Jay Kristoff
Nevernight
Die Prüfung
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
FISCHER E-Books
Jay Kristoff verbrachte den Großteil seiner Jugend mit einem Haufen Bücher und vielseitiger Würfel in seinem spärlich beleuchteten Zimmer. Als Master of Arts verfügt er über keine nennenswerte Bildung. Er ist zwei Meter groß und hat laut Statistik noch 13020 Tage zu leben. Zusammen mit seiner Frau und dem faulsten Jack-Russell-Terrier der Welt lebt er in Melbourne. Jay Kristoff glaubt nicht an Happy Ends.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Sie ist keine Heldin. Sie ist eine Frau, die Helden fürchten.
In einer Welt mit drei Sonnen,
in einer Stadt, gebaut auf dem Grab eines toten Gottes,
sinnt eine junge Frau, die mit den Schatten sprechen kann, auf Rache.
Mia Corvere kennt nur ein Ziel: Rache. Als sie noch ein kleines Mädchen war, haben einige mächtige Männer des Reiches – Francesco Duomo, Justicus Remus, Julius Scaeva – ihren Vater als Verräter an der Itreyanischen Republik hinrichten und ihre Mutter einkerkern lassen. Mia selbst entkam den Häschern nur knapp und wurde unter fremdem Namen vom alten Mercurio großgezogen, einem Antiquitätenhändler. Mercurio ist jedoch kein gewöhnlicher Bürger der Republik, er bildet Attentäter für einen Assassinenorden aus, die »Rote Kirche«. Und Mia ist auch kein gewöhnliches Kind, sie ist eine Dunkelinn: Seit der Nacht, in der ihre Familie zerstört wurde, wird sie von einer Katze begleitet, die in ihrem Schatten lebt und sich von ihren Ängsten nährt. Mercurio bringt Mia vieles bei, doch um ihre Ausbildung abzuschließen, muss sie sich auf den Weg zur geheimen Enklave der »Roten Kirche« machen, wo sie eine gefährliche Prüfung erwartet…
»Nevernight« ist der erste Roman einer neuen bildgewaltigen und epischen Fantasy-Serie von »New York Times«-Bestseller-Autor Jay Kristoff.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Nevernight« bei Thomas Dunne Books, St. Martin's Press, New York
Copyright © 2016 Jay Kristoff
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildung: Guter Punkt, München, unter Verwendung einer Illustration von Jason Chan
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490290-6
Sie wusste noch nicht, wie man richtig zuhört. Das ist den wenigsten von euch da draußen gegeben.
Doch, da war etwas, dem das auffiel. Etwas, das sich sehr wohl kümmerte.
Die Rippen sind wohl das beeindruckendste Wahrzeichen der Hauptstadt Itreyas: Sechzehn großartige, verknöcherte Türme erheben sich schimmernd im Herzen der Stadt aus Brücken und Gebein. Es sind, wie es heißt, die Rippen des letzten Titanen, der von Aa, dem Gott des Lichts, im Krieg um die Herrschaft über den Himmel Itreyas besiegt wurde. Aa befahl seinen Getreuen, dort einen Tempel zu erbauen, wo der Titan zur Erde herabgestürzt war, um seinem Sieg ein Denkmal zu setzen. Und so wurde die Saat für die große Stadt auf dem Grab des letzten Feindes des Lichts gesät.
Seltsam jedoch, meine edlen Freunde, dass ihr in keiner heiligen Schrift und in keinem Buch den Namen dieses Titanen finden werdet …
Herrin der See, drittgeborenes Kind des Lichts und der Gurgel; jene, die einmal die Welt trinken wird.
Wie betrunken hätte ein Mann sein müssen, um ernsthaft darüber nachzudenken, einer Riesin den Hof zu machen? Und vor allem, wie hätte er in derart berauschtem Zustand sein eigenes Werkzeug an Ort und Stelle bringen oder gar die Leiter besteigen können, die er dafür gebraucht hätte?
Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Mann mit dem Einfallsreichtum eines Dichters.
Nur sechs Exemplare sind noch erhalten. Plienes und alle bekannten Ausgaben seiner Werke wurden im Jahr 27 PR der Fackel überantwortet, in jenem großen Feuer, das kurzzeitig als »der hellste Schein« bekannt war.
Der Scheiterhaufen, der auf Betreiben von Großkardinal Crassus Alvaro aufgetürmt worden war, bestand aus über viertausend »Brandbüchern« und wurde von der itreyanischen Geistlichkeit als großer Erfolg gefeiert – bis Crassus’ Sohn, Kardinal Leo Alvaro, darauf aufmerksam machte, dass es keinen helleren Schein in der Schöpfung geben konnte als den von Lichtgott Aa höchstpersönlich und dass es sich daher um Gotteslästerung handelte, wenn man ein von Menschenhand errichtetes Großfeuer mit einem solchen Namen bedachte.
Nach der Kreuzigung des Großkardinals verfügte Großkardinal Alvaro II, dass das Feuer ab sofort in allen Schriften als »Heller Schein« bezeichnet werden sollte.
»Schön, sie war vielleicht die gefürchtetste Mörderin von ganz Itreya und hatte zahllose Menschen auf dem Gewissen, sie mochte die Herrin der Klingen sein und die Zerstörerin der Republik, aber seht doch, es war auch etwas Gutes in ihr. Sie ließ Gnade walten, sogar gegenüber Vergewaltigern und Schlägern. Und jetzt: gefühlvolle Geigenmusik!«
Wie sich wohl vermuten ließ, rührte der Name des Katers daher, dass er gern überallhin urinierte, wo er es nicht sollte. Ihre Mutter hatte den Namen hingenommen, ihr lieber, dahingegangener Vater hingegen hatte ihn mit lautem, begeistertem Lachen begrüßt.
Käptn Pfützi lauerte unter dem Bett und leckte sich die staubigen Pfoten. Das bereits erwähnte Etwas waberte weiterhin unterhalb der Gardine herum.
Inzwischen erkannte sie, wann die Musik gespielt wurde.
Diese zweifelhafte Auszeichnung hatte sich ein Freudenhaus im Gottesgraber Hafenbezirk verdient, das Einsame Rose hieß und nur von syphilisgeplagten Verrückten und frisch entlassenen Sträflingen frequentiert wurde. Geführt wurde es von einer Madam aus Vaan, die von so vielen Geschlechtskrankheiten befallen war, dass sie ihre Schamgegend als »Waisenmacher« bezeichnete.
Der Einzige in Letzte Hoffnung, der gewusst hatte, wie man es spielte – ein ortsansässiger Grabräuber, der den Spitznamen Blauer Paulo trug –, war zwei Sommer zuvor an den Dachbalken seines Zimmers baumelnd aufgefunden worden. Ob er Selbstmord begangen hatte oder ob sein Tod auf den Protest eines anderen Gastes zurückzuführen war, der etwas gegen Cembalo-Musik hatte, wurde in den Wochen nach seinem Ableben zwar leidenschaftlich diskutiert, allerdings kaum ernsthaft untersucht.
