Arundhati Roy
Das Ministerium des äußersten Glücks
Roman
Aus dem Englischen von Anette Grube
FISCHER E-Books
Arundhati Roy wurde 1961 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Dehli. Mit 36 Jahren schaffte sie den internationalen Durchbruch mit »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Der Roman wurde zu einem epochemachenden Werk, das aus der Weltliteratur der Gegenwart nicht mehr wegzudenken ist. Für ihr politisches Engagement wurde sie u.a. mit dem Großen Preis der Welt-Akademie der Kulturen ausgezeichnet. Die letzten zehn Jahre widmete sie ihrem neuen Roman.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Das Ministerium des äußersten Glücks« führt uns auf eine Reise quer über den indischen Kontinent und tief in das Leben von unvergesslichen Helden, von denen jeder nach Zuflucht sucht – nach Liebe und Sinn.
Auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi wird ein handgeknüpfter Teppich ausgerollt. Auf einem Bürgersteig taucht plötzlich kurz nach Mitternacht ein Baby auf. In einem verschneiten Tal schreibt ein Vater einen Brief an seine dreijährige Tochter über die vielen Menschen, die zu ihrer Beerdigung kamen. In einem Zimmer im zweiten Stock liest eine einsame Frau die Notizbücher ihres Geliebten. Im Jannat Guest House umarmen sich im Schlaf fest zwei Menschen, als hätten sie sich eben erst getroffen – dabei kennen sie einander schon ein Leben lang.
Voller Inspiration, Gefühl und Überraschungen beweist der Roman auf jeder Seite Arundhati Roys Kunst. Zwanzig Jahre nach dem Weltbestseller »Der Gott der kleinen Dinge« ist ihr neuer bewegender Roman Liebeserklärung und Provokation zugleich: eine Hymne auf das Leben.
Dieses Buch ist ein Roman. Namen, Personen, Orte und Ereignisse entspringen entweder der Phantasie der Autorin oder sind Teil der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebendig oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017
unter dem Titel ›The Ministry of Utmost Happiness‹
bei Hamish Hamilton, an imprint of Penguin Books
© 2017 by Arundhati Roy
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt nach einer Idee von Two Associates
Coverabbildung: Mayank Austen Soofi
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403817-9
Arschloch Schwuchtel Schwanz deiner Schwester
O Gott, der du Leben erschaffst / Schmerz und Sorgen linderst / Glück schenkst / O Schöpfer des Universums / mögen wir dein höchstes sündentilgendes Licht empfangen / mögest du unsere Gedanken in die richtige Richtung lenken.
Er starb in seinem Käfig, der kleine Vogel / Und hinterließ seinem Jäger folgende Worte: / Bitte, nimm die Frühjahrsernte / und schieb sie dir in den vergoldeten Arsch.
Dieses Buch ist ein Roman. Namen, Personen, Orte und Ereignisse entspringen entweder der Phantasie der Autorin oder sind Teil der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebendig oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.
Für die Ungetrösteten
Ich meine, es ist alles eine Frage deines Herzens …
NÂZIM HIKMET1
In der magischen Stunde, wenn die Sonne fort, das Licht noch da ist, lösen sich Heere fliegender Hunde von den Banyanbäumen auf dem alten Friedhof und lassen sich über der Stadt treiben wie Rauch. Wenn die Fledermäuse wegfliegen, kommen die Krähen nach Hause. Der große Lärm ihrer Rückkehr kann die Stille nicht füllen, die die verschwundenen Spatzen hinterlassen haben und die alten Weißrückengeier, Wächter der Toten seit über hundert Millionen Jahren, die ausgemerzt wurden. Die Geier starben an Diclofenac-Vergiftung. Diclofenac, Rinder-Aspirin, das den Kühen verabreicht wird, um die Muskeln zu entspannen, Schmerzen zu lindern und die Milchproduktion zu erhöhen, wirkt – wirkte – wie Nervengas auf die Weißrückengeier. Jede chemisch entspannte, milchproduzierende Kuh oder Büffelkuh, die starb, war vergiftete Geierbeute. Während die Kühe zu besseren Milchmaschinen wurden, während die Stadt mehr Eis, Karamell, Cornettos und Nogger Chocs aß und mehr Mango-Milchshakes trank, begannen die Geier, die Hälse hängen zu lassen, als wären sie müde und könnten einfach nicht wach bleiben. Silberfarbene Speichelbärte tropften aus ihren Schnäbeln, und einer nach dem anderen stürzte von dem Ast, auf dem er saß, tot.
Nur wenigen fiel das Aussterben der freundlichen alten Vögel auf. Es gab so viel anderes, worauf man sich freuen konnte.
Sie lebte auf dem Friedhof wie ein Baum. In der Morgendämmerung verabschiedete sie die Krähen und hieß die Fledermäuse zu Hause willkommen. In der Abenddämmerung tat sie das Gegenteil. Zwischen den Schichten unterhielt sie sich mit den Geistern der Geier, die sich in ihren hohen Ästen sammelten. Sie spürte den sanften Griff ihrer Klauen wie den Schmerz in einem amputierten Arm oder Bein. Sie nahm an, dass sie nicht allzu unglücklich waren über ihren Abschied und Abgang aus der Geschichte.
Nach ihrem Einzug musste sie monatelang beiläufige Grausamkeiten ertragen wie ein Baum – ohne zusammenzuzucken. Sie drehte sich nicht um, um nachzusehen, welcher kleine Junge einen Stein auf sie geworfen hatte, reckte nicht den Hals, um die Beleidigungen zu lesen, die in ihre Rinde gekratzt wurden. Wenn die Leute sie beschimpften – Clown ohne Zirkus, Königin ohne Palast –, ließ sie die Kränkung durch ihre Äste wehen wie eine Brise und benutzte die Musik ihrer raschelnden Blätter als Balsam, um den Schmerz zu lindern.
Erst als Ziauddin, der blinde Imam, der einst die Gebete in der Fatehpuri-Moschee angeleitet hatte, sich mit ihr anfreundete und sie zu besuchen begann, beschloss das Viertel, dass es an der Zeit war, sie in Ruhe zu lassen.
