Ezekiel Boone
DIE BRUT
Die Zeit läuft
Aus dem Amerikanischen
von Rainer Schmidt
FISCHER E-Books
Ezekiel Boone ist ein Pseudonym. Der Autor lebt mit seiner Familie im Bundesstaat New York, allerdings so weit nördlich von New York City entfernt, dass es nachts richtig dunkel wird. So dunkel, dass man höllisch aufpassen muss, nicht versehentlich von der Klippe am Ende seines Grundstücks zu stürzen.
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Sie sind da und vermehren sich rasend schnell ... Doch das ist erst der Anfang.
Fleischfressende Spinnen haben Los Angeles, Oslo, Delhi, Rio de Janeiro und weitere Städte befallen. Millionen von Menschen sind weltweit gestorben, und China gleicht einem nuklearen Wasteland. Da gibt die Wissenschaftlerin Melanie Guyer Entwarnung. Die Spinnen sterben, die Plage scheint überstanden. Doch hat sie damit recht? Als in Japan ein Kokon gefunden wird, der Spinneneier gigantischen Ausmaßes enthält und Überlebende in Los Angeles die Quarantänezone mit Waffengewalt verlassen, müssen die Regierungen einsehen: der Ausnahmezustand kann nicht aufgehoben werden. Jetzt muss die Präsidentin der USA mit einer schrecklichen Nachricht an die Presse: Jeder ist auf sich allein gestellt – denn die Spinnen haben sich Wirte gesucht, menschliche Wirte.
Nervenzerrrende Spannung - Sie werden das Atmen vergessen!
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Skitter« bei Emily Bestler Books / Atria Books, einem Imprint von Simon & Schuster, Inc., New York.
© Ezekiel Boone 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
nach einer Idee von David Wu, www.davidwuportfolio.com
Coverabbildung: David Wu
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403724-0
Für die Familie Rhéaume
Es war eine verdammt große Spinne. Das war der einzige Grund, weshalb er schrie. Er hatte keine Angst vor Spinnen. Wirklich nicht. Aber das Ding war so groß wie ein Vierteldollar gewesen. Mitten auf seiner Wange. Er war seit fünfzehn Tagen allein mit dem Rucksack unterwegs, und er hatte nicht ein einziges Mal Angst gehabt. Bis heute, seinem letzten Tag draußen, heute, als er mit einer furchterregenden, haarigen, hässlichen Spinne auf der Wange aufwachte. Na ja, ganz stimmte das nicht. Fünfzehn Tage allein in den Bergen der Wind River Range in Wyoming, die ganze Zeit, ohne eine lebende Menschenseele zu sehen? Fünfzehn Tage über Geröllfelder kraxeln, auf ungesicherten Höhenkämmen balancieren und sogar ein bisschen solo über die Felsen klettern, auch wenn er seinem Dad etwas anderes versprochen hatte? Er müsste ein Volltrottel sein, wenn er nicht hier und da ein leises Zucken der Besorgnis gespürt hätte. Und Winthrop Wentworth, Jr. – neunzehn Jahre alt, Sohn aus reichem Hause – war kein Volltrottel.
Win war seit zehn Monaten ununterbrochen auf Reisen gewesen. Mit dem Fahrrad durch Europa, Surfen in Maui, Tauchen in Bonaire, Skilaufen in den Alpen, Partys feiern in Thailand. Sein Vater besaß einen Hedgefonds und beträchtliche Anteile an drei verschiedenen Sportmannschaften, und Familienferien waren immer Veranstaltungen mit Butlern und Privatjets und Wasser gewesen, das man trinken konnte, ohne Durchfall befürchten zu müssen. Aber Wins Dad hatte sein Geld auf die harte Tour verdient, und die Idee, dass sein Sohn eine Pause einlegte, bevor er sein Studium in Yale anfing, gefiel ihm. Er wollte, dass sein Sohn ein Jahr freihatte, was er es als junger Mann nie hatte haben können. Also bekam Win zwei Kreditkarten ohne Limit und die Anweisung, sich jede Woche zu melden. Er war gleich nach der Highschool mit fünf Freunden aus seiner Privatschule gestartet; sie waren mit dem Fahrrad durch Italien und dann per Auto durch die alten Ostblockstaaten gefahren. Alle ein, zwei Wochen verabschiedeten sich Leute, und andere kamen dazu. So ging es bis Mitte August, und dann waren alle seine Freunde nach Hause zurückgekehrt, um sich auf das College vorzubereiten. Seitdem war Win allein unterwegs. Ihm machte das nichts aus. Er hatte nie Mühe, unterwegs Freunde zu finden.
Nicht, dass Win ein besonders gutaussehender Junge war. Er war groß, was gut war, aber auch ein bisschen dürr, und das war nicht so gut. Aber er war selbstbewusst, sprach Französisch, Italienisch und ein paar Brocken Chinesisch, interessierte sich aufrichtig für andere Menschen. Und er war reich. Dass er eine schwarze American Express Centurion-Karte oder seine heller gefärbte, aber ebenso satt klingende JP Morgan Chase Palladium Visa-Karte auf den Tisch knallen konnte, um eine oder drei Runden zu bestellen oder um ein Boot zu mieten und mit den sieben anderen Backpackern, die er in Phuket kennengelernt hatte, einen Tagesausflug zu machen, oder um sich einen neuen Anzug zu ordern und einen Preisaufschlag zu bezahlen, damit er genäht wurde, während er darauf wartete, damit er eine Frau, die doppelt so alt war wie er, zum Essen in ein sehr kleines, sehr exklusives Restaurant führen konnte – das bedeutete, dass er Freunde fand, wo immer er hinkam. Es bedeutete auch, dass er oft Sex hatte. Keine schlechte Art also, das Jahr zwischen Highschool und College zu verbringen.
Aber Mitte April des folgenden Jahres hatte das Abenteuerleben allmählich angefangen, ihn anzuöden. Trotz des scheinbar unerschöpflichen Reichtums seines Vaters war Win immer ein fleißiger Arbeiter gewesen. Die A-Noten auf der Highschool hatte er sich tatsächlich verdient. Er war nicht der talentierteste Spieler in der Basketballmannschaft, aber er rannte, bis er kotzte, und er sprang immer als Erster von der Auswechselbank. Und so rief er seinen Vater aus einem Hotel in der Schweiz an und erklärte ihm, er sei bereit, Schluss zu machen. Er wolle nach Hause kommen und als Praktikant beim Hedgefonds arbeiten, bis im Herbst die Uni anfinge. Aber vorher wolle er noch eine Rucksackwanderung durch die Wind River Range unternehmen, und zwar allein. Fünfzehn Tage nur er und sein Backpack, ein letzter Trip, um einen klaren Kopf zu kriegen.
