Tilman Allert
Gruß aus der Küche
Soziologie der kleinen Dinge
FISCHER E-Books
Tilman Allert,
geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical Universitiy in Berlin. Einer größeren Leserschaft ist er mit seinem Buch ›Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste‹ (2005) bekannt geworden, sowie als regelmäßiger Beiträger u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Brand Eins« oder die »Neue Zürcher Zeitung«.
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»Kluge Analysen unserer modernen westeuropäischen Welt.«
Ina Boesch, NZZ am Sonntag
Nach dem großen Erfolg von »Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge« kommt nun der Nachfolgeband: Luftige Feuilletons über Lipp Gloss, den Knieschlitz in der Jeans, dunkle Brillen und den Dutt beim Manne, über Bemerkungen wie „genau“ oder „lecker“, über den neuen Thermomix, die Tanzstunde, den Abschied vom Abschied oder jüdischen Humor – Tilman Allert gelingt es spielend und mit leichter Hand, aus den kleinen Dingen des Alltags ihre gesellschaftliche Bedeutung prägnant zu destillieren. So muss Soziologie sein.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Coverabbildung: F. W. Bernstein
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490214-2
Dem Freund Fritz sei hiermit herzlich gedankt für das Einwickeln der kleinen Dinge.
Gruß aus der Küche – Die Entwicklung der deutschen Esskultur hat dank der Wertschätzung, die die gehobene Gastronomie genießt, einen stetigen Aufschwung genommen. Die Tendenz zur kulinarisch anspruchsvollen Küche ist unverkennbar. Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass die Prominenz der Kochkunst im Fernsehstudio ihre Geheimnisse unter die Zuschauer bringt, und angesichts der unübersehbaren Menge an Kochbüchern – von der Edelversion bis zu den Versionen für Leute mit knappem Geldbeutel – bedarf es keines weiteren Belegs dafür, dass die gute Küche zu einem Medium der Selbstdarstellung geworden ist. Wer sich in kulinarischer Hinsicht souverän und urteilssicher zu bewegen versteht, wer etwa bei Käse anderes als »Edamer« oder »Camembert« assoziiert, verzeichnet Distinktionsgewinne. Nach dem Motto »Sag mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer du bist«, von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755–1826), einem der ersten Philosophen der Kochkunst, seiner »Physiologie des Geschmacks« vorangestellt, ist das Essen statusbedeutsam geworden. Dass im Lande eine erfreuliche gastronomische Sensibilität entstanden ist, hat mit der Ausbreitung der internationalen Küche in den Restaurants der Städte zu tun, Connaisseurs scheuen selbst lange Wege nicht zu guten Adressen auf dem Land, von denen es reichlich gibt. Der herausfordernde Kontrast zur gewohnten Speisekarte – zu Hühner-Frikassee und Rindsroulade – durch den kulinarischen Transfer der Einwanderermilieus, hat die deutsche Küche unter Zugzwang gesetzt und Fahrt aufnehmen lassen. Sie bemüht sich darum, das Angebot zu raffinieren und geschmacklich zu verfeinern, mit der Betonung der Regionalküche als dem derzeitig vorherrschenden Nonplusultra, allenfalls gebremst durch die Ernährungsvorschriften und Diätethiken, die der Gesundheitskult anmahnt.
Aber die kulinarischen Feinheiten sind nur die eine Seite des Geschehens. Parallel zur entstehenden Vielfalt der Menüs ist eine Entwicklung im Kommunikationsraum des Essens zu verzeichnen. Die Werte, nach denen Menschen in der Tischgeselligkeit zusammenkommen, sind um eine weitere Dimension bereichert worden, und das zeigt sich an der Rhetorik bei Tisch, an episodischen sprachlichen Wendungen, mit denen der Service das Eindecken und das Ausheben der Teller begleitet. Den Verzierungen einer Melodie vergleichbar, schmücken sie die kulinarische Abfolge, die der Gast nach seiner Bestellung erwarten darf. Im Unterschied zum geradezu klassischen Wunsch »Wohl bekommt’s« oder »Ich wünsche guten Appetit« wird der Gast unserer Zeit sich nicht mehr groß darüber wundern, wenn der Kellner mit einem »Viel Vergnügen« den Teller serviert bzw. seine Erläuterungen zum Gericht beschließt. Diesen rhetorischen Details liegt ein bemerkenswerter Wechsel in den Einstellungen und Werten zum Essen zugrunde. In dem Maße, in dem die Gäste in kulinarischer Hinsicht kundiger und entsprechend anspruchsvoll geworden sind, entwickeln sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die kommunikative Rahmung des Servierens. Als zeremonieller Höhepunkt des Restaurantbesuchs wird der Auftritt des Küchenchefs begrüßt, ein Schulterschluss mit dem kulinarischen Star, der gern fotografiert wird, ja dessen Präsenz am eigenen Tisch von Gästen, unter dem Vorwand irgendeiner Mäkelei, gelegentlich sogar erzwungen wird.