Vor langer Zeit erzählte ihr ein Mann, der Englisch konnte, dass ihr Name, rückwärts geschrieben (in Englisch), Majnu buchstabiert wurde. In der englischen Version der Geschichte von Laila und Majnu, erzählte er, hieß Majnu Romeo und Laila Julia. Sie fand das urkomisch. »Du meinst, ich habe ein khichdi aus ihrer Geschichte gemacht?«, fragte sie. »Was werden sie tun, wenn sie herausfinden, dass Laila eigentlich Majnu ist und Romi in Wirklichkeit Juli war?« Als er sie das nächste Mal traf, sagte der Mann, der Englisch konnte, er habe einen Fehler gemacht. Ihr Name, rückwärts geschrieben, laute Mujna, was kein Name sei und überhaupt keine Bedeutung habe. Dazu sagte sie: »Macht nichts. Ich bin sie alle, ich bin Romi und Juli, ich bin Laila und Majnu. Und Mujna, warum nicht? Wer behauptet, mein Name ist Anjum? Ich bin nicht Anjum, ich bin Anjuman. Ich bin ein mehfil, eine Versammlung. Von allen und niemand, von allem und nichts. Möchtest du noch jemanden einladen? Alle sind eingeladen.«
Der Mann, der Englisch konnte, sagte, dass das ein schlauer Einfall von ihr sei. Er meinte, darauf wäre er selbst nie gekommen. Sie sagte: »Das wundert mich nicht, bei deinen Urdu-Kenntnissen. Was glaubst du? Dass dich Englisch automatisch schlau macht?«
Er lachte. Sie lachte über sein Lachen. Sie rauchten gemeinsam eine Filterzigarette. Er beschwerte sich, dass Wills Navy-Cut-Zigaretten kurz und dick und ihren Preis einfach nicht wert seien. Sie erwiderte, dass sie Navy Cut jederzeit Four Square oder den sehr männlichen Red & White vorziehe.
Sie erinnerte sich jetzt nicht mehr an seinen Namen. Vielleicht hatte sie ihn nie gewusst. Er war lange verschwunden, der Mann, der Englisch konnte, wohin er auch immer hatte gehen müssen. Und sie lebte auf dem Friedhof hinter dem staatlichen Krankenhaus. Gesellschaft leistete ihr der Godrej-Almirah aus Stahl, in dem sie ihre Musik aufbewahrte – verkratzte Schallplatten und Kassetten –, ein altes Harmonium, ihre Kleider und ihren Schmuck, die Gedichtbände ihres Vaters, Fotoalben und ein paar Zeitungsausschnitte, die das Feuer in der Khwabgah überstanden hatten. Den Schlüssel dafür trug sie an einer schwarzen Schnur um den Hals zusammen mit ihrem verbogenen Zahnstocher aus Silber. Sie schlief auf einem fadenscheinigen Perserteppich, den sie tagsüber einschloss und abends zwischen zwei Gräbern entrollte (zu ihrem privaten Vergnügen nie in zwei aufeinanderfolgenden Nächten zwischen denselben Gräbern). Sie rauchte noch immer. Navy Cut.
Eines Morgens, während sie ihm die Zeitung laut vorlas, fragte sie der Imam, der eindeutig nicht zugehört hatte, geheuchelt beiläufig: »Ist es wahr, dass sogar die Hindus unter euch begraben und nicht verbrannt werden?«
Da sie Ärger vorausahnte, machte sie Ausflüchte. »Wahr? Ist was wahr? Was ist Wahrheit?«
Nicht willens, sich von seiner Frage abbringen zu lassen, murmelte der Imam eine mechanische Antwort: »Sach Khuda hai. Khuda hi Sach hai.« Die Wahrheit ist Gott. Gott ist die Wahrheit. Die Art Weisheit, wie sie die Hecks der bemalten Lastwagen feilboten, die die Schnellstraßen entlangdonnerten. Dann kniff er die blinden grünen Augen zusammen und fragte mit einem durchtrieben grünen Flüstern: »Sag mir, wenn Leute wie du sterben, wo werden sie begraben? Wer wäscht den Leichnam? Wer sagt die Gebete?«
Anjum schwieg eine lange Weile. Dann neigte sie sich zu ihm und erwiderte ganz und gar nicht wie ein Baum, aber ebenfalls flüsternd: »Imam Sahib, wenn die Leute von Farben sprechen – rot, blau, orange, wenn sie den Himmel während des Sonnenuntergangs beschreiben oder den Mondaufgang während des Ramadans –, was geht dir da durch den Kopf?«
Nachdem sie sich auf diese Weise zutiefst, nahezu tödlich gekränkt hatten, saßen die beiden still nebeneinander auf einem sonnigen Grab und bluteten. Schließlich brach Anjum das Schweigen.
»Sag du’s mir«, sagte sie. »Du bist der Imam Sahib, nicht ich. Wo sterben alte Vögel? Fallen sie vom Himmel wie Steine auf uns? Stolpern wir auf der Straße über ihre Kadaver? Glaubst du nicht, dass der Allessehende, der Allmächtige, der uns auf diese Erde gestellt hat, nicht auch angemessene Vorkehrungen getroffen hat, um uns wieder von hier fortzubringen?«
An diesem Tag beendete der Imam seinen Besuch früher als gewöhnlich. Anjum sah ihm nach, wie er sich klopf-klopf-klopfend einen Weg durch die Gräber bahnte, sein Blindenstock machte Musik, wenn er auf leere Schnapsflaschen und weggeworfene Spritzen stieß, die die Wege vermüllten. Sie hielt ihn nicht auf. Sie wusste, dass er wiederkommen würde. Gleichgültig, was für eine raffinierte Scharade sie spielte, sie erkannte Einsamkeit, wenn sie ihr begegnete. Sie spürte, dass er auf eine merkwürdige, sprunghafte Weise ihren Schatten ebenso brauchte wie sie seinen. Und aus Erfahrung wusste sie, dass BEDÜRFNIS ein Lagerhaus war, in dem eine beträchtliche Menge an Grausamkeit Platz hatte.
Obwohl Anjums Auszug aus der Khwabgah alles andere als herzlich verlaufen war, wusste sie, dass nicht nur sie die Träume und Geheimnisse des Gebäudes verraten konnte.
Sie war das vierte von fünf Kindern, geboren in einer kalten Januarnacht bei Laternenschein (Stromausfall) in Shahjahanabad, der ummauerten Altstadt von Delhi. Ahlam Baji, die Hebamme, die sie entband und in zwei Tücher gewickelt ihrer Mutter in die Arme legte, sagte: »Es ist ein Junge.« Unter den Umständen war ihr Irrtum nachvollziehbar.
Als sie mit ihrem ersten Kind einen Monat schwanger war, hatten Jahanara Begum und ihr Mann beschlossen, es Aftab zu nennen, sollte es ein Junge sein. Ihre ersten drei Kinder waren Mädchen. Sie hatten sechs Jahre lang auf ihren Aftab warten müssen. Die Nacht, als er geboren wurde, war die glücklichste Nacht in Jahanara Begums Leben.
Als am nächsten Morgen die Sonne schien und es im Zimmer angenehm und warm war, wickelte sie den kleinen Aftab aus. Sie erforschte seinen winzigen Körper – Augen Nase Kopf Nacken Achseln Finger Zehen – gemächlich mit größtem Vergnügen. Und da entdeckte sie, versteckt hinter dem Jungen, zweifelsfrei ein kleines, nicht voll entwickeltes, aber doch, ein Mädchen.