Und das hatte funktioniert. Beim Wandern spürte er, wie die Reste von Alkohol und Gras durch seine Poren verdampften. Am dritten Tag fühlte er sich wieder frisch und wach, und am fünften kletterte er ein paar leichte Strecken am Fels. Seinem Dad hatte er versprechen müssen, keine Freeclimbing-Solotouren zu machen, aber Win hielt das Risiko für nicht sehr groß. Fünfzig, sechzig Fuß, mit Simsen und Klettergriffen wie Leitersprossen. Gerade genug, um seinen Puls ein bisschen zu beschleunigen.
Am letzten Tag wachte er mit der Sonne auf. Das war der Preis, den der Teufel dafür verlangte, dass man in einem Zelt schlief. Einen Moment lang lag er still mit geschlossenen Augen da und hoffte auf ein bisschen mehr Schlaf. Er atmete ein paarmal tief durch, und da spürte er das Kitzeln. Er riss die Augen auf, und da ragte sie in sein Blickfeld. Er stieß einen Schrei aus und schlug sich die Spinne von der Wange. Sie bewegte sich flink und krabbelte davon, in die Ecke des Zeltes. Win packte einen seiner Wanderstiefel und schlug die Spinne zu Brei.
Noch jetzt, als zehn Meilen des Pfades hinter ihm lagen und er vielleicht noch fünf Minuten bis zum Startplatz und zu seinem Truck zu gehen hatte, schauderte es ihn unwillkürlich, wenn er daran dachte. Er wollte wirklich gern glauben, dass er keine Angst vor Spinnen hatte. Aber die da war so nah gewesen. In seinem Gesicht. Igitt!
Win hatte ursprünglich daran gedacht, einen Jet zu chartern, so dass er dicht an Lander heranfliegen könnte, aber letzten Endes war es tatsächlich einfacher gewesen, nach Denver zu fliegen, trotz der fast sechsstündigen Autofahrt. Vorher hatte er nichts weiter tun müssen, als den Concierge Service von American Express anzurufen. Als Black Card-Inhaber hatte er verabredet, dass jemand ihn am Gate abholte und geradewegs zu einem Toyota Land Cruiser brachte – und dabei interessierte es niemanden, dass er erst neunzehn war. Als er am Startplatz und bei seinem gemieteten Truck war, ließ Win seinen Rucksack zu Boden fallen. Nach fünfzehn Tagen wandern fühlte das Ding sich ein gutes Stück leichter an. Zum einen hatte er seinen gesamten Proviant aufgegessen, und zum anderen hatte er sich an das Gewicht gewöhnt. Trotzdem tat es gut, die Last los zu sein. Er angelte den Autoschlüssel aus einem inneren Seitenfach und öffnete die Heckklappe. Dann holte er sein Handy heraus und schaltete es ein. Während es hochfuhr, durchwühlte er sein übriges Gepäck nach irgendeinem guten Snack. Er hatte einen Mordshunger. Aber Snacks waren Fehlanzeige, und das Telefon ebenfalls: Der Akku hatte seine Ladung zwar gehalten, aber hier oben auf dem Parkplatz war kein Funknetz. Seufzend ließ er das Telefon wieder in die Tasche fallen und hob dann seinen Wanderrucksack in den Kofferraum. Scheiß drauf.
Knapp eine Stunde später, kurz nach zwei Uhr nachmittags, rollte er ins Stadtzentrum von Lander, Wyoming. Die Bezeichnung Stadtzentrum war eher ein Witz; in dem Ort wohnten vielleicht sechs-, siebentausend Leute. Aber es gab hier etwas, das er sich wirklich wünschte: Hamburger mit Zwiebelringen. Er kam zum Lander Bar & Gannett Grill, sah sich nach einem Parkplatz um und fand einen hinter der nächsten Kreuzung. Das war einer dieser Übergangsriten für Backpacker in der Wind River Range. Du kommst zurück in die Stadt und stopfst dich im Bar & Grill mit gebratenem Essen voll. Vielleicht würde er sogar noch ein Eis essen. Er dachte kurz daran, sich ein Hotelzimmer zu nehmen, aber besser gefiel ihm die Vorstellung, noch am Abend in Denver zu sein, eine Suite im Four Seasons zu beziehen und ein rothaariges Mädchen anzurufen, das er in Thailand kennengelernt hatte. Sie hatte ihr Junior-Jahr am College unterbrochen und zum Teil dort verbracht. Er könnte zweitausend Kalorien verdrücken, um drei wieder unterwegs sein, um zehn aus der Dusche kommen und um Mitternacht mit ihr im Bett liegen. Das hörte sich sehr viel besser an als eine Übernachtung in einem Motel mit papierdünnen Wänden in Lander.
Er stieg aus dem Truck und blieb einen Moment lang stehen. Er wusste, er sollte sein Telefon aus seinem Rucksack heraussuchen, denn jetzt könnte es ein Funknetz geben. Aber er entschied, das hatte Zeit. Tatsächlich rechnete sein Dad erst in zwei Tagen damit, dass er von der Wanderung zurückkäme. Er würde ihn unterwegs anrufen. Die Rothaarige ebenfalls, und den Concierge im Four Seasons, damit er ihm das Zimmer reservierte und dafür sorgte, dass Champagner da war, falls sie welchen wollte – ihm selbst gefiel das klare Gefühl in seinem Kopf, und für die nächste Zeit hatte er genug vom Alkohol –, frisches Obst und eine Packung Kondome, diskret in der Nachttischschublade versteckt. Wenn die Rothaarige nicht so sexy drauf sein sollte, wie sie es in Thailand gewesen war, sollte ihm das auch recht sein. Sie war gescheit und witzig, und es wäre auch nicht schlecht, es sich einfach mit ihr auf dem Bett bequem zu machen und einen kitschigen Film anzusehen.
