenen besteht, während Euripides den Zweiszenenprolog bevorzugt hat. Die Eingangsszene des Prologes kann monologisch oder dialogisch gestaltet sein; Sophokles verwendet überwiegend (jedenfalls in den erhaltenen Dramen) die dialogische Form, nur in den Trachinierinnen ist der Eingang durch die Rede der Deianeira monologisch gestaltet. Euripides wählt, wie es auch bei Aischylos der Fall ist, stets die monologische Struktur des Eingangs; er kehrt also zur älteren Form zurück, denn die dialogische Gestaltung des Eingangs ist die sekundäre Entwicklungsstufe.

Die Funktion der Eingangsszene ist naturgemäß die einer Information für den Zuhörer. Bei Sophokles indessen ist der Prolog nie rein orientierender Natur, sondern entsprechend seiner dialogischen Struktur sogleich von dramatischem Leben erfüllt.

Die zweite Szene des Prologs ist stets ein Dialog von zwei Schauspielern, so schon bei Aischylos, der dieses Verfahren offenbar erfunden und damit gegenüber dem noch älteren starren Prolog eine gewisse Auflockerung und Dramatisierung erreicht hat. Diese dialogische Struktur hat Sophokles dann auf die Eingangsszene übertragen und auch dort verwendet, wo der Prolog überhaupt nur aus einer Szene besteht (z.B. in der Antigone).

Unter den sieben erhaltenen Tragödien des Sophokles haben vier Stücke noch eine dritte Prologszene (Aias, Trachinierinnen, König Ödipus, Ödipus auf Kolonos), die ihrerseits wiederum dialogisch gestaltet ist und in den meisten Fällen zur Eingangsszene inhaltlich und formal zurückweist. Der Prolog ist stets gesprochen; der Sprechvers der griechischen Tragödie ist der iambische Trimeter.

Es folgt die Parodos, das Eingangslied des Chores, der von der Seite her die Bühne betritt. Ursprünglich ist die Parodos im Marschrhythmus des Anapästs (Image) gehalten, was mit dem Einzug des Chores zusammenhängen muß. Bei Sophokles beginnt die Parodos nur des ältesten erhaltenen Stückes, des Aias, mit Anapästen. Später hat sich Sophokles davon freigemacht und läßt die Parodos gleich mit einem Chorlied in lyrischen Maßen beginnen. In der Antigone folgen nach der Strophe der beiden Strophenpaare der Parodos Anapäste. Ob das mit irgendeiner Bewegung des Chores zusammenhängt, wissen wir nicht. Auch ist schwer zu ermitteln, wie sich der Chor aufgestellt hat; wahrscheinlich nicht im Kreis oder im Halbkreis, wie es modernem Empfinden entsprechen würde. Nach einer Notiz bei Pollux (2. Jahrhundert n. Chr.), der im vierten Buch seines Lexikons mit dem Titel Onomastikon viele Einzelheiten zum Theaterwesen mitteilt, soll der Chor sich in quadratischer Formation wie ein Block aufgestellt haben, und zwar in fünf Reihen zu je drei Personen oder in drei Reihen zu je fünf Personen (4, 108).

Bei Sophokles wird oft in der Parodos die Vorgeschichte exponiert, soweit dies nicht schon im Prolog geschehen ist. Gelegentlich ist die Situation, von der der Chor in der Parodos ausgeht, durch die Mitteilungen im Prolog bereits überholt. So wird in der Antigone schon im Prolog der Plan entwickelt, das Bestattungsverbot des Kreon zu übertreten, während der Chor in der Parodos von dieser neuen Konfliktsituation noch nichts ahnt. Das ist natürlich ein Kunstgriff des Sophokles, und es ist ganz unsinnig, die Reihenfolge: Prolog – Parodos umzukehren, um die ‹richtige› zeitliche Abfolge herzustellen, wie dies gelegentlich in modernen Aufführungen geschieht (so zuerst in der Fassung von Rochlitz, die 1809 unter Goethe am Weimarer Hoftheater gespielt wurde). Jedenfalls trägt die Parodos mit dem Prolog zur Exposition der Situation bei.

Die Handlung im eigentlichen Sinne kommt mit dem ersten Epeisodion in Gang. Die Tragödie ist nun weiterhin gegliedert durch vier bis sechs Epeisodia, die durch Chorlieder getrennt sind. Epeisodion heißt «Auftritt» und meint den Auftritt einer neuen Dramenfigur. Dafür stehen drei Schauspieler zur Verfügung, die aber jeweils mehrere Rollen spielen müssen, denn die Tragödie des Sophokles enthält in der Regel sieben bis neun Rollen. Der Dichter muß es nun so einrichten, daß niemals mehr als drei Personen als Rollenträger gleichzeitig auf der Bühne sind. In der Antigone z.B. gibt es neun Dramenpersonen. Kreon ist fast die ganze Tragödie über auf der Bühne, so daß ein Schauspieler fast ganz damit ausgefüllt ist. Er kann aber auch die Eurydike spielen. Der Schauspieler, der Antigone spielt, kann auch Haimon spielen; sie begegnen sich nicht auf der Bühne. Der Schauspieler der Ismene kann auch den Wächter spielen; die kleineren Rollen (Teiresias und die beiden Boten) können auf diese beiden Schauspieler verteilt werden. Das ist für unser Empfinden seltsam, wird doch das emotionale Hineinleben in der Verkörperung einer Dramengestalt durch ein Wechseln von einer Rolle zur anderen erschwert. Erleichtert wird dies durch die Verwendung der Maske, die den Dramentyp festlegt und den individuellen Emotionen Grenzen setzt, und durch den Umstand, daß auch alle Frauenrollen von Männern gespielt werden.