Ist es möglich, dass eine Mutter vor ihrem eigenen Baby erschrickt? Jahanara Begum erschrak. Als erste Reaktion spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenzog und ihre Knochen sich in Asche verwandelten. Ihre zweite Reaktion war, noch einmal nachzuschauen, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht täuschte. Ihre dritte Reaktion bestand darin, zurückzuweichen vor dem, was sie in die Welt gesetzt hatte, während sich ihr Gedärm verkrampfte und ihr ein dünnes Rinnsal Scheiße die Beine hinunterlief. Als vierte Reaktion zog sie in Betracht, sich und ihr Kind umzubringen. Ihre fünfte Reaktion bestand darin, das Kind in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken, während sie in den Spalt zwischen der ihr bekannten Welt und den Welten stürzte, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Dort, im Abgrund, trudelte sie durch die Dunkelheit, und alles, dessen sie bis dahin sicher gewesen war, jedes einzelne Ding, vom kleinsten bis zum größten, ergab keinen Sinn mehr für sie. In Urdu, der einzigen Sprache, die sie beherrschte, hatten alle Dinge, nicht nur Lebewesen, sondern alle Dinge – Teppiche, Kleider, Bücher, Stifte, Musikinstrumente – ein Geschlecht. Alles war entweder männlich oder weiblich, Mann oder Frau. Alles außer ihrem Baby. Ja, natürlich, sie wusste, dass es ein Wort für jemanden wie ihn gab – hijra. Eigentlich zwei Wörter, hijra und kinnar. Aber zwei Wörter ergeben keine Sprache.
War es möglich, außerhalb der Sprache zu leben? Selbstverständlich stellte sich ihr diese Frage nicht als Abfolge von Wörtern oder als ein einziger klarer Satz. Die Frage stellte sich ihr als lautloses, embryonales Heulen.
Als sechste Reaktion wusch sie sich und beschloss, erst einmal niemandem davon zu erzählen. Nicht einmal ihrem Mann. Dann, als siebte Reaktion, legte sie sich neben Aftab und ruhte sich aus. Wie es der Gott der Christen getan hatte, nachdem er Himmel und Erde erschaffen hatte. Nur dass er ruhte, nachdem er der von ihm erschaffenen Welt einen Sinn gegeben hatte, wohingegen Jahanara Begum ruhte, nachdem das von ihr Erschaffene den Sinn der Welt verschlüsselt hatte.
Schließlich war es keine richtige Vagina, sagte sie sich. Ihr Eingang war verschlossen (sie kontrollierte es). Es war nur ein Anhängsel, ein Babyding. Vielleicht würde es abfallen oder heilen oder irgendwie weggehen. Sie würde in jedem Schrein, den sie kannte, dafür beten und den Allmächtigen bitten, ihr Gnade zu erweisen. Das würde Er tun. Sie wusste es, dass Er es tun würde. Und vielleicht tat Er es auf eine Weise, die sie nicht ganz verstand.
Am ersten Tag, an dem sie sich in der Lage fühlte, das Haus zu verlassen, ging Jahanara Begum mit Baby Aftab zum Dargah von Hazrat Sarmad Shaheed, der nur problemlose zehn Minuten zu Fuß von ihrem Zuhause entfernt war. Damals kannte sie die Geschichte von Hazrat Sarmad Shaheed noch nicht und hatte keine Ahnung, warum sie ihre Schritte so sicher in die Richtung seines Schreins lenkte. Vielleicht hatte er sie zu sich gerufen. Oder vielleicht zog es sie zu den merkwürdigen Menschen, die sie auf dem Weg zum Meena Bazaar dort gesehen hatte, die Art Leute, die sie in ihrem früheren Leben keines Blickes gewürdigt hatte, außer sie waren ihr direkt über den Weg gelaufen. Plötzlich erschienen sie ihr als die wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt.
Nicht alle Besucher von Hazrat Sarmad Shaheeds Dargah kannten seine Geschichte. Manche kannten Teile davon, andere wussten gar nichts, und wieder andere erfanden ihre eigenen Versionen. Den meisten war bekannt, dass er ein jüdisch-armenischer Händler gewesen war, der der Liebe seines Lebens wegen von Persien nach Delhi gekommen war. Wenige wussten, dass die Liebe seines Lebens Abhay Chand gewesen war, ein junger Hindu, den er im Sindh kennengelernt hatte. Die meisten wussten, dass er vom Judentum zum Islam übergetreten war. Wenige wussten, dass seine spirituelle Suche ihn dazu veranlasst hatte, auch dem orthodoxen Islam abzuschwören. Die meisten wussten, dass er als nackter Fakir auf den Straßen von Shahjahanabad gelebt hatte, bevor er öffentlich hingerichtet wurde. Wenige wussten, dass der Grund für seine Hinrichtung nicht die öffentlich zur Schau gestellte Nacktheit war, sondern sein Abfall vom Glauben. Aurangzeb, der damalige Großmogul, bestellte Sarmad an seinen Hof und bat ihn zu beweisen, dass er ein echter Muslim war, indem er die Kalima rezitierte: La ilaha illallah, Mohammed-ur rasul Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter. Sarmad stand nackt im Hof des Großmoguls im Roten Fort vor einer Jury von Qazis und Maulanas. Die Wolken hörten auf, über den Himmel zu ziehen, die Vögel erstarrten mitten im Flug, und die Luft im Fort wurde dick und undurchdringlich, als er begann, die Kalima vorzutragen. Aber kaum hatte er angefangen, hörte er auch schon wieder auf. Er sagte nur: La ilaha. Es gibt keinen Gott. Er könne nicht weiter rezitieren, beharrte er, bis er seine spirituelle Suche beendet habe und Allah von ganzem Herzen annehmen könne. Bis dahin, erklärte er, wäre das Aufsagen der Kalima nur eine Verhöhnung des Gebets. Unterstützt von seinen Qazis befahl Aurangzeb seine Hinrichtung.
Anzunehmen, dass diejenigen, die Hazrat Sarmad Shaheed ihren Respekt bezeugten, ohne seine Geschichte zu kennen, es in Unwissenheit taten, mit wenig Rücksicht auf historische Tatsachen, wäre ein Fehler. Denn jedem, der um seinen Segen bat, erschien im Dargah Sarmads unbotmäßiger Geist, der stark, spürbar und wahrhaftiger war, als es jede Ansammlung historischer Fakten sein konnte. Er feierte (predigte jedoch nie) die Tugend der Spiritualität statt des Sakraments, die Einfachheit statt der Opulenz und eigensinnige, ekstatische Liebe, auch wenn sie den Tod bedeuten konnte. Sarmads Geist erlaubte allen, die zu ihm kamen, seine Geschichte so zu interpretieren, wie sie es brauchten.
