Nils Minkmar
Das geheime Frankreich
Geschichten aus einem freien Land
FISCHER E-Books
Nils Minkmar, 1966 in Saarbrücken geboren, besitzt einen deutschen und einen französischen Pass. Während des Studiums an der Universität des Saarlandes amtierte er zwei Semester als AStA-Präsident. 1996 promovierte er in Neuer Geschichte und wurde Redakteur der ZDF-Sendung »Willemsens Woche« in Hamburg. Nach der Einstellung der Sendung folgte eine Phase als freier Journalist und Redakteur der »Zeit«; seit Juli 2001 Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, seit 2012 Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.
Nils Minkmar wurde 2012 als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet. Seit Mai 2015 schreibt er für den »Spiegel«.
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Wer sich einen umfassenden Eindruck vom Zustand und von den Möglichkeiten der französischen Gesellschaft verschaffen möchte, muss sich auf Um- und Abwege begeben. Nils Minkmar, einer der kundigsten Kenner des Landes, nimmt uns mit auf eine Reise in dieses geheime Frankreich. Mit dem Blick und Handwerkszeug eines Anthropologen erkundet er den im Privaten oftmals anarchischen Lebensstil der Franzosen, ihren skeptischen Blick auf die Welt – beides eine kaum zu berechnende Quelle der Kreativität, von der wir Deutschen einiges lernen können. Er begegnet zentralen kulturellen und politischen Akteuren wie Bernard Henry Lévy, Michel Houellebecq und Patrick Modiano, der Philosophin Cynthia Fleury und der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Auch folgt er gastronomischen Geheimtipps, um so dem gegenwärtigen Frankreich näherzukommen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: c/o QART Büro für Gestaltung Simone Andjelkovic
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ISBN 978-3-10-490435-1
Eines Nachmittags verstand ich Frankreich. Ich war etwa dreizehn Jahre alt, langweilte mich und streifte durch den Jardin Public, einen kleinen Park in Bordeaux, der Stadt meiner Großeltern. Damals arbeiteten beide noch, beide im Schuldienst, und wenn ich zu Besuch war, hatte ich die Stunden zwischen Mittag- und Abendessen zur freien Verfügung.
Ich entdeckte im hinteren Teil des Parks eine Villa, in der ein naturhistorisches Museum untergebracht war. Ich hatte es noch nie bemerkt und entschloss mich, hineinzugehen. Das Museum, eines der ältesten seiner Art in Frankreich, war nicht sehr groß, aber wohlgeordnet. Es besteht noch heute und beherbergt die Sammlungen von bürgerlichen Aufklärern, die gleich nach der französischen Revolution die Herrschaft der Wissenschaft über die Dinge des Lebens dokumentieren wollten. Bordeaux war vor der Versandung der Gironde ein bedeutender Hafen, dort kamen fremde und staunenswerte Tiere, Mineralien und Fossilien an, viele davon wurden zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken aufbereitet. Wissenschaftliche Aufbruchsstimmung und merkantile Weltgeltung lagen der Konzeption des Museums zugrunde. Die Zeit war über beides hinweggegangen, aber man konnte den leicht autoritären Ordnungssinn und den Forschungsoptimismus noch spüren.
Das Museum erzählte die Evolutionsgeschichte als Triumph der rationalen Klassifizierung. Jedes Lebewesen hatte seine Bezeichnung, seinen exakten Platz in der Ordnung der Arten. Fossile, Knochen, Eierschalen, dann jede Menge präparierte Tierhüllen. Erst mit Gefieder, dann mit Pelz und Leder. Es ging in der Geschichte der Natur wie in jener der Menschen: vorwärts und aufwärts.