Es gab drei Arten von Münzen in der Republik – den geringsten Wert hatten Kupfermünzen, in der Mitte lagen die aus Eisen, und die wertvollsten waren aus Gold. Goldmünzen waren allerdings so selten wie ein freundlicher Steuereintreiber, und die meisten einfachen Leute bekamen in ihrem ganzen Leben keine zu Gesicht.
Die itreyanische Währung bekam zunächst den Namen »Souverän«, aber da die Itreyaner dazu neigten, ihre Könige brutal zu ermorden, war diese Bezeichnung schon seit Jahrzehnten nicht mehr gebräuchlich. Kupferstücke nannte man inzwischen gelegentlich »Bettler« und Eisenstücke »Pfaffen«, nach den Leuten, die sie jeweils am häufigsten benutzten. Für Goldstücke gab es keinen weiteren Ausdruck, der sich allgemein durchgesetzt hätte – wer so reich war, dass er sie besaß, war normalerweise nicht der Typ, der viel für Spitznamen übrighatte. Oder sich überhaupt selbst um sein Geld kümmerte.
Aber vielleicht hätte man sie der Vollständigkeit halber Goldene Schnösel nennen können.
Im Raum war zur genannten Zeit kein Regenbogen zu sehen.
Was nicht so war, obwohl der dicke Daniio dem Kapitän in der Tat noch etwas schuldig war, und zwar nicht wenig. Das ging auf einen alkoholbefeuerten Streit über die Aerodynamik von Schweinen und die Entfernung vom Alten Imperator bis zum Stall an der Straße zurück. Die Schuld, die aus der gründlichen oralen Befriedigung der Mannschaft der Trelenes Galan bestand (und die Daniio zudem offenbar mit blau angepinseltem Hintern ableisten sollte), war bisher noch nicht eingefordert worden, aber jedes Mal, wenn die Galan und ihre Mannschaft im Hafen einliefen, stand die Drohung aufs Neue im Raum.
Jungen, Mädchen, Männer, Frauen, Schweine, Pferde und – bei rechtzeitiger Anmeldung und ausreichender Münze – Leichname.
Oh, seht nur, es ist doch Gutes in ihr! Und jetzt wieder die gefühlvolle Geigenmusik …
An dieser Stelle möchte ich einmal etwas weiter ausholen.
In allen Religionen muss es einen Gegenspieler geben. Einen Bösen als Gegengewicht zum Guten. Einen Schwarzen als Gegengewicht zum Weißen. Bei den Menschen der Republik wird diese Rolle von Niah übernommen, Göttin der Nacht, Unsere Hohe Frau gesegneten Mordes, Schwesterweib des Aa, oft auch (wie ihr zweifelsohne schon herausgefunden habt) als die Gurgel bezeichnet.
Zu Anbeginn war die Ehe von Niah und Aa glücklich. Sie liebten sich in der Morgen- und in der Abenddämmerung und kehrten dann in ihre eigenen Reiche zurück, so dass sie die Herrschaft über den Himmel zu gleichen Teilen übernahmen. Da er einen Rivalen fürchtete, befahl Aa der Niah, ihm keine Söhne zu gebären, und pflichtbewusst schenkte die Nacht dem Licht vier Töchter: Tsana, die Herrin des Feuers, Keph, die Herrin der Erde, und schließlich die Zwillinge Trelene und Nalipse, die Herrinnen des Meeres beziehungsweise des Sturms. Doch Niah vermisste ihren Gatten in den langen, kalten Stunden der Dunkelheit, und um ihre Einsamkeit zu lindern, beschloss sie, einen Jungen zur Welt zu bringen. Die Nacht nannte ihren Sohn Anais.
Aa war außer sich über den Ungehorsam seines Weibes. Zur Strafe wurde Niah aus dem Himmel verbannt. Da sie sich von ihrem Mann verraten fühlte, schwor sie, sich an ihm zu rächen, und seitdem hat sie nie wieder das Wort an ihn gerichtet. Aa selbst ist noch immer gekränkt wegen dieser Sache.
Und was wurde aus Anais, mögt ihr fragen? Dem Rivalen, den Aa berechtigterweise fürchtete?
Das, edle Freunde, würde viel zu viel verraten.
Wenn sie in Gottesgrab weilen, wohnen die Edelleute der Republik meist in den mit herrlichen Schnitzereien verzierten Öffnungen der bereits erwähnten Rippen, während sie ihre Geschäfte in den riesigen Höhlungen führen, die das Rückgrat bietet – daher der Ausdruck »Markgeborene«. Der jeweilige Status lässt sich an der Entfernung zur ersten Rippe ablesen, wo die itreyanischen Senatsmitglieder und die gewählten Konsuln leben. Nördlich der ersten Rippe liegt das Forum, das an jener Stelle errichtet wurde, an der sich einst der Schädel des gefällten Titanen befunden haben könnte.
Ich sage absichtlich »könnte«, meine edlen Freunde, weil der Schädel selbst nämlich fehlt.
Das Motto der Luminatii-Legion, edler Freund. »Licht wird obsiegen.«
»Ach, du meinst die Gurgel!«
Die Priester des Ehernen Kollegs von Itreya werden nach ihrem zweiten Wahrdunkel in den Orden eingeführt und auf ihre Eignung in den Ars Machina geprüft. Den Jungen bringt man weder Lesen noch Schreiben bei. Am Vorabend ihres fünften Wahrdunkels werden jene, die der Aufnahme für wert befunden wurden, in einen hell erleuchteten Raum im Herzen des Kollegiums gebracht. Hier sprechen sie umgeben vom Geruch brennenden Teers und dem unglaublichen Schönklang des Kolleg-Chors ihr Gelübde, und dann befreit man sie mit einer Zange aus glühendem Eisen von ihren Zungen. Das Geheimnis, wie man Streitgänger konstruiert und pflegt, gehört zu den bestgehüteten der Republik – es wird durch Tun und nicht durch Sprechen weitergegeben –, und die Priester nehmen ihr Schweigegelübde tatsächlich recht ernst.
Es mag die Empfindsameren unter euch beruhigen, dass es in diesem Orden kein Keuschheitsgelübde gibt. Die Priester dürfen sich allen fleischlichen Genüssen hingeben, obwohl sich die fehlende Zunge bei der Suche nach einer Frau als hinderlich erweisen mag.
Allerdings macht sie gerade dieser Umstand zu wundervoller Gesellschaft beim Abendessen.