Als Jahanara Begum im Dargah zu einem vertrauten Gast geworden war, erfuhr (und verbreitete) sie die Geschichte von Sarmads Enthauptung auf den Stufen der Jama Masjid vor einem regelrechten Ozean von Menschen, die ihn geliebt hatten und gekommen waren, um Abschied von ihm zu nehmen. Sie hörte, dass sein Kopf weiterhin seine Liebesgedichte vortrug, nachdem er vom Rumpf getrennt worden war, dass der Rumpf beiläufig den sprechenden Kopf aufhob, so wie heutzutage ein Motorradfahrer nebenbei seinen Helm nimmt, die Stufen zur Jama Masjid hinaufging und dann ebenso beiläufig geradewegs zum Himmel fuhr. Das sei der Grund, sagte Jahanara Begum (zu jedem, der willens war, ihr zuzuhören), warum in Hazrat Sarmads kleinem Dargah (der wie eine Napfschnecke am Fuß der östlichen Treppe der Jama Masjid klebte, an der Stelle, wo sich Sarmads Blut gesammelt hatte) der Boden, die Wände und die Decke rot seien. Mehr als dreihundert Jahre seien vergangen, erklärte sie, aber Hazrat Sarmads Blut könne nicht weggewaschen werden. Sie beharrte darauf, dass sich der Dargah im Lauf der Zeit immer wieder von allein rot färbte, gleichgültig, in welcher Farbe er gestrichen worden war.
Nachdem sie zum ersten Mal an der Menschenmenge vorbeigegangen war – den Verkäufern von Ittars und Amuletten, den Hütern der Schuhe der Pilger, den Krüppeln, den Bettlern, den Obdachlosen, den Ziegen, die für Bakr-Eid gemästet wurden, und der Gruppe stiller, alter Eunuchen, die unter einer Plane vor dem Schrein lebten – und die kleine, rote Kammer betreten hatte, wurde Jahanara Begum ruhig. Der Lärm der Straße wurde leise und schien von weither zu kommen. Sie saß mit ihrem schlafenden Baby auf dem Schoß in einer Ecke und sah zu, wie die Leute, Muslime und Hindus, allein oder zu zweit, hereinkamen, an das Gitter um das Grab rote Bänder, rote Armreifen und Papierzettel banden und um Sarmads Segen baten. Erst als sie einen nahezu durchscheinenden alten Mann mit trockener, papierener Haut und einem dünnen Bart aus gesponnenem Licht in der Ecke sitzen sah, der sich vor und zurück wiegte und weinte, als wäre sein Herz gebrochen, erlaubte sich auch Jahanara Begum, die Tränen fließen zu lassen. Das ist mein Sohn Aftab, flüsterte sie Hazrat Sarmad zu, ich habe ihn zu dir gebracht. Pass auf ihn auf. Und lehre mich, ihn zu lieben.
Hazrat Sarmad tat es.
Während der ersten Lebensjahre Aftabs war Jahanara Begums Geheimnis sicher. Sie wartete darauf, dass sein Mädchenteil heilte, behielt ihn immer in ihrer Nähe und beschützte ihn entschlossen. Auch nachdem ihr jüngster Sohn Saqib geboren war, ließ sie Aftab nicht weit von sich fort. Das war kein ungewöhnliches Verhalten für eine Frau, die so lange und verzweifelt auf einen Sohn gewartet hatte.
Mit fünf kam Aftab in die Urdu-Hindi-Medresse für Jungen in der Chooriwali Gali (der Gasse der Armreifenverkäufer). Nach einem Jahr konnte er einen großen Teil des Korans in Arabisch aufsagen, allerdings war unklar, wie viel davon er verstand – aber das galt auch für alle anderen Kinder. Aftab war ein überdurchschnittlich guter Schüler, doch schon sehr früh wurde deutlich, dass sein wahres Talent die Musik war. Er hatte eine schöne volle Singstimme und konnte eine Melodie schon nachsingen, wenn er sie nur einmal gehört hatte. Seine Eltern beschlossen, ihn zu Ustad Hameed Khan zu schicken, einem herausragenden jungen Musiker, der Gruppen von Kindern in seiner beengten Unterkunft in Chandni Mahal in klassischer Hindustani-Musik unterrichtete. Der kleine Aftab versäumte nicht eine Stunde. Als er neun war, konnte er gute zwanzig Minuten im bada khayal der Raga Yaman, Durga und Bhairav singen und seine Stimme über das flache rekhab des Raga Pooriya Dhanashree hüpfen lassen wie einen Stein über die Wasserfläche eines Sees. Er konnte Chaiti und Thumri mit der Perfektion und Haltung einer Kurtisane aus Lucknow singen. Anfänglich waren alle amüsiert und ermutigten ihn sogar, doch bald schon setzte das Kichern und Gespött der anderen Kinder ein: Er ist eine Sie. Er ist kein Er und keine Sie. Er ist ein Er und eine Sie. Sie-Er, Er-Sie hi, hi, hi!
Als der Spott unerträglich wurde, ging Aftab nicht mehr zum Musikunterricht. Aber Ustad Hameed, der ihn sehr mochte, bot an, ihm Einzelunterricht zu geben. Die Musikstunden wurden fortgesetzt, doch jetzt weigerte sich Aftab, weiterhin zur Schule zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Jahanara Begums Hoffnungen mehr oder weniger zerschlagen. Am Horizont war kein Anzeichen von Heilung zu entdecken. Es war ihr gelungen, mit einfallsreichen Ausreden seine Beschneidung um ein paar Jahre hinauszuschieben. Aber eigentlich sollte der junge Saqib schon beschnitten werden, und sie wusste, dass sie nicht länger warten konnte. Endlich tat sie, was sie tun musste. Sie nahm allen Mut zusammen und erzählte es ihrem Mann, brach zusammen und weinte vor Kummer und vor Erleichterung, weil sie ihren Albtraum endlich mit jemandem teilen konnte.
Ihr Mann Mulaqat Ali war ein Hakim, ein Doktor der Kräutermedizin, und ein Liebhaber der Dichtkunst in Urdu und Persisch. Sein ganzes Leben lang arbeitete er für die Familie eines anderen Hakim – Hakim Abdul Majid, der eine beliebte Limonadenmarke namens Rooh Afza (persisch für »Elixier der Seele«) erfunden hatte. Rooh Afza, hergestellt aus Khurfa-Samen (Portulak), Weintrauben, Orangen, Wassermelone, Minze, Karotten, einer Prise Spinat, Khas-khas, Lotus, zwei verschiedenen Lilienarten und einem Destillat aus Damaszenerrosen, sollte eigentlich ein stärkender Trank sein. Doch die Leute stellten fest, dass zwei Esslöffel des moussierenden, rubinroten Sirups in einem Glas kalter Milch oder auch einfachem Wasser nicht nur köstlich schmeckten, sondern auch eine wirksame Gegenwehr gegen die sengend heißen Sommer in Delhi und die seltsamen Fieber waren, die der Wüstenwind heranwehte. Bald schon wurde aus dem Sirup, der als Medizin gedacht war, das beliebteste Sommergetränk der Region. Rooh Afza wurde ein florierendes Unternehmen und ein allseits bekannter Markenname. Vierzig Jahre lang war es Marktführer, das Produkt wurde von der Zentrale in der Altstadt bis nach Hyderabad im Süden und Afghanistan im Westen verschickt. Dann kam die Teilung. Gottes Halsschlagader platzte auf der neuen Grenze zwischen Indien und Pakistan, und eine Million Menschen starben an Hass. Nachbarn gingen aufeinander los, als hätten sie sich nicht gekannt, sich nie gegenseitig zu Hochzeiten eingeladen und nie die Lieder der anderen gesungen. Die ummauerte Stadt brach auf. Alte Familien flohen (Muslime). Neue kamen an (Hindus) und ließen sich in der Nähe der Stadtmauern nieder. Rooh Afza erlitt einen ernsten Rückschlag, erholte sich jedoch bald wieder und eröffnete eine Zweigstelle in Pakistan. Ein Vierteljahrhundert später, nach dem Holocaust in Ostpakistan, wurde eine weitere Zweigstelle in dem neuen Land Bangladesch gegründet. Aber schließlich wurde das Elixier der Seele, das Kriege und die blutigen Geburten dreier Länder überlebt hatte, wie die meisten Dinge in der Welt von Coca-Cola übertrumpft.