Das Epeisodion besteht in sich aus mehreren typischen Elementen. Da ist zunächst die Schauspielerlangrede (Rhesis), die schon in der homerischen Rede angelegt und durch die im fünften Jahrhundert aufkommende Kunst der Rhetorik verfeinert ist. Einen besonderen Höhepunkt dabei bildet der stets als Glanzpunkt empfundene und von den Hörern auch erwartete Botenbericht, der in vielen Tragödien vorkommt und durch den hinterszenische Vorgänge mitgeteilt werden, die man auf offener Bühne selbst nicht gern zeigt (Mord, Selbstmord). Oft kommt es auch zu einem Rededuell von Vertretern zweier entgegengesetzter Standpunkte, wobei allerdings ein regelrechter Wettkampf (Agon) in der Komödie formal stärker ausgestaltet ist als in der Tragödie. Das Gegenteil der Langrede ist die Stichomythie, in der zwei Dramenpersonen abwechselnd nur jeweils einen Vers (gelegentlich sogar nur einen Halbvers) sprechen, sozusagen ein Schlagabtausch im Streit. Während Rat, Beratung und Überredung ihren Ort in der Langrede haben, bedeutet die Argumentation in der knappen Form der Stichomythie eine Steigerung in der Lebhaftigkeit, der Erregung und der Spannung. Namentlich Sophokles hat vielfach die Entscheidungen der handelnden Personen in die Stichomythie gelegt.

Ist das Epeisodion zwar grundsätzlich vom Chorlied getrennt, so gibt es doch innerhalb der Epeisodia Szenen, an denen der Chor, gelegentlich nur der Chorführer, beteiligt ist. Man nennt diese Szenen epirrhematische Szenen. Dabei handelt es sich um Dialogpartien, die nicht ausschließlich im Sprechvers des iambischen Trimeter vorgetragen werden, sondern in einem Wechsel von singendem Chor und sprechendem Schauspieler (seltener umgekehrt). Eine besondere Ausprägung eines Miteinanders von Chor und Schauspieler innerhalb eines Epeisodion ist der in der griechischen Tragödie überaus beliebte Kommos («Klagegesang»), der, strophisch gegliedert, auch den im Wechsel mit dem Chor auftretenden Schauspieler in lyrischen Versmaßen sich äußern läßt. Hier kann das Leid in der Klage in gesteigertem Pathos strömen. Der Oberbegriff für jede Art von Wechsel zwischen Chor und Schauspieler, zwischen lyrischem Metrum und Sprechvers heißt Amoibaion («Wechsel»), der auch die seltenere Form des Wechsels zwischen einem singenden und einem sprechenden Schauspieler zuläßt. Das Epeisodion kann jedenfalls in einer großen Variationsbreite mit ihrerseits typisierten Formen ausgefüllt werden. Das Epeisodion ist auf diese Weise der quantitative Hauptteil der Tragödie, in dem sich die eigentliche Handlung vollzieht. Er ist das, was man später den Akt des Dramas genannt hat. Aus dem bloßen Wort ist merkwürdigerweise der deutsche Begriff Episode entwickelt, der ja etwas Beiläufiges meint, was vom Kern der Handlung eher wegführt. Dieser Gebrauch des Wortes stammt aus der Alten Komödie, in der sich in der Tat meist nach Abschluß der Handlung ‹episodische Szenen› anschließen, die das Ergebnis der Handlung ausmalen und exemplifizieren. In der Tragödie meint aber Epeisodion etwas anderes.

Getrennt werden die Epeisodia durch Chorlieder, für die sich seit Aristoteles der Begriff Stasimon («Standlied») eingebürgert hat, obschon sich der Chor tanzartig bewegt haben wird; das griechische Wort Chorós heißt ja ursprünglich «Tanz». Die Tanzbewegungen sind uns weitgehend unbekannt. Das Chorlied ist ja im Sinne des alten Kultliedes überhaupt die Keimzelle der Tragödie; die Schauspieler kamen erst später hinzu. Die Chorlieder der Tragödie sind im Sprachstil und in der Metrik Erbe der älteren undramatischen Chorlyrik; sie sind in Strophen, meist in Strophenpaare (Strophe, Antistrophe) gegliedert. Und sie sind unter Begleitung des Aulós (etwas ungenau meist mit «Flöte» übersetzt) gesungen worden. Die Musik ist verloren, lediglich für sieben Zeilen aus einem Chorlied des Orest sind Notationen auf einem Papyrus erhalten. Versuche der Rekonstruktion der Musik, auch auf Schallplatten, bleiben unbefriedigend.