Auch wenn sie weitgehend ohne Dunkelheit auskommen müssen, so benötigen die meisten Bürger der Republik doch ein gewisses Maß an Schlaf, und egal zu welcher Jahreszeit, das Ende der Wachperiode wird durch eine Wetterwende angezeigt. Wenn die Nimmernacht heraufzieht, frischt der Wind über den westlichen Meeren auf und fährt heulend über die ganze Republik, wobei er für einen höchst willkommenen Temperatursturz sorgt. Da der Schlaf bei etwas mehr Kühle leichter fällt, betrachten die meisten Itreyaner diese Wetteränderung als Signal, um sich ins Bett zu begeben – oder ins Heu oder auf die Fliesen eines Bürgersteigs, falls man zufällig gerade auf einer Zechtour ist. Der Wind beruhigt sich nur langsam und schwillt dann etwa vierundzwanzig Stunden später wieder an. Man sagt, er sei ein Geschenk von Nalipse, der Herrin der Stürme, die Mitleid mit einem Land und seinen Bewohnern hatte, die vom pausenlosen Licht ihres Vaters versengt werden.
Die »Wende« ist daher ein Ausdruck, den die Itreyaner für einen Turnus von Schlaf und Wachen verwenden. Eine Woche hat sieben Wenden, und die Abfolge der Jahreszeiten vollzieht sich in dreieinhalb hundert Wenden. Ein merkwürdiger Ausdruck, aber notwendig in einem Land, in dem die eigentlichen Tage zweieinhalb Jahre dauern und Geburtstagsfeiern ein Luxus sind, den sich nur die Reichsten leisten können.
Gelegentlich – und oft zu ihrem eigenen Verdruss – konnte das Mädchen den Stolz der Markgeborenen nicht bezähmen, der dann durch die sorgsam aufgebaute Scheißegal-Fassade brach. Wie gesagt, man mag ein Mädchen aus der Gosse holen, aber die Gosse nicht aus dem Mädchen. Für die Mädchen von den Prachtstraßen gilt dasselbe.
Jetzt benehmt euch mal wie Erwachsene und hört auf zu kichern.
Der Hengst, nicht der Hauptmann.
Während ihres Aufenthalts dort war sie von drei verschiedenen Pferden gebissen, siebenmal abgeworfen (zweimal auf einen Misthaufen) und einmal heftig getreten worden. Außerdem hatte sie ein besonders waghalsiger Stalljunge namens Romero in den Hintern gekniffen (leider an derselben Wende, an der sie das erste Mal im Pferdedung gelandet war), nachdem ihm ein fahrender Musikant den nicht ganz ungefährlichen Tipp gegeben hatte, dass Frauen aus der Stadt »so was mögen«.
Die Nase des Jungen heilte nie wieder richtig, aber es gelang ihm, drei seiner Zähne wieder einzusammeln. Zuletzt hörte ich, dass man ihn zu vier Jahren im Stein der Weisen verurteilt hatte, weil er brutal und, wie es hieß, völlig grundlos einen fahrenden Musikanten verprügelt hatte.
Das Imperium von Ysiir beherrschte die Welt etwa sieben Jahrhunderte lang, eine Zeit, die von den Gelehrten als eine Ära des Fortschritts in den Wissenschaften und den arkanen Künsten gerühmt wird. Ysiir war eine Gesellschaft von Zauberkundigen, deren kühne Ausflüge in das Reich der Magik nicht nur die schwächeren thaumaturgischen Riten der liisianischen Magierkönige in den Schatten stellte, die ihnen nachfolgten, sondern auch die Gestalt der Realität selbst veränderten.
Doch wie es so oft geschieht, wenn Sterbliche sich an den Stoffen zu schaffen machen, die einst die Götter webten, sorgte auch hier irgendjemand oder irgendetwas dafür, dass sie einen kräftigen Schlag auf die Nase bekamen. Kein sterblicher Gelehrter vermag genau zu sagen, wie es zum Sturz des ysiirischen Reiches kam. Viele meinen, Aa selbst habe das Land von der Oberfläche der Welt gekratzt. Andere behaupten, das Wirken der ysiirischen Sorcerii habe Wesen auf sich aufmerksam gemacht, älter noch als die Götter, namenlose Monstrositäten von jenseits des Universums und der Vorstellungskraft, die das Imperium mit der Gier eines Tintenspritzers im Drei-Wenden-Rausch verschlangen.
Und dann gibt es noch jene, die glauben, jemand unter den Sorcerii hätte ganz einfach Scheiße gebaut.
Richtig, RICHTIG üble Scheiße.
Mercurio bezeichnete diese Prüfungen als »Schatzsuche«, und obwohl sie unterschiedlich schwer und unterschiedlich gefährlich für Leib und Leben waren, begannen sie doch alle meist damit, dass Mia mit einem leichten, durch Schlafkraut verursachten Kopfschmerz in einer unbekannten Umgebung erwachte. Einmal, nach einer Lektion über Magnetismus, war sie in der Stockfinsternis von Gottesgrabs Abwasserkanälen zu sich gekommen, mit nichts weiter in den Taschen als einer eisernen Haarnadel und einem Stückchen Kalk, um den Weg nach draußen zu finden. Nachdem sie sechs Monate lang die alte Sprache von Ysiir gelernt hatte, war sie in der Nekropole von Gottesgrab aufgewacht, fünf Meilen vom Ausgang entfernt, ausgerüstet mit einem halbvollen Wasserschlauch und einer Wegbeschreibung in ysiirischer Schrift.
Natürlich war das Kostbarste, was sie am Ende dieser sogenannten Schatzsuchen fand, grundsätzlich der Umstand, dass sie noch lebte. Aber diese Methode sorgte dafür, dass sie stets außerordentlich lernwillig blieb.
Obwohl sie von den wenigen Gelehrten, die verrückt genug waren, sie genauer zu untersuchen, »Sandkraken« genannt werden, handelt es sich bei den Beutegreifern der ysiirischen Wüsten nicht wirklich um Kopffüßler. Sie schwimmen im Sand ebenso gut wie ihre im Meer lebenden »Verwandten« im Wasser und filtern sich den Sauerstoff durch besonders ausgestattete Kiemen aus der Erde. Sie fressen alles, was nicht in der Lage ist, sich überdurchschnittlich schnell fortzubewegen, und sind für ein Temperament bekannt, das man wohl am ehesten als »unkooperativ« beschreiben könnte.
Der unbestrittene Experte auf diesem Fachgebiet, Loresman Carlo Ribisi, stellte die These auf, es handle sich um eine Art von Wüstenwürmern, die durch magische Umweltverschmutzung, die von den ysiirischen Ruinen ausging, mutiert seien. Ribisi erläuterte, die Ungeheuer besäßen eine ähnlich große Intelligenz wie Hunde, und um seine Theorie zu stützen, fing er einen jungen Sandkraken, brachte ihn ins Große Kolleg von Gottesgrab und versuchte, ihm einfache Kunststückchen beizubringen.