Obwohl Mulaqat Ali ein zuverlässiger und geschätzter Mitarbeiter von Hakim Abdul Majid war, kam er mit dem Gehalt, das er verdiente, nicht über die Runden. Deswegen empfing er außerhalb seiner Arbeitszeit Patienten zu Hause. Jahanara Begum vervollständigte das Einkommen der Familie, indem sie Gandhi-Kappen aus weißer Baumwolle nähte und en gros an Hindu-Ladenbesitzer im Chandni Chowk verkaufte.
Mulaqat Ali betrachtete sich als direkten Nachfahren des mongolischen Herrschers Dschingis Khan beziehungsweise von dessen zweitem Sohn, Tschagatai. Er besaß ein Stück rissiges Pergament mit einem komplizierten Stammbaum, das er in einer kleinen Blechkiste mit anderen brüchigen, vergilbten Papieren aufbewahrte. Er glaubte, dass diese Dokumente seine Behauptung belegten und erklärten, wie die Nachkommen von Schamanen aus der Wüste Gobi – Verehrer des Ewigen Blauen Himmels, einst als Feinde des Islam angesehen – die Vorväter der Mogul-Dynastien wurden, die Indien jahrhundertelang beherrschten, und wie Mulaqat Alis Familie, Nachfahren der sunnitischen Moguln, zu Schiiten wurden. Gelegentlich, vielleicht alle paar Jahre, öffnete er die Kiste und zeigte seine Papiere einem Journalisten, der ihm normalerweise weder wirklich zuhörte noch ihn ernst nahm. Das lange Interview fand höchstens eine scherzhafte, amüsante Erwähnung in einer Wochenendbeilage über Old Delhi. Handelte es sich um eine Doppelseite, wurde vielleicht sogar ein kleines Porträt von Mulaqat Ali gedruckt neben Großaufnahmen von Mughal-Kulinarik, Totalen von muslimischen Frauen in Burkas auf Fahrradrikschas, die sich durch die engen schmutzigen Gassen kämpften, und natürlich den obligatorischen Aufnahmen aus der Vogelperspektive von Tausenden muslimischen Männern mit weißen Kappen, die sich in perfekter Formation in der Jama Masjid im Gebet verneigten. Manche Leser betrachteten diese Bilder als Beweis für Indiens erfolgreichen Säkularismus und religiöse Toleranz. Andere waren eine Spur erleichtert, dass Delhis muslimische Bevölkerung in ihrem pulsierenden Ghetto zufrieden schien. Wieder andere sahen sie als Beweis dafür, dass sich Muslime nicht »integrieren« wollten, sich fleißig fortpflanzten und organisierten und bald eine Bedrohung des hinduistischen Indien darstellen würden. Anhänger dieser Ansicht gewannen mit beunruhigender Geschwindigkeit an Einfluss.
Ungeachtet dessen, was in den Zeitungen gedruckt wurde oder nicht, bat Mulaqat Ali mit der altmodischen Eleganz eines Aristokraten bis ins hohe Alter Besucher in seine winzigen Räumlichkeiten. Er sprach mit Würde, nie mit Nostalgie über die Vergangenheit. Er schilderte, wie im 13. Jahrhundert seine Vorfahren ein Reich beherrschten, das sich über die Länder, die sich heutzutage Vietnam und Korea nannten, bis nach Ungarn und zum Balkan erstreckte, von Nordsibirien bis zur Dekkan-Hochebene in Indien, das größte Reich, das die Welt je gekannt hatte. Oft beendete er das Interview mit dem Vortrag eines Urdu-Couplets seines Lieblingsdichters Mir Taqi Mir:
Jis sar ko ghurur aaj hai yaan taj-vari ka
Kal uss pe yahin shor hai phir nauhagari ka
Das Haupt, auf dem heute stolz die Krone sitzt,
morgen schon unbekrönt und kahl aufblitzt.
Den meisten Besuchern, nassforschen Emissären einer neuen herrschenden Klasse, entging in ihrer jugendlichen Hybris die vielschichtige Bedeutung des Couplets, das ihnen wie ein Snack angeboten und mit einem fingerhutgroßen Schluck dicken süßen Tees hinuntergespült wurde. Selbstverständlich verstanden sie, dass es eine Totenklage für ein gefallenes Reich war, dessen internationale Grenzen auf die kaputten Mauern einer Altstadt um ein schmutziges Ghetto geschrumpft waren. Und ja, sie verstanden auch, dass es ein Kommentar zu Mulaqat Alis eigenen armseligen Umständen war. Was ihnen entging war, dass das Couplet ein hinterhältiger Snack war, eine perfide Samosa, eine Warnung, verpackt als Trauer, dargeboten mit falscher Bescheidenheit von einem gebildeten Mann, der absolut darauf vertraute, dass seine Zuhörer des Urdu nicht mächtig waren, einer Sprache, die ebenso wie die, die sie sprachen, allmählich ghettoisiert wurde.
Mulaqat Alis Leidenschaft für die Dichtkunst war keine von seiner Arbeit als Hakim losgelöste Liebhaberei. Er glaubte, dass Poesie nahezu jede Krankheit heilen oder zumindest viel zu ihrer Heilung beitragen konnte. Er verschrieb seinen Patienten Gedichte, wie andere Hakims Arzneien verschrieben. Er konnte seinem beeindruckenden Repertoire stets ein Couplet entnehmen, das auf unheimliche Weise jeweils für alle Krankheiten, alle Gelegenheiten, alle Stimmungen und alle noch so unmerklichen Veränderungen des politischen Klimas geeignet war. Diese seine Gewohnheit ließ das Leben um ihn herum tiefgründiger und zugleich weniger unverwechselbar erscheinen, als es tatsächlich war. Sie tränkte alles mit unterschwelliger Stagnation, einem Gefühl, dass alles, was geschah, schon einmal geschehen war. Dass es schon geschrieben, gesungen, kommentiert und dem Inventar der Geschichte einverleibt worden war. Dass nichts Neues möglich war. Das könnte der Grund sein, warum junge Leute oft kichernd flüchteten, wenn sie ahnten, dass ein Vers auf sie zukam.