Für die Eigenart des Chores in der Tragödie gibt es nur wenige typische Möglichkeiten. Man unterscheidet hauptsächlich zwischen dem Gemeindechor und dem Gefährtenchor. Der Gemeindechor besteht aus Beratern, Getreuen (meist sind es Alte), in der Regel am Königshof (so in der Antigone, im König Ödipus und im Ödipus auf Kolonos), der Gefährtenchor aus Kriegern (so im Aias), aus Matrosen (so im Philoktet) oder aus Frauen in der Umgebung einer weiblichen Hauptperson (so in der Elektra und in den Trachinierinnen). Der Chor besteht so aus einer Gruppe anonymer, meist nichtadliger Personen, die als rangniedere Gestalten zwar in einem engen Verhältnis zur Hauptperson, jedoch nicht auf dem gleichen gesellschaftlichen Niveau wie diese stehen, gleichwohl aber den Höherstehenden Ratschläge erteilen und deren Leid kommentieren können.

Der Chor handelt nicht; er steht nicht auf einer Stufe mit einer einzelnen Dramenfigur. Seine Funktion im Drama ist bis heute in der Forschung umstritten. In ihm so etwas wie einen vierten Schauspieler zu sehen, verkennt den Sonderstatus, den der Chor zweifellos hat. Ihn in eine vollkommen integrierte Rolle zu pressen, führt zu den absonderlichsten Konsequenzen. Man muß dann alle Äußerungen des Chores, die nicht zu der einmal festgelegten Rolle passen, als unangemessene Geschwätzigkeit oder als Irrtum und Fehldiagnose interpretieren. Man beruft sich dafür auf eine viel diskutierte Formulierung in der Poetik des Aristoteles (18, 1456a 25): «Den Chor muß man wie einen der Schauspieler einbeziehen, und er muß Teil des Ganzen sein und in das szenische Spiel integriert sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles.» Das ist eine sehr verkürzende Aussage, auch in ihrer Schlußbemerkung, gibt es doch viele Tragödien, in denen Euripides den Chor nicht anders handhabt als Sophokles. Beim späten Euripides finden sich jedoch gewisse Auflösungstendenzen zwischen Chor und Dramengeschehen mit einem größeren Eigengewicht des lyrischen und wohl auch des musikalischen Elements, die sich in der Theaterpraxis zur Zeit des Aristoteles verstärkt haben in Richtung auf beliebig austauschbare Choreinlagen, die zu den späteren entreactes hinführen. Für Aristoteles jedoch ist die ideale Tragödie ein in sich geschlossenes Ganzes. In diesem Sinne ist ihm Sophokles ein Vorbild, und in der Tat ist in den Tragödien des Sophokles der Chor organisch in das Spiel einbezogen, sowohl in den Chorliedern als auch in der Beteiligung des Chores bzw. des Chorführers (durch den der Chor sich vertreten lassen kann) am Schauspielergespräch. Keines der Chorlieder ist in der Abfolge der Tragödie austauschbar. Und doch gehen die Chorlieder in ihrer allgemeinen, meist pointiert-gnomisch geformten Aussage über die jeweilige ‹Rolle› eines Chores hinaus. Das berühmte Chorlied aus der Antigone: «Vieles Gewaltige lebt» (332–375) läßt sich zwar an den Gedanken: ‹Es ist etwas Unerhörtes geschehen› stichwortartig anknüpfen, es geht aber in der allgemeinen Aussage über die technischen Fähigkeiten des Menschen, der sich die Natur untertan macht und sich als soziales Wesen etabliert, nicht aus dem dramatischen Verlauf der Handlung hervor und ist auch nicht dem Niveau der alten Getreuen am Königshof in Theben kommensurabel. Hier in irgendeiner Weise auch die Stimme des Dichters herauszuhören, kann man schwer leugnen, ohne damit den Chor im ganzen generell zum ‹Sprachrohr des Dichters› zu machen. Es ist aber auch der Aspekt des Hörers inbegriffen. Der Chor besteht ja aus einer Gruppe (männlicher) – im Unterschied zu den Schauspielern – nicht professioneller attischer Bürger, die sich in den Chorliedern auch nicht an die auf der Bühne gar nicht anwesenden Schauspieler, sondern an das Publikum wenden und so eine gewisse Brücke zu den Zuhörern schlagen. Der Dichter kann mit Hilfe des Chores die Distanz zwischen szenischem Geschehen und Zuschauer regulieren. George Steiner hat einmal das Bild von der Zugbrücke geprägt, die der Dichter zwischen Chor und Publikum entsprechend seinen poetischen Intentionen hochziehen und herablassen kann. Damit wird natürlich der Chor auch nicht umgekehrt zu dem «idealen Zuschauer», als den August Wilhelm Schlegel ihn sah, der (was er nicht wußte) einen gewissen Vorläufer in einer Notiz aus der Schule des Aristoteles hatte, wonach der Tragödienchor ein «nicht in die Handlung eingreifender Beobachter» sei (Ps.-Aristoteles, Problemata 19, 48). Die Chorlieder bringen also gelegentlich Motivationen, die nicht aus den Gegebenheiten des tragischen Spieles erwachsen, die dann auf die Stufe der Reflexion gelangen. Die Chorlieder einer Tragödie können sich untereinander auf einer höheren Ebene zusammenschließen. Grundsätzlich aber ist der Chor bei Sophokles in das dramatische Geschehen einbezogen, in das er indes nicht handelnd eingreift.