Aber nicht nur der Küchenchef als Held, sondern auch dessen Stellvertreter am Tisch geben die lange Zeit übliche Zurückhaltung auf. Die flüchtig-scheue Geste beim Eindecken und Ausheben der Gänge, hastig-beflissen kommentiert oder beim Hantieren in mimischem Minimalprogramm zum Ausdruck gebracht, offenbart eine erstaunliche Entwicklung unserer Esskultur. Einem Gast das Menu wortlos aufzutischen, gilt wohl in allen Häusern als Norm- und Stilbruch, es käme einem Affront gleich, unbeholfen, ein Buster Keaton lieferte das Vorbild. Nimmt man diese gedankenexperimentell entworfene, gespenstische Karikatur eines stummen Auftritts als einen absurden Grenzfall zu Hilfe, lassen sich so üblich gewordene rhetorische Figuren beim Erscheinen des Service bei Tisch in ihrer Sinnstruktur verfolgen? Gehen wir einfach empirisch vor und beginnen mit dem »Gruß aus der Küche«. Eine Standardformel, die landauf, landab bemüht wird und in den meisten Häusern als eine Geste des Entgegenkommens eingeführt ist, nachdem die Bestellung aufgenommen wurde. Sie erfüllt dabei eine Reihe von Funktionen: Sie hilft zunächst dem Gast, die Zeit des Wartens zu überbrücken, soll ihn damit versöhnen, dass sein Anspruch auf ein zügiges Einlösen seines Wunsches mit den Wünschen anderer Gäste zu teilen ist. Schließlich, und darin liegt vermutlich die wichtigste Botschaft des »Grußes aus der Küche«, soll der Gast dem kulinarischen Genuss, auf den er seit der Aufnahme der Bestellung mental und affektiv eingestellt ist, mit gesteigertem Appetit begegnen. Zwei kontrastierende Seelenlagen, die der Anwesenheit des Gastes zugrunde liegen können, werden mit dem »Gruß aus der Küche« unzweideutig zugunsten des Appetits markiert. Auf das kleinste Format portioniert, in Gedecken serviert, die ans Puppenstubenspiel erinnern, sättigt der »Gruß« nicht etwa – vielmehr steigert er die Erwartung, eine Art ferngesteuerte Appetenz, in die der Gast versetzt wird. Eine nicht unwichtige Lesart dieser kulinarischen Visitenkarte erschließt sich über den Blick auf die Rechnung. Als Posten taucht der Gruß dort nicht auf, ein deutliches Zeichen dafür, dass er symbolisch als ein Geschenk zu verstehen ist. Ein Geschenk überdies, das unabhängig vom Geldbeutel des Gastes überreicht wird – egal, ob jemand knauserig ist oder nicht. Dieses letzte Detail ist für das Verständnis der Kommunikationsbedeutung von Belang und wird uns sogleich genauer beschäftigen.
Geschenke lassen sich nicht erwarten, insofern haftet dem Gruß als Geschenk etwas Überraschendes an. Es spielt keine Rolle, dass in einem Restaurant an alle Gäste der Gruß aus der Küche verteilt wird. An jedem einzelnen Tisch, auf jedem Teller, erscheint er als kleine Überraschung.
Die Alltag gewordene Routine bringt zum Verschwinden, dass wir es mit einer komplexen Situation des Übergangs zu tun haben, eingebrockt durch die immanenten Formgesetze des Grüßens. Es verpflichtet von seiner Kommunikationslogik her eigentlich zum Gegengruß. Es sei hier dahingestellt, welche Möglichkeiten dem Gast offenstehen, auf den Gruß zu reagieren, minimal ist natürlich der Dank abverlangt. Aber entsteht für den Service eine Verpflichtung, sich nach der Resonanz auf den Gruß aus der Küche zu erkundigen? Oder belässt man es angesichts des kulinarischen Minimalismus bei einem wortlosen Aufheben der Teller, zumal ja erst anschließend das vom Gast bestellte Menu beginnt? Mittlerweile ist in vielen Häusern die Floskel verbreitet: »Sind Sie gut gestartet?« – eine Frage, die besonders während des Abräumens des ersten Gangs beliebt ist. Das »Starten« verweist auf ein Ziel; die Abfolge des Essens und damit die Präsenz des Gastes im Restaurant werden in eine Symbolik eingefügt, die den kulinarischen Genuss als eine Leistungsstrecke erscheinen lässt, die es abzuarbeiten gilt. Zu einem solchen Bild zu greifen, liegt zwar dadurch nahe, dass ja in der Tat die Gänge aufeinander folgen, in den meisten Küchen der Welt sogar in einer Geschmackssequenz von salzig bis süß ausdrücklich markiert. Auch die Bezeichnung »Gang« verweist auf die Logik einer Reihenfolge. Auf die Frage, ob der »Start« gelungen sei, wird niemand schreiend davonstürzen. Dennoch irritiert die Stilnuance, nach der das Essen, der Genuss als ein Programm mit Start und Ziel erscheint, in assoziativer Nähe zu Tempodruck und Anstrengung; Empfindungen, die nicht gerade auf der Linie des Wohlbefindens liegen, ja ihm im Kern widersprechen und somit als eine Usurpation erscheinen mögen, als ein Fremdzugriff auf die eigenbestimmte Wahrnehmung der Situation.
Die Formel »Viel Vergnügen«, bevorzugt eingesetzt, wenn der Gast komplexe kulinarische Arrangements auf dem Teller hat, enthüllt einen dramatischen Wandel der Einstellung zum Essen. Hält man – in Erinnerung an alte Zeiten – die Alternative »Wohl bekommt’s« dagegen, der rhetorische Klassiker, dessen Ruhm nur noch übertroffen wird vom vertrauten »Lassen Sie sich es schmecken« oder »Ich wünsche einen guten Appetit«, so fällt auf, dass mit dem Vergnügen eine neue Dimension angesprochen wird. Verständlich, dass der Aspekt der Sättigung vollkommen getilgt ist, würde er angesprochen, käme dies einer Disqualifikation des Gastes, aber auch der professionalisierten Kochkunst gleich, die sich schließlich nicht auf Fütterung, sondern auf das Arrangement von Texturen, auf aromatische Abenteuer spezialisiert hat. Aber sogar der Appetit rückt in den Hintergrund und macht der Ermunterung Platz, das Essen als ein Amüsement zu begreifen, als sei es ein Theaterstück, ein Film, dem man beiwohnt. Event-Kultur, zeitgenössischer Kitsch, Firlefanz? Nein, mit einem derartigen Wunsch weitet sich der Raum des Gelingens und des Genusses auf einen Bereich aus, in dem nicht nur die Bekömmlichkeit, sondern das Aussehen, die Farbgebung, das Arrangement auf dem Teller, die geschmackliche Kombinatorik der Speisen, ja, deren Konsistenz und damit die Herausforderung an das Kauen, Zerkleinern, Vermischen zu Kriterien aufgewertet werden. Hüten wir uns also vor dem kulturkritischen Aufschrei, sondern halten hier nur fest, dass dem Essen in der modernen Gesellschaft eine Vielfalt von Genussdimensionen zugesprochen wird. Sie tauchen in den kleinen Gesten bei Tisch – als unbemerkter Wandel der Sitten – auf, so als habe der erwähnte Brillat-Savarin es geahnt, als er sein Werk mit dem Untertitel »Lehrbuch der Tafelfreuden« ankündigte – und apropos Franzosen, nicht zufällig wird der »Gruß aus der Küche« im Nachbarland Frankreich »amuse-bouche« genannt, ausdrücklich lustbetont.