Als Jahanara Begum ihm von Aftab erzählte, hatte Mulaqat Ali vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben kein passendes Couplet zur Hand. Er brauchte eine Weile, um den anfänglichen Schock zu überwinden. Als ihm das gelungen war, schalt er seine Frau, weil sie es ihm nicht früher gesagt hatte. Die Zeiten hätten sich geändert, erklärte er. Sie lebten in der Modernen Zeit. Er war überzeugt, dass es eine einfache medizinische Lösung für das Problem ihres Sohnes gab. Sie würden einen Arzt in New Delhi suchen, weit weg vom Geflüster und Geklatsche in den Mohallas der Altstadt. Der Allmächtige hilft denjenigen, die sich selbst zu helfen wissen, sagte er ein wenig streng zu seiner Frau.
Angetan mit ihren besten Kleidern brachen sie eine Woche später mit einem unglücklichen Aftab in einem männlich stahlgrauen Pathan-Anzug mit einer schwarzen bestickten Weste, einer Kappe und gondelähnlichen Jootis mit aufgebogenen Spitzen in einer von Pferden gezogenen Tonga nach Nizamuddin Basti auf. Der vorgebliche Zweck ihres Ausflugs war es, eine mögliche Braut für ihren Neffen Aijaz in Augenschein zu nehmen – den Sohn von Mulaqat Alis älterem Bruder Qasim, der nach der Teilung nach Pakistan gezogen war und in der Rooh-Afza-Niederlassung in Karatschi arbeitete. Der wahre Grund war ein Termin bei einem Dr. Ghulam Nabi, der sich selbst als »Sexologe« bezeichnete.
Dr. Nabi war stolz darauf, ein Mann zu sein, der die Dinge beim Namen nannte und über ein präzises und wissenschaftliches Naturell verfügte. Nachdem er Aftab untersucht hatte, erklärte er, dass er aus medizinischer Sicht keine Hijra sei – eine in einem männlichen Körper gefangene Frau –, auch wenn das Wort aus praktischen Gründen angewandt werden könne. Aftab, sagte er, sei ein seltenes Exemplar eines Hermaphroditen mit sowohl männlichen als auch weiblichen Merkmalen, wiewohl die männlichen Merkmale nach außen hin zu dominieren schienen. Er empfehle einen Chirurgen, der das Mädchenteil versiegeln, es zunähen würde. Er könne auch Pillen verschreiben. Aber, sagte er, das Problem liege nicht nur an der Oberfläche. Die Behandlung würde sicherlich helfen, aber es gebe auch »Hijra-Veranlagungen«, die wahrscheinlich nie verschwinden würden. (Fitrat war das Wort, das er für »Veranlagungen« benutzte.) Er könne keinen vollständigen Erfolg garantieren. Mulaqat Ali, der sich an jeden Strohhalm klammerte, war hocherfreut. »Veranlagungen?«, sagte er. »Veranlagungen sind kein Problem. Jeder hat die eine oder andere Veranlagung … mit Veranlagungen kann man umgehen.«
Obwohl der Besuch bei Dr. Nabi keine sofortige Lösung garantierte für das, was Mulaqat Ali als Aftabs Leiden betrachtete, tat er Mulaqat Ali überaus gut. Er gab ihm die Koordinaten in die Hand, um sich selbst zu positionieren, um sein Schiff zu stabilisieren, das auf einem Ozean coupletloser Verständnislosigkeit bedrohlich krängte. Er war jetzt in der Lage, seine Angst in ein praktisches Problem umzusetzen und seine Aufmerksamkeit und Energie auf etwas zu richten, das er gut verstand: Wie sollte er genügend Geld für die Operation aufbringen?
Er reduzierte die Ausgaben für den Haushalt und erstellte eine Liste mit Bekannten und Verwandten, die ihm Geld leihen würden. Gleichzeitig nahm er das kulturelle Unterfangen in Angriff, Aftab Männlichkeit einzuimpfen. Er gab seine Liebe zur Dichtkunst an ihn weiter und hielt ihn davon ab, Thumri und Chaiti zu singen. Er blieb abends lange auf und erzählte Aftab Geschichten über ihre kriegerischen Vorfahren und deren Tapferkeit auf dem Schlachtfeld. Aftab blieb ungerührt. Doch als er die Geschichte hörte, wie Temüdschin – Dschingis Khan – die Hand seiner wunderschönen Frau Börte Khatun gewann, wie sie von einem rivalisierenden Stamm geraubt wurde und Temüdschin nahezu allein gegen eine ganze Armee kämpfte, um sie zurückzuholen, weil seine Liebe zu ihr so groß war, da wäre Aftab gern Börte gewesen.
Während seine Schwestern und sein Bruder zur Schule gingen, saß Aftab auf dem winzigen Balkon ihrer Wohnung und schaute hinunter zum Chitli Qabar – dem kleinen Schrein der gefleckten Ziege, die angeblich übernatürliche Kräfte besessen hatte – und zur geschäftigen Straße, die daran vorbei und zum Matia Mahal Chowk führte. Er lernte schnell die Kadenz und den Rhythmus des Viertels, die vor allem aus einem Strom von Schmähungen bestanden – ich fick deine Mutter, geh und fick deine Schwester, ich schwöre beim Schwanz deiner Mutter –, fünfmal am Tag unterbrochen vom Gebetsruf der Jama Masjid und mehrerer kleinerer Moscheen der Altstadt. Während Aftab Tag für Tag aufmerksam Wache hielt, wuchs Guddu Bhai, der bissige frühmorgendliche Fischhändler, der seine Karre mit glänzenden Fischen in der Mitte des Chowks abstellte, so sicher wie die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging, zu Wasim heran, dem großen freundlichen nachmittäglichen Naan-Khatai-Verkäufer, der seinerseits zu Yunus schrumpfte, dem kleinen, dünnen abendlichen Obsthändler, der spätabends zum breiten dicken Hassan Mian anschwoll, dem stämmigen Verkäufer des besten Hammelbiryani in ganz Matia Mahal, das er aus einem riesengroßen Kupferkessel schöpfte. Eines Morgens im Frühling sah Aftab, wie eine große schmalhüftige Frau, die leuchtend roten Lippenstift, goldene Stöckelschuhe und einen schimmernden grünen Salwar Kameez aus Satin trug, Armreifen bei Mir kaufte, dem Armreifenverkäufer, der auch als Wächter des Chitli Qabar fungierte. Wenn er abends Laden und Schrein schloss, lagerte er seine Ware im Grabmal. (Er hatte dafür gesorgt, dass Arbeits- und Öffnungszeiten übereinstimmten.) Aftab hatte noch nie jemanden wie die große Frau mit Lippenstift gesehen. Er rannte die Treppe hinunter auf die Straße und folgte ihr diskret, während sie Ziegenfüße, Haarspangen, Guaven kaufte und sich den Riemen eines Schuhs reparieren ließ.