Der Chor symbolisiert als Einheit Vieler die gemeinschaftsbildende Kraft des griechischen Theaters. Er ist schützender Spielraum und Gravitationszentrum des Stückes; die Schauspieler und insbesondere der Protagonist sind an ihn gebunden. Er ist aber in der Regel nicht mit dem vorgegebenen Mythos verknüpft, so daß der Dichter in der Wahl und Handhabung des Chores eine relativ große Freiheit hat. Offenbar war der Chor in der Tragödie wie in der Komödie an die besonderen Bedingungen der Bürgeridentität im Athen des fünften Jahrhunderts geknüpft. Denn kurz darauf, schon zur Zeit des Aristoteles, war er in beiden Gattungen verkümmert. Der modernen Dramatik steht er – von einigen Experimenten abgesehen – fern. In der Oper lebt er unter gewandelten Bedingungen teilweise fort; Friedrich Schiller hat in seiner Braut von Messina den Chor für das klassische Drama zurückzugewinnen versucht, aber auch das blieb Experiment. So ist es nicht verwunderlich, daß für den modernen Regisseur eines antiken Dramas der Chor das schwierigste Problem darstellt, dessen Lösung er sich in vielen Fällen dadurch entzieht, daß er den Chor auf ein oder zwei Personen reduziert und damit seinen Sonderstatus einebnet.

«Experimente des 20. Jahrhunderts, die entweder auf Beteiligung des Publikums beispielsweise durch verstecktes Placieren von Schauspielern im Parkett und auf den Rängen oder auf ‹Verfremdung des Publikums› zielen, wie das Plakate oder ‹objektive› Kommentatoren bei Brecht tun, sind primitiv im Vergleich zu der Skala von Effekten, die der Chor formal und begrifflich in der griechischen Tragödie erzielt.» (G. Steiner, Die Antigonen, 1988, 208).

Die durch den Wechsel von Epeisodia und Chorlieder gegliederte Tragödie wird abgeschlossen durch die Exodos. Das ist ursprünglich der «Auszug» des Chores in Marschanapästen, analog der Parodos. Aber dieser konkrete und ursprüngliche Begriff von Exodos ist erweitert in der Definition des Aristoteles (Poetik 12, 1452b 21): Die Exodos ist «der Teil des Dramas, auf den kein Chorlied mehr folgt.» In diesem Sinne ist der Schluß der griechischen Tragödie wiederum in einem ganz typischen Verlauf gestaltet. Man unterscheidet zwischen dem ‹Präsentationsschluß› und dem ‹Handlungsschluß›. Im ersten Falle werden Tat und Täter präsentiert, erst indirekt im Bericht, dann direkt im Auftritt des Betroffenen, so besonders deutlich im König Ödipus. Verbunden mit der Präsentation ist die Deutung des Geschehens, oft im Zusammenhang mit einer Verallgemeinerung und dem Ausblick auf eine Zukunft. Im ‹Handlungsschluß› bekommt die Handlung noch einmal neue Impulse und wird bis ganz zum Schluß geführt. Gelegentlich findet die Haupttat überhaupt erst am Schluß statt (so in der Elektra). Natürlich gibt es auch Mischformen. Der ‹Präsentationsschluß› findet sich am häufigsten; er ist auch die ältere Form und wohl ursprünglich aus der Totenklage (Präsentation des Toten) erwachsen. Eine besondere Form des Tragödienschlusses ist durch die Worte deus ex machina bezeichnet. Man versteht darunter das Auftreten einer Gottheit als plötzliche, nicht vorbereitete Epiphanie (Erscheinung), die von außen zu den handelnden Personen hinzutritt und das von den Dramenpersonen nicht mehr lösbare Geschehen zu Ende führt, oft mit einem Ausblick über das Ende der Tragödie hinaus. Diese Technik scheint Euripides erfunden zu haben; Sophokles macht in den erhaltenen Tragödien nur im Philoktet von ihr Gebrauch, aber in ganz eigener Weise.

Der Stoff der Tragödie

Damit ist die Oberflächenstruktur der Tragödie einigermaßen beschrieben. In diese Struktur hinein mußte der Dichter seinen Stoff transformieren, unabhängig davon, ob dieser Stoff eine analoge oder eine ganz andere Struktur aufweist. Es kann also sein, daß die Oberflächenstruktur der Tragödie und die Tiefenstruktur der ‹Fabel› nicht kongruieren, wie z.B. im Aias, wo sich mitten in einem Epeisodion ein großer inhaltlicher Einschnitt findet.