Viel war an jenem Nachmittag nicht los. Durch die langen Reihen der Glaskästen und Regale konnte man ein paar Besucher sehen, die ein uniformierter Wachmann im müden Blick behielt. Er trug eine Schirmmütze, wie der Museumswächter im Tim-und-Struppi-Klassiker »Der Arumbaya-Fetisch«. Plötzlich erhob er seine Stimme und rief uns alle zusammen. Es seien ja heute so wenige hier – da könne er uns mal etwas zeigen. Eine kleine Gruppe versammelte sich und folgte dem Wachmann bis zu einer verborgenen, durch kein Schild ausgewiesenen Tür. Er öffnete sie und lud uns ein, ihm in einen kleinen Raum zu folgen. Der war hell und – worauf er uns sogleich hinwies – oval, genau wie das Arbeitszimmer der amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus in Washington. Doch das war gar nicht das Besondere an diesem Zimmer. Das Besondere waren die Objekte auf den Regalen: Allesamt Missbildungen, Fehlkonstruktionen und seltene Varianten der Natur. Da war ein Kalb mit zwei Köpfen und eine Ziege mit sechs Beinen. In dickem Glas schwammen zwei menschliche Föten, die zusammengewachsen waren. Man sah ungestalte Körper jedweder Gattung, weiß und friedlich in Aufbewahrungsflüssigkeiten schwimmend. Zu ihnen gab es keine erklärenden Zettel und keine Klassifikationsübersicht mehr, der ganze Saal war ja normalerweise nicht für Besucher geöffnet. Es waren paradoxe Monster, die man sammelt und studiert, aber nicht vorzeigt. Auf deren Existenz in den so wohlgeordneten, so durch und durch logischen Räumen nichts hinweist. Außer, ein Wachmann kommt auf die Idee, eine Tapetentür zu öffnen. Und zum ersten Mal überhaupt hatte ich an jenem Abend keinen Appetit.
So ist Frankreich: Eine lichtdurchflutete, geordnete Welt, von der eine logische, ja zwingende Geschichte erzählt. Aber es gibt immer noch eine andere Version, eine Kammer, zu der man Zutritt hat oder eben nicht. Und weil das schon seit vielen Jahrhunderten so ist, plagt und durchspukt die Vorstellung von der verborgenen Ordnung, von schwarzen Kabinetten, geheimen Machtstrukturen und ungenannten Namen die öffentliche wie die private Vorstellungskraft.
Wenn hier vom geheimen Frankreich die Rede ist, dann nicht im Sinne eines Reiseführers für Eingeweihte, in dem unbekannte Ziele und Rituale offenbart werden. Es geht vielmehr um jene Aspekte der französischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft, die schwerer zu fassen sind auf Urlaubsreisen oder in der aktuellen politischen Berichterstattung. Um die Gewohnheiten und Besonderheiten, die auch von den Franzosen nicht thematisiert werden, so selbstverständlich sind sie ihnen. Oft genug kommen sie gar nicht auf die Idee, dass es woanders anders sein könnte.
Heute sehe ich in der kultivierten Diskretion vor allem eine Manifestation der Freiheit. Es geht gar nicht so um den Schutz konkreter Geheimnisse oder die Durchsetzung exorbitanter Ansprüche als vielmehr darum, einen Beweis zu erbringen, dass dem Einzelnen immer möglich ist, sich durch Einfallsreichtum und den entscheidenden Trick 17 einen Vorteil zu erwirken, der die eigene Unverwechselbarkeit, die eigene Identität ausmacht, wie ein Fingerabdruck. Dass die Gleichheit und die Brüderlichkeit zwar das soziale Leben bestimmen sollen, aber dass es doch der erste Grundsatz der französischen Revolution, dass es die Freiheit ist, die das Leben des Menschen auf Erden eigentlich erst lebenswert macht. Das macht Frankreich so kompliziert. Man sieht nie das ganze Bild.
Lange Zeit war das kein Problem – schließlich lernen kleine Franzosen diese kulturellen und kommunikativen Besonderheiten zuhause und in der Schule. Aber in dem Maße, in dem auch Frankreich mit anderen Ländern kooperieren muss und Menschen aus ganz anderen Familien darauf angewiesen sind, in Frankreich und mit Franzosen zurechtzukommen, wird es diffizil.