Ribisi konstruierte Irrgärten aus Stein, füllte sie mit Erde und ließ das Ungeheuer (das er nach einem geliebten Haustier der Familie »Alfi« genannt hatte), darin los. Wenn es Alfi gelang, den richtigen Weg durch das Labyrinth zu finden, wurde er mit Nahrung belohnt. Ribisi erhöhte den Schwierigkeitsgrad, als Alfi größer wurde (zum Zeitpunkt der letzten Aufzeichnung hatte das Geschöpf eine Länge von sechs Fuß), und baute zusätzlich einfache Mechanismen wie Riegel und Türen ein, um die wachsende Intelligenz seines Versuchstiers zu belegen. Leider nutzte Alfi das gewonnene Wissen eines Nimmernachts, um aus seinem Gehege zu entfliehen. Er tötete einen großen Teil der Fakultätsmitarbeiter, darunter auch den ziemlich enttäuschten Ribisi, bevor er von einem Kader recht perplexer Luminatii erledigt wurde.
Die Bestimmungen hinsichtlich der Haltung wilder Tiere auf dem Gelände des Kollegs wurden nach diesem Vorfall entscheidend verschärft.
Obwohl ein Verband von zehn Exemplaren in Gottesgrab existiert, bleiben die Mekwerk-Riesen des Ehernen Kollegs unbefeuert und unbemannt, um nur in größten Krisenzeiten eingesetzt zu werden. Aufgrund der militärischen Übermacht der Itreyaner und der Tatsache, dass Gottesgrab im Grunde nur von See angegriffen werden kann, befinden sich diese Maschinen eher aus zeremoniellen Gründen in der Stadt. In den letzten vierzig Wahrdunkeln wurden Gottesgrabs Streitgänger ganze zwei Mal aktiviert.
Das erste Mal, als König Francisco XV. gestürzt wurde und ihm ergebene Legionäre versuchten, den Palast zu stürmen. Die royalistischen Steuermänner der Streitgänger ergaben sich, nachdem sie festgestellt hatten, dass Francisco und seine ganze Familie bereits tot waren.
Der zweite Einsatz begann mit drei Flaschen Goldwein mittlerer Qualität und einer betrunkenen Prahlerei vor einer schönen Frau, führte zu einem krachenden Aufprall auf die sechste Rippe (die dabei im unteren Bereich abbrach und ins Meer stürzte) und endete mit einer schnellen Verhandlung und einer noch schnelleren Kreuzigung des betreffenden jungen Herrn.
Dabei war ihm die junge Frau, um die es ging, nicht einmal sonderlich gewogen gewesen …
Falls jemals im Angesicht des Aa ein Pferd geboren wurde, das tatsächlich ein gehässiges Lachen hatte, so war es Drecksack.
Beim sogenannten Knöcheln werden Zeigefinger und kleiner Finger bis zum ersten Gelenk ausgestreckt.
Diese Geste lässt sich bis zur Schlacht von Rotensand zurückverfolgen, in der König Francisco I. von Itreya, auch genannt »der Einiger des Reiches«, den letzten Magierkönig von Liis, Lucius den Allmächtigen, besiegte.
Man ging davon aus, dass Liis nach dieser Niederlage keinen Widerstand mehr gegen die Herrschaft Itreyas leisten würde. Itreyas Besetzung besiegter Länder ging nämlich ebenso raffiniert wie heimtückisch vonstatten: Eine kleine Gruppe markgeborener Administratii übernahm das Machtvakuum, das durch die Auslöschung der herrschenden Klasse entstand, und etablierte mittels Nötigung und Bestechung eine neue Elite, die starke Bindungen zu Itreya besaß. Die Söhne örtlicher Familien wurden zur Erziehung nach Gottesgrab geschickt, itreyanische Töchter heirateten einheimische Männer, Geld floss in die richtigen Taschen, und nur eine Generation später fragten sich die eroberten Völker, wieso sie überhaupt jemals Widerstand geleistet hatten.
Doch nicht so in Liis, edle Freunde.
Nach Lucius’ Tod wurde eine Garnison Luminatii in der Hauptstadt Elai stationiert, um die »Assimilierung« zu begleiten. Alles ging gut, bis ein Kader von Elitetruppen, die Lucius’ Angedenken immer noch in Ehren hielten, ein Bankett überfiel, das im Palast des ehemaligen Magierkönigs stattfand. Die itreyanischen Hochwohlgeborenen und die Luminatii-Garnison wurden gefangen genommen, von den Loyalisten aufgereiht und einer nach dem anderen mit einer glühenden Klinge kastriert.
Anschließend ließ man die Männer wieder frei, und die liisianische Truppe verbarrikadierte sich in Erwartung eines unmittelbaren Gegenschlags im Palast. Die sogenannte Belagerung von Elai dauerte über ein halbes Jahr und wurde zur Legende. Wie es hieß, standen die Loyalisten auf den Zinnen des Palasts und streckten ihre Zeigefinger und kleinen Finger bis zum ersten Knöchel hoch: eine provozierende Geste, die den angreifenden Itreyanern vor Augen halten sollte, dass die Rebellen ihre … besten Stücke noch besaßen, während die itreyanischen Kronjuwelen an die Hunde verfüttert worden waren. Zwar wurden die Loyalisten am Ende besiegt, aber »Knöcheln« war in der ganzen Republik zu einem bekannten Zeichen geworden, wenn man die eigene Überlegenheit gegenüber einem Feind demonstrieren wollte, der seine Männlichkeit eingebüßt hatte.
Das Zinsfest fand ungefähr in der Mitte zwischen zwei Wahrdunkeln statt und zählte zu den heiligen Festen des Aa, bei denen man geliebten Menschen traditionell Geschenke machte. Es ging angeblich auf die Wende zurück, an der Aa seinen Töchtern die Herrschaft über die Elemente verliehen hatte. Tsana, seiner Erstgeborenen, gab er die Herrschaft über das Feuer. Keph erhielt die Erde. Trelene die Ozeane. Nalipse den Sturm. Die Töchter schenkten ihrem Vater im Gegenzug ihre Liebe und Gehorsam.
Wie es heißt, gab Niah ihren Töchtern nichts, denn die Gurgel hat nichts in sich, das sie verschenken könnte. Aber das sind nur die üblichen Lügen, die die Priester des Aa erzählen.
Keph erhielt von Niah Träume, um ihr den ewigen Schlaf zu versüßen. Trelene gab sie das Rätselhafte, das tiefe Dunkel der Wasser jenseits des Lichts der Sonnen. Nalipse gab sie die Ruhe, den Frieden im Auge des Sturms. Und Tsana? Ihrer Erstgeborenen, die ihre Mutter so sehr verabscheute?
Tsana, der Göttin des Feuers, gab Niah den Hunger.
Endlosen Hunger.
Es war kein Dreck. Leider.
Naturgemäß hat die Zahl Drei in Itreya große Bedeutung, und die Anbetung des Ewigsehenden gilt allgemein als Staatsreligion der Republik. Allerdings wird der Zahl Drei auch in anderen Regionen, in denen Aa nicht so entschieden verehrt wird, eine enorme kulturelle Wichtigkeit zugemessen.
Beispielsweise in Liis.