Der Stoff der Tragödie ist in aller Regel der Mythos. Der Mythos ist aber keine abstrakte Größe, sondern geformt durch Dichtung, bildende Kunst oder mündliche Tradition. Für die Tragödie ist die Dichtung, und hier vor allem das Epos, die bei weitem wichtigste Komponente, während die mündliche Überlieferung für die Gestaltung lokaler Mythen relevant ist und die Vasenmalerei eigenen Gattungsgesetzen gehorcht, wobei sie auf die Tragödie, sowie umgekehrt diese auf die Vasenmalerei, einen geringeren Einfluß ausübt, als meist angenommen wird. Der Mythos reflektiert Verhältnisse einer vergangenen Zeit mit deren politischen und gesellschaftlichen Strukturen (Königtum, Spuren von Matriarchat), die von denen der Gegenwart des Dichters stark abweichen. Zudem ist der Mythos, sofern es sich um Göttermythen und Heldensagen handelt, zunächst in epischer Form überliefert – bei den zahlreichen von Tragikern in zumeist verlorenen Tragödien aufgegriffenen Lokalmythen liegen die Verhältnisse etwas anders. Die Umformungen des Mythos bestehen neben der formalen Umgestaltung vor allem in der Herauslösung des einzelnen Mythos aus dem epischen Zusammenhang und seiner Funktion in der alten Adelswelt und dann in der Einfügung in die Polis und deren neue Bezugssysteme. Dieser Prozeß gelingt dadurch, daß der Dichter in der Gestaltung des Mythos allgemeine Strukturen sichtbar macht, die sich auch auf seine eigene Gegenwart anwenden lassen. Vorgänge im Königshaus von Theben müssen auf die Angelegenheiten der Polis des demokratischen Athen beziehbar sein. Es gibt in der griechischen Tragödie Signale, die über die dramatische Illusion hinausweisen auf das Theater und die Verhältnisse zur Zeit des Dichters. Man spricht hier neuerdings von ‹Metatheater› in einer zuweilen nicht klar definierten Begrifflichkeit. Daß der tragische Dichter Probleme seiner Zeit in einer Vorvergangenheit spielen läßt, trägt zur Rezeptionsmöglichkeit der antiken Tragödie heute bei. Gegenwärtiges spiegelt sich in einer Vergangenheit und wird so der Verallgemeinerung fähig.

Einen beträchtlichen Anteil an Stoffen der sophokleischen Tragödie nimmt der troische Sagenkreis ein. Dabei bezieht sich Sophokles weniger auf Stoffe aus den homerischen Epen Ilias und Odyssee als vielmehr auf den sogenannten Epischen Kyklos, in dem die sagenchronologisch vor und nach der Ilias spielenden Ereignisse in bis auf winzige Splitter und eine knappe Inhaltsangabe des Neuplatonikers Proklos (5. Jahrhundert n. Chr.) verlorenen Epen gestaltet waren, die im Kern auf vorhomerische Quellen zurückgehen, aber in nachhomerischer Zeit fixiert sind.

Die Umsetzung epischer Stoffe in die Tragödie ist naturgemäß unkompliziert bei einer inhaltlich verbunden Trilogie (wie sie Aischylos bevorzugt hat), weil die epische Erzählstruktur in geringerem Maße umgestaltet zu werden braucht als bei der für Sophokles bezeichnenden Konzentration des Geschehens auf die Einzeltragödie, wo der Geschehenszusammenhang durch Rückblick in Berichten und vielfach auch in Chorliedern hergestellt werden muß. Dieser Prozeß schließt natürlich die Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Stoffes vor allem durch Aischylos ebenso ein wie die literarische Konkurrenz mit den gleichzeitig wirkenden Dichtern, des Euripides zumal in den Fällen, wo dieser in der Bearbeitung des gleichen Stoffes dem Sophokles vorausgegangen ist (so beim Philoktet und vielleicht bei der Elektra).

Bei all diesen Überlegungen wird oft vergessen, daß uns mit sieben Tragödien nur einen Bruchteil dessen erhalten geblieben ist, was Sophokles geschriebenen hat. Sophokles hat ca. 130 Dramen verfaßt (die genaue Zahl läßt sich nicht ermitteln, da schon die antiken Zeugnisse schwanken); immerhin sind 122 Titel sophokleischer Dramen überliefert. Das ganze Werk ist jahrhundertelang bekannt und zugänglich gewesen, im vierten Jahrhundert noch in Aufführungen, dann in den von den Alexandrinern besorgten Ausgaben als Lesedramen. In nachchristlicher Zeit (nach dem 2. Jahrhundert n. Chr.) wurde ein engerer und später nochmals verengter Kanon als Schullektüre festgelegt. Dadurch gerieten die diesem Kanon nicht angehörenden Stücke in Vergessenheit, und so ist es gekommen, daß vom ausgehenden Altertum an nur noch die uns heute bekannten sieben Dramen erhalten waren, die vom zehnten und elften Jahrhundert an durch mehrere Handschriften (deren älteste und beste der in Florenz liegende sogenannte Laurentianus ist) überliefert sind. Wir besitzen also nur ca. fünf Prozent des sophokleischen Werkes, und es ist ein etwas riskantes Unternehmen, auf dieser schmalen Basis über Fragen etwa der Entwicklung, der Themenbereiche, bevorzugter Verfahrensweisen des Dichters im Sinne einer Hochrechnung zu urteilen. Man stelle sich nur vor, welches Bild wir von Sophokles hätten, wenn durch einen Zufall der Überlieferung nicht Antigone, Elektra und Ödipus erhalten wären, sondern Dramen wie z.B. Iobates, Sinon, Tyro, um nur diese exemplarisch herausgegriffenen Titel zu nennen, mit denen wir zunächst keinerlei Anschauung verbinden. Spätantike Kanonbildung entscheidet so über unser mythologisches Bewußtsein.