Unsere Nationalstaaten sind geschrumpft, auch wenn es unsere Nationalpolitiker nicht gerne zugeben, auch wenn die nationalen Medien nach wie vor so tun, als sei der Regierungschef genau ihres Landes ein politisch-diplomatischer Superstar. Wahr ist, dass die diversen europäischen Premiers und Präsidenten sich auf der Bühne der Welt verlaufen und von einem immer größer werdenden Publikum nicht mehr zu erkennen sind. Unvergessen ist mir, wie bei einem von der ganzen Welt besuchten Klimagipfel plötzlich Nicolas Sarkozy aus einem Besprechungszimmer trat und ein Fotograf hinter mir seine Kollegen fragte, wer das sei? Etwa der Bürgermeister von Kopenhagen?
In Frankreich wäre das nicht passiert – da war Sarkozy weltbekannt, über Jahre nahezu täglich im Fernsehen. Aber kaum überschreitet man die Ländergrenzen, verschwimmen die Verhältnisse und man sieht wie durch Milchglasscheiben. Obwohl man die Lichtverhältnisse wahrnimmt und die Silhouetten ahnt, wird es doch schwer zu erkennen, was nebenan vor sich geht.
Das wird aber immer wichtiger. Erst zusammen mit Frankreich wird Deutschland eine wahrnehmbare Größe, in Europa und in der Welt. Nur diese beiden Länder zusammen ergeben eine interessante Einheit, erzählen in ihrer singulären historischen Partnerschaft eine weltweit inspirierende Geschichte. Aber noch ist sie nicht vollendet. Es ist keine Prophezeiungskraft vonnöten: Wenn sich Deutschland und Frankreich entwickeln oder auch nur behaupten wollen, sind sie aufeinander angewiesen. Und dann ist es heute ratsam, Schülerinnen und Schüler so auszubilden, dass sie zumindest eine Ahnung von Vertrautheit mit dem Nachbarland haben.
Wie oft habe ich diese soziale Standardsituation erlebt: Ein Mann meines Alters hat Karriere gemacht, sei es in der Politik, den Medien oder der Industrie, und hegt nun weitere Ambitionen. Ist er Franzose, muss er sich mit Deutschland auskennen, mit seinen deutschen Kollegen arbeiten, ist er Deutscher, dann wird sein französischer Konterpart der wichtigste Mensch in seinem Berufsleben. Dann fällt, in diesen oder ähnlichen Worten, der Satz, dass sie den anderen nun öfter sehen als den Ehepartner und wünschten, etwas besser auf diese Situation vorbereitet worden zu sein.
Der große französische Romancier Patrick Modiano, der 2014 den Literaturnobelpreis erhielt, hat sein ganzes Werk der Darstellung dieser Zwischenreiche, der Beschreibung des Zweifels und der taktischen Vagheit gewidmet. In seinen Büchern, die oft aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen geschrieben sind, haben die Erwachsenen wechselnde Identitäten, ziehen oft um und gehen Beschäftigungen nach, die sie nicht erklären können. Modiano beschreibt die Jahre zwischen deutscher Besatzung, Kriegsende und Algerienkrieg – eine für Frankreich prägende Epoche, in der sich die Leute angewöhnt haben, nicht nach Papieren, nicht nach den wahren Namen zu fragen, sondern sich geschickt oder verzweifelt mit Spitznamen und Legenden zufrieden gaben. Und dann ergeben sich, in seinen Romanen, Momente der Wahrheit, wie jener in dem ovalen Zimmer: Erwachsene werden festgenommen oder verschwinden eilig, mitten in der Nacht: Der Junge hört das Geräusch eines abfahrenden Autos und schließt daraus, dass er von nun an alleine im Haus ist.