Er ging auf die Bar zu, blieb dann aber wieder stehen. Was zum …? Das Geschäft auf der anderen Straßenseite war eine ausgebrannte Hülse. Das Ladenschild war geschwärzt, und er konnte die Schrift gerade noch erkennen: The Good Place. Hunting. Fishing. Camping. Guns. Er hatte den größten Teil seiner Ausrüstung hier gekauft, bevor er seine Wanderung begonnen hatte. Vor knapp fünfzehn Tagen war es ein gutgehendes Outdoor-Ausrüstungsgeschäft gewesen, aber jetzt war es leer. Eine Ruine. Keine Bretter vor den Fenstern, kein Absperrband um das Gebäude, um die Leute fernzuhalten.
Er schaute die Straße hinauf und hinunter und sah, dass es nicht bloß The Good Place so ergangen war.
Auf der Fahrt in die Stadt hatte er nicht aufgepasst; er war zu sehr mit dem Gedanken an einen guten bauchfüllenden amerikanischen Burger beschäftigt gewesen. Aber Lander sah verwüstet aus. Er wusste, dass The Good Place nicht in diesem Zustand gewesen war, als er in die Berge aufgebrochen war, aber er konnte sich nicht erinnern, ob der Rest der Stadt auch so heruntergekommen ausgesehen hatte. Es war schwer vorstellbar, dass Lander von einer blühenden Geschäftswelt belebt sein sollte, aber trotzdem – das hier war komisch. Leere Schaufenster waren eine Sache, aber die Läden hier waren aktiv zerstört worden. Und ein paar Geschäfte weiter von da, wo sein Wagen parkte, steckte ein Pick-up zur Hälfte in der Fassade eines Schnapsladens. Es war chaotisch. Tatsächlich sah ganz Lander aus wie eine Katastrophenzone. Wie eine College-Stadt, die irgendeine Meisterschaft gewonnen – oder verloren – hatte. Randalierende weiße Kids. Aber das hier war keine College-Stadt. Also hatte vielleicht …
Er gluckste leise. Vielleicht war endlich die Zombie-Apokalypse hereingebrochen, während er draußen in der Wildnis war. Er war schließlich einen Tick länger als zwei Wochen weg gewesen. Lange genug. Er war mutterseelenallein in den Bergen gewesen, ohne Handy, ohne die Möglichkeit, Kontakt mit der modernen Welt aufzunehmen. Der Himmel wusste, was da alles passiert sein konnte, aber Zombies wären schon der Wahnsinn. Trotzdem, hier draußen, wo er jetzt stand, war es ziemlich still. Ein paar Straßen weiter unten sah er einen Pick-up, der langsam über eine Kreuzung rollte, aber er war der einzige Fußgänger auf der Straße. Rauchgeruch hing schwer in der Luft. Geschmolzenes Plastik und verkohltes Holz. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel gesehen hatte, und ihm wurde klar, dass er gar nicht sicher war, ob er während der Wanderung überhaupt einmal ein Flugzeug über sich gesehen hatte. An den 11. September 2001 hatte er keine Erinnerung, aber er hatte gehört, wie sein Vater erzählte, dass es sehr eigenartig gewesen sei, einen Himmel ohne Flugverkehr zu sehen. Er schaute hoch. Blauer Himmel mit ein paar Wolken. Wieder ein hinreißender Tag in Wyoming.
Ach, was sollte schon sein? Es war zu schön draußen, um sich Sorgen zu machen. Zombie-Apokalypse hin oder her, er brauchte jetzt eine Grillmahlzeit nach fünfzehn Tagen mit gefriergetrockneten Chili-Makkaroni und Nussmischungen. Er war bereit für einen Eimer voll Fett und Salz.
Er drückte den Sperrknopf an seinem Autoschlüssel und ging auf die Grillbar zu. Was immer er für Bedenken gehabt hatte, sie verschwanden, als er den Eingang erreichte. Er roch etwas Gegrilltes und den vertrauten Dunst einer Fritteuse. O Mann. Einen Cheeseburger mit Zwiebelringen, Chickenwings, die in scharfer Sauce ertranken, dazu eine Schale Blue-Cheese-Creme zum Dippen. Und zwei kalte Coke mit so viel Eis, dass ihm die Zähne weh taten, wenn er nur daran nippte. Musik lief, und es klang, als sei drinnen eine Riesenparty im Gange. Dass in einer Bar an einem Wochentag um zwei Uhr nachmittags wahrscheinlich nicht so viel Betrieb sein sollte, kam ihm erst in den Sinn, als er schon in der Tür stand.
Der Trubel erstarb, als er eintrat, und Win blieb stehen. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht in der Bar gewöhnt hatten. Dann sah er, dass ein extrem großer, extrem fetter Mann mit langen grauen Haaren und einem Bart, der bis auf die Brust reichte, mit einem Schrotgewehr auf ihn zielte. Jeder kleine Scherz, der Win auf der Zunge gelegen hatte, starb einen schnellen Tod bei dem Geräusch einer Schrotflinte, die durchgeladen wurde. Dieses Geräusch. Gab es irgendetwas auf Erden, das furchterregender klang als das Geräusch einer Schrotflinte, die gerade durchgeladen wurde?
»Wo kommst du her?«, fragte der dicke Mann.
Win zögerte. War er mitten in einen Raubüberfall geraten? Aber hätte der Kerl mit dem Schrotgewehr dann nicht die Tür abgeschlossen? Oder überhaupt lieber eine Bank überfallen?
Während Win noch überlegte, machte der dicke Mann zwei Schritte auf ihn zu und verpasste ihm mit der Schrotflinte einen Stups gegen die Wange. Wie ein Stups fühlte es sich allerdings nicht an. Es fühlte sich an, als sei sein Wangenknochen gebrochen, aber im Geiste bezeichnete Win es als Stups, denn so hätte es im Kino ausgesehen. Er presste die Hand an die Wange und spürte eine Platzwunde in seiner Haut. Glitschiges, klebriges Blut. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass er soeben einen Stups auf die Stelle bekommen hatte, wo die verdammte Spinne gehockt hatte, als er aufwachte.