Nimmt man die 122 überlieferten Titel in den Blick, so gewinnt man einen Eindruck von der Weite der Thematik. Der troische Sagenkreis mit über vierzig Stücken steht an der Spitze, während dem thebanischen Sagenkreis nur sechs Dramen (darunter Antigone und König Ödipus) entnommen sind. Es kommen hinzu zahlreiche Tragödien aus Mythen um Herakles, Tantalos, Minos und die Argonauten, ferner manches, was sich überhaupt nicht in eine übergeordnete Kategorie einordnen läßt, und immerhin zehn Tragödien aus dem Umkreis attischer Sagen. Unter diesen 122 Titeln verbergen sich auch Satyrspiele; wie viele, bleibt ebenso unsicher wie der Anteil an weiteren Satyrspielen außerhalb der bekannten Dramentitel.

Alles in allem ist dies eine enorme Produktion. Der Eindruck dieser ungeheuren Arbeitsleistung wird noch gesteigert, wenn man bedenkt, daß der Dichter zugleich auch Komponist (der Chorlieder) und sein eigener Regisseur war (Ausnahmen dazu eher in der Komödie), mit dem zusätzlichen Effekt, daß eine Verfälschung der Intention des Dichters durch Eigenwilligkeiten des Regisseurs ausgeschlossen ist. Schließlich muß man sich vergegenwärtigen, daß die schriftliche Abfassung des Textes auf der Papyrusrolle ungleich komplizierter war als die Niederschrift mit Feder oder Maschine auf einem Blatt Papier. Selbst wenn Sophokles diktiert haben sollte (was wir nicht wissen), so muß er doch Aufzeichnungen gemacht haben; kurz: dieser technische Aspekt darf nicht unterschätzt werden.

Angesichts all dieser Vorgaben hat Sophokles außerordentlich schnell gearbeitet; im statistischen Durchschnitt hat er über eine Schaffenszeit von ca. sechzig Jahren alle sechs Monate eine Tragödie geschrieben. Die Geschwindigkeit dieser Produktion steht in einer gewissen Diskrepanz zu den Strömen an Philologentinte, die sich mit akribischem Scharfsinn auf die sieben erhaltenen Tragödien ergossen haben. Darin werden mitunter die antiken Produktionsbedingungen nicht genügend in Rechnung gestellt, auf die das Wort Goethes zutrifft: «Ja, wer wird läugnen, daß selbst Sophokles manchmal seine Pupurgewänder mit weißem Zwirn zusammengenäht habe» (an Eichstätt 15.9.1804).

Gewiß mag es eine Erleichterung für den Dichter gewesen sein, daß die Fabel in den Grundzügen beim Zuschauer vorausgesetzt sein konnte. Auch enthält so manche Tragödie neben den größeren festen Bauformen typische Szenen und stereotype Formeln (patterns) wie die Ankündigung von Aktionen, die Äußerung von Reaktionen und Emotionen, die gnomische Aussage, so wie Jahrhunderte zuvor der epische Dichter mit vorgeformten Elementen – Epitheta ornantia (schmückende Beiwörter), Formelversen, Iterata (Wiederholungen) – gearbeitet hat. Die Mahnung am Schluß des König Ödipus, man solle nur den glücklich preisen, der bis zum Ende seiner Tage kein Leid erfahren hat, ist sicher nicht für diese Tragödie erfunden worden, sondern sie ist ein derartiges typisches Element, das Sophokles einsetzen konnte.

Und doch rührt man fast an ein Wunder, wenn man sich die Lebensleistung des Sophokles vergegenwärtigt, in dem sich die Normalität des Bürgers eines griechischen Stadtstaates, des Polisbürgers, mit seinen politischen und sakralen Verpflichtungen verbindet mit der Ingeniosität des Dichters, dessen Werke noch heute auf der Bühne stehen.

II. Fest und Theater

Der Dichter konnte nicht nach Belieben eine Tragödie schreiben und sie einem Theater zur Aufführung anbieten. Er war vielmehr einem komplizierten Reglement unterworfen, das hier nur in aller Kürze skizziert sei.