Ist es verwunderlich, dass sich die kulturhistorisch bedeutenden Arbeiten französischer Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Dekonstruktion von Diskursen beschäftigten? Mit der Gewalt der Klassifizierung, Benennung und Aufteilung? Mit den Strategien der Reproduktion, die sicherstellen, dass das Geheime auch so bleibt und alle wissen, dass eine solche Sphäre existiert? Seit den fünfziger Jahren hat Paris eine Epidemie des Genialen erlebt: Derrida, Barthes, Foucault, Deleuze und Bourdieu – ihnen war gemein, nach dem zu suchen, was der Diskurs verbirgt. Das französische Schulsystem huldigt ja auch dem Kult der perfekten Präsentation, der Fehlerfreiheit und Exzellenz. Deshalb bemühte sich beispielsweise Pierre Bourdieu, Situationen zu schaffen, in denen gerade die strukturellen Fehler und Probleme einer akademischen Arbeit offenbar wurden. Er nannte seinen Doktoranden zum Beispiel kein Datum, an dem sie ihre Arbeiten vorstellen sollten, sondern rief sie spontan auf. Dann, so sein Plan, würde der oder die Aufgerufene erst einmal stammeln, dann irgendeinen Unsinn erzählen, so dass sich alle kollektiv schämen, und dann, dann käme womöglich ein ganz banales Problem zur Sprache, wie etwa, dass der Bus vom Archiv immer zu früh abfahre. Und dann könne die Arbeit beginnen. Pierre Bourdieu hat in seinem gesamten Werk zeigen wollen, wie sich Kulturen, soziale Systeme und Milieus reproduzieren, wieso alle ganz ähnlich sprechen, handeln und aussehen, obwohl doch jeder Mensch davon überzeugt ist, aus freien Stücken und freiem Willen zu handeln. Darum versuchte er, wo immer es ging, genau diese Reproduktionsmechanismen anzusprechen und, wo immer es ging, Momente der Wahrheit herzustellen. Das begann, so ging er die Dinge an, bei der wissenschaftlichen Arbeit selbst. Er machte sich gern über die ewigen Kolloquien zur Förderung des wissenschaftlichen Austauschs lustig, die zu nichts führten außer zur Selbstdarstellung ihrer Initiatoren. Wenn er sich mit einem engen Freund und Mitarbeiter austauschen wolle, dann geschehe das auf dem Gang des Instituts: Einer fragt: »Na?« Und der andere rollt mit den Augen. Bourdieu schuf Momente der Wahrheit, indem er zuallererst bei seinem eigenen Image, der Vorstellung, die wir Studenten von ihm haben könnten, ansetzte: Einmal erschien er zu einer lange verabredeten Besprechung und bekannte spontan, den Termin völlig vergessen zu haben. Es gehe ihm nicht gut und er träume davon, einen anderen Namen anzunehmen und zurückzukehren in seine Heimat, den Béarn. Weit entfernt davon, uns eine Vorstellung des Meisterdenkers zu bestätigen, der sich über alles und jedes in feinsinnig strukturierten Referaten auslässt, der sich mit einem Stift vor ein weißes Blatt setzt und die Welt erklärt, zeigte er uns eine größere Gefahr: Dass die dominierenden Systeme und Diskurse nur jene Probleme lösen, die sie zuvor als solche definiert haben. Davon handelt sein berührendes Buchs »Das Elend der Welt«: Es beschreibt, wie Französinnen und Franzosen ihr Leben an Regeln ausrichten, die mitten im Spiel geändert wurden. Und wenn jemand auf ihr Leid aufmerksam wurde, dann wurden wieder nur die Regeln umgeschrieben, an der Lage der Leute änderte sich nichts.
Frankreich ist in Regeln verliebt, in Pläne, Prozesse und Vorschriften. Jeder noch so kleine Verwaltungsakt, jede schulische Etappe und geschäftliche Kleinigkeit ist in einschüchternd detaillierter Manier vorgeschrieben. Das wiederum – und hier wird es faszinierend – befördert in dialektischer Weise eine unbändige anarchische Tendenz.
Man kann das ganz häufig erleben: Es wird hoheitlich eine eherne Regel verkündet – und dann auch die Ausnahme, der Umweg. Neulich hatte ich in einer Tasche ein kleines Schweizermesser vergessen, als ich eine Ausstellung im Grand Palais in Paris besuchen wollte. Der Taschenkontrolleur am Eingang entdeckte es sofort und hielt es ganz hoch: Das sei verboten. Ich suchte nach einem Ausweg, aber er war schneller: Ja, dann gehen sie doch kurz raus und verstecken es bei uns im Garten. Ich ging an der Schlange entlang wieder hinaus. Einer der Wartenden sagte zu seiner Begleiterin: »Schau mal, der Herr geht und vergräbt sein Taschenmesser dort im Vorgarten!« Jeder kennt die Regel, jeder die Ausnahme: In einem Augenblick ist man ein Bürger, der in vorderster Front mithilft im Kampf gegen den Terror – dann wieder springt man wie ein Osterhase durch Büsche, um mitten in Paris Messer zwischen Tulpen zu vergraben. Die sorgsam gepflegten Beete vor den großen Museen sind zugleich auch Nester für Waffen.