Das Repertoire der Möglichkeiten hat sich erweitert, und da ein professioneller Service sich nicht mehr hinter der Routine des »Guten Appetit« oder »Wohl bekommt’s« verstecken kann, gilt es, über Variation, über Abwechslung zu verfügen. Die Kunst zu improvisieren steht in krassem Widerspruch zur Routine des Sprechens, und da entsteht das Problem. In jedem Beruf ist die Routine zu loben, sie gestattet es überhaupt, den Anstrengungen alltäglicher Verrichtungen begegnen zu können. Wer sie sich hingegen anmerken lässt, der droht die wichtigste Maxime in Stellvertretungsbeziehungen zu verletzen: die Authentizität, die auch der Routine erst ein Gesicht zu geben vermag. Der Kontrast zwischen Routine und Authentizität wird besonders in dem mechanisch herunterdeklinierten »Gruß aus der Küche« spürbar. Um nun hierbei und bei anderen rhetorischen Passagen am Tisch des Gastes der Routine zu entgehen, braucht es keine »goldene Formel«. Die gibt es – Gott sei Dank – nicht.
Das Sprechen wie das Schweigen, das nur stumme und kaum merkbare Hantieren des Service zählen zu den Verzierungen, die das Wohlbefinden des Gastes steigern. Sie zivilisieren die Begegnung und schützen sie mit Eleganz vor einem Abfall in die Vulgarität. Wie auch immer die kurzen Auftritte bei Tisch erfolgen, in jedem Fall bleibt der Service Adressat für positive und negative Urteile und insofern auch wichtigster Stellvertreter der Gastgeberschaft des Hauses. Je offener, diffuser und auch raffinierter die kommunikative Rahmung des Restaurantbesuchs wird, je leichter sich die Begegnung zwischen Gast und Service auch vom Essen als zugrunde liegendem Anlass verselbständigt, desto höher werden die Anforderungen an die Elastizität des Sprechens und die situationsgenaue Beobachtung der Vorgänge am Tisch. Die Einsicht ist nicht neu, dass die Gegenwartsgesellschaft in allen beruflichen Bereichen die Qualifikationsanforderungen erhöht. Für den Service gilt dies allemal – ein Rädchen im Getriebe oder stummer Botschafter der Küche ist er nie gewesen. Er ist teilnehmender Beobachter und beobachtender Teilnehmer eines Abenteuers: der Geschichte vom Auftritt des Gastes, das bedeutet auch für ihn Lust und Last zugleich.
Vide-Greniers – In der Welt der Ökonomie ereignen sich Dinge, die gestern noch unvorstellbar waren. Eine blühende oder auch nur eine halbwegs ein Auskommen sichernde Wirtschaft gerät in die Kriterien-Mangel von Agenturen, die sich – wie einst das Orakel von Delphi – mit vernichtendem Urteil über Zustand, Produktivität, Kreditabilität aus der Ferne melden – kein Land ist gegen Unwetter dieser Art gefeit, selbst wenn die Leute es geahnt haben. So ist es den Griechen gegangen und das schon seit Jahren, den Franzosen hängt die Abstufung durch die Rating-Agenturen wie ein Damoklesschwert – ein Grieche! – über dem Land, dessen Wirtschaft nicht so recht Fahrt aufnehmen will. Ganz gleich, wie deutlich sich das allgemeine Gefühl im Einzelfall zum allgemeinen Urteil – »l’économie n’est pas bonne« – aggregiert, unberührt von all dem ist das »Vide-Greniers«, eine heilige Institution des Landes. An den Wochenenden während der Sommermonate von Dorf zu Dorf veranstaltet, zelebriert als eine Messe des Handelns, die in ihrer Bedeutung längst den sonntäglichen Kirchenbesuch und dessen sakralisierte Gabe in den Schatten gestellt hat. Mit den allfälligen »Brocante«-Ständen darf das Vide-Greniers nicht verwechselt werden. Es handelt sich vielmehr um eine kollektive Ramsch-Aktion, die immerhin so attraktiv scheint, dass sie Scharen von Besuchern anzieht, nicht etwa Engländer, Holländer oder Deutsche, die sich ihre résidences secondaires mit authentisch bäuerlichem oder handwerklichem Gerät aus vergangenen Zeiten dekorieren, sondern es ist die Landbevölkerung, die hier von Ort zu Ort zieht, von Stand zu Stand verlassene Dinge sorgfältig mustert, die Utensilien, die zum unverzichtbaren Material des Bricoleurs zählen, dem der Anthropologe Claude Lévi-Strauss in seiner Schrift über das »Wilde Denken« ein Denkmal gesetzt hat. Der Bricoleur, seit dieser legendären Schrift der mentale Gegentypus zum Ingenieur, ja dessen inneres Komplement, dem es gelingt, aus dem, was herumliegt, was unbrauchbar geworden ist, ein neues Ganzes zu gestalten, durchstreift die Stände auf dem Vide-Greniers auf der Suche nach dem, was fehlt. Hier findet er Teile, die vom Hersteller längst aufgegeben sind, auf dem Markt verfügbar, das missing link zu einer Bastelei, die am Ende bestätigt, dass die Welt einer temporeichen Ökonomie, mit rasantem Wechsel der Technologien, auch der Moden, ihre eigene Dignität hat und vor allem eine, in der der sogar Bricoleur seine Würde als Ingenieur findet. Dieser Lust auf das Fehlende, die das Ensemble der ausschwärmenden Besucher zu einem Kollektiv des Vergangenheitsrespekts vereint, mit erkennbarem Ressentiment gegen alles Neumodische, das das Land überzieht, dieser Lust am Ramsch, der Braderie, unterliegt hingegen eine andere Motivquelle. Sie gilt dem Handel als Handel, als eine besondere Form von Gegenseitigkeit. Die Aktivität, auf die beim Gang durch die Stände auf dem Vide-Greniers letztlich alles hinausläuft, ist der Tausch, in der Version des eigenkontrollierten Verfügens über den elementaren ökonomischen Prozess, den