Alle Dramen des Sophokles erlebten ihre Uraufführung im Dionysostheater zu Athen anläßlich der Großen Dionysien im Frühjahr (März/April). An dem kleineren Fest der Lenäen im Winter wurden nur gelegentlich Tragödien, im größeren Umfang Komödien aufgeführt. Dionysos, der nicht zu dem Kreis der ehrwürdigen zwölf olympischen Götter gehört und in Athen erst relativ spät im sechsten Jahrhundert zu kultischen Ehren gelangte, war wie kein zweiter Gott dazu angetan, herrschende Zwänge, Schranken und Bindungen zu durchbrechen. In Athen gewann er eine derartige Popularität, daß ihm zu Ehren im staatlichen Festkalender vier große Feste eingerichtet wurden (alle in den Winter- und Frühlingsmonaten). Er war der eigentliche Gott der demokratischen Polis, dem auch die dramatischen Agone galten.

Denn die Tragödie des fünften Jahrhunderts hatte ihren Sitz im demokratischen Athen. Sie entstand nur dort; sie war das erste Bürgertheater der Welt, in dem die Zuschauer sich als gleiche fühlen konnten. Das Theater war ein Ort der Bürgeridentität; die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren ein ungemein fruchtbarer Nährboden für die Produktion von Dramen. In der knappen Spanne eines Zeitraums von weniger als einem Jahrhundert (Aischylos ist 499 das erste Mal aufgetreten) sind in Athen fast 1000 Tragödien und etwa 500 Komödien entstanden, die zusammengenommen, wären sie erhalten, 160 Bände im Format der heutigen Texteditionen füllen würden. Der erhaltene Bestand macht, Fragmentsammlungen nicht mitgerechnet, gerade sieben Bände aus.

Der Weg eines Dramas von der Konzeption bis zur Aufführung war der folgende: Gleich nach Beginn des attischen Jahres (im Spätsommer) hatte der höchste politische Beamte, der Archon Eponymos (er war für ein Jahr durch Los bestimmt worden), unter den sich für die Dionysien des folgenden Frühjahres bewerbenden Dichtern drei Tragödien- und fünf Komödiendichter auszuwählen, deren Stücke für die Aufführung zugelassen wurden. Ob der Archon oder seine beiden Beisitzer die Dramentexte ganz, teilweise oder in Auszügen lasen oder wie sie sich sonst einen Eindruck von dem Angebot der Bewerber verschafften, wissen wir nicht. Jedenfalls mußten die Komödiendichter je eine Komödie, die Tragödiendichter eine Trilogie von drei (bei Aischylos häufig inhaltlich zusammenhängenden, bei den anderen Tragikern meist ohne Bezug zueinander stehenden) Tragödien und dazu ein Satyrspiel anbieten.

Die finanzielle Unterstützung für die Produktion – die unserer Subvention entspricht – übernahmen Privatleute, die der Archon zu bestellen hatte. Sie hießen Choregen, «Chorausstatter», und mußten mit ihrem persönlichen Vermögen für alle Kosten (Ausstattung, Masken, Kostüme, Unterhalt von Schauspielern, Statisten, Musikern und Chormitgliedern einschließlich Tagegeldern und Bewirtung) aufkommen. Ein beträchtliches Vermögen war dazu erforderlich, das einzusetzen als Ehre galt, aber auch als Mittel der Einflußnahme, weshalb wir gerade die berühmtesten Staatsmänner Athens (Themistokles, Perikles, Nikias, Alkibiades) unter den Choregen finden. Man brauchte jedes Jahr 28 Choregen, drei für Tragödie und Satyrspiel (die Tetralogie wurde als Einheit betrachtet), fünf für die Komödie und zwanzig für den Dithyrambos.

Sodann begannen die Vorbereitungen, die sich bis kurz vor Beginn des Festes und der Aufführungen erstreckten. Die komplizierte Einstudierung der Chöre übernahm meist der Dichter selbst; er konnte aber auch einen Chorleiter (Chorodidaskalos) engagieren. Zwei Tage vor dem Fest fand im Theater (seit 444 im Odeion des Perikles) der sogenannte Proagon statt. Er diente der Vorstellung der Dichter und ihrer Stücke. Jetzt erfuhren die Bürger offiziell, daß z.B. eine Antigone, ein Ödipus usw. gegeben werde, sofern sich dies nicht schon ohnehin herumgesprochen hatte. Auch für die Darstellung besonderer Vorkommnisse bot der Proagon Gelegenheit.

Einen Tag später wurde das Kultbild des Dionysos in einem symbolischen Akt nach Einbruch der Dunkelheit aus einem kleinen Tempel außerhalb der Stadt bei Fackelschein in das Heiligtum gebracht. Dieses Ritual der Wiederholung sollte an das ursprüngliche Erscheinen des Dionysos erinnern und suggerieren, daß der Gott jetzt wieder da sei. Die Kunde von der Erscheinung des Gottes leitete dann die eigentlichen Festtage ein.