»Gottverdammt nochmal. Was soll denn das?« Win hatte ein einziges Mal einen solchen Schlag abbekommen, in seinem Sophomore-Jahr beim Basketball auf der Highschool, aber da war es ein Ellenbogen gewesen, der ihm aus Versehen einen Nasenbeinbruch und ein blaues Auge verpasst hatte. Das war zweifellos ein Unfall gewesen. Sturm und Drang und sportlicher Wettkampf, all das, aber obwohl ein plastischer Chirurg die Nase bestens hatte richten können, hatte Winthrop Wentworth senior getobt. Er war so weit gegangen, über seinen Hedgefonds eine Mehrheitsbeteiligung an der Bank zu kaufen, in der der Vater des Jungen arbeitete, nur damit er den armen Kerl feuern konnte. »Niemand«, sagte Wins Dad gern, »legt sich mit den Wentworths an. Wenn jemand dich schlägt, schlägst du so hart zurück, dass er nicht wieder aufsteht. Wenn du dir das angewöhnst, werden die Leute aufhören, dich zu schlagen.«
Wins Dad sagte dauernd solches Zeug, aber Wins Dad war auch in Brooklyn aufgewachsen, als es hier noch keine Viertel mit Fünfzehn-Millionen-Dollar-Stadtvillen gab. Als Junge hatte er ständig Prügeleien gehabt, und wohl auch als Erwachsener noch ein- oder zweimal. Eine Geschichte – vielleicht eine Legende, aber vielleicht auch die Wahrheit – erzählte, wie sein Dad seinen ersten Milliarden-Dollar-Deal damit besiegelt hatte, dass er den Kopf eines anderen Mannes durch das Seitenfenster eines Autos gedrückt hatte. Aber so war Win nicht. Deshalb stand er einfach da und hielt sich die Wange.
Der Mann war wieder zurückgewichen, aber seine Flinte war immer noch auf Wins Bauch gerichtet. »Ich frage dich noch einmal«, sagte er, »und vielleicht wirst du mir diesmal antworten. Wo kommst du her?«
»Jetzt mal langsam«, sagte Win. »Von der Wind River Range. Von einer Rucksackwanderung. Ich bin vor ungefähr einer Stunde wieder zum Parkplatz zurückgekommen.«
Es sollte tapfer klingen, aber er wusste, das tat es nicht. Er fühlte sich auch nicht tapfer. Der Blick in die Mündung eines Schrotgewehrs verbrauchte allen Mut, den er vielleicht hatte.
»Wie lange warst du da draußen?«
»Fünfzehn Tage.« Win riskierte einen Blick durch das Lokal. Niemand rührte einen Finger, um ihm zu helfen. Im Gegenteil, ihm war, als habe er noch zwei weitere Gewehre gesehen, die auf ihn gerichtet waren. »Ich wollte hier nur einen Burger und eine Coke bestellen, bevor ich nach Denver weiterfahre.«
»Du warst fünfzehn Tage mit dem Rucksack draußen unterwegs?«
»Allein. Bis vor einer Stunde. Ich hab von einem großen Hamburger mit Zwiebelringen geträumt.« Win betastete vorsichtig seine Wange und zuckte zusammen. Er spürte etwas Scharfes unter der Haut. War das sein Wangenknochen? Hatte der Typ ihm den Wangenknochen gebrochen? Das war’s dann wohl mit Denver und Sex. Er würde geradewegs ins Krankenhaus fahren müssen. Die Verletzung musste genäht und vielleicht sogar operiert werden.
»Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich hier bei irgendwas gestört habe, aber wenn Sie mich jetzt einfach –«
»Spinnen?«
»Was?« Wins Hand lag immer noch an seiner Wange, aber jetzt zog er unwillkürlich eine Grimasse. Die Spinne, die er auf dem Zeltboden zerquetscht hatte.
Der Mann drückte die Flinte fest gegen die Schulter. Win gefiel nicht, wie sein Finger sich um den Abzug krümmte und wie er am Lauf entlangspähte. »Ich will wissen, ob du irgendwelche Spinnen gesehen hast.«
»Spinnen?«
»Bist du taub?«, fragte der Mann. »Soll ich dir noch einen Schlag ins Gesicht geben? Hast du irgendwelche Spinnen gesehen, als du da draußen warst?«
»Ja. Eine. Eine Spinne saß auf meinem Gesicht, als ich heute Morgen aufgewacht bin. Genau da, wo Sie mir mit der –«
Aber Win brachte das Wort »Flinte« nicht mehr heraus.
Denn das Gewehr ging los, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte.
Die Ziege wollte nicht durch die Tür. Das arme Vieh hatte schreckliche Angst; es blökte und bockte und pisste auf den Boden des Labors. Mit Müh und Not gelang es zwei Soldaten, die Ziege in die Luftschleuse der Bio-Quarantäneeinheit zu schieben. Professor Melanie Guyer konnte es dem Tier nachfühlen. Sie hatte ihre ganze berufliche Laufbahn damit zugebracht, Spinnen zu studieren, sie war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, aber sie hatte noch nie Spinnen wie diese hier gesehen. Ihrer Ansicht nach fürchteten die Menschen sich ohne guten Grund vor Spinnen. Besser gesagt, das war ihre Ansicht gewesen. Inzwischen hatte sie es sich anders überlegt. Sie hatte gesehen, was diese Spinnen mit Ratten anstellen konnten. Mein Gott, die ganze Welt hatte gesehen, was sie mit Menschen machten.
Los Angeles lag jetzt eine Woche zurück. Dass sie richtig geschlafen hatte, war länger her. Zehn Tage, seit sie per Overnight-Kurier aus Peru einen Eierkokon in ihr Labor an der American University geliefert bekommen hatte. FedEx, dachte sie, hatte noch nie ein gefährlicheres Paket befördert.
Zehntausend Jahre. So alt war der Eierkokon gewesen. Er war bei den Nazca-Linien ausgegraben wurden – riesenhafte Strichzeichnungen, die in den Wüstenboden der peruanischen Hochebene eingraviert waren. Gefunden hatte ihn ein Promotionsstudent der Archäologie, der mit einer von Melanies Doktorandinnen befreundet war, mit Julie Yoo. Der Eierkokon war in der Nähe einer Zeichnung vergraben gewesen, die eine Spinne darstellte. Die restlichen Nazca-Linien – Vögel, andere Tiere und geometrische Muster – waren vielleicht zweitausend Jahre alt. Jedoch nicht die Spinnenzeichnung. Die Spinne war anders. Älter. Viel älter. Julies Freund behauptete, der Kasten mit dem Kokon und andere Dinge, die sie dort ausgegraben hatten, seien zehntausend Jahre alt.