Es gibt immer noch ein Geheimnis, einen Nebenausgang, eine ganz andere Wahrheit. So funktionieren der Staat und das öffentliche Leben. Und so haben sich auch viele ihr Privatleben eingerichtet. Jeder Franzose schätzt die Vorstellung eines »jardin secret«, eines Bereichs, der Blicken und Ansprüchen entzogen ist, von dem keiner etwas weiß. Das kann ein Hobby sein, ein entlegenes Spezialgebiet und natürlich auch eine geheime Affäre oder ungewöhnliche erotische Veranlagung und Praktik. Dieses Themenfeld gehört seit vielen Jahrhunderten zur französischen Folklore, ist fast schon kulturell wertvolles Brauchtum: Schon in den Flugschriften des Ancien Régime wurden die wüstesten Obszönitäten beschrieben und benutzt, um adlige Konkurrenten oder kirchliche Würdenträger zu diffamieren.
Als eines Tages der Badeanzug meiner Großmutter von der Wäscheleine im Garten entwendet wurde, fiel ihr sofort die passende Erklärung ein: »Das war ein Fetischist, ist doch klar!« Und mein Großvater zeigte mir im Vorbeifahren und mit größter Routine den Ort, an dem sich am Ufer des großen Sees von Bordeaux die échangistes treffen, die Paare, die sich mit anderen Paaren vergnügen. Diese Routine im Ansprechen und Anerkennen sexueller Varianz darf nicht verwechselt werden mit einer offen gelebten Libertinage. Sich zu seiner Sexualität zu bekennen, dazu zu stehen und »ganz offen damit umzugehen« sind vielleicht moderne kalifornische oder niederländische Konzepte, in Frankreich schätzt man traditionell, wenn das Private auch geheim bleibt. Meine Großeltern haben diese Dinge weder gutgeheißen noch verurteilt – das war ebenso eine falsche Kategorie wie wenn man sie gefragt hätte, ob die jenen Baum oder diese Wassertemperatur vertreten können.
Ich bin als Kind in diese Kultur hinein gefallen wie Obelix in den Zaubertrank.
Meine erste Erinnerung überhaupt ist die an einen roten, wie von innen glimmenden Würfel. Es handelte sich um eine pâte de fruit, ein Stück Fruchtgelee. Im wesentlichen Zucker, aber man bewahrt es dennoch im Kühlschrank auf, als wäre der ein Tresor. Dazu gab es eine Erklärung der Erwachsenen: Ich durfte nur eine am Tag davon essen. Es ist die beste Süßigkeit der Welt und das interessanteste Objekt im ganzen Haus, das Zentrum der Küche, die das Zentrum des ganzen Lebens ist. Aber man darf nicht jederzeit hin. Die Regel und der Genuss gehören zusammen. Und so ist es auch, das lernte ich bald, in der Kommunikation.
Ein Junge aus der Verwandtschaft und ich, wir werden zum Spielen verabredet. Ich kenne ihn schon immer, aber an jenem Tag, ich bin im Grundschulalter, bekomme ich eine Art Gebrauchsanweisung für meinen jüngeren Verwandten. Ich werde in ein üblicherweise verschlossenes Zimmer und zu einem Kaminsims geführt. Auf dem steht, in einem goldenen ovalen Rahmen, das Porträtfoto einer jungen Frau mit langen Haaren. Es zeigt die Mutter des Jungen, sie lebt nicht mehr, starb wenige Monate nach seiner Geburt. Mein Auftrag an jenem Tag lautet, ihn nicht daran zu erinnern. Nicht nach seiner Mutter zu fragen, nicht von meiner Mutter zu erzählen und auch sonst alles zu unterlassen, was ihn daran erinnern könnte. Einfach ist es nicht, denn eine Ecke des Wohnzimmers ist ganz der Toten gewidmet, es gibt sogar eine Büste und zahllose Fotos. Eine ältere Dame kümmert sich nun um meinen Freund. Sie trägt immer ein Kittelkleid und lässt ihn nicht aus den Augen, als könne ihre manische Vorsicht jedes Unglück bannen. Als die Mutter gestorben war und mein Freund noch ein Baby, hatte die Familie sie gerufen. Sie reiste sofort an und wich nicht mehr von seiner Seite, bis er studierte.