Am folgenden Tag fand zunächst die feierliche Prozession statt. An ihr nahmen alle Mitwirkenden der Agone teil. Die Choregen konnten hier der Öffentlichkeit ihre Großzügigkeit demonstrieren, die in Prunk und Farbenpracht der Gewänder und in den Opfergaben ihren Ausdruck fand. Wo der Prozessionszug begann, wissen wir nicht; er endete jedenfalls beim Tempel des Dionysos. Dann begaben sich die Menschen zu einer Volksversammlung in das benachbarte Theater, wozu auch zahlreiche Fremde kamen. Das Meer war ja mit Beginn des Frühjahrs wieder schiffbar geworden, und das Dionysosfest lockte viele Menschen von auswärts an. So war schon diese Volksversammlung ein Akt ‹nationaler› Selbstdarstellung mit allerlei Ehrungen, Bekränzungen für Bürger, Verleihung von Waffenrüstungen an die volljährig gewordenen Kriegswaisen. Bei dieser Gelegenheit mußten auch die Mitglieder des attischen Seebundes ihre Tributzahlungen leisten. Bis etwa zum Beginn des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) konnten sich die Fremden auch von dem Wiederaufbau der durch die Perser zerstörten Akropolis (480 v. Chr.) überzeugen, wozu ja auch das Geld der Tribute benutzt wurde. Sie brauchten sich im Theater nur umzudrehen, um den Fortgang der Arbeiten zu sehen. Schon diese Rahmenbedingungen waren dazu angetan, die politische und kulturelle Überlegenheit Athens sichtbar zu machen, die dann in den Aufführungen ihren Höhepunkt fand.

Wohl noch am Nachmittag des gleichen Tages fanden die Aufführungen der Dithyramben statt. Dithyramben waren aus dem alten Kultlied des Dionysos hervorgegangene, strophisch gegliederte chorische ‹Heroenballaden›, deren Thematik nicht auf Dionysos beschränkt war. Ihre Aufführung war eine Angelegenheit der zehn attischen Phylen (Verwaltungsbezirke); jede Phyle brachte wahrscheinlich zwei Dithyramben zur Aufführung, insgesamt also zwanzig, mit einer Aufführungsdauer von jeweils ca. fünfzehn Minuten. Es wurden also jedes Jahr mehr Dithyramben aufgeführt als Tragödien, Satyrspiele und Komödien zusammen, und es ist sehr bedauerlich, daß von diesen Tausenden von Dithyramben kein einziger ganz erhalten ist. Nur aus wenigen Bruchstücken (zumeist auf Papyri) kann man sich eine ungefähre Vorstellung dieser im Laufe der Zeit auch Wandlungen unterworfenen Dichtung machen. Da die Dithyramben von jeweils aus 50 Knaben bzw. Männern bestehenden Chören vorgetragen wurden, brauchte man allein hierfür 1000 Chormitglieder. Rechnen wir die Chöre für Tragödie und Komödie sowie die Schauspieler, Chorleiter und sonstige Mitwirkende hinzu, so kommt man auf eine Zahl von über 1500 Mitwirkenden bei den dionysischen Agonen (die tragischen Chöre bestanden zur Zeit des Sophokles aus 15, die der Komödie aus 24 Mitgliedern). Sie alle waren an der Prozession beteiligt, zogen in das Theater ein und beschlossen den ersten Tag des Festes mit einem ausgelassenen Umzug.

Der zweite Festtag gehörte der Komödie, die ganz unmittelbar das aktuelle politische Geschehen zum Thema machte.

Die drei folgenden Tage waren dem Tragödienagon gewidmet, d.h. es wurden an jedem Tag drei Tragödien und ein Satyrspiel aufgeführt. Da nur eine einzige Trilogie vollständig erhalten ist (die Orestie des Aischylos) und sonst nur in einigen Fällen die Reihenfolge der Tragödien durch didaskalische Angaben (Inschriften oder Hypotheseis mit Angaben der Aufführungsdaten und Sieger) bezeugt ist, hat man mit viel Scharfsinn versucht, aus inneren Kriterien herauszufinden, welche Tragödie wohl vormittags, mittags oder nachmittags aufgeführt worden ist, indem man vor allem eine Korrespondenz zwischen den Gegebenheiten des Dramas (Zeitangaben) mit den natürlichen Licht- und Schattenverhältnissen zu den verschiedenen Tageszeiten gesucht hat. Aber dies ist nur sehr begrenzt möglich, da ja die fiktive Zeitspanne der Tragödie nicht mit dem wirklichen Ablauf der Tageszeit identisch ist.

Insgesamt waren die Athener und ihre Gäste im Theater an den fünf aufeinanderfolgenden Tagen einer enormen Anstrengung ausgesetzt, mußten sie doch außer den Dithyramben 17 Dramen rezipieren.

Das Publikum bestand vor allem aus den freien Bürgern Athens, ferner den Festgesandtschaften von auswärts, die aus Anlaß der Dionysien in Athen weilten. Aber auch Kinder, Frauen und Sklaven waren nicht ausgeschlossen, nahmen aber in weit geringerer Zahl teil. Genaueres wissen wir nicht, da die Bezeugung durch die Texte sehr knapp ist. Das gleiche gilt für das sogenannte Theorikon, ein Theatergeld, das Perikles eingeführt haben soll, um den ärmeren Bürgern den Besuch des Theaters zu ermöglichen, also eine ‹Eintrittskarte›, für die man nicht bezahlte, sondern eine Art Tagegeld bekam.

AntigonePhiloktet