man anschaulich vor sich hat und mit jedem Kaufakt erleben kann. Der Tausch ist, entgegen den Prämissen der Nationalökonomie, nicht Grundlage, sondern Abstraktion – der Elementargeste der Gabe entnommen, wie der Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss gezeigt hat – und reproduziert letztlich die darin wirksamen Prozesse der Wahrnehmung des Gegenübers als einem Interessenten. Vide-Greniers ist Ausdrucksgestalt des Gabentauschs, der Eintritt in die Erfahrung der Reziprozität, ein willkommener Ort des Tausches – welcher in den Abstraktionen der Börse oder des globalen Marktes stets undurchschaubar bleibt. Vide-Greniers ist demgegenüber ein Tausch, der sich in seiner Prozesshaftigkeit, in den seelischen Nuancen, zu denen er die Beteiligten verführt und in denen sie sich augenzwinkernd oder in heiligem Ernst begegnen, in die Alltagswahrnehmung jederzeit übersetzen lässt. Vide-Greniers ist der Tauschhandel aus der Zeit der Vormoderne, in den die drei Versionen des Besitzerwechsels: Raub, Tausch und Geschenk auf harmlose Weise integriert sind – man kann sich der Magie seiner Logik hingeben, weil die stillschweigende Voraussetzung affektiv entlastet: Es geht um nichts bzw. um Plunder, und unter dieser Bedingung lässt sich die Übertreibung im Preis, das Übervorteilen des Anbieters, kurzum alles, was im ökonomischen Leben des Einzelnen wie der Nationen folgenreich sein kann, praktizieren. In den Worten Georg Simmels tauchen die Formen des Besitzwechsels zwischen Geschenk, Raub und Tausch als verführerische Handlungsoptionen auf und bestimmen die Dynamik der Begegnungen. Flohmärkte gibt es natürlich überall auf der Welt, nicht nur in Frankreich. Sie durchziehen die Welt der globalen Ökonomie mit einem Hauch von Abenteuer. Der Beutezug ist ein Vergnügen, und nicht selten liefern die Trophäen des Tages den Grundstock fürs nächste Angebot. So gibt man sich – fern von der aggregierten Version, in der Standard&Poors sich die Geschäfte des Landes vornimmt – den Kapriolen des Marktes hin.
Genau – Kaum zu überhören ist eine rhetorische Figur, die seit einigen Jahren den studentischen Auftritt im Seminar bestimmt. Vernehmen lässt sie sich überall dort, wo ein Referat noch gesprochen wird. Der eigene Beitrag wird – nicht selten nach einem kräftigen Schluck aus der Zwei-Liter-Mineralwasserflasche – gerahmt durch ein »Genau«, entschlossener Auftakt im Vortrag des vorbereiteten Konzepts. Als Formel, die während des weiteren Verlaufs der Argumentation als verlässlicher Begleiter zum Abruf bereitsteht, begleitet sie die Ausführungen.
Die Sprechpause, vornehme Stütze des angestrengt-vordenkenden Extemporierens, erfährt im »Genau« einen Gestaltwandel. Vorbei scheinen die goldenen Zeiten des Zögerns und Stockens – Zeichen kognitiver Gewissheitssuche –, erloschen deren semantische Verkleidungen in gefälligen Formeln wie »irgendwie«, »sozusagen«, »ich sag mal«, »ungefähr«. Selbst das »Äh«, ein Klassiker unter den Überbrückungshelfern, ist selten geworden. Dessen flehende Botschaft an die Zuhörer, doch bitte das Geschenk ihrer Resonanzbereitschaft nicht vorzeitig wieder zurückzunehmen, hat der suggestiven Formel des »Genau« den Platz überlassen. Das »Genau«, das von der konversationell üblichen Bekräftigung einer Proposition zu unterscheiden ist, mit der wir uns als Zuhörer dem Fluss der Argumentation unseres Gegenübers anschließen und das auch nicht mit jenem »Genau« zu verwechseln ist, mit dem die Konsistenz und Überzeugungskraft eines Arguments, die Lösung einer komplexen Aufgabe triumphierend am Ende oder in das Stakkato einer Ableitung gerufen wird – es hat das akademische Sprechen überflutet.
Im Referat erfahren Studenten die kognitive Dimension wissenschaftlichen Arbeitens. Es verlangt die Reduktion eines durch unüberschaubare Literatur strukturierten Argumentationsraums auf anschlussfähige thematische Verdichtung, es verlangt in der sozialen Dimension die Kunst, eine sachliche Thematik auf den Resonanzraum eines Kollegiums stimmig zu übersetzen. Unvermeidlich ist dieser dramatische Vorgang einer ersten Aneignung affektiv von Verlegenheit unterlegt. Was war noch mal Reliabilität? – oder heißt das jetzt Validität? – Wie spreche ich den Namen des Autors aus, dessen Argument ich zitiere, was war noch mal Resilienz?
Wer beginnt, ist unsicher und darf es sein. Die rhetorische Figur des »Genau«, die den Vortrag des Referats auffallend oft durchbricht und die Argumentation mit Zäsuren versieht, gibt den Blick frei auf die affektive Dimension des Vortrags, die auf dem Weg zum Akademiker vollkommen legitime Verlegenheit. Seit eh und je ist das Referat coram publico mit einer besonderen Herausforderung verbunden, hier vollzieht sich der Statuswechsel vom Lernenden in das vollwertige Mitglied einer auf Erkenntnisbildung versammelten Gemeinschaft – für Anfänger eine Situation zwischen Bluff und Blamage, eine Herausforderung, sich in der eigenen Stimme sowie in der fiktiven Position des kundigen Kollegen darzustellen – eine radikale Krise im Bildungsprozess. Im Unterschied zur Schule wäre die tollkühne Koketterie des »keine Ahnung«, in dem noch Schüler ihre Verlegenheit überbrücken, an der Universität ein Regelverstoß. Schließlich wird unterstellt, man habe sich vorbereitet.