An jenen Nachmittagen aber war ihre Fürsorge wie ein Daueralarm. Nichts war normal. Auch nicht die Menge an Comics und Spielsachen, mit denen mein Freund und sein Bruder überschüttet wurden. Sie waren die belesensten Jungen, kannten jeden neuen Film, waren zu jedem Fußballspiel im Stadion, als würde der Vater das Leben der verwitweten Männer ganz nach außen tragen. Es gab keine Innerlichkeit in der Bewältigung dieses Traumas, nur die Öffentlichkeit. Es war auch nie jemand dort eingeladen, auch ich war nicht oft dort, irgendwann war ich zu alt, hätte womöglich dumme Fragen gestellt. Wir trafen uns später immer wieder, heute auch digital. Aber den Auftrag von damals habe ich noch immer befolgt und nie nach der Mutter gefragt.
Französische Familien funktionieren nach anderen Spielregeln, in denen die höchste Kunst darin besteht, im perfekten Augenblick zu schweigen – es ist wie bei einem großen Orchester: Die kunstvoll gesetzte Pause entscheidet alles.
Am Ende schöner Sommerferien wollte sich eine Freundin, die wir mit ihren Kindern täglich am Strand getroffen hatten und die nun zurück nach Paris musste, bei uns verabschieden. Wir hatten es mehrmals abgemacht. Aber sie kam nicht. Wir hatten keine Uhrzeit vereinbart und waren im Ferienmodus, so vergaß ich die Sache, bis der Vormittag verstrichen war und sie von einem Autobahnrastplatz aus anrief. Kurz vor der Abreise hatte sie noch einen spontanen Besuch ihrer Schwiegermutter, der Großmutter der Kinder, empfangen. »Sie kam, weil sie mir ein Familiengeheimnis offenbaren wollte!« Ergebnis war, das sie die Kinder in die Sitze schnallte und losfuhr, ohne noch mal den Schlenker zu uns zu machen. Undenkbar dass ich fragte, was dieses Geheimnis denn gewesen sein könnte. Obwohl ich um die Distanz unserer Freundin zu ihrer Schwiegermutter wusste.
Geheimnisse gibt es in allen Familien und bei allen Menschen, aber die sozial gut eingeführte Währung des Familiengeheimnisses erlaubt es, wie mit einem Verkehrsschild die Neugier umzuleiten – dorthin führt kein Weg. Nicht nur Staatsmänner wie François Mitterrand operierten so. Ein Nachbar, den wir seit Jahrzehnten in den Ferien treffen, dessen erwachsene Kinder wir kennen, deren Kinder wiederum mit unseren Kindern spielen, war mal ganz außer der Reihe im Ferienhaus. Sein Wagen stand unter der Woche da, das war selten. Ohne große Umstände stellte er uns ein weiteres Kind und eine Freundin vor und verband damit die Bitte, seiner Frau nichts von dieser Begegnung zu erzählen.
Letztlich sind es alte Praktiken, von denen wir schon in der gesamten klassischen französischen Literatur lesen. Die richtige Wahl des Ehepartners ist in einer agrarischen Gesellschaft nun mal der wichtigste Faktor, um den sozialen Aufstieg der Familie zu garantieren oder das Erreichte zu sichern. Die Eheschließung funktionierte nach den Gesetzen eines Marktes, und Scheidung galt noch sehr lange als verpönt. Also akzeptierte man geheime Arrangements, das Bürgertum imitierte dabei den Adel.