In den Wenden bevor die Ehernen Kollegien von Itreya ihre Streitgänger gegen Liis aussandten und das Land im Namen von König Francisco I., dem Einiger des Reiches, eroberten, beteten die Liisianer zu eigenen Gottheiten – einer Dreieinigkeit, die aus dem Vater, der Mutter und dem Kind bestand. Kinder, die an der dritten Wende des Monats geboren wurden, sah man als besonders gesegnet an. Drittgeborene Kinder drittgeborener Kinder drittgeborener Kinder wurden ohne Ausnahme in die Priesterkaste von Liis aufgenommen. Und schließlich hieß es sogar, jeder der liisianischen Könige habe drei Hoden besessen – ein Zeichen ihres göttlichen Rechts auf die Regentschaft.
Obwohl neidische Konkurrenten dies ursprünglich bestritten, wurde diese Behauptung ausgerechnet von König Francisco I. schließlich bewiesen. Nachdem er den liisianischen Herrscher, Lucius den Allmächtigen, bei der Schlacht von Rotersand gefangen genommen hatte, entfernte der Einiger des Reiches mit seinem eigenen Dolch das Gehänge des Monarchen und stellte fest, dass ihm drei traurige Maden aus dem Sack entgegenblickten.
Lucius der Allmächtige war zwar froh, dass die Wahrheit der Legende nun ein für alle Mal bekräftigt worden war, allerdings verstimmte ihn die Art der Beweisführung, für die sich Francisco I. entschieden hatte.
Sein Ärger währte allerdings nur kurz.
Ein Lieferant bester itreyanischer Rauchwaren und Branntweine, der zudem über die größte Sammlung unanständiger Lithographien in ganz Gottesgrab verfügte.
Drei Wenden zuvor hatte sich bereits eine Gruppe mit zahlreichen Pferden in die Wisperwüste aufgemacht. Angesichts der Waffen, die diese Leute bei sich trugen, hielt Mia sie für Grabräuber, aber es handelte sich tatsächlich um eine Gruppe Pilger, die einer religiösen Randgruppierung zuzurechnen waren, die man Kephianer nannte. Der Anführer der Gruppe – ein gewisser Emiliano Rostas – hatte seine Leute überzeugt, dass das Erwachen der großen Keph unmittelbar bevorstünde und dass die Erdgöttin bald aus ihrem Schlaf erwachen und dann das Ende der Welt herbeiführen würde. Nur die Gläubigen, die sich im Nabel der Göttin aufhielten (den Emiliano in der ysiirischen Wüste vermutete), würden errettet.
Als man ihn darauf hinwies, dass die Reise sich als gefährlicher erweisen könnte, als einfach dazusitzen und auf Kephs Erscheinen zu warten, erklärte Emiliano, er und seine Anhänger stünden hoch in der Gunst der Göttin, die es nicht zulassen würde, dass ihnen etwas geschah.
Vermutlich hatten die Staubunholde, die ihre Leichen verschlangen, die entsprechende Anweisung der Göttin nicht zugestellt bekommen.
Die Esse – ein Feuer, das die Göttin Tsana für alle Ewigkeit im Bauch der schlafenden Erdgöttin Keph schürt. Der helle Schein lockt die rechtschaffenen Geister der Toten an und wird mit jeder Seele, die in die Nachwelt eintritt, heller und heißer. Die Itreyaner glauben, dass die Zahl dieser Toten einmal so groß sein wird, dass dieses Feuer Keph erwachen lässt, und dann wird die Welt vergehen.
Verdorbenen Seelen wird ein Platz in der Esse verweigert, und sie müssen stattdessen durch die Kälte wandern, bis sie von Niah verschlungen werden. Manchmal werden diese verdorbenen Seelen von der Göttin auch wieder in die Welt der Lebenden zurückgeschickt, um die Rechtschaffenen und Gerechten zu plagen. Man nennt sie die »Essefernen«, und sie haben einen festen Platz in den Sagen und Legenden, lauern in verlassenen Grabstätten oder an Stätten schrecklich böser Taten, verschleppen kleine Kinder und entjungfern junge Mädchen und sind schuld an ungerechten und nicht nachvollziehbaren Steuererhöhungen.
Tinte wird aus den Drüsen der Tiefsee-Leviathane gewonnen und ist ein halluzinogenes Beruhigungsmittel. Wird sie gespritzt, erzeugt sie ein Wohlgefühl und führt zum Verlust der Muskelkontrolle (in freier Wildbahn setzen Leviathane ihre Tinte bei der Flucht vor Raubtieren ein – selbst der hungrigste Weißdraken denkt nicht mehr ans Morgenmahl, wenn er eine ordentliche Portion davon ins Gesicht bekommen hat). Wer jedoch über lange Zeit Tinte konsumiert, verliert seine Empathiefähigkeit, und eine zu hohe Dosis kann zu vollständigem Realitätsverlust führen.
Einer der berüchtigtsten Tintenspritzer war Francisco XV., der letzte König von Itreya. Dank seiner Abhängigkeit amüsierte er sich sogar dann noch königlich, als ihn seine eigene Leibwache zum Volksverräter erklärte. Seine Königin Isabella war ebenfalls tintensüchtig und soll brüllend gelacht haben, als Francisco vor ihren Augen im Thronsaal in Stücke gehackt wurde.
Wie es heißt, hörte sie mit dem Kichern erst auf, als die Republikaner ihre Klingen gegen sie und ihre Kinder richteten.
Der »Stein der Weisen«, wie man landläufig sagte, war eine dünne Felsnadel vor der Küste von Gottesgrab, umgeben von unversöhnlichen Riffen und drakenverseuchten Tiefen. Auf der Spitze des Felsens befand sich ein abgrundtiefes Verlies, das in den Stein gehauen worden war – angeblich, so sagt man jedenfalls, von Niah persönlich. In diese Grube stürzte Gottesgrab all jene Verbrecher, die keine sofortige Hinrichtung verdienten. Das Gefängnis floss über vor Räubern und Dieben, und die unterbezahlten Administratii kümmerten sich so gut wie gar nicht um Kleinigkeiten wie Essen, Trinken, medizinische Versorgung oder auch darum, dass Verurteilte zu gegebener Zeit wieder entlassen wurden.
Auf diese Weise konnten aus einem Jahr Gefängnis leicht einmal drei oder fünf werden, bevor die Gefängnisbeamten dazu kamen, die erforderlichen Papiere zu bearbeiten. Von daher verbrachten die Gefangenen die meiste Zeit damit, weise Betrachtungen über die Ungerechtigkeit der Welt anzustellen, über die Natur des Verbrechens im Allgemeinen und darüber, dass dieses eine Paar Stiefel die fünf Lebensjahre nicht wert gewesen war, die es sie letztlich gekostet hatte. Daher der Spitzname »Stein der Weisen«.