Er wollte sie sein.
Er folgte ihr die Straße entlang bis zum Turkmenen-Tor und blieb lange Zeit vor der blauen Tür stehen, durch die sie verschwunden war. Keiner normalen Frau wäre es gestattet gewesen, so gekleidet durch die Straßen von Shahjahanabad zu stolzieren. In Shahjahanabad trugen normale Frauen Burkas oder bedeckten zumindest ihren Kopf und alle anderen Körperteile bis auf die Hände und Füße. Die Frau, der Aftab gefolgt war, konnte sich nur so anziehen, wie sie angezogen war, und so gehen, wie sie gegangen war, weil sie keine Frau war. Was immer sie war, Aftab wollte sie sein. Er wollte noch unbedingter sie sein, als er Börte Khatun sein wollte. Wie sie wollte er an den Fleischläden vorbeischimmern, in denen ganze gehäutete Ziegen hingen wie hohe Mauern aus Fleisch, er wollte am Männer-Friseursalon Neuer Lebensstil vorbeitänzeln, in dem Iliyaas, der Barbier, dem schlanken jungen Metzger Liaqat das Haar schnitt und es mit Brylcreem zum Glänzen brachte. Er wollte eine Hand mit lackierten Nägeln und ein Handgelenk voller Armreifen ausstrecken und vorsichtig die Kiemen eines Fisches anheben, um nachzusehen, wie frisch er war, bevor er den Preis herunterhandelte. Er wollte die Salwar ein kleines bisschen hochziehen, wenn er über eine Pfütze schritt – nur so weit, um mit den silbernen Kettchen um seine Knöchel anzugeben.
Es war nicht Aftabs Mädchenteil, dass das Anhängsel war.
Er begann seine Zeit aufzuteilen zwischen dem Gesangsunterricht und dem Herumlungern vor dem blauen Tor des Hauses in der Gali Dakotan, in dem die große Frau lebte. Er fand heraus, dass sie Bombay Silk hieß und dass es noch sieben weitere wie sie gab: Bulbul, Razia, Heera, Baby, Nimmo, Mary und Gudiya, die zusammen in dem Haveli mit dem blauen Tor wohnten, und dass sie einen Ustad hatten, einen Guru, namens Kulsoom Bi, älter als die anderen, die der Haushaltsvorstand war. Er fand heraus, dass ihr Haveli Khwabgah genannt wurde – Haus der Träume.
Anfänglich wurde er verscheucht, weil alle Welt, darunter die Bewohner der Khwabgah, Mulaqat Ali kannten und ihm nicht auf die Füße treten wollten. Doch gleichgültig, was für Vorwürfe und Strafen ihn erwarteten, Aftab kehrte Tag für Tag stur auf seinen Posten zurück. Es war der einzige Ort in seiner Welt, an dem er das Gefühl hatte, dass die Luft Raum für ihn schaffte. Wenn er ankam, schien sie sich zu bewegen, zur Seite zu rutschen wie ein Mitschüler, der auf der Schulbank Platz machte. Indem er Botengänge für sie erledigte, ihre Taschen und Musikinstrumente trug, wenn die Bewohnerinnen auf ihre Runde durch die Stadt gingen, am Ende eines Arbeitstags ihre müden Füße massierte, schaffte es Aftab nach ein paar Monaten schließlich, sich einen Weg in die Khwabgah zu erschleichen. Endlich kam der Tag, als er hineindurfte. Er betrat dieses gewöhnliche, heruntergekommene Haus, als schritte er durch das Tor zum Paradies.
Das blaue Tor öffnete sich auf einen gepflasterten Hof mit hohen Mauern, einer Wasserpumpe in einer Ecke und einem Granatapfelbaum in der anderen. Hinter einer tiefen Veranda mit geriffelten Säulen befanden sich zwei Räume. Das Dach über einem Raum war eingebrochen, und die Mauern waren zu einem Haufen Schutt zerfallen, in dem sich eine Katzenfamilie häuslich eingerichtet hatte. Der Raum, der noch stand, war groß und in relativ gutem Zustand. An den mit abblätternder grüner Farbe gestrichenen Wänden standen vier hölzerne und zwei Godrej-Almirahs, an denen Bilder von Filmstars klebten – von Madhubala, Waheeda Rehman, Nargis, Dilip Kumar (dessen richtiger Name Muhammad Yusuf Khan war), Guru Dutt und dem Jungen aus dem Viertel, Johnny Walker (Badruddin Jamaluddin Kazi), dem Komiker, der noch den traurigsten Menschen auf der Welt zum Lächeln brachte. An der Tür eines Schranks befand sich ein blinder, mannshoher Spiegel. In einer Ecke stand ein wackliger alter Frisiertisch. Von der hohen Decke hingen ein angeschlagener kaputter Kronleuchter mit nur einer brennenden Glühbirne und an einer langen Stange ein dunkelbrauner Ventilator. Der Ventilator verfügte über menschliche Eigenschaften – er zierte sich, war launisch und unberechenbar. Er hatte auch einen Namen, Usha. Usha war nicht mehr jung, man musste ihr gut zureden und sie mit einem langen Besenstiel anstoßen, dann setzte sie sich in Bewegung und drehte sich langsam wie eine Tänzerin an der Stange. Ustad Kulsoom Bi schlief in dem einzigen Bett im Haveli, und darüber lebte in einem Käfig ihr Papagei Birbal. Wenn sich Kulsoom Bi nachts nicht in seiner Nähe aufhielt, kreischte Birbal, als würde er abgeschlachtet. Tagsüber war er in der Lage zu bitterbösen Schmähungen, denen immer ein halb höhnisches, halb kokettes Ai Hai! vorausging, das er von seinen Mitbewohnerinnen aufgeschnappt hatte. Birbals bevorzugte Beleidigung war die, die man in der Khwabgah am häufigsten hörte: Saali Randi Hijra (Scheißnutte Hijra). Er beherrschte sie in allen Variationen. Er konnte sie murmeln, damit kokettieren, sie scherzhaft oder liebevoll sagen und sie mit ungeheucheltem, bitterem Zorn ausstoßen.
Alle anderen schliefen auf der Veranda, die Matratzen wurden tagsüber zu riesigen Polstern zusammengerollt. Im Winter, wenn es kalt und dunstig im Hof war, drängten sich alle in Kulsoom Bis Zimmer. Zur Toilette gelangte man durch die Ruinen des eingestürzten Raums. Sie wuschen sich abwechselnd an der Wasserpumpe. Eine absurd steile, schmale Treppe führte in die Küche im ersten Stock. Das Küchenfenster ging hinaus auf die Kuppel der Heiligen-Dreifaltigkeitskirche.