Heute gehört diese Kultur mit ihren diskreten Innenstadthotels, in denen man Zimmer von 17 bis 19 Uhr mieten konnte, der Vergangenheit an. Aber wie die Jagd und die Pferdemetzgereien zeigen, haben französische Traditionen ein langes Leben. Daher kenne ich das Phänomen der Parenthesen-SMS vor allem von meinen französischen Freunden. Die Klammer wird in der Kurznachricht so gut wie nie benutzt – denn die soll ja kurz sein. Doch ein Freund nutzte sie immer wieder, um mir anzuzeigen, mit wem er kommen würde. Ich sollte mich bei der Begrüßung nicht im Namen irren. Zwar hatten wir uns lange per Mail darüber verständigt, was er bei einem Familienbesuch in Berlin alles mit seinen Töchtern unternehmen könnte – ich hatte um ein Haar zwei Kinderfahrräder organisiert. Zehn Minuten vor unserer Verabredung zum Abendessen erhielt ich die Kurznachricht mit der Mitteilung, er käme ohne Kinder, aber in Begleitung von Natalie – gefolgt von der Klammer »also nicht mit Nicole«, seiner Ehefrau. Und wenige Monate später, wir trafen uns in den Sommerferien, kam er dann mit den Kindern. Da erreichte mich, wieder nur Minuten vorher, die umgekehrte Nachricht, die Namen wechselten in und aus der Klammer wie bei einer Gleichung mit zwei Variablen. Groß besprochen haben wir das nicht. Einmal, wie waren unter vier Augen, fragte ich nach der in Berlin getroffenen Freundin, da machte er eine unwirsche Handbewegung und murmelte, sie sei leider ein Opfer der verfehlten Politik von Nicolas Sarkozy. Dann erläuterte er, weshalb und wie sehr diese Politik verfehlt sei.
Was genau ein Geheimnis konstituiert, ist natürlich kulturell definiert und in Deutschland ganz anders gelagert als in Frankreich. Überhaupt ist es in einem mindestens zur Hälfte protestantisch geprägten Land generell gut angesehen, wenn man etwas offen besprechen möchte. In Frankreich aber ist das nicht so. Der Wunsch, die Dinge mal offen und tabulos zu besprechen, klingt in französischen Ohren erst mal wie eine Grobheit, wenn nicht wie eine Drohung. Ebenso gut könnte man vorschlagen, sich einmal ohne Schuhe und Strümpfe auf dem Boden in den Kreis zu setzen. Man würde vielleicht, um Zeit zu gewinnen, »warum nicht?« antworten, dann aber Wege finden, damit es nicht so weit kommt.
Die ernsten Dinge werden angesprochen, es geht ja gar nicht anders, aber eben in eigenen Formeln: Zur Realität gibt es immer Alternativen, die Gewalt der Worte ist nicht zu unterschätzen. Ist jemand ernsthaft erkrankt, spricht man davon, dass er müde sei, fatigué. Die Steuerfahndung klingelt schon, Gefängnis droht – diese Person steht gegenwärtig in heikler Beziehung zum Fiskus: en délicatesse. Eine Person hört Stimmen, tobt, würgt eine Mitarbeiterin oder zertrümmert einen Blumentopf auf dem Schädel der greisen Nachbarin – dieser Mensch ist nicht etwa kriminell oder wahnsinnig, er durchleidet eine bouffée délirante, eine psychotische Episode, wie sie in jedem Leben halt mal vorkommen kann. Es gibt zur Behandlung hervorragende Villen im Grünen, sehr diskret. Das bedeutet nicht, dass das Vorhandensein oder die Dramatik solcher Handlungen, Krankheiten und Extremsituationen geleugnet oder verdrängt wird. Man gibt der Sache nur einen gewissen Spin, denn es ist immer noch das Subjekt, das die Welt gestaltet, und es sind nicht angebliche Tatsachen, an denen ein Verhalten auszurichten wäre. Das hat weitreichende Konsequenzen. Nach französischem Verständnis haben wir uns nicht der Natur gemäß zu verhalten, sondern ist umgekehrt die Natur so zu gestalten, wie der Mensch es für richtig hält. Das belegt jeder Arztbesuch: Ein französischer Allgemeinarzt wird seine Patienten nicht mit moralischen Vorhaltungen behelligen. Wer mit einem