Wegen der Überbelegung hatte sich der itreyanische Senat eine originelle und unterhaltsame Methode ausgedacht, um die Zahl der Insassen niedrig zu halten. Sie war als »der Abstieg« bekannt und fand alle drei Jahre zum Wahrdunkel-Karneval statt. Allerdings wurde bei einem ungeklärten Vorfall während des letzten Abstiegs – der zufällig in derselben Nacht stattfand wie das Wahrdunkel-Massaker – ein großer Teil des Gefängnisses zerstört. Seitdem wird es nicht mehr benutzt, sondern blieb als hohle, schiefe Ruine zurück, die angeblich von den Geistern der vielen hundert darin Ermordeten heimgesucht wird. Die Schrecken ihrer Tode bleiben für alle Ewigkeit im Stein eingeschlossen.
Buh!
Schwarzeisen, auch »Eisenfeind« genannt, war ein sagenumwobenes Metall, das die ysiirischen Sorcerii vor dem Zerfall des Imperiums erschufen. Es war schwarz wie Wahrdunkel, wurde niemals stumpf und rostete auch nicht; zudem ließ es sich zu unglaublicher Schärfe schleifen. Ysiirische Schmiede pflegten einen Amboss mit einer neugeschmiedeten Schwarzeisenklinge zu spalten, um zu beweisen, dass sie etwas taugte – eine Praxis, die von der Ambossmachergilde in Ysiir gerne unterstützt wurde.
Eine berühmte Geschichte erzählt von einem Dieb namens Tariq, der einmal die Schwarzeisenklinge eines ysiirischen Prinzen stahl. Als er hastig flüchten wollte, ließ er die Klinge fallen, die dabei durch den Boden und in die Erde schnitt. Der Feuerfluss, der aus dieser Weltenwunde drang, brannte die ganze Stadt nieder. Seit diesem Tag wurde Diebstahl in Ysiir mit dem Tod gesühnt. Egal wie schwer das Verbrechen war, ob es sich um einen Laib Brot handelte oder um die Kronjuwelen, jeder in Ysiir gefangene Dieb wurde an eine steinerne Säule gefesselt und angezündet.
Tja. Leider gibt es immer wieder Leute, die eine gute Sache für alle anderen verderben.
Mehr Mumm als Hirn, edle Freunde. Mehr Mumm als Hirn.
Zwar lehnte er diese Einladung ab, aber ordentlich getanzt wurde anschließend trotzdem.
Der Rosenfluss trägt den irreführendsten Namen in der ganzen itreyanischen Republik, ja vielleicht sogar in der ganzen Schöpfung. Sein Gestank ist so fürchterlich, dass der niahtreue Ketzer Don Anton Bosconi, als man ihm die Wahl zwischen Ersäufen im Rosenfluss und Kastration sowie anschließender Kreuzigung ließ, seine Peiniger fragte: »Würdet ihr mir vielleicht ein Messer borgen, edle Freunde?«
Goldwein ist ein itreyanischer Whisky, benannt nach den weiten Feldern der Mittellande, aus deren Korn er gebrannt wird. Mehrere Familien sind für ihre Rezepturen berühmt, vor allem die Familien Valente und Albari.
Die Rivalität zwischen ihnen hat mehr als einmal dafür gesorgt, dass aus bösem Blut echtes Blutvergießen wurde. Besonders berüchtigt ist der Krieg der zwölf Fässer, der vier Wahrdunkel währte und ganze zweiunddreißig Tote forderte. Er wurde zur offiziellen Vendetta erklärt – dieser Begriff bezeichnet Blutfehden, die von der Heiligen Kirche des Aa sanktioniert werden – und erhielt seinen Namen, weil aufgrund der Bluttaten und Giftanschläge nur zwölf Fässer Albari-Whisky aus dieser Zeit übrig blieben und in der Republik verkauft werden konnten.
Von daher sind Flaschen der »Zwölf Fässer« ausgesprochen selten und unglaublich teuer – eine einzige Flasche soll bei einer Auktion einmal über vierzigtausend goldene Schnösel eingebracht haben. Als die Sommerresidenz von Senator Ari Giancarli von zwei ungeschickten Dienstboten in Brand gesteckt wurde, rannte Giancarli Berichten zufolge dreimal wieder ins brennende Haus – um seine Frau zu retten, seinen Sohn und zwei Flaschen Zwölf Fässer.
Die Gerüchte, nach denen er die Flaschen als Erstes barg, sind natürlich nichts weiter als Diffamierungen politischer Rivalen und entbehren jeder Grundlage.
(Er rettete sie als Zweites.)
Zu Beginn von Mias Lehrzeit schätzte der Alte vor allem ein Spiel, das er »Eisenpriester« nannte und bei dem er und das Mädchen darum wetteiferten, wer es länger ohne zu sprechen aushielt. Zwar glaubte Mia anfangs, es sei ein Spiel, um ihre Geduld und Entschlossenheit zu prüfen, aber Mercurio räumte später ein, dass er es nur erfunden hatte, damit er in seinem Laden hin und wieder etwas Ruhe hatte.
Zu einer bemerkenswerten Prüfung kam es, als Mia zwölf war. Die Wintertiefe war in jenem Jahr besonders eisig, und der Alte wies sie an, auf dem Dach gegenüber der Tsana-Kapelle auf einen Boten mit roten Handschuhen zu warten und dem Jungen zu folgen, wohin er auch ging. Das sei, sagte Mercurio, »von größter Bedeutung«.
Bei diesem Boten handelte es sich natürlich um einen von Mercurios vielen Mittelsmännern in der Stadt. Er hatte kein wichtiges Ziel, und die »größte Bedeutung« hieß nur, dass er Mia auf einer hübschen Verfolgungsjagd durch die ganze Stadt führen sollte, die schließlich wieder am Curiositätenladen endete. Mercurio wusste jedoch nicht, dass der Junge auf dem Weg zum Tempelviertel von einem durchgehenden Pferd niedergetrampelt worden war und nie an der Kapelle ankam.
Trotz der schrecklichen Kälte (in den Wintern steht in Gottesgrab nur eine einzige Sonne am Himmel, und die Kälteperiode ist lang und hart) wartete Mia auf dem Dach. Als es zu schneien begann, blieb sie trotzdem oben, um das Eintreffen des Boten auf keinen Fall zu verpassen. Als sie am folgenden Morgen immer noch nicht wieder zurück war, begann Mercurio, sich Sorgen zu machen, und schritt den geplanten Weg des Boten ab, bis er schließlich vor dem Dach im Tempelviertel stand. Dort fand er sein Lehrmädchen völlig unterkühlt und am ganzen Körper zitternd, die Augen unverwandt auf die Tsana-Kapelle gerichtet. Als der Alte sie fragte, wieso sie um der Mutter willen dort oben ausgeharrt hatte, obwohl sie fast erfroren wäre, erwiderte die Zwölfjährige schlicht: »Du hat gesagt, es sei wichtig.«
Wie gesagt, sie war nicht ohne Liebreiz.
Überraschenderweise, bemerkenswerterweise und unmöglicherweise lag sie mit dieser Einschätzung falsch.