Vielleicht lagen die Spinner mit ihren Theorien über Nazca gar nicht so weit daneben. Wie konnte es sein, dass eine prähistorische Kultur solche schönen und präzisen Bilder erschaffen hatte? In einer Hinsicht war das Wie ziemlich einfach: Sie hatten den Fels weggeschlagen, so dass die weiße Erde darunter zu Linien im roten Boden geworden war. Die Plateaus waren vor der Witterung geschützt, so dass die Nazca-Linien die Jahrtausende hatten überstehen können. Zweitausend Jahre. Oder zehntausend Jahre. So alt, dass die Frage nach dem Wie in anderer Hinsicht nicht mehr zu beantworten war, denn eigentlich waren es keine Zeichnungen im traditionellen Sinn. In Bodennähe waren es Linien und Formen, weiter nichts. Aber aus der Höhe betrachtet, wurden sie so lebendig, dass man den Pulsschlag dieser Menschen spüren konnte, die zu uralten Göttern beteten. Sie hatten keine Flugzeuge, sie konnten nicht fliegen – wie also hatten sie die Linien entworfen? Wer wusste das schon?, dachte Melanie. Die Archäologen hatten sich darauf geeinigt, die einfachste Antwort sei, dass jemand schlicht erstklassige Planung geliefert habe. Die Nazca hatten die Bilder entworfen, die Linien abgesteckt und den Felsboden entfernt. Der Eierkokon war in einem vergrabenen Holzkasten gefunden worden, zusammen mit ein paar Pflöcken, die die Nazca benutzt hatten.
Sorgfältige Messungen und gute technische Planung. Menschlicher Erfindungsgeist. Mathematik. Naturwissenschaft. Das war es, woran Melanie glaubte. Zumindest war es das gewesen. Und jetzt? Allmählich öffnete sie sich für die Idee, die Nazca-Linien könnten auch auf andere Weise entstanden sein – und auch zu einem anderen Zweck.
Sie hatte die uralten Nazca-Bilder immer für eine Art Gebet gehalten. Sie hatte selbst einmal zu ihnen gebetet, vor Jahren. Damals, als sie und Manny noch ein Paar waren und als die Ärzte ihr mitgeteilt hatten, um ein Baby zu bekommen, wäre die Hand Gottes nötig. Nicht, dass der Anblick der Nazca-Linien und ein inbrünstig geflüstertes Gebet in einem kreisenden Flugzeug etwas genutzt hätten. Sie und Manny hatten sich getrennt, und sie war mit ihrem Labor und ihren Spinnen allein geblieben. Aber das war nicht der Punkt. Vielleicht war die ältere Zeichnung, die Zeichnung der Spinne, etwas anderes als die anderen Linien. Kein Gebet.
Vielleicht war die Spinne eine Warnung.
Zehntausend Jahre waren eine lange Zeit in der Menschheitsgeschichte. Ein Lidschlag in der Geschichte der Erde, aber weit außerhalb der Spanne menschlicher Aufzeichnungen. In dieser Zeitspanne ging jede Bedeutung verloren.
Wenn sie in der Lage gewesen wären, die Warnung zu verstehen, wäre ihre Welt vielleicht nicht zum Teufel gegangen.
Melanie rieb sich die Augen. Sie war so müde, aber sie hatte keine Zeit zum Schlafen. Sie wollte nicht schlafen. Sie hatte Angst einzuschlafen. Sie wusste, was sie sehen würde, wenn sie einschliefe: Bark, ihren Doktoranden und ehemaligen Lover, aufgeschnitten auf dem OP-Tisch, das Körperinnere durchzogen von Seidenfäden und Eierkokons. Patrick, der sich über den Arzt und die Schwestern hinweg streckte und mit der Kamera des Labors seine Fotos machte. Sie selbst auf der anderen Seite der Glasscheibe. Julie Yoo, die durch den Flur auf sie zurannte und mit ihren Informationen zu spät kam. Und dann, schnell und plötzlich: die Spinnen, die aus Barks Bauchhöhle schlüpften.
Melanie rieb sich die Augen noch fester. Sie wollte dieses Bild nicht sehen. Das Blut und die Eingeweide waren schlimm, aber schlimmer waren die Spinnen. Eine schwarze Welle. Ein einziges Wesen aus tausend individuellen Organismen.
Nie hatte sie Angst vor Spinnen oder irgendwelchen Insekten gehabt. Nicht ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben hatte sie sich geekelt. Wenn andere Kinder oder Erwachsene vor irgendwelchen Krabbeltieren flüchteten, hatte Melanie sich ihnen fasziniert zugewandt. Wie funktionierten sie?
Aber mit diesen hier war es anders.
Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und hielt dann inne. Ihre Hand zitterte. Sie war zappelig. Zu viel Koffein. Nicht genug Schlaf. Zu viel Nervosität. Wie lange war es noch mal her? Zehn Tage? Elf? Zwölf Tage, seit sie den Eierkokon bekommen hatte? Die Zeit war elastisch.
Die Ziege schrie wieder. Man konnte es nur so beschreiben. Kein Meckern, sondern ein Schrei. Sie trat aus und traf einen der Soldaten am Oberschenkel, aber der Mann fluchte nur und umschlang sie noch fester. Endlich gelang es den beiden – Melanie versuchte schon seit ein paar Tagen nicht mehr, sich ihre Namen zu merken –, die Ziege in die Schleuse zu zwängen. Sie sprangen heraus und schlossen die Tür. Da wartete die arme Ziege nun, einsam und verlassen. Sie hatte aufgehört zu blöken und stand nur zitternd da.
Die Soldaten blieben einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem zu kommen. In dem makellos sauberen Labor wirkten sie etwas deplatziert; ihre Kampfanzüge bildeten einen scharfen Kontrast zu den Laborkitteln und Jeans und T-Shirts, die Melanie und die anderen Wissenschaftler trugen, die jetzt in so großer Zahl ein- und ausgingen, dass Melanie schließlich bewaffnete Posten angefordert hatte, die das gesamte Stockwerk sicherten.