hustenden Kind ankommt, wird nicht mit pflanzlichen, ebenso schonenden wie wirkungsfreien Tropfen nach Hause geschickt, sondern mit einem ordentlichen Rezept und gestandener Medizin. Das funktioniert in weiten Teilen immer noch wie für Jean-Paul Sartre, der seine Bücher mit Aufputschmitteln schrieb, die »tausend Sonnen« in seinem Schädel zum Strahlen brachten – die Folgen waren ihm egal, denn die Niederschrift seines Buchs war wichtiger als der Erhalt der ohnehin zweifelhaften physischen Materie, in der der Geist zufällig untergebracht ist. Bemerkenswert ist, wie sich Frankreich in den letzten Jahren für die Gedanken des Umweltschutzes, insbesondere des Klimaschutzes und der Feinstaubvermeidung geöffnet hat. Leicht fällt es einer Kultur nicht, die einerseits die Überlegenheit des menschlichen Geistes betont, andererseits aber auch eine althergebrachte Furcht vor ungebändigter Natur kennt. Jedes Jahr kann man aufs Neue verfolgen, wie die Debatte um die mühsam wieder angesiedelten Wölfe in den Pyrenäen aufflammt. Selbst der aktuelle politische Wortschatz kennt noch den Wolf als Symbol für Bedrohung und Ungemach, das nächtens im Verborgenen lauert. Die so bereitwillig und häufig betonte Überlegenheit des Menschen ist eben nur die zivilisatorische Fahne, die zwar hoch, aber auch etwas einsam über einem riesigen, zerklüfteten Land weht, in dem man völlig zu Recht Wildnis und Barbarei vermuten darf.
Wie aber lebt man zivilisiert? Dafür gibt es nur eine einzige Kategorie, und sie bestimmt das Leben in Frankreich von der Kindheit an, die Höflichkeit. In Deutschland hat sie längst nicht so einen zentralen Stellenwert, gilt leicht mal als künstlich, geheuchelt oder oberflächlich. Diese kulturelle Differenz ist nicht nur zwischen Bürgern beider Länder zu beobachten, ich bemerke sie auch in mir selbst.
Nehmen wir das Beispiel des berüchtigten Fotos aus dem Sommer 2016: Eine Gruppe von städtischen Polizisten befehlen einer Dame mittleren Alters, sich am Strand eines Teils ihrer Kleidung zu entledigen. Die Gemeinde hatte für Strandbesucher nämlich ein Verschleierungs- und Burkiniverbot erlassen. Damit war die Polizei in die umgekehrte Rolle jener Gendarmen gekommen, die Louis de Funès als Gendarm von Saint Tropez verewigt hat: Damals ging es Cruchot und Kollegen darum, Frauen zu jagen, die sich mit freier Brust sonnen wollten und damit das Abendland in Gefahr brachten. Heute muss dasselbe Abendland davor bewahrt werden, dass sich Frauen verhüllen. Das Foto wurde augenblicklich zum Symbol einer neuen Politik der symbolischen Härte gegen die Islamisierung. Ich betrachtete die stehenden, uniformierten Polizisten, die erschöpft wirkende Frau am Strand, mit zwei verschiedenen Reaktionen, je nachdem, ob ich es als Deutscher oder als Franzose zu kommentieren hätte: Als Deutscher erkannte ich darin spontan eine Verletzung des Artikels 1 unserer Grundgesetzes. Sich in der Öffentlichkeit vor Fremden und gezwungenermaßen ausziehen zu müssen – und gehe es nur um einen Pullover – ist entwürdigend. Als Franzose aber bewerte ich die Szene völlig anders: Die Szene frappiert mich durch die Unhöflichkeit der Polizisten. Man steht nicht, wenn man mit einer sitzenden oder gar liegenden Dame redet. Ein Mann befiehlt auch keiner Dame, etwas abzulegen. Hinzu kommt der Altersunterschied, die öffentliche Situation und, last not least, der Ort: Der Strand ist die Heimat der Freiheit, praktizierte Anarchie. Polizei hat dort in der Regel nichts zu suchen, es sei denn in Funktion eines Bademeisters. Das Urteil, dass hier unhöflich gehandelt wird, ist in meinem französischen Sinn ebenso verdammend und mächtig wie der Verstoß gegen das Grundgesetz für meinen deutschen.