Mary war die einzige Christin unter den Bewohnerinnen der Khwabgah. Sie ging nicht in die Kirche, trug jedoch ein kleines Kruzifix um den Hals. Gudiya und Bulbul waren beide Hindus und suchten gelegentlich die Tempel auf, die sie einließen. Die anderen waren Musliminnen. Sie gingen in die Jama Masjid und alle Dargahs in der Stadt, in denen sie in den inneren Bereich durften (denn im Gegensatz zu biologischen Frauen wurden Hijras nicht als unrein betrachtet, weil sie nicht menstruierten). Allerdings menstruierte die männlichste Person in der Khwabgah. Bismillah schlief oben auf der Terrasse vor der Küche. Sie war eine kleine, drahtige dunkle Frau mit einer Stimme wie eine Bushupe. Sie war ein paar Jahre zuvor zum Islam übergetreten und in die Khwabgah gezogen (die zwei Dinge hatten nichts miteinander zu tun), nachdem ihr Mann, ein Busfahrer der Delhi Transport Corporation, sie hinausgeworfen hatte, weil sie nicht schwanger wurde. Selbstverständlich kam es ihm nicht im Traum in den Sinn, dass er für die Kinderlosigkeit verantwortlich sein könnte. Bismillah (früher Bimla) war für die Küche zuständig und bewachte die Khwabgah gegen unerwünschte Eindringlinge mit der Wildheit und Ruchlosigkeit eines Mafiabosses aus Chicago. Ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis durfte kein junger Mann die Khwabgah betreten. Auch Stammkunden wie Anjums zukünftigem Freier – dem Mann, der Englisch konnte – war der Zutritt verboten, und sie mussten eigene Arrangements für ihre Stelldicheins treffen. Bismillahs Gefährtin auf der Terrasse war Razia, die sowohl den Verstand als auch das Gedächtnis verloren hatte und nicht mehr wusste, wer sie war oder woher sie kam. Razia war keine Hijra. Sie war ein Mann, der sich wie eine Frau kleidete. Sie wollte jedoch nicht als Frau angesehen werden, sondern als Mann, der eine Frau sein wollte. Sie hatte es vor langer Zeit aufgegeben, den Leuten (auch den Hijras) den Unterschied zu erklären. Razia verbrachte ihre Tage damit, auf dem Dach Tauben zu füttern und jedes Gespräch auf einen von ihr aufgedeckten, geheimen, nicht umgesetzten Plan der Regierung (dao-pech nannte sie ihn) für Hijras und Leute wie sie zu bringen. Gemäß diesem Plan würden sie alle in einer Siedlung zusammenleben und von der Regierung Pensionen erhalten, damit sie ihren Lebensunterhalt nicht länger mit dem von ihr sogenannten badtameezi – schlechten Benehmen – verdienen mussten. Razias zweites Thema waren Regierungspensionen für streunende Katzen. Aus unerfindlichem Grund steuerte ihr erinnerungsloser, nicht verankerter Geist untrüglich auf Regierungspläne zu.
Aftabs erste echte Freundin in der Khwabgah war Nimmo Gorakhpuri, die Jüngste von allen und die Einzige, die die Highschool beendet hatte. Nimmo war von zu Hause in Gorakhpur weggelaufen, wo ihr Vater als Abteilungsleiter im Hauptpostamt arbeitete. Obwohl sie so tat, als wäre sie viel älter, war Nimmo tatsächlich nur sechs oder sieben Jahre älter als Aftab. Sie war klein und pummelig mit dichtem, lockigem Haar, erstaunlichen, wie ein Paar Krummsäbel geschwungenen Augenbrauen und außergewöhnlich dichten Wimpern. Sie wäre schön gewesen, wäre nicht ihre Gesichtsbehaarung so rasch nachgewachsen. Ihre Wangen sahen unter dem Make-up blau aus, auch wenn sie sich rasiert hatte. Nimmo war besessen von westlicher Damenmode und verteidigte bis aufs Blut ihre Sammlung von Modezeitschriften, die sie auf dem sonntäglichen Bazaar für gebrauchte Bücher auf den Gehwegen von Daryaganj erstand, fünf Minuten von der Khwabgah entfernt. Einer der Buchhändler, Naushad, der seinen Vorrat an Zeitschriften von den Abfallsammlern erwarb, die ihrerseits die ausländischen Botschaften in Shantipath abklapperten, hob sie für Nimmo auf und gab ihr einen happigen Rabatt.
»Weißt du, warum Gott Hijras erschaffen hat?«, fragte sie Aftab eines Nachmittags, während sie in einer eselsohrigen Vogue-Ausgabe von 1967 blätterte und die blonden Damen mit den nackten Beinen betrachtete, die sie so faszinierten.
»Nein, warum?«
»Es war ein Experiment. Er beschloss, etwas zu erschaffen, ein Lebewesen, das erwiesenermaßen unfähig ist, glücklich zu sein. Also erschuf er uns.«
Ihre Worte trafen Aftab mit der Wucht eines körperlichen Schlags. »Wie kannst du so was sagen? Ihr seid doch alle glücklich hier! Das ist die Khwabgah!«, sagte er, und Panik wallte in ihm auf.
»Wer ist hier glücklich? Alles nur geheuchelt und vorgetäuscht«, sagte Nimmo lakonisch, ohne sich die Mühe zu machen, von der Zeitschrift aufzublicken. »Hier ist niemand glücklich. Es ist unmöglich. Arre yaar, überleg doch mal, weswegen seid ihr normalen Menschen unglücklich? Ich meine nicht dich, aber Erwachsene wie dich – weswegen sind sie unglücklich? Preiserhöhungen, Schulzulassung für ihre Kinder, Männer, die ihre Frauen schlagen, Frauen, die ihre Männer betrügen, Hindu-Muslim-Unruhen, der Indo-Pak-Krieg – Dinge außerhalb von ihnen, die irgendwann gelöst werden. Aber bei uns sind die Preiserhöhungen, die Schulzulassung, die schlagenden Männer und betrügerischen Frauen in uns. Die Unruhen finden in uns statt. Der Krieg ist in uns. Indo-Pak ist in uns. Das wird sich nie beruhigen. Ist nicht möglich.«
Aftab wollte ihr unbedingt widersprechen, ihr erklären, dass sie total falsch lag, weil er glücklich war, glücklicher als je zuvor. Er war der lebende Beweis, dass Nimmo Gorakhpuri falsch lag, oder? Aber er sagte nichts, denn dann hätte er preisgeben müssen, dass er kein »normaler Mensch« war, und dazu war er noch nicht bereit.
Erst als er vierzehn wurde, verstand Aftab voll und ganz, was sie gemeint hatte, und da war Nimmo schon mit einem Busfahrer (der sie bald wieder verließ und zu seiner Familie zurückkehrte) aus der Khwabgah weggelaufen. Aftabs Körper hatte unvermittelt angefangen, Krieg gegen ihn zu fühbadtameeziKhushi-khor