Das Referat reproduziert die elementare Situation der Aneignung des fremden Kognitiven und mutet dem Sprecher zu, sich selbst in der Fremdheit der Terminologie zu artikulieren und dennoch gegenüber den Zuhörern als der Vertraute zu begegnen – die berühmte Kleist’sche Formel vom »allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden«, sie hat eine nicht hintergehbare affektive Dimension, die Würde des Zögerns, und die wird im »Genau« verschluckt: Lass Dir die Verlegenheit nicht anmerken. Das »Genau«, ein Pfeifen im Walde, ein Echo, das man sich Mut machend vorträgt, ist ein Alarmruf nach Bologna. Das »Denken vom Anderen her«, wie der Philosoph Dieter Henrich es genannt hat, die Erfahrung des Hypothetischen, hat es in der performanzorientierten Wissensgesellschaft schwer, zur Geltung kommen. Wen wundert es, dass die Studenten, die mit semantischem Firlefanz wie »Studierende« um die Würde ihres Status gebracht werden, den verkürzten Studiengängen nicht mehr als die Mahnung entnehmen, auf Teufel komm raus ein Masterstudium anzuhängen. Durch Performanzorientierung, in Form von Soft-Skill-Trainings nicht selten als karrierebedeutsam offeriert, droht die Universität ihrer vornehmsten Aufgabe verlustig zu gehen, disziplinspezifische Stoppregeln einzuüben und das Hypothetische der Wissenschaft zu schulen, das faszinierende Drama der Erkenntnisbildung. Die Methode der Wissenschaft, so heißt es bei Karl Popper, ist die Methode der kühnen Vermutungen und der sinnreichen und ernsthaften Versuche, sie zu widerlegen. Wer die Universität verlässt, den erwarten Traineeprogramme. Dergleichen mag heutzutage unausweichlich, ja sogar geboten sein, die kommunikativen Formate des akademischen Diskurses prämieren hingegen die Frage, nicht die Antwort, nicht das »Was«, sondern das »Wie«.
Der Himmel steht Ihnen offen – Jede Dienstleistung, deren Gelingen im Kundenurteil über die Leistungseffizienz, über Sorgfalt und Freundlichkeit rückgemeldet wird und demnach unmittelbar reputationsbedeutsam ist, geht durch das Nadelöhr der Kommunikation, und diese Kommunikation setzt in hohem Maße Übergangskundigkeit und Übergangssensibilität voraus. Flugbegleiter sind Passagen-Virtuosen, spezialisiert auf den Übergang vom Bekannten in Unbekanntes, vom Vertrauten in Unvertrautes, vom Gewohnten in Ungewohntes, vom Boden in die Luft, von der Verortung in die Ortlosigkeit. Als Streckenposten der Zuversicht beherrschen sie die Kunst der stellvertretenden Situationsbewältigung.
Wer es ins Flugzeug geschafft hat, dessen Blick fällt auf die Tasche hinter der Rücklehne des Vordermanns – erleichtert in der Regel, weil eine Geschichte von Vorkehrungen und Zumutungen, die sich in dem räumlichen Setting abspielt, das wir Flughafen nennen, passiert wurde. Sicherheitskontrollen und das Schrumpfen der Habseligkeiten auf ein Minimum nichtstechender, nichtgiftiger Handgepäcksreste. Nachdem er sich auf seinen Sitz eingerollt, sein transitorisches Territorium somit erobert hat, schaut der Fluggast nach draußen, um die letzten Minuten einer Gewissheit zu bekräftigen, noch über Bodenhaftung der eigenen Person zu verfügen. Was die Tasche enthält, ist schnell aufgezählt. Die Safety-Instructions-Karte, das Magazin über diverse Artikel, die zu vorgerückter Stunde an Bord verkauft werden, sowie die berühmte Tüte.
Was umgibt den Fluggast? Räumliche Enge, von Nachbar zu Nachbar, sowie security-bedingte Handgriffe wie das obligatorische Anschnallen. Die Kommunikationseinschränkung, sinnfällig im angesonnenen Abschalten der Smartphones, rahmt die Anwesenheit an Bord, geheimnisvoll ungenau begründet »… aufgrund gesetzlicher Bestimmungen bitten wir Sie …«.
Fliegen meint eine Ortsbewegung in riskanter Raum-Zeit-Situation und ist darin unhintergehbar krisenhaft – das Risiko wird verklärt durch das uniformierte Sicherheitsversprechen der Besatzung sowie durch die suggerierte Erreichbarkeit luxuriöser Güter, einem Maximum an Komfort, das symbolisch den Fluggast auf einer Sinndimension weiterträgt, die eröffnet zu sein scheint, seitdem er sich entschieden hat, sich eines Fliegers zu bedienen, nicht zu Fuß zu gehen und im Kontrast zu anderen Verkehrsmitteln erhebliche Summen zu investieren, um unter der Restriktion der Zeitknappheit ein Maximum an Raumdurchschreitung zu erlangen.
Fliegen bewegt sich in der Sinnpolarität zwischen luxuriöser Lebensverschönerung und Lebensnot. Merkwürdigkeiten im Handeln der Menschen an Bord sowie all das, was im Service der Fluglinien an Kommunikation zu beobachten ist, haben hier seinen Ursprung.
Fangen wir mit dem Dienen, dem Service, an. Dienen – kommunikationssoziologisch gedeutet – enthält stets und systematisch eine wechselseitige Verpflichtung in sozialer und in ästhetischer Hinsicht. Es ist formgebunden und von daher minimal choreographisch strukturiert. Dienen wird nicht aus dem partikularen Akt der bezahlten Dienstleistung heraus beurteilt – das auch –, sondern ist in einer Einheit des Auftritts, d.h. der kommunikativen Zuwendung, eingebettet. Es wird als eine Gestalt wahrgenommen, erinnert und beurteilt. Das Dienen hat über die Unmittelbarkeit der sekundenschnellen Begegnung hinaus – der Aufnahme eines Wunsches, dem Darreichen einer Zeitung oder einer Decke – eine eigene Zeitlichkeit, auf die Menschen sich festlegen, die in ein Dienstleistungsverhältnis zueinander treten. Dienen unterliegt zwingend einer Konsistenzerwartung, wird stets in einer Sequenzialität wahrgenommen, im Alltag abkürzend Stimmigkeit, Atmosphäre oder Chemie genannt. In der Regel denkt man nicht darüber nach, wie dergleichen eigentlich zustande kommt. Man zieht stets Bilanz aus einer Summe von Einzelbegegnungen, und das gilt für beide Seiten des Verhältnisses. Das Urteil über den Service speist sich aus einer zusammengefügten Wahrnehmung kleinster Details und entsteht als eine Gestalt, in die der erste Blick ebenso eingeht wie das Abschiedslächeln beim Verlassen des Fliegers.