Wie ihr euch vorstellen könnt, edle Freunde, spielt der Sonnenschutz eine große Rolle in einem Land, in dem die verdammten Himmelskörper so gut wie nie untergehen. In der Republik baut man die Häuser oft so, dass die Schlafzimmer im Keller liegen, und in etwas besseren Tavernen zahlen Gäste gern einen Zuschlag für einen Tisch fernab der Fenster. Die Traumkrankheit – ein Leiden, das durch Schlaflosigkeit verursacht wird – stellt ein wachsendes Problem dar, und obwohl die Priester des Aa ihn als Ketzer verbrannten, steht in der Reihe der Visionäre im Großen Foyer des Ehernen Kollegs noch immer eine Statue von Don Augustin D’Antello, dem Erfinder des dreilagigen Vorhangstoffs.
Tatsächlich gab es drei Sprachen, die unter den Sonnen gesprochen wurden und die Chronist Aelius nicht beherrschte.
Die erste wurde von einem Bergvolk gebraucht, das an der Östlichen Wasserscheide lebte und keinerlei Kontakt mit Fremden pflegte, von einigen wenigen abgesehen, die allerdings auf einem Grillspieß endeten.
Beim zweiten handelte es sich um einen bestimmten Dialekt des Alt-Liisianischen, der ausschließlich von einem Apokalyptiker-Kult in Elai gesprochen wurde, die man Die Wartenden nannte (ihre Gemeinde zählte genau sechs Mitglieder, darunter ein Hund namens Rolf, der von den anderen »der Gelbe Prinz« genannt wurde).
Und dann ist da noch die Sprache der Katzen. O ja, edle Freunde, zweifelt nicht daran – falls ihr mehr als eine Katze habt und sie jetzt gerade nirgendwo entdecken könnt, seid euch gewiss, dass sie in einer Ecke beieinandersitzen und sich darüber beklagen, dass ihr Besitzer seine Zeit lieber damit verschwendet, blöde Bücher zu lesen, anstatt ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen gebührt.
Die allerdings rein zufällig hervorragend war. Tralalalalaaaaaaaa.
Das stimmt nicht ganz. Einige Bücher in der großen Bibliothek von Liis sind tatsächlich sehr schlau.
Mia sollte gerade diese Treppe während ihrer Zeit in der Roten Kirche noch viele hundertmal auf und ab laufen. Jedes Mal zählte sie die Stufen. Und obwohl sie nie mit jemandem darüber sprach, und obwohl es sie nicht wirklich wunderte, schien sich die Zahl der Stufen bei jedem Mal verändert zu haben.
Eine berühmte Dunkelinn-Geschichte ereignete sich angeblich in Schwarzenbrück, einer Stadt im Osten Itreyas. Ernesto Giancarli, ein Konfessor der Kirche des Aa, wurde vom Großkardinal dorthin ausgesandt, um den Vorwurf zu untersuchen, dass mehrere Töchter der besten Familien der Stadt von einem Dunkelinn verführt worden seien. Aus jeder dieser Vereinigungen war ein Kind hervorgegangen, mit schwarzen Haaren und Augen und der blassen Haut, die auch der Vater gehabt hatte, wie es hieß. Jede der betreffenden Damen erzählte dieselbe Geschichte: Sie war im Wald spazieren gegangen, hatte einen gutaussehenden Fremden getroffen und war in aller Unschuld seinem dunklen Charme verfallen. So gründlich Giancarli bei seinen Untersuchungen auch vorging, er fand keine Spur des Dunkelinn, und auch wenn das Äußere der Kinder in der Tat nahelegte, dass sie denselben Vater hatten, so waren sie selbst doch anscheinend völlig normal. Der Konfessor beruhigte die Väter der Mädchen, indem er ihnen versicherte, es sei durchaus möglich, dass ein Dunkelinn für die Annäherungen verantwortlich gewesen sei. Dann kehrte er nach Gottesgrab zurück und erstattete seinem Kardinal ausführlich Bericht.
Unter anderem wies Giancarli übrigens darauf hin, dass ihm der junge Konstabler von Schwarzenbrück bei seinen Untersuchungen höchst hilfreich zur Seite gestanden hatte. Es handelte sich um einen blassen, dunkelhaarigen Burschen namens Delfini, der seine Stelle etwa zwölf Monate zuvor angetreten hatte.
Zwar wurden die Mitglieder der Roten Kirche offiziell zu Ketzern erklärt, aber da die Luminatii sie nicht völlig auslöschen konnten, ist es ihnen gelungen, mit verschiedenen Institutionen der itreyanischen Republik eine gewisse Übereinkunft zu treffen. In Gottesgrab ist die Kirche des Aa sehr mächtig; hier haben auch aufgrund des kürzlich erfolgten infamen Anschlags auf Konsul Scaevas Leben während des Wahrdunkel-Massakers nur wenige Angehörige der Adelshäuser direkten Kontakt zu den Jüngern der Nachtmutter. Aber in einigen eher kosmopolitischen Vasallenstaaten der Republik wie beispielsweise am Hof des vaanianischen Königs, Magnussun IV., ist die Rote Kirche offiziell anerkannt, und unter den königlichen Gefolgsmännern befindet sich stets einer ihrer Jünger.
Dieses Arrangement birgt einen doppelten Vorteil: Zum einen kann sich der gute König Magnussun still und leise seiner Feinde entledigen, falls das erforderlich sein sollte. Zum anderen – und das ist noch viel wichtiger – muss er nicht fürchten, dass ein Rivale eine Klinge anheuert, um ihn auszulöschen, solange er eine in seinen Diensten weiß. Dies ist eine der goldenen Regeln, die unter anderem dazu geführt hat, dass man die Angehörigen der Roten Kirche anderen gedungenen Mördern vorzieht: Solange man eine Klinge in seine Dienste nimmt, ist man für andere Klingen der Niah tabu.
Natürlich sind die Honorare, die für die dauerhafte Anstellung eines der besten Assassinen der Republik fällig werden, so verdammt exorbitant hoch, dass sie sich nur ein König auf lange Sicht leisten kann. Dennoch kann man vermutlich sagen, dass Magnussun IV. wohl von allen itreyanischen Herrschern am besten schläft und nur gelegentlich zum Jahresende von Albträumen heimgesucht wird, wenn nämlich die nächste Rechnung der Kirche ins Haus flattert.
Die itreyanische Woche besteht aus sieben Wenden, eine für jede der vier Töchter des Aa und eine für jedes seiner Augen. Die Ketzer, die treu zu Niah halten, halten daran fest, dass es einmal eine Zeit gab, bevor die Gurgel vom Himmel verbannt wurde, als Aa nur eine Wende in der Woche für sich selbst beanspruchte und eine seiner Braut zusprach.
Darüber, wem dann die siebte Wende gewidmet war, sagen die Ketzer nichts.
Der prestigeträchtige Purpur signalisiert seit der Revolution, bei der Itreyas letzter König Francisco XV. abgesetzt wurde, Ruhm und Ehre.