Bewaffnete Posten. Das war ihre neue Realität. Bewaffnete Posten, ein Krankenhauszimmer zum Übernachten und Spinnen, die eine Ziege in weniger als einer Minute bis auf die Knochen auffressen konnten.
Der erste Soldat absolvierte das vorgeschriebene Luftschleusen-Protokoll und arbeitete die Liste Punkt für Punkt ab. Als er fertig war, kontrollierte der zweite Soldat jeden Schritt noch einmal. Dann drehten sie sich um und schauten Melanie an. Alle schauten Melanie an. Anscheinend war sie für alles zuständig.
Noch zwei Wochen zuvor war es ihre größte Sorge gewesen, wie sie die lächerliche Beziehung zu Bark beenden sollte. Und jetzt hatte sie plötzlich ein komplettes Stockwerk der National Institutes of Health unter sich. Sie konnte bewaffnete Posten anfordern, um sicherzustellen, dass sie und Julie Yoo und die drei anderen zugelassenen Wissenschaftler nicht gestört wurden. Was immer sie wollte, ihr Exgatte Manny und sein Boss, die Präsidentin der Vereinigten Staaten, sorgten einfach dafür, dass es passierte.
Als sie sagte, sie brauche ihre Laborreinrichtung, wurde – Hokuspokus – über Nacht ihr gesamtes Labor an der American University hier beim NHI dupliziert. Tatsächlich dupliziert. Auf dem Schreibtisch stand sogar ein Kaffeebecher vom Grinnell College, der fast genauso aussah wie der Becher auf ihrem Tisch an der American University, nur ohne die kleine abgestoßene Stelle am Rand. Genau genommen, war ihre Einrichtung nicht einfach dupliziert, sondern auch noch verbessert und vergrößert worden. Es gab neue Geräte, die sie gar nicht bedienen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Und wenn sie das Labor verließ, hängten sich fünf Secret-Service-Agenten an ihre Fersen. Dabei hatte sie bisher wirklich nicht mehr getan, als ein- oder zweimal draußen in der Sonne zu stehen und die Soldaten zu bestaunen, die zu Hunderten die National Institutes of Health umringten. Wenn man Manny und Präsidentin Stephanie Pilgrim glauben konnte, war sie aktuell die wichtigste Frau der Welt. Es gab natürlich noch andere Wissenschaftler, die an der Frage arbeiteten, wie man mit diesen Spinnen fertigwerden könnte, aber Manny und Steph vertrauten ihr. Sie verließen sich auf sie. In ihren Augen war sie die letzte Hoffnung der Menschheit.
Keinen Stress.
Als Erstes musste sie jetzt herausfinden, was für Spinnen das verdammt nochmal waren, denn eins stand fest: Sie waren anders als alle Spinnen, die sie kannte. Als der Eierkokon aus Peru in ihr Büro gekommen war, hatte sie gespannt darauf gewartet, dass sie zu schlüpfen anfingen. Ein paar Stunden lang hatte es ausgesehen, als stehe sie kurz vor einer großen Entdeckung. Die fast zwei Dutzend Spinnen im Insektarium weckten intensive Neugier. Sie benahmen sich nicht wie Spinnen, zumindest nicht, wie Melanie sie kannte, und sie hatten Hunger. Dann hatte sie erkannt, dass es diese Spinnen nicht nur in ihrem Labor gab und dass es ganz sicher mehr als zwei Dutzend waren. Viel mehr. Hunderttausende. Es gab Ausbrüche in China, Indien, Europa, Afrika, Südamerika. Und in den Vereinigten Staaten. Wie viele Menschen waren schon gestorben?
Darüber konnte sie nicht nachdenken. Nicht jetzt. Jetzt musste sie sich auf diese Spinnen konzentrieren, denn sie hatte den Auftrag herauszufinden, wie man sie stoppen konnte.
»Okay«, sagte sie. »Julie, drehen wir?«
Julie streckte den Daumen hoch. Sie stand vor einer Reihe von Computermonitoren und beaufsichtigte die drei Techniker an den sechs Phantom-Kameras, mit denen man bis zu zehntausend Bilder pro Minute schießen konnte. Was immer mit der Ziege passierte, es würde bis ins letzte unerträgliche Detail aufgezeichnet werden, so dass Melanie es mit einer Geschwindigkeit abspielen könnte, in der eine Gewehrkugel langsam aussah.
Ein kleines Publikum versammelte sich vor der Scheibe. Es hatte zunächst große Zuschauermengen gegeben, bevor Melanie die Anweisung gegeben hatte, das Labor von allen entbehrlichen Mitarbeitern zu räumen. Jetzt waren da nur noch Dr. Will Dichtel, Dr. Michael Haaf, Dr. Laura Nieder und ein rundes Dutzend Doktoranden und Laborassistenten. Dichtel war Chemiker und spezialisiert auf entomologische Toxikologie. Er hatte ein kleines Vermögen mit der Synthese einer modifizierten Variante des Gifts der Braunen Einsiedlerspinne verdient, die man jetzt bei der Herstellung von Mikrochips verwandte. Haaf kam vom MIT und war wie sie Spezialist für Arachniden, und Nieder war hier, weil sie im Auftrag des Pentagons daran forschte, wie man das Schwarmverhalten von Insekten für das Schlachtfeld adaptieren konnte.
Melanie trat an die Luftschleuse und ging dieselbe Checkliste durch, die schon die beiden Soldaten abgearbeitet hatten. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Sie wusste, was kam. Sie sah sich nach Julie um, die noch einmal den Daumen hob, und dann nach den Wissenschaftlern vor der Scheibe. Ihre Hand schwebte über dem Tastenfeld.
Die Ziege starrte sie an.
Das arme Tier zitterte schrecklich.
Melanie drückte auf den Knopf, der die innere Tür der Luftschleuse öffnete.
Und sie kamen zum Fressen.
Wie ging der alte Witz? Komm zur Army, denn da kannst du die Welt sehen, neue Leute kennenlernen und sie in die Luft jagen? Er war zur Army gegangen, weil – na ja, was gab es denn sonst? Er war intelligent genug, um aufs College zu gehen, aber er hatte die Highschool nicht ernst genommen, und selbst wenn er es getan hätte, war Geld ein Problem. Detroit mochte ein verlockender Ort für Künstler und Hipster sein, die in der Lage waren, Häuser zu günstigen Preisen zu kaufen, aber Quincys Dad hatte darauf bestanden, dass er von dort verschwand. Quincys Dad war alt genug, um sich noch an die Zeit zu erinnern, als es gute Jobs für Gewerkschaftsmitglieder gegeben hatte, aber nicht alt genug, um selbst einen von diesen Jobs erwischt zu haben. Eine Woche nach Quincys Highschool-Examen fuhr sein Dad ihn daher zur Rekrutierungsstelle.