Das Bemerkenswerte am Service ist sein Freundlichkeits- und Zuvorkommenheitsüberschuss – darin liegt seine Anstrengung, darin liegt hingegen auch die Grundlage einer positiven Selbstbewertung für diejenigen, die in diesem Beruf arbeiten. In und mit der Freundlichkeit versuchen wir eine dramatische Situation der wechselseitigen Unbekanntheit abzubauen und zu bewältigen. Das wird an nichts so deutlich wie an dem wunderschönen bayrischen Gruß »Servus«, der uns an die elementare Geste der Zuvorkommenheit erinnert: Ich mache mich dem anderen gegenüber zu dessen Diener und das gilt reziprok, so dass eine sich entspinnende Beziehung jederzeit darauf zurückgreifen, seine Nichteinlösung sanktionieren oder seine Einlösung bewusst artikulieren kann. Das menschliche Grüßen ist darauf eingerichtet, in Sekundenschnelle die Fremdheit abzubauen, in die man bei bevorstehender Kontaktaufnahme gerät, und wenn denn bei langen Freundschaften oder Bekanntschaften die herzliche Umarmung den Gruß begleitet, dann ist nicht etwa die Fremdheit vollkommen verschwunden, sondern man versichert sich dabei erneut der Geltung des schon vollzogenen Übergangs in die Vertrautheit. Die christliche Tradition bestimmt das Dienst- und Service-Ideal, selbst wenn dieses Ideal in dem Maße verblasst, in dem die Tätigkeit professionalisiert wird. Kompliziert wird das Handeln im Service hingegen über einen weiteren Sinnbezug, die Patronagesituation als Ursprung des Dienens. Dienen schließt, darin liegt eine zweite bedeutsame Wurzel, an die vormoderne Situation eines Abhängigkeitsverhältnisses an, bei dem der Dienst für den Herrn mit dessen Verpflichtung zur Sorge und Fürsorge für den Diener entgolten wurde. Die Patronage enthält ein Gabe- und Gegengabe-Modell, das stets auch den Herrn verpflichtete, dauerhaft für die materiellen Grundlagen des Dienstverhältnisses einzutreten – eine wirkungsvolle und Jahrhunderte währende Einheit, die allerdings stets auch um den Preis unelastischer kommunikativer Beziehungen befolgt wurde.
Die genannten kulturellen Hintergründe mögen verständlich machen, dass eine kontraktuell, durch den Kauf im Vorhinein schon bestimmte Dienstleistung gleichwohl durch die Archaik von Reziprozitätsbeziehungen überformt ist und diese im unmittelbaren Austausch wirksam werden. Die Personen bewegen sich in der Rhetorik ihrer Ansprache, in den unbewussten und bewussten Erwartungen aneinander in dem oben aufgespannten Horizont, und sie aktivieren ihn – mehr oder weniger gelungen. Man wird sogar vermuten dürfen, dass die rein ökonomische Tauschbeziehung Geld gegen Dienstleistung im Falle einer gelingenden Dienstleistung umso nachhaltiger in den Hintergrund gerät, von beiden Seiten intransparent gehalten wird und nur im Konfliktfall nach vorne rückt – »… schließlich habe ich dafür ja bezahlt …«. In die Arbeitssituation des Flugbegleiters übersetzt, erschließt sich die für Dienstleistungen allgemein geltende eigentümliche Ambivalenz im unmittelbaren Kontakt: einerseits den Service als eine bezahlte Leistung zu erwarten, andererseits hingegen das damit verbundene Verhältnis der verpflichtenden Wechselseitigkeit jeweils neu aktualisieren zu müssen. Das Dienen muss sozusagen »upgedated« werden und in dem Maße, in dem dies gilt, brauchen derartige Beziehungen systematisch Wege, sich wechselseitig wieder in die Autonomie zu entlassen.
Die kleinste Begegnung – man denke an den Orangensaft oder den Gruß bei Betreten des Flugzeugs – erfolgt somit in einer Mikrostruktur der Wechselseitigkeit und damit in einem Dreischritt von Gabe, Annahme der Gabe und Erwiderung der Gabe. Selbstredend darf man das nicht so verstehen, dass sich die Kundschaft ihrerseits mit einem vollen Glas Orangensaft zu bedanken hätte, dennoch erfordert die Kommunikationssituation einen hinreichenden Spielraum, sich mit einer Geste – und das kann ein flüchtiges Lächeln ebenso sein wie sogar noch ein geistesabwesend vor sich hingebrummtes »Danke« – in die Autonomie, in die Neutralität und freundliche Indifferenz zu verabschieden. Erst dadurch bleibt die Kommunikation elastisch, und die Akteure tragen sich nichts nach, müssen nicht auf die nächste passende oder unpassende Gelegenheit warten, Schuldsalven abzufeuern, nur weil eine vorausgehende Begegnung nicht abgeschlossen wurde. Dienen stellt sich systematisch als eine Kunst des Zuvorkommens dar – und zwar in der Situation des Übergangs: von einer Gewissheit in die nächste nur relative Gewissheit, und dieser Schritt ist mit Ungewissheit verbunden.
Das führt zu einem weiteren Punkt, dem symbolischen Horizont, der beim Fliegen angesprochen wird. Fliegen ist Orts- und Zeitveränderung und eröffnet durch das Inanspruchnehmen einer Technologie die Chance einer magisch bewirkten Selbständerung. »Der Himmel steht Ihnen offen«, so lautet eine in diesem Sinne anschauliche und zugleich hintergründige Botschaft an Kundschaft und Personal. Es sollte nicht verwundern, dass sich bei vielen Menschen die ernüchternde Irritation einstellt, dass das »Irdische« dennoch an einem haften bleibt: Probleme, Konflikte, Abgrenzungen etc., schlicht der ganze lebensgeschichtlich angehäufte Satz von Erinnerungen und Gewohnheiten fliegt im unsichtbaren Handgepäck mit und strukturiert die Erwartungen – gegengesteuert durch das Versprechen des Außeralltäglichen. Es flimmert einem schon im glamourösen Design des Flughafens entgegen. Das unter »duty free« laufende Konsumversprechen, das aus diesen Orten heutzutage geradezu Tempel eines unermesslichen Warenrausches macht, hat wohl nicht so sehr mit verbilligten Angeboten als mit der im Flughafen beginnenden Phantasie des Außergewöhnlichen – einer Auszeit des Lebens – zu tun. Man begibt sich in eine »Exklave des Lebenszusammenhangs«, wie Georg Simmel das Abenteuer bezeichnet hat. Fliegen impliziert Raumdurchschreitung bei gleichzeitiger extremer körperlicher Unbeweglichkeit.