Die purpurne Farbe wird aus den zerstoßenen Blättern einer Blüte gewonnen, die nur im bergigen Grenzland zwischen Itreya und Vaan wächst. Kultivieren lässt sie sich nur schwerlich, und daher wird diese Pflanze Liberis genannt, was auf Altitreyanisch »Freiheit« bedeutet. Den Republikanern, die Francisco ermordeten, diente sie als Symbol für ihre Sache; sie hefteten sich bei Zusammenkünften am Hof eine Blüte an die Brust, um die Verbundenheit mit den Verschwörern anzuzeigen.
Ob es sich hier um eine rein romantische Vorstellung handelt, ließe sich sicher kontrovers diskutieren. Unbestritten ist jedoch die Tatsache, dass es heute nur noch Senatoren gestattet ist, die Farbe in der Öffentlichkeit zu tragen. Jeder Plebejer, der mit Purpur erwischt wird, läuft Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden wie der arme Francisco XV. – nämlich im Angesicht der eigenen Familie brutal abgeschlachtet zu werden.
Wie genau die Farbe Purpur bestimmt wird, ist dabei letztlich eine Frage der Interpretation. Lila beispielsweise ist erlaubt, wenn der vorsitzende Richter guter Laune ist. Hyazinth könnte man mehr blau als purpur nennen, violett ebenso, aber bei Amethyst würde man den guten Willen vermutlich zu sehr strapazieren.
Mauve hingegen kommt überhaupt nicht in Frage.
Als Mia ihn bei einem Mittagsmahl einige Wenden später einmal belauschte, fand sie heraus, dass er sich »Pip« nannte und dass sein Gemurmel nicht etwa an ihn selbst gerichtet war, sondern an sein Messer, einen langen, gemeinen Dolch, den er offenbar »meine Hübsche« nannte.
Die Sklaverei ist in Itreya genau reglementiert – eine ganze Abteilung von Administratii kümmert sich um diesen Markt. Sklaven werden drei Gruppen zugeordnet, je nach ihren Fähigkeiten und ihrem Wert.
Zur ersten Gruppe zählen die einfachen Arbeitskräfte, Hausangestellte und dergleichen, denen arkemisch ein einzelner Kreis auf der Wange eingebrannt wird. Zur zweiten jene, die für das Kriegshandwerk ausgebildet werden – Gladiatii, Wachleute und Sklavenlegionäre, die mit zwei ineinandergreifenden Kreisen gezeichnet sind. Die dritte, wertvollste Gruppe besteht aus jenen, die eine gewisse Bildung oder eine nützliche Fähigkeit besitzen. Musiker, Schreiber, Konkubinen und dergleichen, die drei ineinander verschlungene Kreise tragen.
Das Entfernen dieser arkemischen Brandzeichen ist ein schmerzhafter, teurer und im Geheimen stattfindender Prozess, der streng von den Administratii überwacht wird. Um sich die Freiheit zu verdienen, muss ein Sklave nicht nur genug Geld ansparen, um sich von seinen Herren freikaufen zu können, sondern auch, um die Kosten für die Entfernung des Zeichens aufzubringen. Von daher ist es wenig überraschend, dass die meisten Sklaven der Republik ihr Zeichen bis ins Grab tragen.
Rotdahlie, auch »Königsmörder« genannt, war zu Zeiten der Monarchie in Itreya das wohl beliebteste Gift. Da die Blüte, aus der es gewonnen wird, nur selten vorkommt, war Rotdahlie schwer zu besorgen und teurer als die Hochzeit eines durchschnittlichen Markgeborenen. Ihr Einsatz galt gleichzeitig als Geste des Respekts vor dem Opfer (da es schnell und einigermaßen schmerzlos wirkt) und als perverse Art der Aufschneiderei seitens des Mörders (da es sich nur die Reichsten leisten konnten). Zur Blütezeit der itreyanischen Monarchie wurden nicht weniger als drei Könige mit diesem Gift aus der Welt geschafft, außerdem eine ganze Reihe hochrangiger Adliger, darunter zwei Großkardinäle.
Nachdem sein Vater an einer Rotdahlienvergiftung gestorben war, erklärte der neugekrönte König Francisco VII. die Blüte zum Werkzeug der Gurgel und befahl, jede Pflanze zu verbrennen, die sich innerhalb der Landesgrenzen fand. Das führte zu einer schier unglaublichen Inflation, und Rotdahlie kam ganz schnell aus der Mode, zumindest bei allen Leuten, die nicht weitsichtig genug gewesen waren, sich rechtzeitig ein Gewächshaus anzulegen. Leider bedeutete das, dass Assassinen mit weniger guten Verbindungen nun verstärkt auf schmerzhaftere Wirkstoffe wie Schwarzfleckgift und das zersetzende »Tücke« zurückgreifen mussten.
Man fragt sich unweigerlich, ob sich Francisco VII. wohl der Ironie bewusst war, als auf dem Sterbebett lag und schrie, während eine tödliche Dosis der letztgenannten Substanz seine Eingeweide zerfraß.
Spinnentod versuchte in der Zwischenzeit noch zweimal, ihre Klasse zu vergiften – einmal mit einem Kontaktgift, das als »Bibber« bekannt war und das sie eines Morgens früh ins Wasser des Badehauses gab, und noch einmal in Zusammenarbeit mit Mauser, der die Schlösser der Zimmertüren mit einer liisianischen Nadelfalle präparierte, die in genug Allfluch getaucht worden war, um ein Pferd umzubringen.
Zwei Akolythen starben an den Allfluchfallen – ein Itreyaner namens Angio, den Mia kaum kannte, und ein sanftmütiges Mädchen namens Larissa, die zu den besseren Schülern in Mausers Unterricht gezählt hatte. Für beide wurde im Saal der Totenklagen eine stille Messe gelesen, an der die Novizen und die Meister teilnahmen. Die Toten wurden bei den anderen Dienern der Mutter begraben, jeder in einer eigenen Grabkammer in den Mauern und ohne eine Namensbezeichnung an ihren Steinen. Mia beobachtete während der Feier genau, ob Spinnentod Anzeichen des Bedauerns erkennen ließ. Die Shahiide begegnete ihrem Blick nur einmal, als gerade das Requiem gesungen wurde.
Und sie zuckte die Achseln.
Das Material, aus dem die Rippen und das Rückgrat von Gottesgrab bestehen, wird zwar gewöhnlich »Grabgebein« genannt, aber tatsächlich besitzt es eine Belastbarkeit, die weit größer ist als die von Stahl. Das Geheimnis, wie es zu schmieden ist, ging im Lauf der Zeit verloren (obwohl es heißt, dass zwei hohe Arkemisten des Ehernen Kollegs diese Fertigkeiten immer noch besitzen).
Nonquis Itarem
Wenn man genau hinsieht, edle Freunde, dann kann man daran noch die Blutflecken des letzten Mannes erkennen, der sie trug.