An der Vorstellung, Soldat zu werden, hatte Quincy nichts auszusetzen gehabt, und einen besseren Plan hatte er auch nicht gehabt. Als seine Freunde mit ihren Kursen am Community College anfingen, hatte er die Grundausbildung bereits hinter sich. Und als er jetzt im Staples Center stand, war sein erstes Jahrzehnt bei der Army fast vollendet. Sein Blick wanderte über die Eierkokons auf den Sitzen und in den Tribünengängen des großen Stadions, und ihm wurde plötzlich klar, dass er nicht sicher war, ob er die Gelegenheit haben würde, volle zehn Jahre in Uniform zu feiern.
Das Schlimmste war zu wissen, dass es einen Streit gegeben hatte, bevor sein Trupp den Auftrag bekommen hatte. Jemand hatte sein politisches Kapital eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Aufgabe, das Staples Center mitsamt den unzähligen Spinneneiern darin abzufackeln, an die Army gegangen war, nicht an die Navy, die Marines oder die Air Force. Vor jeder Mission gab es ein politisches Gezänk, und wenn er die Sache vermasselte, würde es danach auch noch ein politisches Gezänk um die Schuldfrage geben. Nicht, dass ihn das dann noch interessierte, denn falls er die Sache wirklich vermasseln sollte, wäre er wahrscheinlich so was wie tot. Er hatte an sich eigentlich keine Angst, dass er selbst irgendeinen Fehler machen könnte. Was ihm Sorgen machte, war eher die Möglichkeit, dass etwas schiefging, während sie das Stadion verdrahteten. Zum Beispiel – na ja, dass einer von diesen Kokons aufging und ein Strom von Spinnen herauswimmelte und ihn fraß oder Eier in seinen Körper legte, so dass er an irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft plötzlich aufplatzte, damit die Spinnen herauskommen und ein paar andere Leute fressen konnten.
Von den Spinnen abgesehen war es kein besonders komplizierter Job. Sie wollten den Bau nicht in die Luft jagen, sondern eher implodieren lassen. Der Plan war, eine ordentliche Feuersbrunst zu entfachen und dann, wenn es so heiß war, dass nichts eine Überlebenschance hatte, das Staples Center in sich selbst zusammenstürzen zu lassen, um die Feuersbrunst unter Kontrolle zu halten. Die Trümmer unter den verbogenen Stahlträgern und Betonbrocken dessen, was dann einmal ein Basketballstadion gewesen war, würden noch tage- oder sogar wochenlang glühen und brennen wie die Asche eines guten Holzkohlenfeuers. Aus diesem Inferno würde nicht eine einzige Spinne herauskriechen.
Vorher aber musste er die Sprengladungen anbringen und machen, dass er hier rauskam, ohne gefressen zu werden.
Die Kokons lagen gehäuft auf den Sitzen des Stadions, besonders zahlreich in den Reihen ganz oben unter dem Dach, wo das Licht der Scheinwerfer anscheinend nicht mehr so gut hinreichte. Sie waren unförmig – teils runde, volleyballgroße Kugeln, teils footballförmige Ovale und teils unregelmäßige Klumpen, bei denen es sich um alles Mögliche handeln konnte, und sie waren fast kreidefarben; Quincy hatte aus Versehen einen berührt, als er ein Kabel um eine Ecke schlingen wollte. Er hatte sich kalt und überraschend solide angefühlt und eine staubig weiße Spur an seinem Ärmel hinterlassen, die er hatte abwischen können. Weiter unten war es leichter, den Eierkokons aus dem Weg zu gehen, unten am Spielfeldrand, wo Quincy immer Prominente sah, die so taten, als interessierten sie sich tatsächlich für Basketball. Da unten lagen zwar auch noch Kokons, aber weniger und weiter verstreut. Auf dem Hartholz-Court selbst waren die Kokons zu Haufen und kleineren Ansammlungen angeordnet. Man konnte das Logo der Los Angeles Lakers in der Mitte des Spielfelds immer noch erkennen, und wenn Quincy einen Basketball – und hinreichende Selbstmordgedanken – gehabt hätte, dann hätte er mit einiger Mühe von einem Ende zum anderen dribbeln können.
Jetzt hatte er die Zündladung fertig verdrahtet und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er blickte auf und vergewisserte sich, dass es die letzte gewesen war, und mit abgrundtiefer Erleichterung verließ er das Stadion.
Draußen in der strahlenden Sonne Kaliforniens wurde Quincy beinahe schwindelig. Jemand reichte ihm ein Bier, und er ging damit zurück zu dem Zelt, das als behelfsmäßige Kommandozentrale aufgestellt worden war. Mehrere Kameras standen da. Quincy hatte gehört, dass die großen Fische in Washington live zuschauen würden.
Sprengungen waren nicht so, wie man sie in Zeichentrickfilmen sah. Es gab keinen Kasten mit einem Zündergriff, den man herunterdrückte, keinen Countdown über Lautsprecher. Man drückte lediglich auf einen Knopf. Nach den besten Schätzungen würde die Temperatur heiße tausend Grad erreichen. Glas und Metall würden schmelzen, Beton würde sich aufwölben und verbiegen. Das Staples Center würde sich in einen Hochofen für Spinnen verwandeln. Nein, dachte Quincy, es gab keinen Grund zur Beunruhigung.
Keinen Grund zur Beunruhigung, wenn man die vierhundertneunzig anderen Orte im Raum Los Angeles außer Acht ließ, wo bestätigten Berichten zufolge weitere Kokonlager existierten. Er war ein Glückspilz. Er würde in Los Angeles herumfahren und sie alle verbrennen dürfen.