Das Bemerkenswerte liegt in dem scharfen Kontrast zwischen maximaler Überwindung von Raumgrenzen und dem Minimum an Eigenanstrengung, das man dazu investiert. Das gilt zwar für jede Form der technisch ermöglichten Durchschreitung menschlicher Raumgrenzen. Aber während wir beim Fahrradfahren oder auch bei der Benutzung des eigenen Autos noch eine körperlich spürbare Anstrengung zur Mobilität beobachten – das Treten der Beine macht müde, die Kontrolle von Lenkrad, Bremse und Gaspedal gleichermaßen –, versetzt das Flugzeug in eine Situation beinahe vollständiger Anstrengungslosigkeit. Diese psychosoziale Situation mit besonderen Folgen für die Selbstauffassung tritt ein, ganz unabhängig von dem trivialen Umstand, dass man vor Betreten des Flugzeugs die rationale Entscheidung getroffen hat, von A nach B nicht etwa selbst zu laufen, sondern sich transportieren zu lassen. Das Fliegen, das eine Höchstform der Mobilität ermöglicht, versetzt die Menschen zugleich in eine Passivität und Immobilität, man wird beschäftigungslos, bewegungslos und muss warten – das sind die Zumutungen, die mit dem Versprechen auf Ortswechsel einhergehen – aber zugleich den schärfsten Sinnkontrast bilden zu all dem, was dem modernen Menschen tagaus tagein angesonnen wird.
Hinzu kommt ein weiteres. Fliegen ist geliehene Mobilität und geliehener Aufstieg in eine Welt erhöhter Zugänglichkeit der Ressourcen, von Luxus und Komfort. Hieraus leitet sich die Bereitschaft ab, zu denen, die einen bedienen, auf Distanz zu gehen. Schon durch den Kauf des Tickets begibt man sich in eine Welt, für die das Inanspruchnehmen des Dienens typisch und selbstverständlich ist. Die Personenkreise, die einem im Flugzeug begegnen, insbesondere die mit allerlei Prämien und Ehrentiteln ausgestattete Business Class, symbolisieren gelungene Lebensführung, geschäftlichen Erfolg oder Reputation, die sie einer Bewährung oder zumindest dem Anspruch auf Bewährung verdankt. Unabhängig vom tatsächlichen gesellschaftlichen Status, unabhängig auch von den je wechselnden Motiven konkreter Fluggäste, einen Flug zu buchen, bringt das Fliegen Menschen zusammen, die Aufstieg und erwiesene Leistungsfähigkeit vereinigt. Das kann im Einzelfall völlig anders aussehen; uns interessiert daran nur die anschauliche Distanz zu denjenigen, die in einer solchen Situation als Dienende bereitstehen, nämlich die Crew eines Flugzeugs, und die Crew steht qua Konstellation – nicht etwa zwingend qua Herkunft oder Vermögen – auf der anderen Seite des Verhältnisses. Sie sind und bleiben die Dienenden.
Verschärft wird diese Eigentümlichkeit nun durch etwas, das wiederum nicht ausschließlich für das Fliegen gilt, aber doch das Fliegen in seiner Handlungsbedeutung für die Menschen – Kundschaft wie Service – bestimmt. Fliegen konfrontiert mit einer objektiven Gefahr, und zwar erstens infolge der Unvorhersehbarkeit der Natur und zweitens infolge der menschlichen Unzulänglichkeit. Eine gleichsam schicksalhafte Ausgangssituation konfrontiert alle Fluggäste mit der objektiven Möglichkeit einer Krise oder gar Katastrophe. Umfangreiche Sicherheitstrainings haben auf die professionelle Bewältigung derartiger möglicher Krisensituationen vorbereitet und an die berühmte Turbulenz, die entweder per Durchsage angekündigt wird oder die einen plötzlich erschüttert, sei hier als zusammengefasster Ausdruck all dessen, was geschehen kann, erinnert.
Selbstredend sind hier objektive Möglichkeiten gemeint. Fluggesellschaften halten sich – mit Recht – zugute, in welchem Umfang sie sowohl in technisch apparativer als auch in kommunikativer Hinsicht dem nur gedachten Grenzfall entgegenarbeiten. Aber ungeachtet dessen lässt sich die typische Sozialsituation des Fliegens nicht nur als anthropologisch ungewöhnlich bezeichnen, sondern als eine Situation, die die seelische Anpassungsfähigkeit überfordert. Schließlich sind die Passagiere in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht aus den normalen Bezügen ihrer Weltorientierung befreit, und sie befinden sich in einer dramatischen Ungewissheit. Auf Menschen mit Flugangst trifft dies zugespitzt zu, aber auch systematisch betrachtet ist das Fliegen mit einer Dinner Party nicht zu vergleichen. Das hat eine bemerkenswerte Implikation: Auf einer grundlegenden Ebene bildet sich ein Gemeinschaftsgefühl aller am Flug Beteiligten aus, ein Gemeinschaftsgefühl, das die soziale Unterschiedlichkeit und wechselseitige Fremdheit innerhalb der Kundschaft sowie die Unterschiede zwischen den Crew-Mitgliedern zu überbrücken imstande ist. Wenn nach erfolgreicher Landung Beifall aufbraust, äußert sich ein spontaner Dank aller für die Rückkehr zur Verortung.