Zumindest war keine der Stellen so schlimm verseucht wie das Staples Center, aber Quincy hatte Gerüchte gehört, dass nicht alle Kokons gleich waren. Die im Staples Center waren staubig und kalt, aber das galt wohl nicht für alle. Er hatte gehört, wie mindestens ein anderer Soldat behauptet hatte, sie seien klebrig und warm, und man könne beinahe hören, wie sich drinnen die Spinnen bewegten, der Himmel mochte wissen, wie viele, und nur darauf warteten herauszukommen. Ein anderer Soldat hatte ihm erzählt, er habe einen Eierkokon gesehen, der absolut riesenhaft war. So groß, dass ein Mensch hineingepasst hätte.
Von den Menschen, die vielleicht infiziert waren, einmal ganz zu schweigen – Quincy hatte alle Videos gesehen – waren die Eierkokons allein schon grauenerregend. Tausende von kleinen Zeitbomben, überall in der Stadt verteilt. Und jede dieser tausend Bomben enthielt Tausende von Spinnen, und alle waren bereit zu explodieren.
Tick. Tick. Tick.
Es schien, als stände die halbe Stadt in Flammen. Der orangegelbe Feuerschein vom Staples Center flackerte durch die Nacht. Aus der Luft hätte es wunderschön ausgesehen. Aber am nächsten Tag klebten Wolken von Rauch und Ruß am Himmel. Es war klar, dass keine Hilfe kommen würde. Eine volle Woche war es jetzt her, dass Los Angeles sich in einen Albtraum verwandelt hatte, und das Knallen von Schüssen war nichts Ungewöhnliches mehr.
Zwei Männer schleiften eine alte Frau über den Betonboden des Stadiontunnels, als wäre sie ein Gepäckstück.
Der Prophet Bobby Higgs war nicht erfreut.
»Wie oft müssen wir es noch für euch Schwachköpfe wiederholen«, sagte er zu den beiden, »dass es uns egal ist, wenn jemand Scheiße über uns erzählt. Aber es hilft unserer Sache nicht, wenn ihr euch aufführt wie Gorillas in Kampfstiefeln.« Sein Blick fiel auf die Füße der Männer. Sie trugen Kampfstiefel. Oder etwas ganz Ähnliches. Er wusste nicht genau, wie Kampfstiefel aussahen, aber beide trugen diese stahlkappenbewehrten Bauarbeiterstiefel, an die er dachte, wenn er an Kampfstiefel und Neonazis dachte.
Der größere der beiden Männer grunzte und ließ die Jacke der Frau los. Ihr Körper rutschte zur Seite, und ihr Arm fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Die Frage allerdings, welcher der Männer exakt der größere war, die war für Bobby schwierig zu beantworten. Sie standen in dem Tunnel unter dem Footballstadion der University of Southern California, und beide sahen aus, als hätten sie als Verteidiger spielen können, entweder hier bei der USC oder in einem Team der National Football League. Riesen. Zwei Meter, zwei Meter zehn, und sicher hundertfünfzig Kilo schwer. Aber jetzt dachte er, dass der, der die alte Lady hatte fallen lassen – Gill –, der Größere der beiden war. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Gill ein bisschen niederträchtiger aussah als Kevin. Nicht, dass Kevin ein besonders sanftmütiger Typ war, aber Gill besaß gerade genug Intelligenz, um in seiner Grausamkeit kreativ zu sein. »Sie hat gesagt, sie wollte versuchen, zum Zaun zu kommen.«
»Natürlich hat sie gesagt, sie wollte versuchen, zum Zaun zu kommen. Das Militär hat gestern das Staples Center in die Luft gesprengt, und jetzt sind sie in der Stadt unterwegs und brennen alles nieder, statt den Leuten zu helfen«, sagte Bobby. Er ging zu der Frau, packte sie bei den Haaren und zog ihren Kopf hoch, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sah aus wie Ende sechzig, vielleicht Anfang siebzig. Nicht auf die plastikhafte Art alter Ladys in Hollywood, die entschlossen waren, sich vom Altwerden freizukaufen, sondern so, wie man im mittleren Westen alt wurde, ohne sich für Falten und graue Haare zu schämen. Sie sah aus wie eine Großmutter.
»Sie hat Angst. Es gab ein kleines Zeitfenster, als die Quarantäne aufbrach und man tatsächlich hier rauskonnte, aber seit die Army ihren Kram im Griff hat und die Quarantäne tatsächlich durchsetzt, tritt sich jeder Einzelne, der es nicht geschafft hat abzuhauen, in den Arsch. Uns eingeschlossen. Niemand will hier sein. Wir wollen alle raus. Deshalb – yeah, sie hat Hunger und Angst und glaubt die jämmerlichen Lügen, die wir von der Bundesregierung hören.« Bobby richtete sich auf und wischte sich die Hände an seiner Anzughose ab. Kopfschüttelnd trat er einen Schritt zurück. »Sie glaubt, wenn sie zum Zaun kommt, findet sie da einen freundlichen Soldaten, der nicht glaubt, dass eine so liebe alte Lady jemals Spinnen im Leibe tragen würde. Sie war ihr Leben lang eine brave kleine Staatsbürgerin. Warum sollten sie ihr nicht helfen? Wie könnte eine Lady wie sie denn glauben, dass ihre Regierung sie im Stich lässt?«
Kevin trat von einem Fuß der Größe 47 auf den anderen und sah Gill an. Erst jetzt schien er zu merken, dass Gill die Frau losgelassen hatte. Also tat er es auch. Die Frau war bewusstlos und konnte ihren Fall nicht abfedern. Sie landete mit einem Geräusch auf dem Betonboden, das ein wenig beunruhigend klang. Vielleicht war sie tot? Nein. Sie atmete. Ohnmächtig also. Ein Faustschlag von einem dieser Kerle konnte genügen, dachte Bobby. Er seufzte. So oder so, sie mussten sie loswerden.
Gill starrte Bobby ausdruckslos an. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihm klarwurde, dass Bobby auf eine andere Frage geantwortet hatte als die, die er stellen wollte. »Was sollen wir mit ihr machen, Boss?«
Bobby hätte dem Ochsen am liebsten eine gescheuert. Er hörte das Dröhnen am Ende des Tunnels. So musste es sich für einen Sportprofi vor dem Spiel oder für einen Rockstar vor der Show anhören. Sie waren alle da draußen und warteten auf ihn. Er sah noch einmal auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Er hatte seine Rede für 17.30 Uhr angekündigt, aber schon um acht Uhr morgens versammelten sich die ersten Zuhörer im Stadion der USC