Erst auf der Grundlage dieser Rahmung lassen sich Berufe, die im Flugzeug den Service bestreiten, in ihrer Besonderheit, in ihren spezifischen Anstrengungen und ihrer Leistungsfähigkeit angemessen würdigen, und erst auf der Grundlage dieser Rahmung lässt sich das komplexe Anforderungsprofil für die verberuflichte »Gastgeberschaft unterwegs« erschließen. Flugbegleiter zu sein bedeutet, genau dies zu sein, bedeutet in diesem Sinn die Quadratur des Kreises, denn Gastgeber kann im Grunde nur jemand sein, der daheim ist, also über eine sozialräumliche Verortung verfügt. Vor dem Hintergrund eines »unmöglichen Berufes« sind wir in der Lage, auf Dinge zu schauen, die längst über den Klatsch, über kleine und große Berichte über die Kundschaft, aber auch den Zeitgenossen auf der Strecke bekannt sind – typologisch seien im Einzelnen folgende möglichen Ausprägungen unterschieden:
a) Das Fliegen ermöglicht handlungsentlastete Reflexion: Die Kundschaft liest, döst, denkt nach, möchte ungestört bleiben. b) Fliegen ermöglicht Hypertrophie der Aufmerksamkeit: Es entstehen die hyperkorrekten »Korinthenkacker«, die aus der Mücke einen Elefanten machen. Kunden prüfen das Preis-Leistungsverhältnis – heutzutage der Volkssport Nummer Eins – und entschließen sich zur Situativ-Schikane. Sie klagen über Dinge und Servicebestandteile, die nur um der Klage willen vorgetragen werden. Die Beschwerde, die an die Fluggesellschaft geschickt wird, ist keineswegs stets für bare Münze zu nehmen. c) Fliegen ermöglicht Geschwätzigkeit: Kunden werden gesprächig und nutzen die Beschäftigungslosigkeit, zu der sie verdammt sind, zum nicht endenden Gespräch – unter ihresgleichen, aber auch mit dem Service; dann ist langer Atem gefordert. d) Fliegen ermöglicht sanktionsfreie Devianz: Kunden erproben oder kultivieren eine sublime Form der Flegelei und Vulgarität. Die Situation einer Ort- und Zeitlosigkeit legt Handlungen nahe, die im eigenen Verkehrskreis geahndet würden, bzw. nicht gewagt würden, jedoch »über den Wolken« Bestandteil eines Gefühls erlaubter Regression werden, Erscheinungen, die sowohl in der Economy ebenso wie in der Business Class möglich sind. Es kann vorkommen, dass die Kundschaft während des Flugs mit dem Nägelschneiden beginnt, die Füße werden wie selbstverständlich auf dem Vordersitz abgelegt.
Lässt sich vorhersagen, wie sich die Erwartungen an den Service entwickeln und mit welchen Besonderheiten in Zukunft zu rechnen ist? Das verlangt einen Blick auf die Art und Weise, wie in einer zunehmend durch Unvorhersehbarkeiten gekennzeichneten Welt Menschen den Übergang vom privaten in den öffentlichen Raum, vom geschützten persönlichen in den vergleichsweise ungeschützten Nahraum mit anderen wahrnehmen und verstehen. Die Art und Weise, wie Menschen sich im öffentlichen Raum darstellen, lässt sich mit Verpuppung und Authentizitätseuphorie auf den Begriff bringen, zwei nur äußerlich sich widersprechende Erscheinungsformen. Was ist darunter zu verstehen?
Verpuppung greift die Idee der Übergangsempfindlichkeit auf. Menschen möchten passagensicher sein, nicht nur, um eine Adresse komplikationslos zu erreichen, nehmen sie sogenannte Navigatoren in Anspruch, nein, auch im allgemeinen Umgang untereinander entwickelt sich eine Navigationssehnsucht. Am Flughafen zeigt sich dieser Trend darin, die Premium-Kundschaft von den anderen Fluggästen räumlich zu trennen, motiviert von der Idee, die anstrengende Gegenwärtigkeit statusniedrigerer Personenkreise nicht zumuten zu wollen. Authentizität klingt nun zunächst nach einer kontrastierenden Tendenz. Menschen entwickeln erhöhte Erwartungen an eine nichtroutinisierte Kommunikation, eine Begegnung, die mit höheren Echtheitserwartungen verknüpft ist, und zwar weit über die privaten Verkehrskreise hinaus, in denen dergleichen ohnehin selbstverständlich ist. Von der Ausgangssituation einer sich abzeichnenden Schließungs- und Öffnungstendenz ergeben sich besondere Anforderungen für den Umgang mit der Kundschaft. In jedem Fall steht im Anforderungsprofil an die Service-Berufe die Situationseinschätzung und das Einüben von Angemessenheitsurteilen an vorderster Stelle. Dergleichen Fähigkeiten sind zwar stets Bestandteil beruflicher Erfahrung gewesen, in langen Berufsjahren mühsam und selten frustrationsfrei angeeignet, gegenüber der heutigen Kundschaft und angesichts eines hart umkämpften Marktes wird die Punktgenauigkeit im Erschließen von Situationen sowie das souveräne Verfügen über die Fähigkeit, den Übergang zu gestalten, zur Überlebensfrage der Fluggesellschaften. Zusammengefasst eröffnet der berufliche Alltag eine erstaunliche Parallele. Der Erfahrungsraum der Flugbegleitung enthält alle Voraussetzungen für große Literatur: Hier werden Kurzgeschichten entworfen, jede Begegnung ist ein Plot, und wer sich nach anstrengendem Dienst auf der Strecke in einem fernen Hotel endlich im Bett ausstreckt, braucht kaum zur Lektüre zu greifen. Die Geschichten sind gespeichert, kurze, manchmal sekundenschnelle Anmerkungen zu einer außergewöhnlichen Situation, dem Flug.
Aus dieser Perspektive kommen wir zurück auf die Gedanken zu Beginn. Die Menschen unterwegs befinden sich in einer dramatisch zugespitzten Situation erzwungener Unbeweglichkeit, des Ausgeliefertseins, der Schicksalhaftigkeit – dergleichen Lage wegzudeuten haben wir uns angewöhnt, Schicksalhaftigkeit halten wir für antiquiert. Luftgesellschaften könnten jedoch ihren glamourös zur Schau gestellten und ohne Zweifel vielfach bewiesenen technischen wie Dienstleistungs-Avantgardismus darin zum Ausdruck bringen, dass sie ihrer Kundschaft vermitteln, zu in der Situation, in der man nichts tun kann, gleichwohl ein Kontinuitätsversprechen zu repräsentieren. Das geschieht in Gestalt der Uniform des Personals, das erfolgt in der geschulten Freundlichkeit, aber das kann auch in einer situationsflexiblen Bereitschaft, den Übergang erinnerungsfähig zu halten, zum Ausdruck kommen.